Johann Gottfried Herder
Von Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst,
nebst Verschiednem, das daraus folget

[320] Wenn wir gleich anfangs die alten Briten als ein eignes Volk an Sprache und Dichtungsart absondern, wie die Reste der walischen Poesie und ihre Geschichte es darstellt: so wissen wir, daß die Angelsachsen ursprünglich Deutsche waren, mithin der Stamm der Nation an Sprache und Denkart deutsch ward. Außer den Briten, mit denen sie sich mengten, kamen bald dänische Kolonien in Horden herüber; dies waren nördlichere Deutsche, noch desselben Völkerstammes. Späterhin kam der Überguß der Normänner, die ganz England umkehrten, und ihre nordische in Süden umgebildete Sitten ihm abermals aufdrangen; also kam nordische, deutsche Denkart in drei Völkern, Zeitläuften und Graden der Kultur herüber: ist nicht auch England recht ein Kernhalt nordischer Poesie und Sprache in dieser dreifachen Mischung worden?

Ein Wink sogleich aus diesen frühen Zeiten für Deutschland! Der ungeheure Schatz der angelsächsischen Sprache in England ist also mit unser, und da die Angelsachsen bereits ein paar Jahrhunderte vor unserm angeblichen Sammler und Zerstörer der Bardengesänge, vor Karl dem Großen, hinübergingen; wie? wäre alles was dort ist, nur Pfaffenzeug? in dem großen noch ungenutzten Vorrat keine weitere Fragmente, Wegweiser, Winke? endlich auch ohne der gleichen, wie wär uns Deutschen das Studium dieser Sprache, Poesie und Literatur nützlich! –

[320] Hiezu aber, wo sind äußere Anmunterungen und Gelegenheiten? Wie weit stehen wir, in Anlässen der Art, den Engländern nach! Unsre Parker, Selden, Spelman, Whelock, Hickes, wo sind sie? wo sind sie itzo? Stußens Plan zur wohlfeilern Ausgabe der Angelsachsen kam nicht zustande: Lindenbrogs angelsächsisches Glossarium liegt ungedruckt und wieviel haben wir Deutsche noch am Stamm unsrer eignen Sprache zu tun, ehe wir unsre Nebensprößlinge pflegen und darauf das Unsere suchen. Wie manches liegt noch in der kaiserl. Bibliothek, das man kaum dem Titel nach kennet! und wie manche Zeit dürfte noch hingehn, ehe es uns im mindsten zustatten kommt, daß deutsches Blut auf so viel europäischen Thronen herrschet!

Hurd hat den Ursprung und die Gestalt der mittlern Ritterpoesie aus dem damaligen Zustande Europens in einigen Stücken gut, obwohl nichts minder als vollständig erkläret. Es war Feudalverfassung, die nachher Ritterzeit gebar, und die die Vorrede unsers aufgeputzten Heldenbuchs im Märchenton von Riesen, Zwergen, Untieren und Würmern sehr wahr schildert. Mir ist noch keine Geschichte bekannt, wo diese Verfassung recht charakteristisch für Deutschlands Poesie, Sitten und Denkart behandelt und in alle Züge nach fremden Ländern verfolgt wäre? – aber freilich haben wir noch nichts weniger, als eine Geschichte der deutschen Poesie und Sprache! Auch sind unter so vielen Akademien und Sozietäten in Deutschland wie wenige, die selbst in tüchtigen Fragen sich die Mühe nehmen, einzelne Örter aufzuräumen und ungebahnte Wege zu zeigen.

Ich weiß wohl, was wir, zumal im juristisch-diplomatisch-historischen Fache, hier für mühsame Vorarbeiten haben; diese Vorarbeiten aber sind alle noch erst zu nutzen und zu beleben. Unsre ganze mittlere Geschichte ist Pathologie, und meistens nur Pathologie des Kopfs, d.i. des Kaisers und einiger Reichsstände. Physiologie des ganzen Nationalkörpers – was für ein ander Ding! und wie sich hiezu Denkart, Bildung, Sitte, Vortrag, Sprache verhielt, welch ein Meer ist da noch zu beschiffen und wie schöne Inseln und unbekannte Flecke hie und da zu finden! Wir haben noch keinen Curne de St. Palaye über unser Rittertum, noch keinen Warton über unsre mittlere Dichtkunst. Goldast, Schilter, Scherz, Opitz, Eckard haben treffliche Fußstapfen gelassen: Frehers Manuskripte sind zerstreuet: einige reiche Bibliotheken zerstreuet und geplündert; wenn sammlen sich einst die Schätze dieser Art zusammen, und wo arbeitet der Mann, der [321] Jüngling vielleicht im stillen, die Göttin unsres Vaterlands damit zu schmücken und also dar zustellen dem Volke. Freilich, wenn wir in den mittlern Zeiten nur Shakespeare und Spenser gehabt hätten; an Theobalden und Upton, Warton und Johnson sollte es nicht fehlen: hier ist aber eben die Frage, warum wir keine Shakespeare und Spenser gehabt haben?

Der Strich romantischer Denkart läuft über Europa; wie nun aber über Deutschland besonders? Kann man beweisen, daß es wirklich seine Lieblingshelden, Originalsujets, National- und Kindermythologien gehabt und mit eignem Gepräge bearbeitet habe? Parzival, Melusine, Magellone, Artus, die Ritter von der Tafelrunde, die Rolandsmärchen sind fremdes Gut; sollten die Deutschen denn von jeher bestimmt gewesen sein, nur zu übersetzen, nur nachzuahmen? Unser Heldenbuch singt von Dietrich, von dem aber auch alle Nordländer singen; wie weit hinauf zieht sich's, daß dieser Held deutsch oder romanisch ist besungen worden? Gehört er uns zu, wie Roland, Arthur, Fingal, Achill, Äneas andern Nationen? Noch bei Hastings sangen die Angelsachsen »The Horne-Child«, dessen Sage noch in der Harleyischen Sammlung zu Oxford liegt: wo ist er her? wie weit ist er unser? Ich freue mich unendlich auf die Arbeiten eines gelehrten jungen Mannes in diesem Felde, dem ich bei kritischem Scharfsinn zugleich völlige Toleranz jeder Sitte, Zeit und Denkart zur Muse und dann die Bibliotheken zu Rom, Oxford, Wien, St. Gallen, im Eskurial u.f. zu Gefährten wünschte. Rittergeist der mittlern Zeiten, in welchem Palaste würdest du weben!

Auch die gemeinen Volkssagen, Märchen und Mythologie gehören hieher. Sie sind gewissermaßen Resultat des Volksglaubens, seiner sinnlichen Anschauung, Kräfte und Triebe, wo man träumt, weil man nicht weiß, glaubt, weil man nicht siehet und mit der ganzen, unzerteilten und ungebildeten Seele wirket: also ein großer Gegenstand für den Geschichtschreiber der Menschheit, den Poeten und Poetiker und Philosophen. Sagen einer Art haben sich mit den nordischen Völkern über viel Länder und Zeiten ergossen, jeden Orts aber und in jeder Zeit sich anders gestaltet; wie trifft das nun auf Deutschland? Wo sind die allgemeinsten und sonderbarsten Volkssagen entsprungen? wie gewandert? wie verbreitet und geteilet? Deutschland überhaupt und einzelne Provinzen Deutschlands haben hierin die sonderbarsten Ähnlichkeiten und Abweichungen: Provinzen, wo noch der ganze Geist der »Edda« von Unholden, Zauberern, Riesenweibern,[322] Valkyriur selbst dem Ton der Erzählung nach voll ist; andre Provinzen, wo schon mildere Märchen, fast ovidische Verwandlungen, sanfte Abenteuer und Feinheit der Einkleidung herrschet. Die alte wendische, schwäbische, sächsische, holsteinische Mythologie, sofern sie noch in Volkssagen und Volksliedern lebt, mit Treue aufgenommen, mit Helle angeschaut, mit Fruchtbarkeit bearbeitet, wäre wahrlich eine Fundgrube für den Dichter und Redner seines Volks, für den Sittenbilder und Philosophen.

Wenn nun auch hier England und Deutschland große Gemeinschaft haben, wie weiter wären wir, wenn wir diese Volksmeinungen und Sagen auch so gebraucht hätten, wie die Briten, und unsre Poesie so ganz darauf gebaut wäre, als dort Chaucer, Spenser, Shakespeare auf Glauben des Volks baueten, daher schufen und daher nahmen. Wo sind unsre Chaucer, Spenser und Shakespeare? Wie weit stehen unsre Meistersänger unter jenen! und wo auch diese Gold enthalten, wer hat sie gesammlet? wer mag sich um sie kümmern? Und doch sind wirklich beide Nationen in diesen Grundadern der Dichtung sich bis auf Wendungen, Reime, Lieblingssilbenmaße und Vorstellungsarten so ähnlich, wie ein jeder wissen muß, der Rittererzählungen, Balladen, Märchen beider Völker kennet. Der ganze Ton dieser Poesien ist so einförmig, daß man oft Wort für Wort übersetzen, Wendung für Wendung, Inversion gegen Inversion übertragen kann. In allen Ländern Europens hat der Rittergeist nur ein Wörterbuch, und so auch die Erzählung im Ton desselben, Ballade, Romanze überall dieselbe Haupt- und Nebenworte, einerlei Fallendungen und Freiheiten im Silbenmaße, in Verwerfung der Töne und Flicksilben, selbst einerlei Lieblingslieder, romantische Pflanzen und Kräuter, Tiere und Vögel. Wer Shakespeare in dieser Absicht studiert, und etwa nur Warton über Spenser gelesen hat, und dann nur die schlechtesten Romanzen und Lieder unsres Volks kennet, wird Beispiele und Belege genug darüber zu geben wissen, und ich selbst könnte es durch alle Kapitel und Klassen geben. Was diese Vergleichung nun für einen Strom Bemerkungen über die Bildung beider Sprachen und der Schriftsteller in beiden Sprachen geben müsse, wenn sich eine Sprachgesellschaft oder Belles-Lettres-Académie einer solchen Kleinigkeit annähme, erhellet von selbst. Hier ist dazu weder Ort noch Zeit.

Ich sage nur so viel: Hätten wir wenigstens die Stocke gesammlet, [323] aus denen sich Bemerkungen oder Nutzbarkeiten der Art ergäben – aber wo sind sie? Die Engländer – mit welcher Begierde haben sie ihre alte Gesänge und Melodien gesammlet, gedruckt und wieder gedruckt genutzt, gelesen! Ramsay, Percy und ihresgleichen sind mit Beifall aufgenommen, ihre neuern Dichter Shenstone, Mason, Mallet haben sich, wenigstens schön und müßig, in die Manier hineingearbeitet: Dryden, Pope, Addison, Swift sie nach ihrer Art gebrauchet: die ältern Dichter, Chaucer, Spenser, Shakespeare, Milton haben in Gesängen der Art gelebet, andre edle Männer, Philipp Sidney, Selden, und wieviel müßte ich nennen, haben gesammlet, gelobt, bewundert; aus Samenkörnern der Art ist der Briten beste lyrische, dramatische, mythische, epische Dichtkunst erwachsen; und wir – wir überfüllte, satte, klassische Deutsche – wir? – Man lasse in Deutschland nur Lieder drucken, wie sie Ramsay, Percy u.a. zum Teil haben drucken lassen, und höre, was unsre geschmackvolle, klassische Kunstrichter sagen!

An allgemeinen Wünschen fehlt's freilich nicht. Als vor weniger Zeit die Barden-Windsbraut brauste: wie wurde nach den Gesängen gerufen, die der große Karl gesammlet haben soll! Wie wurden diese völlig unbekannterweise gelobt, nachgeahmt, gesungen – ihr Fund so leicht gemacht, als ob sie nur aus der Hand gelegt wären, an ihnen nichts weniger als ein deutscher Ossian gehoffet u.f. Trefflich alles in der Ferne! Wenn da auf einmal ein Macpherson in Tirol oder in Bayern aufstünde, und uns da so einen deutschen Ossian sänge, ginge es hin, so weit ließen wir uns etwa noch mitziehen. Nun aber wären diese Gesänge in einer Sprache, wie sie nach Analogie der Schilterschen Sammlung notwendig sein müßten; müßten sie, weil vor Otfried alles undisziplinierte Sprache war, als lebendiger Gesang im Munde der Barden erst buchstabiert, als eine Zaubergestalt voriger Zeiten im Spiegel der Glossatoren studiert werden, ohne das sie sowenig als Ulfilas Evangelien in unsern Kirchen Wunder tun könnten; wieviel Lobredner und Jünger würden stracks zurückgehen und sagen: »Ich kenne euch nicht! Ich hatte mir so einen klassischen Ossian vermutet!«

Sage ich unrecht, oder ist nicht das Exempel völlig dagewesen? Als der manessische Kodex ans Licht kam: welch ein Schatz von deutscher Sprache, Dichtung, Liebe und Freude erschien in diesen Dichtern des schwäbischen Zeitalters! Wenn die Namen Schöpflin und Bodmer auch kein Verdienst mehr hätten: so müßte [324] sie dieser Fund und den letzten die Mühe, die er sich gab, der Eifer, den er bewies, der Nation lieb und teuer machen. Hat indessen wohl diese Sammlung alter Vaterlandsgedichte die Wirkung gemacht, die sie machen sollte? Wäre Bodmer ein Abt Millot, der den Säklenfleiß seines Curne de St. Palaye in eine histoire literaire des Troubadours nach gefälligstem Auszuge hat verwandeln wollen; vielleicht wäre er weiter umhergekommen, als itzt, da er den Schatz selbst gab und uns zutraute, daß wir uns nach dem Bissen schwäbischer Sprache leicht hinauf bemühen würden. Er hat sich geirrt: wir sollen von unsrer klassischen Sprache weg, sollen noch ein ander Deutsch lernen, um einige Liebesdichter zu lesen – das ist zu viel! Und so sind diese Gedichte nur etwa durch den einigen Gleim in Nachbildung, wenig andre durch Übersetzung recht unter die Nation ge kommen: Der Schatz selbst liegt da, wenig gekannt, fast ungenutzt, fast ungelesen.

Aus ältern Zeiten haben wir also durchaus keine lebende Dichterei, auf der unsre neuere Dichtkunst, wie Sprosse auf dem Stamm der Nation gewachsen wäre; dahingegen andre Nationen mit den Jahrhunderten fortgegangen sind, und sich auf eigenem Grunde, aus Nationalprodukten, auf dem Glauben und Geschmack des Volks, aus Resten alter Zeiten gebildet haben Dadurch ist ihre Dichtkunst und Sprache national worden; Stimme des Volks ist genutzet und geschätzt, sie haben in diesen Dingen weit mehr ein Publikum bekommen, als wir haben Wir arme Deutsche sind von jeher bestimmt gewesen, nie unser zu bleiben: immer die Gesetzgeber und Diener fremder Nationen, ihre Schicksalsentscheider und ihre verkaufte, blutende, ausgesogne Sklaven,


–Jordan, Po und Tiber
wie strömten oft sie deutsches Blut
und deutsche Seelen –
und so mußte freilich, wie alles, auch der deutsche Gesang werden
ein Pangeschrei! ein Widerhall
vom Schilfe Jordans und der Tiber
und Thems' und Sein' –
wie alles, auch der deutsche Geist werden
–ein Mietlingsgeist, der wiederkäut,
was andrer Fuß zertrat –

[325] Der schöne fette Ölbaum, der süße Weinstock und Feigenbaum ging, als ob er Dornbusch wäre, hin, daß er über den Bäumen schwebe, und wo ist also seine gute Art und Frucht? seine Kraft, Fette und Süße? Sie wird und ward in fremden Ländern zertreten.

Hohe, edle Sprache! großes, starkes Volk! Es gab ganz Europa Sitten, Gesetze, Erfindungen, Regenten, und nimmt von ganz Europa Regentschaft an. Wer hat's wert gehalten, seine Materialien zu nutzen, sich in ihnen zu bilden, wie wir sind? Bei uns wächst alles a priori, unsre Dichtkunst und klassische Bildung ist vom Himmel geregnet. Als man im vorigen Jahrhunderte Sprache und Dichtkunst zu bilden anfing – im vorigen Jahrhunderte? und was hätte man denn wohl mehr tun können, wenn's Zweck gewesen wäre, die letzten Züge von Nationalgeist wirklich auszurotten, als man heuer und itzt wirklich getan hat? Und itzt, da wir uns schon auf so hohem Gipfel der Verehrung andrer Völker wähnen, itzt da uns die Franzosen, die wir so lang nachgeahmt haben, Gott Lob und Dank! wieder nachahmen und ihren eignen Unrat fressen: itzt, da wir das Glück genießen, daß deutsche Höfe schon anfangen, deutsch zu buchstabieren und ein paar deutsche Namen zu nennen – Himmel, was sind wir nun für Leute! Wer sich nun noch ums rohe Volk bekümmern wollte, um ihre Grundsuppe von Märchen, Vorurteilen, Liedern, rauher Sprache: welch ein Barbar wäre er! Er käme, unsre klassische, silbenzählende Literatur zu beschmitzen, wie eine Nachteule unter die schönen, buntgekleideten, singenden Gefieder! –

Und doch bleibt's immer und ewig, daß der Teil von Literatur, der sich aufs Volk beziehet, volksmäßig sein muß, oder er ist klassische Luftblase. Doch bleibt's immer und ewig, daß wenn wir kein Volk haben, wir kein Publikum, keine Nation, keine Sprache und Dichtkunst haben, die unser sei, die in uns lebe und wirke. Da schreiben wir denn nun ewig für Stubengelehrte und ekle Rezensenten, aus deren Munde und Magen wir's denn zurückempfangen, machen Romanzen, Oden, Heldengedichte, Kirchen- und Küchenlieder, wie sie niemand versteht, niemand will, niemand fühlet. Unsre klassische Literatur ist Paradiesvogel, so bunt, so artig, ganz Flug, ganz Höhe und – ohne Fuß auf die deutsche Erde.

Wie anders hierin andre Nationen. Welche Lieder hat z.E. Percy in seine »Reliques« genommen, die ich unserm gebildeten Deutschland nicht vorzuzeigen wagte. Uns wären sie unausstehlich, jenen sind sie's nicht. Das sind einmal alte Nationalstücke, [326] die das Volk singt, und sang, woraus man also die Denkart des Volks, ihre Sprache der Empfindung kennenlernet, dies Liedchen hat etwa gar Shakespeare gekannt, daraus einige Reihen geborget u.f. Mit milder Schonung setzt man sich also in die alten Zeiten zurück, in die Denkart des Volks hinab, liegt, hört, lächelt etwa, erfreuet sich mit oder überschlägt und lernet. Überall indes sieht man, aus welchen rohen, kleinen, verachteten Samenkörnern der herrliche Wald ihrer Nationaldichtkunst worden? aus welchem Marke der Nation Spenser und Shakespeare wuchsen.

Großes Reich, Reich von zehn Völkern, Deutschland! Du hast keinen Shakespeare, hast du auch keine Gesänge deiner Vorfahren, deren du dich rühmen könntest? Schweizer, Schwaben, Franken, Bayern, Westfäler, Sachsen, Wenden, Preußen, ihr habt allesamt nichts? Die Stimme eurer Väter ist verklungen und schweigt im Staube? Volk von tapfrer Sitte, von edler Tugend, und Sprache, du hast keine Abdrücke deiner Seele die Zeiten hinunter?

Kein Zweifel! Sie sind gewesen, sie sind vielleicht noch da; nur sie liegen unter Schlamm, sind verkannt und verachtet. Noch neulich ist eine Schüssel voll Schlamm öffentlich aufgetragen, damit die Nation ja nicht zu etwas Besserm Lust bekomme, als ob solcher Schlamm das Gold wäre, das man führt, und das ja auch selbst der klassische Virgil in den Eingeweiden Ennius' nicht verschmähte. Nur wir müssen Hand anlegen, aufnehmen, suchen, ehe wir alle klassisch gebildet dastehn, französische Lieder singen, wie französische Menuetts tanzen, oder gar allesamt Hexameter und horazische Oden schreiben. Das Licht der sogenannten Kultur will jedes Winkelchen erleuchten, und Sachen der Art liegen nur im Winkel. Legt also Hand an, meine Brüder, und zeigt unsrer Nation, was sie ist und nicht ist? wie sie dachte und fühlte, oder wie sie denkt und fühlt. Welche herrliche Stücke haben da die Engländer bei ihrem Suchen gefunden! Freilich nicht fürs Papier gemacht und auf ihm kaum lesbar; aber dafür voll lebendigen Geistes, im vollen Kreise des Volks entsprungen, unter ihnen lebend und wirkend. Wer hat nicht von den Wundern der Barden und Skalden, von den Wirkungen der Troubadours, Minstrels und Meistersänger gehöre oder gelesen? Wie das Volk dastand und horchte! was es alles in dem Liede hatte und zu haben glaubte! wie heilig es also die Gesänge und Geschichten erhielt, Sprache, Denkart, Sitten, Taten, an ihnen mit erhielt und fortpflanzte. Hier war zwar einfältiger, aber starker, [327] rührender, wahrer Sang und Klang, voll Gang und Handlung, ein Nordrang ans Herz, schwere Akzente oder scharfe Pfeile für die offne, wahrheittrunkne Seele. Ihr neuen Romanzer, Kirchenlieder- und Odenversler, könnet ihr das? wirkt ihr das? und werdet ihr's auf eurem Wege jemals wirken? Für euch sollen wir alle im Lehnstuhl ruhig schlummern, mit der Puppe spielen, oder das Versebildlein als Kabinettstück auffangen, daß es im klassischen vergoldtem Rahm da zierlich müßig hange.

Wenn Bürger, der die Sprache und das Herz dieser Volksrührung tief kennet, uns einst einen deutschen Helden- oder Tatengesang voll aller Kraft und alles Ganges dieser kleinen Lieder gäbe: ihr Deutsche, wer würde nicht zulaufen, horchen und staunen? Und er kann ihn geben; seine Romanzen, Lieder, selbst sein verdeutschter Homer ist voll dieser Akzente, und bei allen Völkern ist Epopee und selbst Drama nur aus Volkserzählung, Romanze und Lied worden. – Ja wären wir nicht auch weiter, wenn selbst unsre Geschichte und Beredsamkeit den simpeln, starken, nicht übereilten, aber zum Ziel strebenden Gang des deutschen Geistes in Tat und Rede genommen oder vielmehr behalten hätte: denn in den alten Chroniken, Reden und Schriften ist er schon da. Die liebe Moral und die feine pragmatische Philosophie würde sich jeder Machiavell doch selbst herausfinden können. Ja endlich wäre selbst unsre Erziehung deutscher, an Materialien dieser Art reicher, stärker und einfältiger in Rührung der Sinne und Beschäftigung der lebendsten Kräfte, mich dünkt, unsre Vorfahren in ihren Gräbern würden sich des erfreuen und eine neue Welt ihrer wahreren Söhne segnen.

Endlich (denn lasset uns auch hier Klopstocks Spruch erfüllen


Nie war gegen das Ausland
ein anderes Land gerecht, wie du!)

zeigte sich hier auch noch ein Ausweg zu Liedern fremder Völker, die wir so wenig kennen und nur aus Liedern können kennenlernen.

Die Karte der Menschheit ist an Völkerkunde ungemein erweitert: wie viel mehr Völker kennen wir, als Griechen und Römer! wie kennen wir sie aber? Von außen, durch Fratzenkupferstiche, und fremde Nachrichten, die den Kupferstichen gleichen? Oder von innen? durch ihre eigne Seele? aus Empfindung, Rede und Tat? – So sollte es sein und ist's wenig. Der pragmatische Geschicht- und Reisebeschreiber beschreibt, malt, schildert; er [328] schildert immer, wie er sieht, aus eignem Kopfe, einseitig, gebildet, er lügt also, wenn er auch am wenigsten lügen will.

Das einzige Mittel dagegen ist leicht und offenbar. Alle unpolizierte Völker singen und handeln; was sie handeln, singen sie und singen Abhandlung. Ihre Gesänge sind das Archiv des Volks, der Schatz ihrerWissenschaft und Religion, ihrer Theogonie undKosmogonien der Taten ihrer Väter und der Begebenheiten ihrer Geschichte, Abdruck ihres Herzens, Bild ihres häuslichen Lebens in Freude und Leid, beim Brautbett und Grabe. Die Natur hat ihnen einen Trost gegen viele Übel gegeben, die sie drücken und einen Ersatz vieler sogenannten Glückseligkeiten, die wir genießen: d.i. Freiheitsliebe, Müßiggang, Taumel und Gesang. Da malen sich alle, da erscheinen alle, wie sie sind. Die kriegrische Nation singt Taten; die zärtliche Liebe. Das scharfsinnige Volk macht Rätsel, das Volk von Einbildung Allegorien, Gleichnisse, lebendige Gemälde. Das Volk von warmer Leidenschaft kann nur Leidenschaft, wie das Volk unter schrecklichen Gegenständen sich auch schreckliche Götter dichtet. – Eine kleine Sammlung solcher Lieder aus dem Munde eines jeden Volks, über die vornehmsten Gegenstände und Handlungen ihres Lebens, in eigner Sprache, zugleich gehörig verstanden, erklärt, mit Musik begleitet: wie würde es die Artikel beleben, auf die der Menschenkenner bei allen Reisebeschreibungen doch immer am begierigsten ist »von Denkart und Sitten der Nation! von ihrer Wissenschaft und Sprache! von Spiel und Tanz, Musik und Götterlehre!« Von alle diesem bekämen wir doch bessere Begriffe als durch Plappereien des Reisebeschreibers, oder als durch ein in ihrer Sprache aufgenommenes – – – Vaterunser! Wie Naturgeschichte Kräuter und Tiere beschreibt, so schilderten sich hier die Völker selbst. Man bekäme von allem anschauenden Begriff, und durch die Ähnlichkeit oder Abweichung dieser Lieder an Sprache, Inhalt und Tönen, insonderheit in Ideen der Kosmogonie und der Geschichte ihrer Väter ließe sich auf die Abstammung, Fortpflanzung und Vermischung der Völker wieviel und wie sicher schließen!

Und doch sind selbst in Europa noch eine Reihe Nationen, auf diese Weise unbenutzt, unbeschrieben.Esten und Letten, Wenden und Slawen, Polen undRussen, Friesen und Preußen – ihre Gesänge der Art sind nicht so gesammlet, als die Lieder der Isländer, Dänen, Schweden, geschweige der Engländer, Hersen und Briten, oder gar der südlichen Völker. Und unter ihnen sind doch so [329] manche Personen, denen es Amt und Arbeit ist, die Sprache, Sitte, Denkart, alte Vorurteile und Gebräuche ihrer Nation zu studieren! und andern Nationen gäben sie hiermit die lebendigste Grammatik, das beste Wörterbuch und Naturgeschichte ihres Volks in die Hände. Nur sie müssen es geben, wie es ist, in der Ursprache und mit gnugsamer Erklärung, ungeschimpft und unverspottet, so wie unverschönt und unveredelt: wo möglich mit Gesangweise und alles, was zum Leben des Volks gehört. Wenn sie's nicht brauchen können, können's andre brauchen.

Lessing hat über zwo litauische Lieder seine Stimme gegeben: Kleist hat ein Lied der Lappen und Kannibalen nachgebildet, und Gerstenberg wie schöne Stücke der alten Dänen übersetzt gegeben. Welche schöne Ernte wäre noch dahinten – Wenn Leibniz den menschlichen Witz und Scharfsinn nie wirksamer erklärt als in Spielen; wahrlich so ist das menschliche Herz und die volle Einbildungskraft nie wirksamer als in den Naturgesängen solcher Völker. Sie öffnen das Herz, wenn man sie höret, und wie viele Dinge in unsrer künstlichen Welt schließen und mauern es zu!

Auch den Regeln der Dichtkunst endlich, die wir uns meistens aus Griechen und Römern geformt haben, tun Proben und Sammlungen der Art nicht ungut. Auch die Griechen waren einst, wenn wir so wollen, Wilde, und selbst in den Blüten ihrer schönsten Zeit ist weit mehr Natur, als das blinzende Auge der Scholiasten und Klassiker findet. Bei Homer hat's noch neulich Wood abermals gezeiget: er sang aus alten Sagen, und sein Hexameter war nichts als Sangweise der griechischen Romanze. Tyrtäus' Kriegsgesänge sind griechische Balladen, und wenn Arion, Orpheus, Amphion lebten, so waren sie edle griechische Schamanen. Die alte Komödie entsprang aus Spottliedern und Mummereien voll Hefen und Tanz; die Tragödie aus Chören und Dithyramben, d.i. alten lyrischen Volkssagen und Göttergeschichten. Wenn nun Frau Sappho und ein litauisches Mädchen die Liebe auf gleiche Art singen, wahrlich so müssen die Regeln ihres Gesanges wahr sein, sie sind Natur der Liebe und reichen bis ans Ende der Erde. Wenn Tyrtäus und der Isländer gleichen Schlachtgesang anstimmet: so ist der Ton wahr, er reicht bis ans Ende der Erden. Ist aber wesentliche Ungleichheit da, will man uns Nationalformen oder gar gelehrte Übereinkommnisse über Produkte eines Erdwinkels für Gesetze Gottes und der Natur aufbürden: sollte es da nicht erlaubt sein das Marienbild und den Esel zu unterscheiden, der das Marienbild trägt?

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