Erster Teil
I
Paris, 25. Februar 1840
Je näher man der Person des Königs steht und mit eigenen Augen das Treiben desselben beobachtet, desto leichter wird man getäuscht über die Motive seiner Handlungen, über seine geheimen Absichten, über sein Wollen und Streben. In der Schule der Revolutionsmänner hat er jene moderne Schlauheit erlernt, jenen politischen Jesuitismus, worin die Jakobiner manchmal die Jünger Loyolas übertrafen. Zu diesen Errungenschaften kommt noch ein Schatz angeerbter Verstellungskunst, die Tradition seiner Vorfahren, der französischen Könige, jener ältesten Söhne der Kirche, die immer weit mehr als andere Fürsten durch das heilige Öl von Reims geschmeidigt worden, immer mehr Fuchs als Löwe waren und einen mehr oder minder priesterlichen Charakter offenbarten. Zu der angelernten und überlieferten simulatio und dissimulatio gesellt sich noch eine natürliche Anlage bei Ludwig Philipp, so daß es fast unmöglich ist, durch die wohlwollende dicke Hülle, durch das lächelnde Fleisch, die geheimen Gedanken zu erspähen. Aber gelänge es auch, bis in die Tiefe des königlichen Herzens einen Blick zu werfen, so sind wir dadurch noch nicht weit gefördert, denn am Ende ist eine Antipathie oder Sympathie in bezug auf Personen nie der bestimmende Grund der Handlungen Ludwig Philipps, er gehorcht nur der Macht der Dinge (la force des choses), der Notwendigkeit. Alle subjektive Anregung weist er fast grausam zurück, er ist hart gegen sich selbst, und ist er auch kein Selbstherrscher, so ist er doch ein Beherrscher seiner selbst; er ist ein sehr objektiver König. Es hat daher wenig politische Bedeutung, ob er etwa den Guizot mehr liebt oder weniger als den Thiers; er wird sich des einen [258] oder des andern bedienen, je nachdem er den einen oder andern nötig hat, nicht früher, nicht später. Ich kann daher wirklich nicht mit Gewißheit sagen, wer von diesen zwei Männern dem König am angenehmsten oder am unangenehmsten sei. Ich glaube, ihm mißfallen sie alle beide, und zwar aus Metierneid, weil er ebenfalls Minister ist, in ihnen seine beständigen Nebenbuhler sieht und am Ende fürchtet, man könnte ihnen eine größere politische Kapazität zutrauen als ihm selber. Man sagt, Guizot sage ihm mehr zu als Thiers, weil jener eine gewisse Unpopularität genießt, die dem Könige gefällt. Aber der puritanische Zuschnitt, der lauernde Hochmut, der doktrinäre Belehrungston, das eckig-kalvinistische Wesen Guizots kann nicht anziehend auf den König wirken. Bei Thiers stößt er auf die ent gegengesetzten Eigenschaften, auf einen ungezügelten Leichtsinn, auf eine kecke Laune, auf eine Freimütigkeit, die mit seinem eigenen versteckten, krummlinichten, eingeschachtelten Charakter fast beleidigend kontrastiert und ihm also ebenfalls wenig behagen kann. Hierzu kommt, daß der König gern spricht, ja sogar sich gern in ein unendliches Schwatzen verliert, was sehr merkwürdig, da verstellungssüchtige Naturen gewöhnlich wortkarg sind. Gar bedeutend muß ihm deshalb ein Guizot mißfallen, der nie diskuriert, sondern immer doziert und endlich, wenn er seine Thesis bewiesen hat, die Gegenrede des Königs mit Strenge anhört und wohl gar dem Könige Beifall nickt, als habe er einen Schulknaben vor sich, der seine Lektion gut hersagt. Bei Thiers geht's dem Könige noch schlimmer, der läßt ihn gar nicht zu Worten kommen, verloren in die Strömung seiner eigenen Rede. Das rieselt unaufhörlich, wie ein Faß, dessen Hahn ohne Zapfen, aber immer kostbarer Wein. Kein anderer kommt da zu Worte, und nur während er sich rasiert, ist man imstande bei Herrn Thiers ruhiges Gehör zu finden. Nur solange ihm das Messer an der Kehle ist, schweigt er und schenkt fremder Rede Gehör.
Es ist keinem Zweifel unterworfen, daß der König sich endlich entschließt, den Begehrnissen der Kammer nachgebend, [259] Herrn Thiers mit der Bildung eines neuen Ministeriums zu beauftragen und ihm als Präsidenten des Konseils auch das Portefeuille der äußern Angelegenheiten anzuvertrauen. Das ist leicht vorauszusehen. Man dürfte aber mit großer Gewißheit prophezeien, daß das neue Ministerium nicht von langer Dauer sein wird und daß Herr Thiers selber eines frühen Morgens dem Könige eine gute Gelegenheit gibt, ihn wieder zu entfernen und Herrn Guizot an seine Stelle zu berufen. Herr Thiers, bei seiner Behendigkeit und Geschmeidigkeit, zeigt immer ein großes Talent, wenn es gilt, den mât de cocagne der Herrschaft zu erklettern, hinaufzurutschen; aber er bekundet ein noch größeres Talent des Wiederheruntergleitens, und wenn wir ihn ganz sicher auf dem Gipfel seiner Macht glauben, glitscht er unversehens wieder herab, so geschickt, so artig, so lächelnd, so genial, daß wir diesem neuen Kunststück schier applaudieren möchten. Herr Guizot ist nicht so geschickt im Erklimmen des glatten Mastes. Mit schwerfälliger Mühe zottelt er sich hinauf, aber wenn er oben einmal angelangt, klammert er sich fest mit der gewaltigen Tatze; er wird auf der Höhe der Gewalt immer länger verweilen als sein gelenkiger Nebenbuhler, ja wir möchten sagen, daß er aus Unbeholfenheit nicht mehr herunterkommen kann und ein starkes Schütteln nötig sein wird, ihm das Herabpurzeln zu erleichtern. In diesem Augenblick sind vielleicht schon die Depeschen unterwegs, worin Ludwig Philipp den auswärtigen Kabinetten auseinandersetzt, wie er, durch die Gewalt der Dinge gezwungen, den ihm fatalen Thiers zum Minister nehmen muß, anstatt des Guizot, der ihm viel angenehmer gewesen wäre.
Der König wird jetzt seine große Not haben, die Antipathie, welche die fremden Mächte gegen Thiers hegen, zu beschwichtigen. Dieses Buhlen nach dem Beifall der letztern ist eine törichte Idiosynkrasie. Er meint, daß von dem äußern Frieden auch die Ruhe seines Inlands abhänge, und er schenkt diesem nur geringe Aufmerksamkeit. Er, vor dessen Augenzwinkern alle Trajane, Titusse, Marc Aurele und Antonine dieser Erde, [260] den Großmogul mit eingerechnet, zittern müßten, er demütigt sich vor ihnen wie ein Schulbub und jammert: »Schonet meiner! verzeiht mir, daß ich sozusagen den französischen Thron bestiegen, daß das tapferste und intelligenteste Volk, ich will sagen sechsunddreißig Millionen Unruhestifter und Gottesleugner, mich zu ihrem König gewählt haben. – Verzeiht mir, daß ich mich verleiten ließ, aus den verruchten Händen der Rebellen die Krone und die dazugehörigen Kronjuwelen in Empfang zu nehmen – ich war ein unerfahrenes Gemüt, ich hatte eine schlechte Erziehung genossen von Kind an, wo Frau von Genlis mich die Menschenrechte buchstabieren ließ – bei den Jakobinern, die mir den Ehrenposten eines Türstehers anvertrauten, habe ich auch nicht viel Gutes lernen können – ich wurde durch schlechte Gesellschaft verführt, besonders durch den Marquis de Lafayette, der aus mir die beste Republik machen wollte – ich habe mich aber seitdem gebessert, ich bereue meine jugendlichen Verirrungen, und ich bitte euch, verzeiht mir aus christlicher Barmherzigkeit – und schenket mir den Frieden!« Nein, so hat sich Ludwig Philipp nicht ausgedrückt, denn er ist stolz und edel und klug; aber das war doch immer der kurze Sinn seiner langen Reden und noch längern Briefe, deren Schriftzüge, als ich sie jüngst sah, mir höchst originell erschienen. Wie man gewisse Schriftzüge »Fliegenpfötchen« (pattes de mouche) nennt, so könnte man die Handschrift Ludwig Philipps »Spinnenbeine« benamsen; sie ähneln nämlich den hagerdünnen und schattenartig langen Beinen der sogenannten Schneiderspinnen, und die hochgestreckten und zugleich äußerst magern Buchstaben machen einen fabelhaft drolligen Eindruck.
Selbst in der nächsten Umgebung des Königs wird seine Nachgiebigkeit gegen das Ausland getadelt; aber niemand wagt, irgendeine Rüge laut werden zu lassen. Dieser milde, gutmütige und hausväterliche Ludwig Philipp fordert im Kreise der Seinen einen ebenso blinden Gehorsam, wie ihn der wütendste Tyrann jemals durch die größten Grausamkeiten erlangen mochte. Ehrfurcht und Liebe fesselt die Zunge seiner [261] Familie und Freunde; das ist ein Mißgeschick, und es könnten wohl Fälle eintreten, wo dem königlichen Einzelwillen irgendein Einspruch und sogar offener Widerspruch heilsam sein dürfte. Selbst der Kronprinz, der verständige Herzog von Orleans, beugt schweigend das Haupt vor dem Vater, obgleich er seine Fehler einsieht und traurige Konflikte, ja eine entsetzliche Katastrophe zu ahnen scheint. Er soll einst zu einem Vertrauten gesagt haben, er sehne sich nach einem Kriege, weil er lieber in den Wogen des Rheines als in einer schmutzigen Gosse von Paris sein Leben verlieren wolle. Der edle ritterliche Held hat melancholische Augenblicke und erzählt dann, wie seine Muhme, Madame d'Angoulème, die unguillotinierte Tochter Ludwigs des XVI., mit ihrer heiseren Rabenstimme ihm ein frühes Verderben prophezeit, als sie auf ihrer letzten Flucht während den Julitagen dem heimkehrenden Prinzen in der Nähe von Paris begegnete. Sonderbar ist es, daß der Prinz einige Stunden später in Gefahr geriet, von den Republikanern, die ihn gefangennahmen, füsiliert zu werden, und nur wie durch ein Wunder solchem Schicksal entging. Der Erbprinz ist allgemein geliebt, er hat alle Herzen gewonnen, und sein Verlust wäre der jetzigen Dynastie mehr als verderblich. Seine Popularität ist vielleicht ihre einzige Garantie. Aber er ist auch eine der edelsten und kostbarsten Blüten, die dem Boden Frankreichs, diesem »schönen Menschengarten«, entsprossen sind.
II
Paris, den 1, März 1840
Thiers steht heute im vollen Lichte seines Tages. Ich sage heute, ich verbürge mich nicht für morgen. – Daß Thiers jetzt Minister ist, alleiniger, wahrhaftiger Gewaltminister, unterliegt keinem Zweifel, obgleich viele Personen, mehr aus Schelmerei denn aus Überzeugung, daran nicht glauben wollen, ehe sie die Ordonnanzen unterzeichnet sähen, schwarz auf weiß im »Moniteur«. Sie sagen, bei der zögernden Weise des Fabius Cunctator des Königtums sei alles möglich; vorigen Mai habe [262] sich der Handel zerschlagen, als Thiers bereits zur Unterzeichnung die Feder in die Hand genommen. Aber diesmal, bin ich überzeugt, ist Thiers Minister – »schwören will ich darauf, aber nicht wetten«, sagte einst Fox bei einer ähnlichen Gelegenheit. Ich bin nun neugierig, in wieviel Zeit seine Popularität wieder demoliert sein wird. Die Republikaner sehen jetzt in ihm ein neues Bollwerk des Königtums, und sie werden ihn gewiß nicht schonen. Großmut ist nicht ihre Art, und die republikanische Tugend verschmäht nicht die Allianz mit der Lüge. Morgen schon werden die alten Verleumdungen aus den modrigsten Schlupfwinkeln ihre Schlangenköpfchen hervorrecken und freundlich züngeln. Die armen Kollegen werden ebenfalls stark herhalten. »Ein Karnevalsministerium«, rief man schon gestern abend, als der Name des Ministers des Unterrichts genannt wurde. Das Wort hat dennoch eine gewisse Wahrheit. Ohne die Besorgnis vor den drei Karnevalstagen hätte man sich mit der Bildung des Ministeriums vielleicht nicht so sehr geeilt. Aber heute ist schon Faschingsonntag, in diesem Augenblick wälzt sich bereits der Zug des bœuf gras durch die Straßen von Paris, und morgen und übermorgen sind die gefährlichsten Tage für die öffentliche Ruhe. Das Volk überläßt sich dann einer wahnsinnigen, fast verzweiflungsvollen Lust, alle Tollheit ist grauenhaft entzügelt, und der Freiheitsrausch trinkt dann leicht Brüderschaft mit der Trunkenheit des gewöhnlichen Weins. – Mummerei gegen Mummerei, und das neue Ministerium ist vielleicht eine Maske des Königs für den Karneval.
III
Paris, den 9. April 1840
Nachdem die Leidenschaften sich etwas abgekühlt und denkende Besonnenheit sich allmählich geltend macht, gesteht jeder, daß die Ruhe Frankreichs aufs gefährlichste bedroht war wenn es den sogenannten Konservativen gelang, das jetzige Ministerium zu stürzen. Die Glieder desselben sind gewiß in [263] diesem Augenblick die geeignetsten Lenker des Staatswagens. Der König und Thiers, der eine im Innern des Wagens, der andere auf dem Bocke, sie müssen jetzt einig bleiben, denn trotz der verschiedenen Situation sind sie denselben Gefahren des Umsturzes ausgesetzt. Der König und Thiers hegen durchaus keinen geheimen Hader, wie man allgemein glaubt. Persönlich hatten sich beide schon vor geraumer Zeit ausgesöhnt. Die Differenz bleibt nur eine politische. Bei aller jetzigen Einigkeit, bei dem besten Willen des Königs für die Erhaltung des Ministeriums, kann doch in seinem Geiste jene politische Differenz nie ganz schwinden; denn der König ist ja der Repräsentant der Krone, deren Interessen und Rechte in beständigem Konflikt mit den usurpierten Gelüsten der Kammer. In der Tat, wir müssen der Wahrheit gemäß das ganze Streben der Kammer mit dem Ausdruck Usurpationslust bezeichnen; sie war auch immer der angreifende Teil, sie suchte bei jeder Veranlassung die Rechte der Krone zu schmälern, die Interessen derselben zu untergraben, und der König übte nur eine natürliche Notwehr. Zum Beispiel die Charte verlieh dem König das Recht, seine Minister zu wählen, und jetzt ist dieses Prärogativ nur ein leerer Schein, eine ironische, das Königtum verhöhnende Formel, denn in der Wirklichkeit ist es die Kammer, welche die Minister wählt und verabschiedet. Auch ist es sehr charakteristisch, daß seit einiger Zeit die französische Staatsregierung nicht mehr ein konstitutionelles, sondern ein parlamentarisches Gouvernement genannt wird. Das Ministerium vom 1. März erhielt gleich in der Taufe diesen Namen, und durch die Tat wie durch das Wort ward eine Rechtsberaubung der Krone zugunsten der Kammer öffentlich proklamiert und sanktioniert.
Thiers ist der Repräsentant der Kammer, er ist ihr gewählter Minister, und in dieser Beziehung kann er dem König nie ganz behagen. Die allerhöchste Mißhuld trifft also, wie gesagt, nicht die Person des Ministers, sondern das Prinzip, das sich durch seine Wahl geltend gemacht hat. – Wir glauben, daß die Kammer den Sieg jenes Prinzips nicht weiter verfolgen [264] wird; denn es ist im Grunde dasselbe Elektionsprinzip, als dessen letzte Konsequenz die Republik sich darbietet. Wohin sie führen, diese gewonnenen Kammerschlachten, merken die dynastischen Oppositionshelden jetzt ebensogut wie jene Konservativen, die aus persönlicher Leidenschaft, bei Gelegenheit der Dotationsfrage, sich die lächerlichsten Mißgriffe zuschulden kommen ließen.
Das Verwerfen der Dotation, und gar der schweigende Hohn, womit man sie verwarf, war nicht bloß eine Beleidigung des Königtums, sondern auch eine ungerechte Torheit; – denn indem man der Krone alle wirkliche Macht allmählich abkämpfte, mußte man sie wenigstens entschädigen durch äußern Glanz und ihr moralisches Ansehen in den Augen des Volks vielmehr erhöhen als herabwürdigen. Welche Inkonsequenz! Ihr wollt einen Monarchen haben und knickert bei den Kosten für Hermelin und Goldprunk! Ihr schreckt zurück vor der Republik und insultiert euren König öffentlich, wie ihr getan bei der Abstimmung der Dotationsfrage! Und sie wollen wahrlich keine Republik, diese edlen Geldritter, diese Barone der Industrie, diese Auserwählten des Eigentums, diese Enthusiasten des ruhigen Besitzes, welche die Majorität in der französischen Kammer bilden. Sie hegen vor der Republik ein noch weit entsetzlicheres Grauen als der König selbst, sie zittern davor noch weit mehr als Ludwig Philipp, welcher sich in seiner Jugend schon daran gewöhnt hat.
Wird sich das Ministerium Thiers lange halten? Das ist jetzt die Frage. Dieser Mann spielt eine schauerliche Rolle. Er verfügt nicht bloß über alle Streitkräfte des mächtigsten Reiches, sondern auch über alle Heeresmacht der Revolution, über alles Feuer und allen Wahnsinn der Zeit. Reizt ihn nicht aus seiner weisen Jovialität hinaus in die fatalistischen Irrgänge der Leidenschaft, legt ihm nichts in den Weg, weder goldene Äpfel noch rohe Klötze! ... Die ganze Partei der Krone sollte sich Glück wünschen, daß die Kammer eben den Thiers gewählt, den Staatsmann, der in den jüngsten Debatten seine ganze politische Größe offenbart hat. Ja, während die andern [265] nur Redner sind oder Administratoren oder Gelehrte oder Diplomaten oder Tugendhelden, so ist Thiers alles dieses zusammen, sogar letzteres, nur daß sich bei ihm diese Fähigkeiten nicht als schroffe Spezialitäten hervorstellen, sondern von seinem staatsmännischen Genie überragt und absorbiert werden. Thiers ist Staatsmann; er ist einer von jenen Geistern, denen das Talent des Regierens angeboren ist. Die Natur schafft Staatsmänner, wie sie Dichter schafft, zwei sehr heterogene Arten von Geschöpfen, die aber von gleicher Unentbehrlichkeit; denn die Menschheit muß begeistert werden und regiert. Die Männer, denen die Poesie oder die Staatskunst angeboren ist, werden auch von der Natur getrieben, ihr Talent geltend zu ma chen, und wir dürfen diesen Trieb keineswegs mit jener kleinen Eitelkeit verwechseln, welche die Minderbegabten anstachelt, die Welt mit ihren elegischen Reimereien oder mit ihren prosaischen Deklamationen zu langweilen.
Ich habe angedeutet, daß Thiers eben durch seine letzte Rede seine staatsmännische Größe bekundete. Berryer hat vielleicht mit seinen sonoren Phrasen auf die Ohren der großen Menge eine pomphaftere Wirkung ausgeübt; aber dieser Orator verhält sich zu jenem Staatsmann wie Cicero zu Demosthenes. Wenn Cicero auf dem Forum plädierte, dann sagten die Zuhörer, daß niemand schöner zu reden verstehe als der Marcus Tullius; sprach aber Demosthenes, so riefen die Athener: »Krieg gegen Philipp!« Statt aller Lobsprüche, nachdem Thiers geredet hatte, öffneten die Deputierten ihren Säckel und gaben ihm das verlangte Geld.
Kulminierend in jener Rede des Thiers war das Wort »Transaktion« – ein Wort, das unsere Tagespolitiker sehr wenig begriffen, das aber nach meiner Ansicht die tiefsinnigste Bedeutung enthält. War denn von jeher die Aufgabe der großen Staatsmänner etwas anderes als eine Transaktion, eine Vermittlung zwischen Prinzipien und Parteien? Wenn man regieren soll und sich zwischen zwei Faktionen, die sich befehden, befindet, so muß man eine Transaktion versuchen. Wie könnte [266] die Welt fortschreiten, wie könnte sie nur ruhig stehenbleiben, wenn nicht nach wilden Umwälzungen die gebietenden Männer kämen, die unter den ermüdeten und leidenden Kämpfern den Gottesfrieden wiederherstellten, im Reiche des Gedankens wie im Reiche der Erscheinung? Ja, auch im Reiche des Gedankens sind Transaktionen notwendig. Was war es anders als Transaktion zwischen der römisch-katholischen Überlieferung und der menschlich-göttlichen Vernunft, was vor drei Jahrhunderten in Deutschland als Reformation und protestantische Kirche ins Leben trat? Was war es anders als Transaktion, was Napoleon in Frankreich versuchte, als er die Menschen und die Interessen des alten Regimes mit den neuen Menschen und neuen Interessen der Revolution zu versöhnen suchte? Er gab dieser Transaktion den Namen »Fusion« – ebenfalls ein sehr bedeutungsvolles Wort, welches ein ganzes System offenbart. – Zwei Jahrtausende vor Napoleon hatte ein anderer großer Staatsmann, Alexander von Mazedonien, ein ähnliches Fusionssystem ersonnen, als er den Okzident mit dem Orient vermitteln wollte, durch Wechselheiraten zwischen Siegern und Besiegten, Sittentausch, Gedankenverschmelzung. – Nein, zu solcher Höhe des Fusionssystems konnte sich Napoleon nicht erheben, nur die Personen und die Interessen wußte er zu vermitteln, nicht die Ideen, und das war sein großer Fehler und auch der Grund seines Sturzes. Wird Herr Thiers denselben Mißgriff begehen? Wir fürchten es fast. Herr Thiers kann sprechen von Morgen bis Mitternacht, unermüdet, immer neue glänzende Gedanken, immer neue Geistesblitze hervorsprühend, den Zuhörer ergötzend, belehrend, blendend man möchte sagen: ein gesprochenes Feuerwerk. Und dennoch begreift er mehr die materiellen als die idealen Bedürfnisse der Menschheit; er kennt den letzten Ring nicht, womit die irdischen Erscheinungen an den Himmel gekettet sind: er hat keinen Sinn für große soziale Institutionen.
[267] IV
Paris, den 30. April 1840
»Erzähle mir, was du heute gesäet hast, und ich will dir voraussagen, was du morgen ernten wirst!« An dieses Sprichwort des kernichten Sancho dachte ich dieser Tage, als ich im Faubourg Saint-Marceau einige Ateliers besuchte und dort entdeckte, welche Lektüre unter den Ouvriers, dem kräftigsten Teile der untern Klasse, verbreitet wird. Dort fand ich nämlich mehre neue Ausgaben von den Reden des alten Robespierre, auch von Marats Pamphleten, in Lieferungen zu zwei Sous, die Revolutionsgeschichte des Cabet, Cormenins giftige Libelle, Babeufs Lehre und Verschwörung von Buonarotti, Schriften, die wie nach Blut rochen; – und Lieder hörte ich singen, die in der Hölle gedichtet zu sein schienen und deren Refrains von der wildesten Aufregung zeugten. Nein, von den dämonischen Tönen, die in jenen Liedern walten, kann man sich in unsrer zarten Sphäre gar keinen Begriff machen; man muß dergleichen mit eigenen Ohren angehört haben, z.B. in jenen ungeheuern Werkstätten, wo Metalle verarbeitet werden und die halbnackten, trotzigen Gestalten während des Singens mit dem großen eisernen Hammer den Takt schlagen auf dem dröhnenden Amboß. Solches Akkompagnement ist vom größten Effekt, sowie auch die Beleuchtung, wenn die zornigen Funken aus der Esse hervorsprühen. Nichts als Leidenschaft und Flamme!
Eine Frucht dieser Saat, droht aus Frankreichs Boden früh oder spät die Republik hervorzubrechen. Wir müssen, in der Tat, solcher Befürchtung Raum geben; aber wir sind zugleich überzeugt, daß jenes republikanische Regiment nimmermehr von langer Dauer sein kann in der Heimat der Koketterie und der Eitelkeit. Und gesetzt auch, der Nationalcharakter der Franzosen wäre mit dem Republikanismus ganz vereinbar, so könnte doch die Republik, wie unsere Radikalen sie träumen, sich nicht lange halten. In dem Lebensprinzip einer solchen Republik liegt schon der Keim ihres frühen Todes; in ihrer Blüte muß sie sterben. Gleichviel von welcher Verfassung ein Staat sei, er erhält sich nicht bloß und allein durch den Gemeinsinn [268] und den Patriotismus der Volksmasse, wie man gewöhnlich glaubt, sondern er erhält sich durch die Geistesmacht der großen Individualitäten, die ihn lenken. Nun aber wissen wir, daß in einer Republik der angedeuteten Art ein eifersüchtiger Gleichheitssinn herrscht, der alle ausgezeichneten Individualitäten immer zurückstößt, ja unmöglich macht, und daß also in Zeiten der Not nur Gevatter Gerber und Wursthändler sich an die Spitze des Gemeinwesens stellen werden. Durch dieses Grundübel ihrer Natur müssen jene Republiken notwendigerweise zugrunde gehen, sobald sie mit energischen und von großen Individualitäten vertretenen Oligarchien und Autokratien in einen entscheidenden Kampf geraten. Daß dieses aber stattfinden muß, sobald in Frankreich die Republik proklamiert würde, unterliegt keinem Zweifel.
Während die Friedenszeit, die wir jetzt genießen, sehr günstig ist für die Verbreitung der republikanischen Lehren, löst sie unter den Republikanern selbst alle Bande der Einigkeit; der argwöhnische Geist dieser Leute muß durch die Tat beschäftigt werden, sonst gerät er in spitzfindige Diskussionen und Zwistreden, die in bittere Feindschaften ausarten. Sie haben wenig Liebe für ihre Freunde und sehr viel Haß für diejenigen, die durch Gewalt des fortschreitenden Nachdenkens sich einer entgegengesetzten Ansicht zuneigen. Mit einer Beschuldigung des Ehrgeizes, wo nicht gar der Bestechlichkeit sind sie alsdann sehr freigebig. In ihrer Beschränktheit pflegen sie nie zu begreifen, daß ihre früheren Bundesgenossen manchmal durch Meinungsverschiedenheit gezwungen werden sich von ihnen zu entfernen. Unfähig, die rationellen Gründe solcher Entfernung zu ahnen, schreien sie gleich über pekuniäre Motive. Dieses Geschrei ist charakteristisch. Die Republikaner haben sich nun einmal mit dem Gelde aufs feindlichste überworfen, alles, was ihnen Schlimmes begegnet, wird dem Einfluß des Geldes zugeschrieben; und in der Tat, das Geld dient ihren Gegnern als Barrikade, als Schutz und Wehr, ja das Geld ist vielleicht ihr eigentlicher Gegner, der heutige Pitt, der heutige Koburg, und sie schimpfen darauf in altsansculottischer [269] Weise. Im Grunde leitet sie ein richtiger Instinkt. Von jener neuen Doktrin, die alle sozialen Fragen von einem höheren Gesichtspunkt betrachtet und von dem banalen Republikanismus sich ebenso glänzend unterscheidet wie ein kaiserliches Purpurgewand von einem grauen Gleichheitskittel, davon haben unsere Republikaner wenig zu fürchten; denn wie sie selber, ist auch die große Menge noch entfernt von jener Doktrin. Die große Menge, der hohe und niedere Plebs, del edle Bürger stand, der bürgerliche Adel, sämtliche Honoratioren der lieben Mittelmäßigkeit, begreifen ganz gut den Republikanismus – eine Lehre, wozu nicht viel Vorkenntnisse gehören, die zugleich allen ihren Kleingefühlen und Verflachungsgedanken zusagt und die sie auch öffentlich bekennen würden, gerieten sie nicht dadurch in einen Konflikt – mit dem Gelde. Jeder Taler ist ein tapferer Bekämpfer des Republikanismus und jeder Dukaten ein Achilles. Ein Republikaner haßt daher das Geld mit großem Recht, und wird er dieses Feindes habhaft, ach! so ist der Sieg noch schlimmer als eine Niederlage: der Republikaner, der sich des Geldes bemächtigte, hat aufgehört, ein Republikaner zu sein!
Wie die Sympathie, die der Republikanismus erregt, dennoch durch die Geldinteressen beständig niedergehalten wird, bemerkte ich dieser Tage im Gespräche mit einem sehr aufgeklärten Bankier, der im größten Eifer zu mir sagte: »Wer bestreitet denn die Vorzüge der republikanischen Verfassung? Ich selber bin manchmal ganz Republikaner. Sehen Sie, stecke ich die Hand in die rechte Hosentasche, worin mein Geld ist, so macht die Berührung mit dem kalten Metall mich zittern, ich fürchte für mein Eigentum, und ich fühle mich monarchisch gesinnt; stecke ich hingegen die Hand in die linke Hosentasche, welche leer ist, dann schwindet gleich alle Furcht, und ich pfeife lustig die Marseillaise, und ich stimme für die Republik!« –
Wie die Republikaner sind auch die Legitimisten beschäftigt, die jetzige Friedenszeit zur Aussaat zu benutzen, und besonders in den stillen Boden der Provinz streuen sie den Samen, woraus ihr Heil erblühen soll. Das meiste erwarten sie von der [270] Propaganda, die, durch Erziehungsanstalten und Bearbeitung des Landvolks, die Autorität der Kirche wiederherzustellen trachtet. Mit dem Glauben der Väter sollen auch die Rechte der Väter wieder zu Ansehen kommen. Man sieht daher Frauen von der adeligsten Geburt, die, gleichsam als Ladies patronesses der Religion, ihre devoten Gesinnungen zur Schau tragen, überall Seelen für den Himmel anwerben und durch ihr elegantes Beispiel die ganze vornehme Welt in die Kirchen locken. Auch waren die Kirchen nie voller als letzte Ostern. Besonders nach Saint-Roch und Notre-Dame de Lorette drängte sich die geputzte Andacht; hier glänzten die schwärmerisch schönsten Toiletten, hier reichte der fromme Dandy das Weihwasser mit weißen Glacéhandschuhen, hier beteten die Grazien. Wird dies lange währen? Wird diese Religiosität, wenn sie die Vogue der Mode gewinnt, nicht auch dem schnellen Wechsel der Mode unterworfen sein? Ist diese Röte ein Zeichen der Gesundheit? ... »Der liebe Gott hat heute viel Besuche«, sagte ich vorigen Sonntag zu einem Freunde, als ich den Zudrang nach den Kirchen bemerkte. »Es sind Abschiedsvisiten« – erwiderte der Ungläubige.
Die Drachenzähne, welche von Republikanern und Legitimisten gesäet werden, kennen wir jetzt, und es wird uns nicht überraschen, wenn sie einst als geharnischte Kämpen aus dem Boden hervorstürmen und sich untereinander würgen oder auch miteinander fraternisieren. Ja, letzteres ist möglich, gibt es doch hier einen entsetzlichen Priester, der, durch seine blutdürstigen Glaubensworte, die Männer des Scheiterhaufens mit den Männern der Guillotine zu verbinden hofft.
Unterdessen sind alle Augen auf das Schauspiel gerichtet, das auf Frankreichs Oberfläche, durch mehr oder minder oberflächliche Akteure, tragiert wird. Ich spreche von der Kammer und dem Ministerium. Die Stimmung der ersteren sowie die Erhaltung des letzteren ist gewiß von der größten Wichtigkeit, denn der Hader in der Kammer könnte eine Katastrophe beschleunigen, die bald näher, bald ferner zu treten scheint. Einem solchen Ausbruch so lange als möglich vorzubeugen ist die [271] Aufgabe unserer jetzigen Staatslenker. Daß sie nichts anders wollen, nichts anders hoffen, daß sie die endliche »Götterdämmerung« voraussehen, verrät sich in allen ihren Handlungen, in allen ihren Worten. Mit fast naiver Ehrlichkeit gestand Thiers in einer seiner letzten Reden, wie wenig er der nächsten Zukunft traue und wie man von Tag zu Tag sich hinfristen müsse; er hat ein feines Ohr und hört schon das Geheul des Wolfes Fenris, der das Reich der Hela verkündigt. Wird ihn die Verzweiflung über das Unabwendbare nicht mal plötzlich zu einer allzu heftigen Handlung hinreißen?
V
Paris, den 30. April 1840
Gestern abend, nach langem Erwarten von Tag zu Tag, nach einem fast zweimonatlichen Hinzögern, wodurch die Neugier, aber auch die Geduld des Publikums überreizt wurde – endlich gestern abend ward »Cosima«, das Drama von George Sand, im Théâtre Français aufgeführt. Man hat keinen Begriff davon, wie seit einigen Wochen alle Notabilitäten der Hauptstadt, alles, was hier hervorragt durch Rang, Geburt, Talent, Laster, Reichtum, kurz, durch Auszeichnung jeder Art, sich Mühe gab, dieser Vorstellung beiwohnen zu können. Der Ruhm des Autors ist so groß, daß die Schaulust aufs höchste gespannt war; aber nicht bloß die Schaulust, sondern noch ganz andere Interessen und Leidenschaften kamen ins Spiel. Man kannte im voraus die Kabalen, die Intrigen, die Böswilligkeiten, die sich gegen das Stück verschworen und mit dem niedrigsten Metierneid gemeinschaftliche Sache machten. Der kühne Autor, der durch seine Romane bei der Aristokratie und bei dem Bürgerstand gleich großes Mißfallen erregte, sollte für seine »irreligiösen und immoralischen Grundsätze« bei Gelegenheit eines dramatischen Debüts öffentlich büßen; denn, wie ich Ihnen dieser Tage schrieb, die französische Noblesse betrachtet die Religion als eine Abwehr gegen die herandrohenden Schrecknisse des Republikanismus und protegiert sie, um ihr Ansehen [272] zu befördern und ihre Köpfe zu schützen, während die Bourgeoisie durch die antimatrimonialen Doktrinen eines George Sand ebenfalls ihre Köpfe bedroht sieht, nämlich bedroht durch einen gewissen Hornschmuck, den ein verheirateter Bürgergardist ebensogern entbehrt, wie er gern mit dem Kreuze der Ehrenlegion geziert zu werden wünscht.
Der Autor hatte sehr gut seine mißliche Stellung begriffen und in seinem Stück alles vermieden, was die adeligen Ritter der Religion und die bürgerlichen Schildknappen der Moral, die Legitimisten der Politik und der Ehe, in Harnisch bringen konnte; und der Vorfechter der sozialen Revolution, der in seinen Schriften das Wildeste wagte, hatte sich auf der Bühne die zahmsten Schranken gesetzt, und sein nächster Zweck war, nicht auf dem Theater seine Prinzipien zu proklamieren, sondern vom Theater Besitz zu nehmen. Daß ihm dies gelingen könne, erregte aber eine große Furcht unter gewissen kleinen Leuten, denen die angedeuteten religiösen, politischen und moralischen Differenzen ganz fremd sind und die nur den gemeinsten Handwerksinteressen huldigen. Das sind die sogenannten Bühnendichter, die in Frankreich ebenso wie bei uns in Deutschland eine ganz abgesonderte Klasse bilden und wie mit der eigentlichen Literatur selbst, so auch mit den ausgezeichneten Schriftstellern, deren die Nation sich rühmt, nichts gemein haben. Letztere, mit wenigen Ausnahmen, stehen dem Theater ganz fern, nur daß bei uns die großen Schriftsteller mit vornehmer Geringschätzung sich eigenwillig von der Bretterwelt abwenden, während sie in Frankreich sich herzlich gern darauf produzieren möchten, aber durch die Machinationen der erwähnten Bühnendichter von diesem Terrain zurückgetrieben werden. Und im Grunde kann man es den kleinen Leuten nicht verdenken, daß sie sich gegen die Invasion der Großen soviel als möglich wehren. »Was wollt ihr bei uns«, rufen sie, »bleibt in eurer Literatur und drängt euch nicht zu unsern Suppentöpfen! Für euch der Ruhm, für uns das Geld! Für euch die langen Artikel der Bewunderung, die Anerkenntnis der Geister, die höhere Kritik, die uns arme [273] Schelme ganz ignoriert! Für euch der Lorbeer, für uns der Braten! Für euch der Rausch der Poesie, für uns der Schaum des Champagners, den wir vergnüglich schlürfen in Gesellschaft des Chefs der Claqueure und der anständigsten Damen. Wir essen, trinken, werden applaudiert, ausgepfiffen und vergessen, während ihr in den Revuen ›beider Welten‹ gefeiert werdet und der erhabensten Unsterblichkeit entgegenhungert!«
In der Tat, das Theater gewährt jenen Bühnendichtern den glänzendsten Wohlstand; die meisten von ihnen werden reich, leben in Hülle und Fülle, statt daß die größten Schriftsteller Frankreichs, ruiniert durch den belgischen Nachdruck und den bankerotten Zustand des Buchhandels, in trostloser Armut dahindarben. Was ist natürlicher, als daß sie manchmal nach den goldenen Früchten schmachten, die hinter den Lampen der Bretterwelt reifen, und die Hand darnach ausstrecken, wie jüngst Balzac tat, dem solches Gelüst so schlecht bekam! Herrscht schon in Deutschland ein geheimes Schutz- und Trutzbündnis zwischen den Mittelmäßigkeiten, die das Theater ausbeuten, so ist das in weit schnöderer Weise der Fall zu Paris, wo all diese Misere zentralisiert ist. Und dabei sind hier die kleinen Leute so aktiv, so geschickt, so unermüdlich in ihrem Kampf gegen die Großen und ganz besonders in ihrem Kampf gegen das Genie, das immer isoliert steht, auch etwas ungeschickt ist und, im Vertrauen gesagt, auch gar zu träumerisch träge ist.
Welche Aufnahme fand nun das Drama von George Sand, des größten Schriftstellers, den das neue Frankreich hervorgebracht, des unheimlich einsamen Genius, der auch bei uns in Deutschland gewürdigt worden? War die Aufnahme eine entschieden schlechte oder eine zweifelhaft gute? Ehrlich gestanden, ich kann diese Frage nicht beantworten. Die Achtung vor dem großen Namen lähmte vielleicht manches böse Vorhaben. Ich erwartete das Schlimmste. Alle Antagonisten des Autors hatten sich ein Rendezvous gegeben in dem ungeheuren Saale des Théâtre Français, der über zweitausend Personen faßt. Etwa einhundertvierzig Billette hatte die Administration [274] zur Verfügung des Autors gestellt, um sie an die Freunde zu verteilen; ich glaube aber, verzettelt durch weibliche Laune, sind davon nur wenige in die rechten, applaudierenden Hände geraten. Von einer organisierten Claque war gar nicht die Rede; der gewöhnliche Chef derselben hatte seine Dienste angeboten, fand aber kein Gehör bei dem stolzen Verfasser der »Lélia«. Die sogenannten Römer, die in der Mitte des Parterres unter dem großen Leuchter so tapfer zu applaudieren pflegen, wenn ein Stück von Scribe oder Ancelot aufgeführt wird, waren gestern im Théâtre Français nicht sichtbar.
Über die Darstellung des bestrittenen Dramas kann ich leider nur das Schlimmste berichten. Außer der berühmten Dorval, die gestern nicht schlechter, aber auch nicht besser als gewöhnlich spielte, trugen alle Akteure ihre monotone Mittelmäßigkeit zur Schau. Der Hauptheld des Stücks, ein Monsieur Beauvallet, spielte, um biblisch zu reden, »wie ein Schwein mit einem goldenen Nasenring«. George Sand scheint vorausgesehn zu haben, wie wenig sein Drama, trotz aller Zugeständnisse, die er den Kapricen der Schauspieler machte, von den mimischen Leistungen derselben zu erwarten hatte, und im Gespräch mit einem deutschen Freunde sagte er scherzhaft: »Sehen Sie, die Franzosen sind alle geborne Komödianten, und jeder spielt in der Welt mehr oder minder brillant seine Rolle; diejenigen aber unter meinen Landsleuten, die am wenigsten Talent für die edle Schauspielkunst besitzen, widmen sich dem Theater und werden Akteure.«
Ich habe selbst früher bemerkt, daß das öffentliche Leben in Frankreich, das Repräsentativsystem und das politische Treiben, die besten schauspielerischen Talente der Franzosen absorbiert und deshalb auf dem eigentlichen Theater nur die Mediokritäten zu finden sind. Dieses gilt aber nur von den Männern, nicht von den Weibern; die französische Bühne ist reich an Schauspielerinnen vom höchsten Wert, und die jetzige Generation überflügelt vielleicht die frühere. Große, außerordentliche Talente bewundern wir, die sich hier um so zahlreicher entfalten konnten, da die Frauen durch eine ungerechte [275] Gesetzgebung, durch die Usurpation der Männer, von allen politischen Ämtern und Würden ausgeschlossen sind und ihre Fähigkeiten nicht auf den Brettern des Palais Bourbon und des Luxembourg geltend machen können. Ihrem Drang nach Öffentlichkeit stehen nur die öffentlichen Häuser der Kunst und der Galanterie offen, und sie werden entweder Aktricen oder Loretten oder auch beides zugleich, denn hier in Frankreich sind diese zwei Gewerbe nicht so streng geschieden wie bei uns in Deutschland, wo die Komödianten oft zu den reputierlichsten Personen gehören und nicht selten sich durch bürgerlich gute Aufführung auszeichnen: sie sind bei uns nicht durch die öffentliche Meinung wie Parias ausgestoßen aus der Gesellschaft, und sie finden vielmehr in den Häusern des Adels, in den Soireen toleranter jüdischer Bankiers und sogar in einigen honetten bürgerlichen Familien eine zuvorkommende Aufnahme. Hier in Frankreich im Gegenteil, wo so viele Vorurteile ausgerottet sind, ist das Anathema der Kirche noch immer wirksam in bezug auf die Schauspieler; sie werden noch immer als Verworfene betrachtet, und da die Menschen immer schlecht werden, wenn man sie schlecht behandelt, so bleiben mit wenigen Ausnahmen die Schauspieler hier im verjährten Zustande des glänzend schmutzigen Zigeunertums. Thalia und die Tugend schlafen hier selten in demselben Bette, und sogar unsere berühmteste Melpomene steigt manchmal von ihrem Kothurn herunter, um ihn mit den liederlichen Pantöffelchen einer Philine zu vertauschen.
Alle schöne Schauspielerinnen haben hier ihren bestimmten Preis, und die, welche um keinen bestimmten Preis zu haben, sind gewiß die teuersten. Die meisten jungen Schauspielerinnen werden von Verschwendern oder reichen Parvenüs unterhalten. Die eigentlichen unterhaltenen Frauen, die sogenannten femmes entretenues, empfinden dagegen die gewaltigste Sucht, sich auf dem Theater zu zeigen, eine Sucht, worin Eitelkeit und Kalkül sich vereinigen, da sie dort am besten ihre Körperlichkeit zur Schau stellen, sich den vornehmen Lüstlingen bemerkbar machen und zugleich auch vom größern Publikum bewundern [276] lassen können. Diese Personen, die man besonders auf den kleinen Theatern spielen sieht, erhalten gewöhnlich gar keine Gage, im Gegenteil, sie bezahlen noch monatlich den Direktoren eine bestimmte Summe für die Vergünstigung, daß sie auf ihrer Bühne sich produzieren können. Man weiß daher selten hier, wo die Aktrice und die Kurtisane ihre Rolle wechseln, wo die Komödie aufhört und die liebe Natur wieder anfängt, wo der fünffüßige Jambus in die vierfüßige Unzucht übergeht. Diese Amphibien von Kunst und Laster, diese Melusinen des Seinestrandes bilden gewiß den gefährlichsten Teil des galanten Paris, worin so viele holdselige Monstra ihr Wesen treiben. Wehe dem Unerfahrenen, der in ihre Netze gerät! Wehe auch dem Erfahrenen, der wohl weiß, daß das holde Ungetüm in einen häßlichen Fischschwanz endet, und dennoch der Bezauberung nicht zu widerstehen vermag und vielleicht eben durch die Wollust des innern Grauens, durch den fatalen Reiz des lieblichen Verderbens, des süßen Abgrunds, desto sicherer überwältigt wird!
Die Weiber, von welchen hier die Rede, sind nicht böse oder falsch, sie sind sogar gewöhnlich von außerordentlicher Herzensgüte, sie sind nicht so betrüglich und so habsüchtig, wie man glaubt, sie sind mitunter vielmehr die treuherzigsten und großmütigsten Kreaturen; alle ihre unreinen Handlungen entstehen durch das momentane Bedürfnis, die Not und die Eitelkeit; sie sind überhaupt nicht schlechter als andere Töchter Evas, die von Kindheit auf durch Wohlhabenheit und überwachende Sippschaft oder durch die Gunst des Schicksals vor dem Fallen und dem noch tiefer Fallen geschützt werden. – Das Charakteristische bei ihnen ist eine gewisse Zerstörungssucht, von welcher sie besessen sind, nicht bloß zum Schaden eines Galans, sondern auch zum Schaden desjenigen Mannes, den sie wirklich lieben, und zumeist zum Schaden ihrer eigenen Person. Diese Zerstörungssucht ist tief verwebt mit einer Sucht, einer Wut, einem Wahnsinn nach Genuß, dem augenblicklichsten Genuß, der keinen Tag Frist gestattet, an keinen Morgen denkt und aller Bedenklichkeiten überhaupt spottet. Sie erpressen [277] dem Geliebten seinen letzten Sou, bringen ihn dahin, auch seine Zukunft zu verpfänden, um nur der Freude der Stunde zu genügen; sie treiben ihn dahin, selbst jene Ressourcen zu vergeuden, die ihnen selber zugute kommen dürften, sie sind manchmal sogar schuld, daß er seine Ehre eskomptiert – kurz, sie ruinieren den Geliebten in der grauenhaftesten Eile und mit einer schauerlichen Gründlichkeit. Montesquieu hat irgendwo in seinem »Esprit des lois« das Wesen des Despotismus dadurch zu charakterisieren gesucht, daß er die Despoten mit jenen Wilden verglich, die, wenn sie die Früchte eines Baumes genießen wollen, sogleich zur Axt greifen und den Baum selbst niederfällen und sich dann gemächlich neben dem Stamm niedersetzen und in genäschiger Hast die Früchte aufspeisen. Ich möchte diese Vergleichung auf die erwähnten Damen anwenden. Nach Shakespeare, der uns in der Kleopatra, die ich einst eine »reine entretenue« genannt habe, ein tiefsinniges Beispiel solcher Frauengestalten aufgezeichnet hat, ist gewiß unser Freund Honoré de Balzac derjenige, der sie mit der größten Treue geschildert. Er beschreibt sie, wie ein Naturforscher irgendeine Tierart oder ein Pathologe eine Krankheit beschreibt, ohne moralisierenden Zweck, ohne Vorliebe noch Abscheu. Es ist ihm gewiß nie eingefallen, solche Phänomena zu verschönern oder gar zu rehabilitieren, was die Kunst ebensosehr verböte als die Sittlichkeit.
Spätere Notiz
1854
Berichterstattungen über die erste Vorstellung eines Dramas, wo schon der gefeierte Name des Autors die Neugier reizt, müssen mit großer Eilfertigkeit abgefaßt und abgeschickt werden, damit nicht böswillige Mißurteile oder verunglimpfender Klatsch einen bedenklichen Vorsprung gewinnen. In den vorstehenden Blättern fehlt daher jede nähere Besprechung des Dichters oder vielmehr der Dichterin, die hier ihren ersten Bühnenversuch wagte; ein Versuch, der gänzlich mißglückte, [278] so daß die Stirn, die an Lorbeerkränze gewöhnt, diesmal mit sehr fatalen Dornen gekrönt worden. Für die angedeutete Entbehrnis in obigem Berichte bieten wir heute einen notdürftigen Ersatz, indem wir aus einer vor etlichen Jahren geschriebenen Monographie etwelche Bemerkungen über die Person oder vielmehr die persönliche Erscheinung George Sands hier mitteilen. Sie lauten wie folgt:
»Wie männiglich bekannt, ist George Sand ein Pseudonym, der nom de guerre einer schönen Amazone. Bei der Wahl dieses Namens leitete sie keineswegs die Erinnerung an den unglückseligen Sand, den Meuchelmörder Kotzebues, des einzigen Lustspieldichters der Deutschen. Unsere Heldin wählte jenen Namen, weil er die erste Silbe von Sandeau; so hieß nämlich ihr Liebhaber, der ein achtungswerter Schriftsteller, aber dennoch mit seinem ganzen Namen nicht so berühmt werden konnte wie seine Geliebte mit der Hälfte desselben, die sie lachend mitnahm, als sie ihn verließ. Der wirkliche Name von George Sand ist Aurora Dudevant, wie ihr legitimer Gatte geheißen, der kein Mythos ist, wie man glauben sollte, sondern ein leiblicher Edelmann aus der Provinz Berry, und den ich selbst einmal das Vergnügen hatte mit eigenen Augen zu sehen. Ich sah ihn sogar bei seiner damals schon de facto geschiedenen Gattin, in ihrer kleinen Wohnung auf dem Quai Voltaire, und daß ich ihn eben dort sah, war an und für sich eine Merkwürdigkeit, ob welcher, wie Chamisso sagen würde, ich selbst mich für Geld sehen lassen könnte. Er trug ein nichtssagendes Philistergesicht und schien weder böse noch roh zu sein, doch begriff ich sehr leicht, daß diese feuchtkühle Tagtäglichkeit, dieser porzellanhafte Blick, diese monotonen, chinesischen Pagodenbewegungen für ein banales Weibzimmer sehr amüsant sein konnten, jedoch einem tieferen Frauengemüte auf die Länge sehr unheimlich werden und dasselbe endlich mit Schauder und Entsetzen, bis zum Davonlaufen, erfüllen mußten.
Der Familienname der Sand ist Dupin. Sie ist die Tochter eines Mannes von geringem Stande, dessen Mutter die berühmte, [279] aber jetzt vergessene Tänzerin Dupin gewesen. Diese Dupin soll eine natürliche Tochter des Marschalls Moritz von Sachsen gewesen sein, welcher selber zu den vielen hundert Hurenkindern gehörte, die der Kurfürst August der Starke hinterließ. Die Mutter des Moritz von Sachsen war Aurora von Königsmark, und Aurora Dudevant, welche nach ihrer Ahnin genannt wurde, gab ihrem Sohne ebenfalls den Namen Moritz. Dieser und ihre Tochter, Solange geheißen und an den Bildhauer Clésinger vermählt, sind die zwei einzigen Kinder von George Sand. Sie war immer eine vortreffliche Mutter, und ich habe oft stundenlang dem französischen Sprachunterricht beigewohnt, den sie ihren Kindern erteilte, und es ist schade, daß die sämtliche Académie Française diesen Lektionen nicht beiwohnte, da sie gewiß davon viel profitieren konnte.
George Sand, die größte Schriftstellerin, ist zugleich eine schöne Frau. Sie ist sogar eine ausgezeichnete Schönheit. Wie der Genius, der sich in ihren Werken ausspricht, ist ihr Gesicht eher schön als interessant zu nennen; das Interessante ist immer eine graziöse oder geistreiche Abweichung vom Typus des Schönen, und die Züge von George Sand tragen eben das Gepräge einer griechischen Regelmäßigkeit. Der Schnitt derselben ist jedoch nicht schroff und wird gemildert durch die Sentimentalität, die darüber wie ein schmerzlicher Schleier ausgegossen. Die Stirn ist nicht hoch, und gescheitelt fällt bis zur Schulter das köstliche kastanienbraune Lockenhaar. Ihre Augen sind etwas matt, wenigstens sind sie nicht glänzend, und ihr Feuer mag wohl durch viele Tränen erloschen oder in ihre Werke übergegangen sein, die ihre Flammenbrände über die ganze Welt verbreitet, manchen trostlosen Kerker erleuchtet, vielleicht aber auch manchen stillen Unschuldstempel verderblich entzündet haben. Der Autor von ›Lélia‹ hat stille, sanfte Augen, die weder an Sodom noch an Gomorrha erinnern. Sie hat weder eine emanzipierte Adlernase noch ein witziges Stumpfnäschen; es ist eben eine ordinäre gerade Nase. Ihren Mund umspielt gewöhnlich ein gutmütiges Lächeln, es ist aber nicht sehr anziehend; die etwas hängende Unterlippe verrät [280] ermüdete Sinnlichkeit. Das Kinn ist vollfleischig, aber doch schön gemessen. Auch ihre Schultern sind schön, ja prächtig. Ebenfalls die Arme und die Hände, die sehr klein, wie ihre Füße. Die Reize des Busens mögen andere Zeitgenossen beschreiben; ich gestehe meine Inkompetenz. Ihr übriger Körperbau scheint etwas zu dick, wenigstens zu kurz zu sein. Nur der Kopf trägt den Stempel der Idealität, erinnert an die edelsten Überbleibsel der griechischen Kunst, und in dieser Beziehung konnte immerhin einer unserer Freunde die schöne Frau mit der Marmorstatue der Venus von Milo vergleichen, die in den unteren Sälen des Louvres aufgestellt. Ja, George Sand ist schön wie die Venus von Milo; sie übertrifft diese sogar durch manche Eigenschaften: sie ist z.B. sehr viel jünger. Die Physiognomen, welche behaupten, daß die Stimme des Menschen seinen Charakter am untrüglichsten ausspreche, würden sehr verlegen sein, wenn sie die außerordentliche Innigkeit einer George Sand aus ihrer Stimme herauslauschen sollten. Letztere ist matt und welk, ohne Metall, jedoch sanft und angenehm. Die Natürlichkeit ihres Sprechens verleiht ihr einigen Reiz. Von Gesangsbegabnis ist bei ihr keine Spur; George Sand singt höchstens mit der Bravour einer schönen Grisette, die noch nicht gefrühstückt hat oder sonst nicht eben bei Stimme ist. Das Organ von George Sand ist ebensowenig glänzend wie das, was sie sagt. Sie hat durchaus nichts von dem sprudelnden Esprit ihrer Landsmänninnen, aber auch nichts von ihrer Geschwätzigkeit. Dieser Schweigsamkeit liegt aber weder Bescheidenheit noch sympathetisches Versenken in die Rede eines andern zum Grunde. Sie ist einsilbig vielmehr aus Hochmut, weil sie dich nicht wert hält, ihren Geist an dir zu vergeuden, oder gar aus Selbstsucht, weil sie das Beste deiner Rede in sich aufzunehmen trachtet, um es später in ihren Büchern zu verarbeiten. Daß George Sand aus Geiz im Gespräche nichts zu geben und immer etwas zu nehmen versteht, ist ein Zug, worauf mich Alfred de Musset einst aufmerksam machte. ›Sie hat dadurch einen großen Vorteil vor uns andern‹, sagte Musset, der in seiner Stellung als langjähriger Cavaliere servente jener [281] Dame die beste Gelegenheit hatte, sie gründlich kennenzulernen.
Nie sagt George Sand etwas Witziges, wie sie überhaupt eine der unwitzigsten Französinnen ist, die ich kenne. Mit einem liebenswürdigen, oft sonderbaren Lächeln hört sie zu, wenn andere reden, und die fremden Gedanken, die sie in sich aufgenommen und verarbeitet hat, gehen aus dem Alambik ihres Geistes weit kostbarer hervor. Sie ist eine sehr feine Horcherin. Sie hört auch gerne auf den Rat ihrer Freunde. Bei ihrer unkanonischen Geistesrichtung hat sie, wie begreiflich, keinen Beichtvater; doch da die Weiber, selbst die emanzipationssüchtigsten, immer eines männlichen Lenkers, einer männlichen Autorität bedürfen, so hat George Sand gleichsam einen literarischen directeur de conscience, den philosophischen Kapuziner Pierre Leroux. Dieser wirkt leider sehr verderblich auf ihr Talent, denn er verleitet sie, sich in unklare Faseleien und halbausgebrütete Ideen einzulassen, statt sich der heitern Lust farbenreicher und bestimmter Gestaltungen hinzugeben, die Kunst der Kunst wegen übend. Mit weit weltlichern Funktionen hatte George Sand unsern vielgeliebten Frédéric Chopin betraut. Dieser große Musiker und Pianist war während langer Zeit ihr Cavaliere servente; vor seinem Tode entließ sie ihn; sein Amt war freilich in der letzten Zeit eine Sinekure geworden.
Ich weiß nicht, wie mein Freund Heinrich Laube einst in der ›Allgemeinen Zeitung‹ mir eine Äußerung in den Mund legen konnte, die dahin lautete, als sei der damalige Liebhaber von George Sand der geniale Franz Liszt gewesen. Laubes Irrtum entstand gewiß durch Ideenassoziationen, indem er die Namen zweier gleichberühmten Pianisten verwechselte. Ich benutze diese Gelegenheit, dem guten oder vielmehr dem ästhetischen Leumund der Dame einen wirklichen Dienst zu erweisen, indem ich meinen deutschen Landsleuten zu Wien und Prag die Versicherung erteile, daß es eine der miserabelsten Verleumdungen ist, wenn dort einer der miserabelsten Liederkompositeurs vom mundfaulsten Dialekte, ein namenloses, kriechendes [282] Insekt, sich rühmt, mit George Sand in intimem Umgange gestanden zu haben. Die Weiber haben allerlei Idiosynkrasien, und es gibt deren sogar, welche Spinnen verspeisen; aber ich bin noch keiner Frau begegnet, welche Wanzen verschluckt hätte. Nein, an dieser prahlerischen Wanze hat Lélia nie Geschmack gefunden, und sie tolerierte dieselbe nur manchmal in ihrer Nähe, weil sie gar zu zudringlich war.
Lange Zeit, wie ich oben bemerkt, war Alfred de Musset der Herzensfreund von George Sand. Sonderbarer Zufall, daß einst der größte Dichter in Prosa, den die Franzosen besitzen, und der größte ihrer jetzt lebenden Dichter in Versen (jedenfalls der größte nach Béranger), lange Zeit in leidenschaftlicher Liebe füreinander entbrannt, ein lorbeergekröntes Paar bildeten. George Sand in Prosa und Alfred de Musset in Versen überragen in der Tat den so gepriesenen Victor Hugo, der mit seiner grauenhaft hartnäckigen, fast blödsinnigen Beharrlichkeit den Franzosen und endlich sich selber weismachte, daß er der größte Dichter Frankreichs sei. Ist dieses wirklich seine eigene fixe Idee? Jedenfalls ist es nicht die unsrige. Sonderbar! die Eigenschaft, die ihm soviel fehlt, ist eben diejenige, die bei den Franzosen am meisten gilt und zu ihren schönsten Eigentümlichkeiten gehört. Es ist dieses der Geschmack. Da sie den Geschmack bei allen französischen Schriftstellern antrafen, mochte der gänzliche Mangel desselben bei Victor Hugo ihnen vielleicht eben als eine Originalität erscheinen. Was wir bei ihm am unleidlichsten vermissen, ist das, was wir Deutsche ›Natur‹ nennen: er ist gemacht, verlogen, und oft im selben Verse sucht die eine Hälfte die andere zu belügen; er ist durch und durch kalt, wie nach Aussagen der Hexen der Teufel ist, eiskalt sogar in seinen leidenschaftlichsten Ergüssen; seine Begeisterung ist nur eine Phantasmagorie, ein Kalkül ohne Liebe, oder vielmehr, er liebt nur sich; er ist ein Egoist, und damit ich noch Schlimmeres sage, er ist ein Hugoist. Wir sehen hier mehr Härte als Kraft, eine freche eiserne Stirn und, bei allem Reichtum der Phantasie und des Witzes, dennoch die Unbeholfenheit eines Parvenüs oder eines Wilden, der sich durch Überladung [283] und unpassende Anwendung von Gold und Edelsteinen lächerlich macht: kurz, barocke Barbarei, gellende Dissonanz und die schauderhafteste Difformität! Es sagte jemand von dem Genius des Victor Hugo: ›C'est un beau bossu.‹ Das Wort ist tiefsinniger, als diejenigen ahnen, welche Hugos Vortrefflichkeit rühmen.
Ich will hier nicht bloß darauf hindeuten, daß in seinen Romanen und Dramen die Haupthelden mit einem Höcker belastet sind, sondern daß er selbst im Geiste höckericht ist. Nach unserer modernen Identitätslehre ist es ein Naturgesetz, daß der inneren, der geistigen Signatur eines Menschen auch seine äußere, die körperliche Signatur entspricht – diese Idee trug ich noch im Kopfe, als ich nach Frankreich kam, und ich gestand einst meinem Buchhändler Eugène Renduel, welcher auch der Verleger Hugos war, daß ich, nach der Vorstellung, die ich mir von letzterem gemacht hatte, nicht wenig verwundert gewesen sei, in Herrn Hugo einen Mann zu finden, der nicht mit einem Höcker behaftet sei. ›Ja, man kann ihm seine Difformität nicht ansehen‹, bemerkte Renduel zerstreut. ›Wie‹, rief ich, ›er ist also nicht ganz frei davon?‹ – ›Nicht so ganz und gar‹, war die verlegene Antwort, und nach vielem Drängen gestand mir Freund Renduel, er habe eines Morgens Herrn Hugo in dem Momente überrascht, wo er das Hemd wechselte, und da habe er bemerkt, daß eine seiner Hüften, ich glaube die rechte, so mißwüchsig hervortretend sei, wie man es bei Leuten findet, von denen das Volk zu sagen pflegt, sie hätten einen Buckel, nur wisse man nicht, wo er sitze. Das Volk in seiner scharfsinnigen Naivetät nennt solche Leute auch verfehlte Bucklichte, falsche Buckelmenschen, so wie es die Albinos weiße Mohren nennt. Es ist bedeutsam, daß es eben der Verleger des Dichters war, dem jene Difformität nicht verborgen blieb. ›Niemand ist ein Held vor seinem Kammerdiener‹, sagt das Sprüchwort, und vor seinem Verleger, dem lauernden Kammerdiener seines Geistes, wird auch der größte Schriftsteller nicht immer als ein Heros erscheinen; sie sehen uns zu oft in unserm menschlichen Negligé. Jedenfalls ergötzte ich mich sehr an der Entdeckung [284] Renduels, denn sie rettet die Idee meiner deutschen Philosophie, daß nämlich der Leib der sichtbare Geist ist und die geistigen Gebresten auch in der Körperlichkeit sich offenbaren. Ich muß mich ausdrücklich gegen die irrige Annahme verwahren, als ob auch das Umgekehrte der Fall sein müsse, als ob der Leib eines Menschen ebenfalls immer sein sichtbarer Geist wäre und die äußerliche Mißgestalt auch auf eine innere schließen lasse. Nein, wir haben in verkrüppelten Hüllen sehr oft die geradgewachsen schönsten Seelen gefunden, was um so erklärlicher, da die körperlichen Difformitäten gewöhnlich durch irgendein physisches Ereignis entstanden sind und nicht selten auch eine Folge von Vernachlässigung oder Krankheit nach der Geburt. Die Difformität der Seele hingegen wird mit zur Welt gebracht, und so hat der französische Poet, an welchem alles falsch ist, auch einen falschen Buckel.
Wir erleichtern uns die Beurteilung der Werke George Sands, indem wir sagen, daß sie den bestimmten Gegensatz zu denen des Victor Hugo bilden. Jener Autor hat alles, was diesem fehlt: George Sand hat Wahrheit, Natur, Geschmack, Schönheit und Begeisterung, und alle diese Eigenschaften verbindet die strengste Harmonie. George Sands Genius hat die wohlgeründet schönsten Hüften, und alles, was sie fühlt und denkt, haucht Tiefsinn und Anmut. Ihr Stil ist eine Offenbarung von Wohllaut und Reinheit der Form. Was aber den Stoff ihrer Darstellungen betrifft, ihre Sujets, die nicht selten schlechte Sujets genannt werden dürften, so enthalte ich mich hier jeder Bemerkung, und ich überlasse dieses Thema ihren Feinden – –«
VI
Paris, 7. Mai 1840
Die heutigen Pariser Blätter bringen einen Bericht des k. k. österreichischen Konsuls zu Damaskus an den k. k. österreichischen Generalkonsul in Alexandria, in bezug der Damaszener Juden, deren Martyrtum an die dunkelsten Zeiten des Mittelalters erinnert. Während wir in Europa die Märchen desselben [285] als poetischen Stoff bearbeiten und uns an jenen schauerlich naiven Sagen ergötzen, womit unsere Vorfahren sich nicht wenig ängstigten; während bei uns nur noch in Gedichten und Romanen von jenen Hexen, Werwölfen und Juden die Rede ist, die zu ihrem Satansdienst das Blut frommer Christenkinder nötig haben; während wir lachen und vergessen, fängt man an, im Morgenlande sich sehr betrübsam des alten Aberglaubens zu erinnern und gar ernsthafte Gesichter zu schneiden, Gesichter des düstersten Grimms und der verzweifelnden Todesqual! Unterdessen foltert der Henker, und auf der Marterbank gesteht der Jude, daß er bei dem herannahenden Paschafeste etwas Christenblut brauchte zum Eintunken für seine trockenen Osterbröte und daß er zu diesem Behufe einen alten Kapuziner abgeschlachtet habe! Der Türke ist dumm und schnöde und stellt gern seine Bastonaden- und Torturapparate zur Verfügung der Christen gegen die angeklagten Juden; denn beide Sekten sind ihm verhaßt, er betrachtet sie beide wie Hunde, er nennt sie auch mit diesem Ehrennamen, und er freut sich gewiß, wenn der christliche Giaur ihm Gelegenheit gibt, mit einigem Anschein von Recht den jüdischen Giaur zu mißhandeln. Wartet nur, wenn es mal des Paschas Vorteil sein wird und er nicht mehr den bewaffneten Einfluß der Europäer zu fürchten braucht, wird er auch dem beschnittenen Hunde Gehör schenken, und dieser wird unsere christlichen Brüder anklagen, Gott weiß wessen! Heute Amboß, morgen Hammer! –
Aber für den Freund der Menschheit wird dergleichen immer ein Herzeleid sein. Erscheinungen dieser Art sind ein Unglück, dessen Folgen unberechenbar. Der Fanatismus ist ein ansteckendes Übel, das sich unter den verschiedensten Formen verbreitet und am Ende gegen uns alle wütet. Der französische Konsul in Damaskus, der Graf Ratti-Menton, hat sich Dinge zuschulden kommen lassen, die hier einen allgemeinen Schrei des Entsetzens erregten. Er ist es, welcher den okzidentalischen Aberglauben dem Orient einimpfte und unter dem Pöbel von Damaskus eine Schrift austeilte, worin die Juden des Christenmords bezüchtigt werden. Diese haßschnaufende Schrift, die[286] der Graf Menton von seinen geistlichen Freunden zum Behufe der Verbreitung empfangen hatte, ist ursprünglich der »Bibliotheca prompta a Lucio Ferrario« entlehnt, und es wird darin ganz bestimmt behauptet, daß die Juden zur Feier ihres Paschafestes des Blutes der Christen bedürften. Der edle Graf hütete sich, die damit verbundene Sage des Mittelalters zu wiederholen, daß nämlich die Juden zu demselben Zwecke auch konsekrierte Hostien stehlen und mit Nadeln so lange stechen, bis das Blut herausfließe – eine Untat, die im Mittelalter nicht bloß durch beeidigte Zeugenaussagen, sondern auch dadurch ans Tageslicht gekommen, daß über dem Judenhause, worin eine jener gestohlenen Hostien gekreuzigt worden, sich ein lichter Schein verbreitete. Nein, die Ungläubigen, die Muhamedaner, hätten dergleichen nimmermehr geglaubt, und der Graf Menton mußte, im Interesse seiner Sendung, zu weniger mirakulösen Historien seine Zuflucht nehmen. Ich sage, im Interesse seiner Sendung, und überlasse diese Worte dem weitesten Nachdenken. Der Herr Graf ist erst seit kurzer Zeit in Damaskus; vor sechs Monaten sah man ihn hier in Paris, der Werkstätte aller progressiven, aber auch aller retrograden Verbrüderungen. – Der hiesige Minister der auswärtigen Angelegenheiten, Herr Thiers, der sich jüngst nicht bloß als Mann der Humanität, sondern sogar als Sohn der Revolution geltend zu machen suchte, offenbart bei Gelegenheit der Damaszener Vorgänge eine befremdliche Lauheit. Nach dem heutigen »Moniteur« soll bereits ein Vizekonsul nach Damaskus abgegangen sein, um das Betragen des dortigen französischen Konsuls zu untersuchen. Ein Vizekonsul! Gewiß eine untergeordnete Person aus einer nachbarlichen Landschaft, ohne Namen und ohne Bürgschaft parteiloser Unabhängigkeit!
VII
Paris, 14. Mai 1840
Die offizielle Ankündigung in betreff der sterblichen Reste Napoleons hat hier eine Wirkung hervorgebracht, die alle Erwartungen [287] des Ministeriums übertraf. Das Nationalgefühl ist aufgeregt bis in seine abgründlichsten Tiefen, und der große Akt der Gerechtigkeit, die Genugtuung, die dem Riesen unseres Jahrhunderts widerfährt und alle edlen Herzen dieses Erdballs erfreuen muß, erscheint den Franzosen als der Anfang einer Rehabilitation ihrer gekränkten Volksehre. Napoleon ist ihr Point d'honneur.
Während aber der kluge Präsident des Konseils die Nationaleitelkeit unserer lieben Kechenäer, der Maulaufsperrer an der Seine, mit Erfolg zu kitzeln und auszubeuten weiß, zeigt er sich sehr indifferent, ja mehr als indifferent in einer Sache, wo nicht die Interessen eines Landes oder eines Volks, sondern die Interessen der Menschheit selbst in Betracht kommen. Ist es Mangel an liberalem Gefühl oder an Scharfsinn, was ihn verleitete, für den französischen Konsul, dem in der Tragödie zu Damaskus die schändlichste Rolle zugeschrieben wird, offenbar Partei zu nehmen? Nein, Herr Thiers ist ein Mann von großer Einsicht und Humanität, aber er ist auch Staatsmann, er bedarf nicht bloß der revolutionären Sympathien, er hat Helfer nötig von jeder Sorte, er muß transigieren, er braucht eine Majorität in der Pairskammer, er kann den Klerus als ein gouvernementales Mittel benützen, nämlich jenen Teil des Klerus, der, von der ältern bourbonischen Linie nichts mehr erwartend, sich der jetzigen Regierung angeschlossen hat. Zu diesem Teil des Klerus, welchen man den clergé rallié nennt, gehören sehr viele Ultramontanen, deren Organ ein Journal namens »Univers«; letztere erwarten das Heil der Kirche von Herrn Thiers, und dieser sucht wieder in jenen seine Stütze. Graf Montalembert, das rührigste Mitglied der frommen Gesellschaft und seit dem 1. März auch Séide des Herrn Thiers, ist der sichtbare Vermittler zwischen dem Sohn der Revolution und den Vätern des Glaubens, zwischen dem ehemaligen Redakteur des »National« und den jetzigen Redaktoren des »Univers«, die in ihren Kolonnen alles mögliche aufbieten, um der Welt glauben zu machen, die Juden fräßen alte Kapuziner und der Graf Ratti-Menton sei ein ehrlicher Mann. Graf RattiMenton, [288] ein Freund, vielleicht nur ein Werkzeug der Freunde des Grafen Montalembert, war früher französischer Konsul in Sizilien, wo er zweimal bankerott machte und fortgeschafft ward. Später war er Konsul in Tiflis, wo er ebenfalls das Feld räumen mußte, und zwar wegen Dingen, die nicht sonderlich ehrender Art sind; nur soviel will ich bemerken, daß damals der russische Botschafter in Paris, Graf Pahlen, dem hiesigen Minister der auswärtigen Angelegenheiten, Grafen Molé, die bestimmte Anzeige machte: im Fall man den Herrn Ratti-Menton nicht von Tiflis abberufe, werde die kaiserlich russische Regierung denselben schimpflich zu entfernen wissen. Man hätte das Holz, wodurch man Flammen schüren will, nicht von so faulem Baume nehmen sollen!
VIII
Paris, 20. Mai 1840
Herr Thiers hat, durch die überzeugende Klarheit, womit er in der Kammer die trockensten und verworrensten Gegenstände abhandelte, wieder neue Lorbeern errungen. Die Bankverhältnisse wurden uns durch seine Rede ganz veranschaulicht sowie auch die algierschen Angelegenheiten und die Zuckerfrage. Der Mann versteht alles; es ist schade, daß er sich nicht auf deutsche Philosophie gelegt hat; er würde auch diese zu verdeutlichen wissen. Aber wer weiß! wenn die Ereignisse ihn antreiben und er sich auch mit Deutschland beschäftigen muß, wird er über Hegel und Schelling ebenso belehrend sprechen wie über Zuckerrohr und Runkelrübe.
Wichtiger aber für die Interessen Europas als die kommerziellen, finanziellen und Kolonialgegenstände, die in der Kammer zur Sprache kamen, ist die feierliche Rückkehr der irdischen Reste Napoleons. Diese Angelegenheit beschäftigt hier noch immer alle Geister, die höchsten wie die niedrigsten. Während unten im Volke alles jubelt, jauchzt, glüht und aufflammt, grübelt man oben, in den kältern Regionen der Gesellschaft, über die Gefahren, die jetzt von Sankt Helena aus täglich näher [289] ziehen und Paris mit einer sehr bedenklichen Totenfeier bedrohen. Ja, könnte man schon den nächsten Morgen die Asche des Kaisers unter der Kuppel des Invalidenpalastes beisetzen, so dürfte man dem jetzigen Ministerium Kraft genug zutrauen, bei diesem Leichenbegängnisse jeden ungefügen Ausbruch der Leidenschaften zu verhüten. Aber wird es diese Kraft noch nach sechs Monaten besitzen, zur Zeit, wenn der triumphierende Sarg in die Seine hereinschwimmt? In Frankreich, dem rauschenden Lande der Bewegung, können sich binnen sechs Monaten die sonderbarsten Dinge ereignen: Thiers ist unterdessen vielleicht wieder Privatmann geworden (was wir sehr wünschten), oder er ist unterdessen als Minister sehr depopularisiert (was wir sehr befürchten), oder Frankreich ward unterdessen in einen Krieg verwickelt – und alsdann könnten aus der Asche Napoleons einige Funken hervorsprühen, ganz in der Nähe des Stuhls, der mit rotem Zunder bedeckt ist!
Schuf Herr Thiers jene Gefahr, um sich unentbehrlich zu machen, da man ihm auch die Kunst zutraut, alle selbstgeschaffenen Gefahren glücklich zu überwinden, oder sucht er im Bonapartismus eine glänzende Zuflucht für den Fall, daß er einmal mit dem Orleanismus ganz brechen müßte? Herr Thiers weiß sehr gut, daß, wenn er, in die Opposition zurücksinkend, den jetzigen Thron umstürzen hülfe, die Republikaner ans Ruder kämen und ihm für den besten Dienst den schlechtesten Dank widmen würden; im günstigsten Falle schöben sie ihn sacht beiseite. Stolpernd über jene rohen Tugendklötze, könnte er leicht den Hals brechen und noch obendrein verhöhnt werden. Dergleichen hätte er aber nicht vom Bonapartismus zu befürchten, wenn er dessen Wiedereinsetzung förderte. Und leichter wäre es, in Frankreich ein Bonapartistenregiment als eine Republik wieder zu begründen.
Die Franzosen, aller republikanischen Eigenschaften bar, sind ihrer Natur nach ganz bonapartistisch. Ihnen fehlt die Einfalt, die Selbstgenügsamkeit, die innere und die äußere Ruhe; sie lieben den Krieg des Krieges wegen; selbst im Frieden ist ihr Leben eitel Kampf und Lärm; die Alten wie die [290] Jungen ergötzen sich gern am Trommelschlag und Pulverdampf, an Knalleffekten jeder Art.
Dadurch, daß Herr Thiers ihrem angebornen Bonapartismus schmeichelte, hat er unter den Franzosen die außerordentlichste Popularität gewonnen. Oder ward er populär, weil er selber ein kleiner Napoleon ist, wie ihn jüngst ein deutscher Korrespondent nannte? Ein kleiner Napoleon! Ein kleiner gotischer Dom! Ein gotischer Dom erregt eben dadurch, unser Erstaunen, weil er so kolossal, so groß ist. Im verjüngten Maßstabe verlöre er alle Bedeutung. Herr Thiers ist gewiß mehr als so ein winziges Dömchen. Sein Geist überragt alle Intelligenzen rund um ihn her, obgleich manche darunter sind, die von bedeutender Statur. Keiner kann sich mit ihm messen, und in einem Kampfe mit ihm muß die Schlauheit selbst den kürzern ziehen. Er ist der klügste Kopf Frankreichs, obgleich er, wie man behauptet, es selbst gesteht. In seiner schnellzüngigen Weise soll er nämlich voriges Jahr, während der Ministerkrisis, zum König gesagt haben: »Ew. Majestät glauben, Sie seien der klügste Mann in diesem Lande, aber ich kenne hier jemand, der noch weit klüger ist, und das bin ich!« Der schlaue Philipp soll hierauf geantwortet haben: »Sie irren sich, Herr Thiers; wenn Sie es wären, würden Sie es nicht sagen.« – Dem sei aber, wie ihm wolle, Herr Thiers wandelt zu dieser Stunde durch die Gemächer der Tuilerien mit dem Selbstbewußtsein seiner Größe, als ein maire du palais der Orleanischen Dynastie.
Wird er lange diese Allmacht behaupten? Ist er nicht jetzt schon heimlich gebrochen, infolge ungeheurer Anstrengungen? Sein Haupt ist vor der Zeit gebleicht, man findet darauf gewiß kein einziges schwarzes Haar mehr; und je länger er herrscht, desto mehr schwindet die kecke Gesundheit seines Naturells. Die Leichtigkeit, womit er sich bewegt, hat jetzt sogar etwas Unheimliches. Aber außerordentlich und bewunderungswürdig ist sie noch immer, diese Leichtigkeit, und wie leicht und beweglich auch die andern Franzosen sind, in Vergleichung mit Thiers erscheinen sie wie lauter plumpe Deutsche.
[291] IX
Paris, 27. Mai 1840
Über die Blutfrage von Damaskus haben norddeutsche Blätter mehre Mitteilungen geliefert, welche teils von Paris, teils von Leipzig datiert, aber wohl aus derselben Feder geflossen sind und, im Interesse einer gewissen Clique, das Urteil des deutschen Publikums irreleiten sollen. Wir lassen die Persönlichkeit und die Motive jenes Berichterstatters unbeleuchtet, enthalten uns auch aller Untersuchung der Damaszener Vorgänge: nur über das, was in Beziehung derselben von den hiesigen Juden und der hiesigen Presse gesagt wurde, erlauben wir uns einige berichtigende Bemerkungen. Aber auch bei dieser Aufgabe leitet uns mehr das Interesse der Wahrheit als der Personen; und was gar die hiesigen Juden betrifft, so ist es möglich, daß unser Zeugnis eher gegen sie als für sie spräche. – Wahrlich, wir würden die Juden von Paris eher loben als tadeln, wenn sie, wie die erwähnten norddeutschen Blätter meldeten, für ihre unglücklichen Glaubensbrüder in Damaskus einen so großen Eifer an den Tag legten und zur Ehrenrettung ihrer verleumdeten Religion keine Geldopfer scheuten. Aber es ist nicht der Fall. Die Juden in Frankreich sind schon zu lange emanzipiert, als daß die Stammesbande nicht sehr gelockert wären, sie sind fast ganz untergegangen oder, besser gesagt, aufgegangen in der französischen Nationalität; sie sind gerade ebensolche Franzosen wie die andern und haben also auch Anwandlungen von Enthusiasmus, die vierundzwanzig Stunden und, wenn die Sonne heiß ist, sogar drei Tage dauern! – und das gilt von den bessern. Viele unter ihnen üben noch den jüdischen Zeremonialdienst, den äußerlichen Kultus, mechanisch, ohne zu wissen warum, aus alter Gewohnheit; von innerm Glauben keine Spur, denn in der Synagoge ebenso wie in der christlichen Kirche hat die witzige Säure der Voltaireschen Kritik zerstörend gewirkt. Bei den französischen Juden, wie bei den übrigen Franzosen, ist das Gold der Gott des Tages, und die Industrie ist die herrschende Religion. In dieser Beziehung dürfte man die hiesigen Juden in zwei Sekten einteilen: [292] in die Sekte der rive droite und die Sekte der rive gauche; diese Namen haben nämlich Bezug auf die beiden Eisenbahnen, welche, die eine längs dem rechten Seineufer, die andere dem linken Ufer entlang, nach Versailles führen und von zwei berühmten Finanzrabbinen geleitet werden, die miteinander ebenso divergierend hadern wie einst Rabbi Samai und Rabbi Hillel in der ältern Stadt Babylon.
Wir müssen dem Großrabbi der rive droite, dem Baron Rothschild, die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er für das Haus Israel eine edlere Sympathie an den Tag legte als sein schriftgelehrter Antagonist, der Großrabbi der rive gauche, Herr Benoît Fould, der, während in Syrien, auf Anreizung eines französischen Konsuls, seine Glaubensbrüder gefoltert und gewürgt wurden, mit der unerschütterlichen Seelenruhe eines Hillel in der französischen Deputiertenkammer einige schöne Reden hielt über die Konversion der Renten und den Diskonto der Bank.
Das Interesse, welches die hiesigen Juden an der Tragödie von Damaskus nahmen, reduziert sich auf sehr geringfügige Manifestationen. Das israelitische Konsistorium, in der lauen Weise aller Körperschaften, versammelte sich und deliberierte; das einzige Resultat dieser Deliberationen war die Meinung, daß man die Aktenstücke des Prozesses zur öffentlichen Kunde bringen müsse. Herr Crémieux, der berühmte Advokat, welcher nicht bloß den Juden, sondern den Unterdrückten aller Konfessionen und aller Doktrinen zu jeder Zeit seine großmütige Beredsamkeit gewidmet, unterzog sich der obenerwähnten Publikation, und mit Ausnahme einer schönen Frau und einiger jungen Gelehrten ist wohl Herr Crémieux der einzige in Paris, der sich der Sache Israels tätig annahm. Mit der größten Aufopferung seiner persönlichen Interessen, mit Verachtung jeder lauernden Hinterlist trat er den gehässigsten Insinuationen rücksichtslos entgegen und erbot sich sogar nach Ägypten zu reisen, wenn dort der Prozeß der Damaszener Juden vor das Tribunal des Pascha Mehemed Ali gezogen werden sollte. Der ungetreue Berichterstatter in den erwähnten [293] norddeutschen Blättern insinuiert der »Leipziger Allgemeinen Zeitung« mit perfider Nebenbemerkung, daß Herr Crémieux die Entgegnung, womit er die falschen Missionsberichte in den hiesigen Zeitungen zu entkräften wußte, als Inserat druckte und die übliche Gebühr dafür entrichtete. Wir wissen aus sicherer Quelle, daß die Journaldirektionen sich bereitwillig erklärten, jene Entgegnung ganz gebührfrei einzurücken, wenn man einige Tage warten wolle, und nur auf Verlangen des schleunigsten Abdrucks berechneten einige Redaktionen die Kosten eines Supplementblattes, die wahrlich nicht von großem Belange, wenn man die Geldkräfte des israelitischen Konsistoriums bedenkt. Die Geldkräfte der Juden sind in der Tat groß, aber die Erfahrung lehrt, daß ihr Geiz noch weit größer ist. Eines der hochgeschätztesten Mitglieder des hiesigen Konsistoriums – man schätzt ihn nämlich auf einige dreißig Millionen Francs –, Herr W. de Romilly, gäbe vielleicht keine hundert Francs, wenn man zu ihm käme mit einer Kollekte für die Rettung seines ganzen Stammes! Es ist eine alte, klägliche, aber noch immer nicht abgenutzte Erfindung, daß man demjenigen, der zur Verteidigung der Juden seine Stimme erhebt, die unlautersten Geldmotive zuschreibt; ich bin überzeugt, nie hat Israel Geld gegeben, wenn man ihm nicht gewaltsam die Zähne ausriß, wie zur Zeit der Valois. Als ich unlängst die »Histoire des juifs« von Basnage durchblätterte, mußte ich herzlich lachen über die Naivetät, womit der Autor, welchen seine Gegner anklagten, als habe er Geld von den Juden empfangen, sich gegen solche Beschuldigung verteidigte; ich glaube ihm aufs Wort, wenn er wehmütig hinzusetzt: »Le peuple juif est le peuple le plus ingrat qu'il y ait au monde!« Hie und da freilich gibt es Beispiele, daß die Eitelkeit die verstockten Taschen der Juden zu erschließen verstand, aber dann war ihre Liberalität noch widerwärtiger als ihre Knickerei. Ein ehemaliger preußischer Lieferant, welcher, anspielend auf seinen hebräischen Namen Moses (Moses heißt nämlich auf deutsch »aus dem Wasser gezogen«, auf italienisch »del mare«), den dem letztern entsprechenden klangvolleren Namen eines Baron [294] Delmar angenommen hat, stiftete hier vor einiger Zeit eine Erziehungsanstalt für verarmte junge Adelige, wozu er über anderthalb Millionen Francs aussetzte, eine noble Tat, die ihm im Faubourg Saint-Germain so hoch angerechnet wurde, daß dort selbst die stolzältesten Douairièren und die schnippisch jüngsten Fräulein nicht mehr laut über ihn spötteln. Hat dieser Edelmann aus dem Stamme David auch nur einen Pfennig beigesteuert bei einer Kollekte für die Interessen der Juden? Ich möchte mich dafür verbürgen, daß ein anderer aus dem Wasser gezogener Baron, der im edlen Faubourg den gentilhomme catholique und großen Schriftsteller spielt, weder mit seinem Gelde noch mit seiner Feder für die Stammesgenossen tätig war Hier muß ich eine Bemerkung aussprechen, die vielleicht die bitterste. Unter den getauften Juden sind viele, die aus feiger Hypokrisie über Israel noch ärgere Mißreden führen als dessen geborne Feinde. In derselben Weise pflegen gewisse Schriftsteller, um nicht an ihren Ursprung zu erinnern, sich über die Juden sehr schlecht oder gar nicht auszusprechen. Das ist eine bekannte, betrübsam lächerliche Erscheinung. Aber es mag nützlich sein, das Publikum jetzt besonders darauf aufmerksam zu machen, da nicht bloß in den erwähnten norddeutschen Blättern, sondern auch in einer weit bedeutenderen Zeitung die Insinuation zu lesen war, als flösse alles, was zugunsten der Damaszener Juden geschrieben worden, aus jüdischen Quellen, als sei der österreichische Konsul zu Damaskus ein Jude, als seien die übrigen Konsuln dort, mit Ausnahme des französischen, lauter Juden. Wir kennen diese Taktik, wir erlebten sie bereits bei Gelegenheit des Jungen Deutschlands. Nein, sämtliche Konsuln von Damaskus sind Christen, und daß der österreichische Konsul dort nicht einmal jüdischen Ursprungs ist, dafür bürgt uns eben die rücksichtslose, offene Weise, womit er die Juden gegen den französischen Konsul in Schutz nahm; – was der letztere ist, wird die Zeit lehren.
[295] X
Paris, 30. Mai 1840
Toujours lui! Napoleon und wieder Napoleon! Er ist das unaufhörliche Tagesgespräch, seit der Verkündigung seiner postumen Rückkehr und gar besonders, seit die Kammer, in betreff der notwendigen Kosten, einen so kläglichen Beschluß gefaßt. Letzteres war wieder eine Unbesonnenheit, die dem Verwerfen der Nemoursschen Dotation an die Seite gesetzt werden darf. Die Kammer ist durch jenen Beschluß mit den Sympathien des französischen Volks in eine bedenkliche Opposition geraten. Gott weiß, es geschah aus Kleinmut mehr denn aus Böswilligkeit. Die Majorität in der Kammer war im Anfang für die Translation der Napoleonischen Asche ebenso begeistert wie das übrige Volk; aber allmählich kam sie zu einer entgegengesetzten Besinnung, als sie die eventuellen Gefahren berechnete und als sie jenes bedrohliche Jauchzen der Bonapartisten vernahm, das in der Tat nicht sehr beruhigend klang. Jetzt lieh man auch den Feinden des Kaisers ein geneigteres Ohr, und sowohl die eigentlichen Legitimisten als auch die Royalisten von der laxen Observanz benutzten diese Mißstimmung, indem sie gegen Napoleon mit ihrer alten eingewurzelten Erbitterung mehr oder minder geschickt hervortraten. So gab uns namentlich die »Gazette de France« eine Blumenlese von Schmähungen gegen Napoleon, nämlich Auszüge aus den Werken Chateaubriands, der Frau von Staël, Benjamin Constants usw. Unsereiner, der in Deutschland an derbere Kost gewöhnt, mußte darüber lächeln. Es wäre ergötzlich, wenn man, das Feine durch das Rohe parodierend, neben jenen französischen Exzerpten ebenso viele Parallelstellen setzte von deutschen Autoren aus der grobtümlichen Periode. Der »Vater Jahn« führte eine Mistgabel, womit er auf den Korsen weit wütender zustach als so ein Chateaubriand mit seinem leichten und funkelnden Galanteriedegen. Chateaubriand und Vater Jahn! Welche Kontraste und doch welche Ähnlichkeit!
War aber Chateaubriand sehr parteiisch in seiner Beurteilung des Kaisers, so war es letzterer noch viel mehr durch die [296] wegwerfende Weise, womit er sich auf Sankt Helena über den Pilgrim von Jerusalem aussprach. Er sagte nämlich: »C'est une âme rampante qui a la manie d'écrire des livres.« Nein, Chateaubriand ist keine niedrige Seele, sondern er ist bloß ein Narr, und zwar ein trauriger Narr, während die andern heiter und kurzweilig sind. Er erinnert mich immer an den melancholischen Lustigmacher von Ludwig XIII. Ich glaube, er hieß Angeli, trug eine Jacke von schwarzer Farbe, auch eine schwarze Kappe mit schwarzen Schellen und riß betrübte Späße. Der Pathos des Chateaubriand hat für mich immer etwas Komisches; dazwischen höre ich stets das Geklingel der schwarzen Glöckchen. Nur wird die erkünstelte Schwermut, die affektierten Todesgedanken, auf die Länge ebenso widerwärtig wie eintönig. Es heißt, er sei jetzt mit einer Schrift über die Leichenfeier Napoleons beschäftigt. Das wäre in der Tat für ihn eine vortreffliche Gelegenheit, seine oratorischen Flöre und Immortellen, den ganzen Pomp seiner Begräbnisphantasie auszukramen; sein Pamphlet wird ein geschriebener Katafalk werden, und an silbernen Tränen und Trauerkerzen wird er es nicht fehlen lassen; denn er verehrt den Kaiser, seit er tot ist.
Auch Frau von Staël würde jetzt den Napoleon feiern, wenn sie noch in den Salons der Lebenden wandelte. Schon bei der Rückkehr des Kaisers von der Insel Elba, während der Hundert Tage, war sie nicht übel geneigt, das Lob des Tyrannen zu singen, und stellte nur zur Bedingung, daß ihr vorher zwei Millionen, die man vorgeblich ihrem seligen Vater schuldete ausgezahlt würden. Als ihr aber der Kaiser dieses Geld nicht gab, fehlte ihr die nötige Inspiration für die erbotenen Preisgesänge, und Corinna improvisierte jene Tiraden, die dieser Tage von der »Gazette de France« so wohlgefällig wiederholt wurden. Point d'argent, point de Suisses! – Daß diese Worte auch auf ihren Landsmann Benjamin Constant anwendbar, ist uns leider nur gar zu sehr bekannt. – Doch laßt uns nicht weiter die Personen beleuchten, die den Kaiser geschmäht haben Genug, Madame de Staël ist tot, und B. Constant ist tot, und Chateaubriand ist sozusagen auch tot: wenigstens, wie er uns [297] seit Jahren versichert, beschäftigt er sich ausschließlich mit seiner Beerdigung, und seine »Mémoires d'outre-tombe«, die er stückweise herausgibt, sind nichts anderes als ein Leichenbegängnis, das er vor seinem definitiven Hinscheiden selber veranstaltet, wie einst der Kaiser Karl V. Genug, er ist als tot zu betrachten, und er hat in seiner Schrift das Recht, den Napoleon wie seinesgleichen zu behandeln.
Aber nicht bloß die erwähnten Exzerpte älterer Autoren, sondern auch die Rede, die Herr v. Lamartine in der Deputiertenkammer über oder vielmehr gegen Napoleon hielt, hat mich widerwärtig berührt, obgleich diese Rede lauter Wahrheit enthält. Die Hintergedanken sind unehrlich, und der Redner sagte die Wahrheit im Interesse der Lüge. Es ist wahr, es ist tausendmal wahr, daß Napoleon ein Feind der Freiheit war, ein Despot, gekrönte Selbstsucht, und daß seine Verherrlichung ein böses, gefährliches Beispiel. Es ist wahr, ihm fehlten die Bürgertugenden eines Bailly, eines Lafayette, und er trat die Gesetze mit Füßen und sogar die Gesetzgeber, wovon noch jetzt einige lebende Zeugnisse im Hospital des Luxembourg. Aber es ist nicht dieser libertizide Napoleon, nicht der Held des 18. Brumaire, nicht der Donnergott des Ehrgeizes, dem ihr die glänzendsten Leichenspiele und Denkmale widmen sollt! Nein; es ist der Mann, der das junge Frankreich dem alten Europa gegenüber repräsentierte, dessen Verherrlichung in Frage steht: in seiner Person siegte das französische Volk, in seiner Person ward es gedemütigt, in seiner Person ehrt und feiert es sich selber – und das fühlt jeder Franzose, und deshalb vergißt man alle Schattenseiten des Verstorbenen und huldigt ihm quand même, und die Kammer beging einen großen Fehler durch ihre unzeitige Knickerei. – Die Rede des Herrn v. Lamartine war ein Meisterstück, voll von perfiden Blumen, deren feines Gift manchen schwachen Kopf betäubte; doch der Mangel an Ehrlichkeit wird spärlich bedeckt von den schönen Worten, und das Ministerium darf sich eher freuen als betrüben, daß seine Feinde ihre antinationalen Gefühle so ungeschickt verraten haben.
[298] XI
Paris, 3. Juni 1840
Die Pariser Tagesblätter werden, wie überhaupt in der ganzen Welt, auch jenseits des Rheines gelesen, und man pflegt dort der heimatlichen Presse, im Vergleich mit der französischen, den Wert derselben überschätzend, alles Verdienst abzusprechen. Es ist wahr, die hiesigen Journale wimmeln von Stellen, die bei uns in Deutschland selbst der nachsichtigste Zensor streichen würde; es ist wahr, die Artikel sind in den französischen Blättern besser geschrieben und logischer abgefaßt als in den deutschen, wo der Verfasser seine politische Sprache erst schaffen und durch die Urwälder seiner Ideen sich mühsam durchkämpfen muß; es ist wahr, der Franzose weiß seine Gedanken besser zu redigieren, und er entkleidet dieselben, vor den Augen des Publikums, bis zur deutlichsten Nacktheit, während der deutsche Journalist, weit mehr aus innerer Blödigkeit als aus Furcht vor dem tödlichen Rotstift, seine Gedanken mit allen möglichen Schleiern der Unmaßgeblichkeit zu verhüllen sucht; und dennoch, wenn man die französische Presse nicht nach ihrer äußern Erscheinung beurteilt, sondern sie in ihrem Innern, in ihren Bureaux, belauscht, muß man eingestehen, daß sie an einer besonderen Art von Unfreiheit leidet, die der deutschen Presse ganz fremd und vielleicht verderblicher ist als unsere transrhenanische Zensur. Alsdann muß man auch eingestehen, daß die Klarheit und Leichtigkeit, womit der Franzose seine Gedanken ordnet und abhandelt, aus einer dürren Einseitigkeit und mechanischen Beschränkung hervorgeht, die weit mißlicher ist als die blühende Konfusion und unbeholfene Überfülle des deutschen Journalisten! Hierüber eine kurze Andeutung:
Die französische Tagespresse ist gewissermaßen eine Oligarchie, keine Demokratie; denn die Begründung eines französischen Journals ist mit so vielen Kosten und Schwierigkeiten verbunden, daß nur Personen, die imstande sind, die größten Summen aufs Spiel zu setzen, ein Journal errichten können. Es sind daher gewöhnlich Kapitalisten oder sonstige Industrielle, [299] die das Geld herschießen zur Stiftung eines Journals; sie spekulieren dabei auf den Absatz, den das Blatt finden werde, wenn es sich als Organ einer bestimmten Partei geltend zu machen verstanden, oder sie hegen gar den Hintergedanken, das Journal späterhin, sobald es eine hinlängliche Anzahl Abonnenten gewonnen, mit noch größerem Profit an die Regierung zu verkaufen. Auf diese Weise, angewiesen auf die Ausbeutung der vorhandenen Parteien oder des Ministeriums, geraten die Journale in eine beschränkende Abhängigkeit und, was noch schlimmer ist, in eine Exklusivität, eine Ausschließlichkeit bei allen Mitteilungen, wogegen die Hemmnisse der deutschen Zensur nur wie heitere Rosenketten erscheinen dürften. Der Redakteur en chef eines französischen Journals ist ein Kondottiere, der durch seine Kolonnen die Interessen und Passionen der Partei, die ihn durch Absatz oder Subvention gedungen hat, verficht und verteidigt. Seine Unterredakteure, seine Lieutenants und Soldaten, gehorchen mit militärischer Subordination, und sie geben ihren Artikeln die verlangte Richtung und Farbe, und das Journal erhält dadurch jene Einheit und Präzision, die wir in der Ferne nicht genug bewundern können. Hier herrscht die strengste Disziplin des Gedankens und sogar des Ausdrucks. Hat irgendein unachtsamer Mitarbeiter das Kommando überhört, hat er nicht ganz so geschrieben, wie die Consigne lautete, so schneidet der Redakteur en chef ins Fleisch seines Aufsatzes mit einer militärischen Unbarmherzigkeit, wie sie bei keinem deutschen Zensor zu finden wäre. Ein deutscher Zensor ist ja auch ein Deutscher, und bei seiner gemütlichen Vielseitigkeit gibt er gern vernünftigen Gründen Gehör; aber der Redakteur en chef eines französischen Journals ist ein praktisch einseitiger Franzose, hat seine bestimmte Meinung, die er sich ein für allemal mit bestimmten Worten formuliert hat oder die ihm wohlformuliert von seinen Kommittenten überliefert worden. Käme nun gar jemand zu ihm und brächte ihm einen Aufsatz, der zu den erwähnten Zwecken seines Journals in keiner fördernden Beziehung stände, der etwa ein Thema behandelte, das kein [300] unmittelbares Interesse hätte für das Publikum, dem das Blatt als Organ dient, so wird der Aufsatz streng zurückgewiesen, mit den sakramentalen Worten: »Cela n'entre pas dans l'idée de notre journal.« Da nun solchermaßen von den hiesigen Journalen jedes seine besondre politische Farbe und seinen bestimmten Ideenkreis hat, so ist leicht begreiflich, daß jemand, der etwas zu sagen hätte, was diesen Ideenkreis überschritte und auch keine Parteifarbe trüge, durchaus kein Organ für seine Mitteilungen finden würde. Ja, sobald man sich entfernt von der Diskussion der Tagesinteressen, den sogenannten Aktualitäten, sobald man Ideen zu entwickeln hat, die den banalen Parteifragen fremd sind, sobald man etwa nur die Sache der Menschheit besprechen wollte, würden die Redakteure der hiesigen Journale einen solchen Artikel mit ironischer Höflichkeit zurückweisen; und da man hier nur durch die Journale oder durch ihre annoncierende Vermittlung mit dem Publikum reden kann, so ist die Charte, die jedem Franzosen die Veröffentlichung seiner Gedanken durch den Druck erlaubt, eine bittere Verhöhnung für geniale Denker und Weltbürger, und faktisch existiert für diese durchaus keine Preßfreiheit: – »cela n'entre pas dans l'idée de notre journal.«
Vorstehende Andeutungen befördern vielleicht das Verständnis mancher unbegreiflichen Erscheinungen, und ich überlasse es dem deutschen Leser, allerlei nützliche Belehrung daraus zu schöpfen. Zunächst aber mögen sie zur Aufklärung dienen, weshalb die französische Presse in betreff der Juden von Damaskus nicht so unbedingt sich zugunsten derselben aussprach, wie man gewiß in Deutschland erwartete. Ja, der Berichterstatter der »Leipziger Zeitung« und der kleineren norddeutschen Blätter hat sich keine direkte Unwahrheit zuschulden kommen lassen, wenn er frohlockend referierte, daß die französische Presse bei dieser Gelegenheit keine sonderliche Sympathie für Israel an den Tag legte. Aber die ehrliche Seele hütete sich wohlweislich, den Grund dieser Erscheinung aufzudecken, der ganz einfach darin besteht, daß der Präsident des Ministerkonseils, Herr Thiers, von Anfang an für den [301] Grafen Ratti-Menton, den französischen Konsul von Damaskus, Partei genommen und den Redakteuren aller Blätter, die jetzt unter seiner Botmäßigkeit stehen, in dieser Angelegenheit seine Ansicht kundgegeben. Es sind gewiß viele honette und sehr honette Leute unter diesen Journalisten, aber sie gehorchen jetzt mit militärischer Disziplin dem Kommando jenes Generalissimus der öffentlichen Meinung, in dessen Vorkabinett sie sich jeden Morgen zum Empfang der Ordre du jour zusammen befinden und gewiß ohne Lachen sich einander nicht ansehen können; französische Haruspices können ihre Lachmuskeln nicht so gut beherrschen wie die römischen, von denen Cicero spricht. In seinen Morgenaudienzen versichert Herr Thiers mit der Miene der höchsten Überzeugung, es sei eine ausgemachte Sache, daß die Juden Christenblut am Paschafeste söffen, chacun à son goût, alle Zeugenaussagen hätten bestätigt, daß der Rabbiner von Damaskus den Pater Thomas abgeschlachtet und sein Blut getrunken – das Fleisch sei wahrscheinlich von geringern Synagogenbeamten verschmaust worden; – da sähen wir einen traurigen Aberglauben, einen religiösen Fanatismus, der noch im Oriente herrschend sei, während die Juden des Okzidentes viel humaner und aufgeklärter geworden und mancher unter ihnen sich durch Vorurteilslosigkeit und einen gebildeten Geschmack auszeichne, z.B. Herr von Rothschild, der zwar nicht zur christlichen Kirche, aber desto eifriger zur christlichen Küche übergegangen und den größten Koch der Christenheit, den Liebling Talleyrands, ehemaligen Bischofs von Autun, in Dienst genommen. – So ungefähr konnte man den Sohn der Revolution reden hören, zum größten Ärger seiner Frau Mutter, die manchmal rot vor Zorn wird, wenn sie dergleichen von dem ungeratenen Sohne anhören muß oder wenn sie gar sieht, wie der selbe mit ihren ärgsten Feinden verkehrt, z.B. mit dem Grafen Montalembert, einem Jungjesuiten, der als das tätigste Werkzeug der ultramontanen Rotte bekannt ist. Dieser Anführer der sogenannten Neokatholiken dirigiert die Zelotenzeitung »L'Univers«, ein Blatt, welches mit ebensoviel Geist wie Perfidie geschrieben [302] wird; auch der Graf besitzt Geist und Talent, ist jedoch ein seltsames Zwitterwesen von adeligem Hochmut und romantischer Bigotterie, und diese Mischung offenbart sich am naivsten in seiner Legende von der heiligen Elisabeth, einer ungarischen Prinzessin, die er en parenthèse für seine Cousine erklärt und die von so schrecklich christlicher Demut gewesen sein soll, daß sie mit ihrer frommen Zunge den räudigsten Bettlern die Schwären und den Grind leckte, ja daß sie vor lauter Frömmigkeit sogar ihren eignen Urin soff.
Nach diesen Andeutungen begreift man jetzt sehr leicht die illiberale Sprache jener Oppositionsblätter, die zu einer andern Zeit Mord und Zeter geschrien hätten über den im Orient neuangefachten Fanatismus und über den Elenden, der als französischer Konsul dort den Namen Frankreichs schändet.
Vor einigen Tagen hat Herr Benoît Fould auch in der Deputiertenkammer das Betragen des französischen Konsuls von Damaskus zur Sprache gebracht. Ich muß also zunächst den Tadel zurücknehmen, der mir in einem meiner jüngsten Berichte gegen jenen Deputierten entschlüpfte. Ich zweifelte nie an dem Geist, an den Verstandeskräften des Herrn Fould; auch ich halte ihn für eine der größten Kapazitäten der französischen Kammer; aber ich zweifelte an seinem Gemüte. Wie gern lasse ich mich beschämen, wenn ich den Leuten unrecht getan habe und sie durch die Tat meinen Beschuldigungen widersprechen. Die Interpellation des Herrn Fould zeugte von großer Klugheit und Würde. Nur sehr wenige Blätter haben von seiner Rede Auszüge gegeben; die ministeriellen Blätter haben auch diese unterdrückt und die Thiersschen Entgegnungen desto ausführlicher mitgeteilt. Im »Moniteur« habe ich sie ganz gelesen. Der Ausdruck: »La religion à laquelle j'ai l'honneur d'appartenir« mußte einen Deutschen sehr frappieren. Die Antwort des Herrn Thiers war ein Meisterstück von Perfidie: durch Ausweichen, durch Verschweigen dessen, was er wisse, durch scheinbar ängstliche Zurückhaltung wußte er seine Gegner aufs köstlichste zu verdächtigen. Hörte man ihn reden, so [303] konnte man am Ende wirklich glauben, das Leibgericht der Juden sei Kapuzinerfleisch. – Aber nein, großer Geschichtschreiber und sehr kleiner Theolog, im Morgenland ebensowenig wie im Abendland erlaubt das Alte Testament seinen Bekennern solche schmutzige Atzung, der Abscheu der Juden vor jedem Blutgenuß ist ihnen ganz eigentümlich, er spricht sich aus in den ersten Dogmen ihrer Religion, in allen ihren Sanitätsgesetzen, in ihren Reinigungszeremonien, in ihrer Grundanschauung vom Reinen und Unreinen, in dieser tiefsinnig kosmogonischen Offenbarung über die materielle Reinheit in der Tierwelt, welche gleichsam eine physische Ethik bildet und von Paulus, der sie als eine Fabel verwarf, keineswegs begriffen worden. – Nein, die Nachkömmlinge Israels, des reinen, auserlesenen Priestervolks, sie essen kein Schweinefleisch, auch keine alte Franziskaner, sie trinken kein Blut, ebensowenig wie sie ihren eigenen Urin trinken, gleich der heiligen Elisabeth, Urmuhme des Grafen Montalembert.
Was sich bei jener Damaszener Blutfrage am betrübsamsten herausstellte, ist die Unkenntnis der morgenländischen Zustände, die wir bei dem jetzigen Präsidenten des Konseils bemerken, eine brillante Unwissenheit, die ihn einst zu den bedenklichsten Mißgriffen verleiten dürfte, wenn nicht mehr jene kleine syrische Blutfrage, sondern die weit größere Weltblutfrage, jene fatale, verhängnisvolle Frage, welche wir die orientalische nennen, eine Lösung oder Anstalten zur Lösung erfordern möchte. Das Urteil des Herrn Thiers ist gewöhnlich richtig, aber seine Prämissen sind oft ganz falsch, ganz aus der Luft gegriffen, Phantasmen, ausgeheckt im fanatischen Sonnenbrand der Klöster des Libanons und ähnlicher Spelunken des Aberglaubens. Die ultramontane Partei liefert ihm seine Emissäre, und diese berichten ihm Wunderdinge über die Macht der römisch-katholischen Christen im Oriente, während doch eine Schilderhebung jener miserablen Lateiner wahrhaftig keinen türkischen Hund aus seinem fatalistischen Ofenloch locken würde. Herr Thiers meint, daß Frankreich, der traditionelle Glaubensvogt jener Lateiner, einst durch sie die [304] Oberhand im Orient gewinnen könne. Da sind die Engländer viel besser unterrichtet; sie wissen, daß diese armseligen Nachzügler des Mittelalters, die in der Zivilisation mehre Jahrhunderte zurückgeblieben, noch viel versunkener sind als ihre Herren, die Türken, und daß vielmehr die Bekenner des griechischen Symbols beim Sturz des Osmanischen Reiches, und noch vorher, den Ausschlag geben könnten. Das Oberhaupt dieser griechischen Christen ist nicht der arme Schelm, der den Titel Patriarch von Konstantinopel führt und dessen Vorgänger dort schmachvoll zwischen zwei Hunden aufgehängt worden – nein, ihr Oberhaupt ist der allmächtige Zar von Rußland, der Kaiser und Papst aller Bekenner des allein heiligen, orthodoxen, griechischen Glaubens; – er ist ihr geharnischter Messias, der sie befreien soll vom Joch der Ungläubigen, der Kanonendonnergott, der einst sein Siegesbanner aufpflanzen werde auf die Türme der großen Moschee von Byzanz – ja, das ist ihr politischer wie ihr religiöser Glaube, und sie träumen eine russisch-griechisch-orthodoxe Weltherrschaft, die von dem Bosporus aus über Europa, Asien und Afrika ihre Arme ausbreiten werde. – Und was das schrecklichste ist, dieser Traum ist keine Seifenblase, die ein Windzug vernichtet, es lauert darin eine Möglichkeit, die versteinernd uns angrinst, wie das Haupt der Medusa!
Die Worte Napoleons auf Sankt Helena, daß in baldiger Zukunft die Welt eine amerikanische Republik oder eine russische Universalmonarchie sein werde, sind eine sehr entmutigende Prophezeiung. Welche Aussicht! Günstigenfalls als Republikaner vor monotoner Langeweile sterben! Arme Enkel!
Ich habe oben erwähnt, wie die Engländer viel besser als die Franzosen über alle orientalischen Zustände unterrichtet sind. Mehr als je wimmelt es in der Levante von britischen Agenten, die über jeden Beduinen, ja über jedes Kamel das durch die Wüste zieht, Erkundigungen einziehen. Wieviel Zechinen Mehemed Ali in der Tasche, wieviel Gedärme dieser Vizekönig von Ägypten im Bauche hat, man weiß es ganz genau in den [305] Bureaux von Downing Street. Hier glaubt man nicht den Mirakelhistörchen frommer Schwärmer; hier glaubt man nur an Tatsachen und Zahlen. Aber nicht bloß im Orient, auch im Okzident hat England seine zuverlässigsten Agenten, und hier begegnen wir nicht selten Leuten, die mit ihrer geheimen Mission auch die Korrespondenz für Londoner aristokratische oder ministerielle Blätter verbinden; letztere sind darum nicht minder gut unterrichtet. Bei der Schweigsamkeit der Briten erfährt das Publikum selten das Gewerbe jener geheimen Berichterstatter, die selbst den höchsten Staatsbeamten Englands unbekannt bleiben; nur der jedesmalige Minister der äußern Angelegenheiten kennt sie und überliefert diese Kenntnis seinem Nachfolger. Der Bankier im Ausland, der einem englischen Agenten irgendeine Auszahlung zu machen hat, erfährt nie seinen Namen, er erhält nur die Order, den Betrag einer angegebenen Summe derjenigen Person auszuzahlen, die sich durch Vorzeigen einer Karte, worauf nur eine Nummer steht, legitimieren werde.
Spätere Notiz
Mai 1854
Der vorstehende Bericht ist von der Redaktion der »Allgemeinen Zeitung« nicht aufgenommen worden, und wir drucken ihn hier nach alten Brouillons, die der Zufall erhalten. Indem aus diesem Berichte hervorgeht, wie unverdient die Rüge war, welche ein früherer Artikel über den Deputierten Benoît Fould aus sprach, zeigen wir, wie wenig es uns zu jener Zeit einfiel, in jenem Artikel eine Ungerechtigkeit zu begehen. Es kam uns damals ebenfalls nicht in den Sinn, die persönliche Erscheinung des erwähnten Deputierten zu verunglimpfen und zu diesem Behufe ein Spottwort des »Nationals« zu zitieren. Schwärmerische Freunde des Herrn Benoît Fould (und welcher reiche Mann besäße nicht einen Schwarm von Freunden, die für ihn schwärmen!) behaupteten zwar zu jener Zeit, am Schlusse eines Artikels in der »Allgemeinen Zeitung«, der meine Chiffre trage und also meiner Autorschaft zugeschrieben [306] werden müsse, hätten sie eine boshafte Zitation aus dem »National« gelesen, welche den Generaladvokaten Hébert und Herrn Benoît Fould betreffe und dahin laute, »daß letzterer der einzige gewesen, der dem Generaladvokaten in der Kammer die Hand gereicht habe, und daß er selber wie der Diskurs eines accusateur public aussähe«! Wahrlich, einen sehr schwächlichen Begriff von meinem Geiste und meiner Vernunft hegen jene guten Leute, welche glauben konnten, daß ich einen Angriff auf einen Mann wie B. Fould wagen würde, wenn ich meine Pfeile dem albernen Köcher des »Nationals« entlehnen müßte! Eine solche Annahme war wirklich beleidigend für den Verfasser der »Reisebilder«! Nein, jene Zitation, jene misère, floß nicht aus meiner Feder, und gar in bezug auf Herrn Hébert hätte ich mir keine Ungezogenheit damals erlaubt, aus ganz begreiflichen Gründen. Ich wollte nie mit der schrecklichen Person eines Generaladvokaten, dessen diskretionäre Befugnisse selbst die des Ministers übertrafen, etwas zu schaffen haben; es gibt Personen, die man gar nicht erwähnen muß, wenn man nicht speziell das Metier eines Demagogen treibt und nach dem Ruhm des Eingesperrtwerden schmachtet. Ich sage dieses jetzt, wo eine solche Erklärung von meinen mutigen und kampflustigen Kommilitonen nicht mißdeutet werden kann. Zur Zeit, wo der Artikel mit der läppischen Zitation aus dem »National« erschien, enthielt ich mich jeder Erläuterung; ich durfte niemanden das Recht einräumen, mich über einen Artikel zur Rede zu stellen, der anonym erschienen und nur eine Chiffre an der Stirn trug, womit nicht ich, sondern die Redaktion meine Artikel zu bezeichnen pflegte, um administrativen Bedürfnissen zu begegnen, um z.B. die Komptabilität zu erleichtern, keineswegs aber, um einem verehrungswürdigen Publiko, wie eine leicht erratbare Scharade, den Namen des Verfassers sub rosa zuzuflüstern. Da nur die Redaktion und nicht der eigentliche Verfasser für jeden anonymen Artikel verantwortlich bleibt; da die Redaktion gezwungen ist, das Journal, sowohl der tausendköpfigen Leserwelt als auch manchen ganz kopflosen Behörden gegenüber, zu vertreten; da sie [307] mit unzähligen Hindernissen, materiellen und moralischen, täglich zu kämpfen hat: so muß ihr wohl die Erlaubnis anheimgestellt werden, jeden Artikel, den sie aufnimmt, ihren jedesmaligen Tagesbedürfnissen anzumodeln, nach Gutdünken durch Ausmerzen, Ausscheiden, Hinzufügen und Umänderungen jeder Art den Artikel druckbar zu machen, und gehe auch dabei die gute Gesinnung und der noch bessere Stil des Verfassers sehr bedenklich in die Krümpe. Ein in jeder Hinsicht politischer Schriftsteller muß der Sache wegen, die er verficht, der rohen Notwendigkeit manche bittere Zugeständnisse machen. Es gibt obskure Winkelblätter genug, worin wir unser ganzes Herz mit allen seinen Zornbränden ausschütten könnten – aber sie haben nur ein sehr dürftiges und einflußloses Publikum, und es wäre ebensogut, als wenn wir in der Bierstube oder im Kaffeehause vor den respektiven Stammgästen schwadronierten, gleich andern großen Patrioten. Wir handeln weit klüger, wenn wir unsre Glut mäßigen und mit nüchternen Worten, wo nicht gar unter einer Maske, in einer Zeitung uns aussprechen, die mit Recht eine allgemeine Weltzeitung genannt wird und vielen hunderttausend Lesern in allen Landen belehrsam zu Händen kommt. Selbst in seiner trostlosen Verstümmlung kann hier das Wort gedeihlich wirken; die notdürftigste Andeutung wird zuweilen zu ersprießlicher Saat in unbekanntem Boden. Beseelte mich nicht dieser Gedanke, so hätte ich mir wahrlich nie die Selbsttortur angetan, für die »Allgemeine Zeitung« zu schreiben. Da ich von dem Treusinn und der Redlichkeit jenes innigst geliebten Jugendfreundes und Waffenbruders, der die Redaktion der Zeitung leitet, zu jeder Zeit unbedingt überzeugt war, so konnte ich mir auch wohl manche erschreckliche Nachqual der Umarbeitung und Verballhornung meiner Artikel gefallen lassen; – sah ich doch immer die ehrlichen Augen des Freundes, welcher dem Verwundeten zu sagen schien: »Liege ich denn etwa auf Rosen?« Dieser wackere Kämpe der deutschen Presse, der schon als Jüngling für seine liberalen Überzeugungen Not und Kerker er duldet hat, er, der für die Verbreitung von gemeinnützlichem [308] Wissen, dem besten Emanzipationsmittel, und überhaupt für das politische Heil seiner Mitbürger soviel getan, viel mehr getan als Tausende von bramarbasierenden Maulhelden – er ward von diesen als servil verschrien, und die »Augsburger Hure« war der Schmähname, womit der Pöbel der Radikalen die »Allgemeine Zeitung« immer titulierte. –
Doch ich gerate hier in eine Strömung, die mich zu weit führen könnte. Ich begnüge mich damit, hier flüchtig angedeutet zu haben, von welcher Art die Unfreiheit war, die ich höherer vaterländischer Rücksichten wegen ertrug, wenn ich für die »Allgemeine Zeitung« schrieb. In dieser Beziehung begegnete ich mancher Mißdeutung, selbst in Sphären, wo Intelligenz zu herrschen pflegte. Eine solche war z.B. die oben bezeichnete Zitation aus dem »National«, die man mir fälschlich zuschrieb. Da ich nicht gern unschuldig leide, so geriet ich am Ende auf den unseligen Gedanken, das Majestätsverbrechen, dessen man mich beschuldigte, einmal wirklich zu begehen, und bei Gelegenheit der Wahlen zu Tarbes mußte der Deputierte der Hautes-Pyrénées meinen Unmut entgelten. Da ich jedes Unrecht am Ende selbst eingestehe, so will ich zu meiner eigenen Beschämung hier erwähnen, daß der Mann, dem ich jede Kapazität absprach, sich bald darauf als ein Staatsmann von höchster Bedeutung auszeichnete. Ich freute mich darüber.
XII
Paris, 12. Juni 1840
Der Ritter Spontini bombardiert in diesem Augenblick die armen Pariser mit Briefen, um zu jedem Preis das Publikum an seine verschollene Person zu erinnern. Es liegt in diesem Augenblick ein Zirkular vor mir, das er an alle Zeitungsredaktoren schickt und das keiner drucken will aus Pietät für den gesunden Menschenverstand und Spontinis alten Namen. Das Lächerliche grenzt hier ans Sublime. Diese peinliche Schwäche, die sich im barockesten Stil ausspricht oder vielmehr ausärgert, ist ebenso merkwürdig für den Arzt wie für den [309] Sprachforscher. Ersterer gewahrt hier das traurige Phänomen einer Eitelkeit, die im Gemüt immer wütender auflodert, je mehr die edlern Geisteskräfte darin erlöschen; der andere aber, der Sprachforscher, sieht, welch ein ergötzlicher Jargon entsteht, wenn ein starrer Italiener, der in Frankreich notdürftig etwas Französisch gelernt hat, dieses sogenannte Italiener-Französisch während eines fünfundzwanzigjährigen Aufenthalts in Berlin ausbildete, so daß das alte Kauderwelsch mit sarmatischen Barbarismen gar wunderlich gespickt ward. Das Zirkular ist vom Februar datiert, ward aber neuerdings wieder hergeschickt, weil Signor Spontini hört, daß man hier sein berühmtes Werk wieder aufführen wolle, welches nichts als eine Falle sei – eine Falle, die er benutzen will, um hierher berufen zu werden. Nachdem er nämlich gegen seine Feinde pathetisch deklamiert hat, setzt er hinzu: »Et voilà justement le nouveau piège que je crois avoir deviné, et ce qui me fait un impérieux devoir de m'opposer, me trouvant absent, à la remise en scène de mes opéras sur le théâtre de l'Académie royale de musique, à moins que je ne sois officiellement engagé moi-même par l'administration, sous la garantie du Ministère de l'intérieur, à me rendre à Paris, pour aider de mes conseils créateurs les artistes (la tradition de mes opéras étant perdue), pour assister aux répétitions et contribuer au succès de la ›Vestale‹, puisque c'est d'elle qu'il s'agit.« Das ist noch die einzige Stelle in diesen Spontinischen Sümpfen, wo fester Boden; die Pfiffigkeit streckt hier ihre länglichten Ohren hervor. Der Mann will durchaus Berlin verlassen, wo er es nicht mehr aushalten kann, seitdem die Meyerbeerschen Opern dort gegeben werden, und vor einem Jahr kam er auf einige Wochen hierher und lief von Morgen bis Mitternacht zu allen Personen von Einfluß, um seine Berufung nach Paris zu betreiben. Da die meisten Leute hier ihn für längst verstorben hielten, so erschraken sie nicht wenig ob seiner plötzlichen geisterhaften Erscheinung. Die ränkevolle Behendigkeit dieser toten Gebeine hatte in der Tat etwas Unheimliches. Herr Duponchel, der Direktor der Großen Oper, ließ ihn gar nicht vor sich und rief mit Entsetzen: »Diese [310] intrigante Mumie mag mir vom Leibe bleiben; ich habe bereits genug von den Intrigen der Lebenden zu erdulden!« Und doch hatte Herr Moritz Schlesinger, Verleger der Meyerbeerschen Opern – denn durch diese gute, ehrliche Seele ließ der Ritter seinen Besuch bei Herrn Duponchel voraus ankündigen –, alle seine glaubwürdige Beredsamkeit aufgeboten, um seinen Empfohlenen im besten Lichte darzustellen. In der Wahl dieser empfehlenden Mittelsperson bekundete Herr Spontini seinen ganzen Scharfsinn. Er zeigte ihn auch bei andern Gelegenheiten; z.B. wenn er über jemand räsonierte, so geschah es gewöhnlich bei dessen intimsten Freunden. Den französischen Schriftstellern erzählte er, daß er in Berlin einen deutschen Schriftsteller festsetzen lassen, der gegen ihn geschrieben. Bei den französischen Sängerinnen beklagte er sich über deutsche Sängerinnen, die sich nicht bei der Berliner Oper engagieren wollten, wenn man ihnen nicht kontraktlich zugestand, daß sie in keiner Spontinischen Oper zu singen brauchten!
Aber er will durchaus hierher; er kann es nicht mehr aushalten in Berlin, wohin er, wie er behauptet, durch den Haß seiner Feinde verbannt worden und wo man ihm dennoch keine Ruhe lasse. Dieser Tage schrieb er an die Redaktion der »France musicale«: seine Feinde begnügten sich nicht, daß sie ihn über den Rhein getrieben, über die Weser, über die Elbe; sie möchten ihn noch weiter verjagen, über die Weichsel, über den Njemen! Er findet große Ähnlichkeit zwischen seinem Schicksal und dem Napoleonschen. Er dünkt sich ein Genie, wogegen sich alle musikalischen Mächte verschworen. Berlin ist sein Sankt Helena und Rellstab sein Hudson Lowe. Jetzt aber müsse man seine Gebeine nach Paris zurückkommen lassen und im Invalidenhause der Tonkunst, in der Académie royale de musique, feierlich beisetzen. –
Das Alpha und Omega aller Spontinischen Beklagnisse ist Meyerbeer. Als mir hier in Paris der Ritter die Ehre seines Besuches schenkte, war er unerschöpflich an Geschichten, die geschwollen von Gift und Galle. Er kann die Tatsache nicht ableugnen, daß der König von Preußen unsern großen Giacomo [311] mit Ehrenbezeugungen überhäuft und darauf bedacht ist, denselben mit hohen Ämtern und Würden zu betrauen, aber er weiß dieser königlichen Huld die schnödesten Motive anzudichten. Am Ende glaubt er selbst seine eignen Erfindungen, und mit einer Miene der tiefsten Überzeugung versicherte er mir: als er einst bei Sr. Majestät dem König gespeist, habe Allerhöchstderselbe nach der Tafel mit heiterer Offenherzigkeit gestanden, daß er den Meyerbeer tun jeden Preis an Berlin fesseln wolle, damit dieser Millionär sein Vermögen nicht im Auslande verzehre. Da die Musik, die Sucht, als Opernkomponist zu glänzen, eine bekannte Schwäche des reichen Mannes sei, suche er, der König, diese schwache Seite zu benutzen, um den Ehrgeizigen durch Auszeichnungen zu ködern. – »Es ist traurig«, soll der König hinzugesetzt haben, »daß ein vaterländisches Talent, das ein so großes, fast geniales Vermögen besitzt, in Italien und Paris seine guten preußischen harten Taler vergeuden mußte, um als Komponist gefeiert zu werden – was man für Geld haben kann, ist auch bei uns in Berlin zu haben, auch in unsern Treibhäusern wachsen Lorbeerbäume für den Narren, der sie bezahlen will, auch unsre Journalisten sind geistreich und lieben ein gutes Frühstück oder gar ein gutes Mittagessen, auch unsre Eckensteher und Sauregurkenhändler haben zum Beifallklatschen ebenso derbe Hände wie die Pariser Claque – ja wenn unsre Tagediebe, statt in der Tabagie, ihre Abende im Opernhause zubrächten, um die ›Hugenotten‹ zu applaudieren, würde auch ihre Ausbildung dadurch gewinnen – die niedern Klassen müssen sittlich und ästhetisch gehoben werden, und die Hauptsache ist, daß Geld unter die Leute komme, zumal in der Hauptstadt.« – Solcherweise, versicherte Spontini, habe sich Se. Majestät geäußert, um sich gleichsam zu entschuldigen, daß er ihn, den Verfasser der »Vestalin«, dem Meyerbeer sakrifiziere. Als ich bemerkte, daß es im Grunde sehr löblich sei, wenn ein Fürst ein solches Opfer bringe, um den Wohlstand seiner Hauptstadt zu fördern – da fiel mir Spontini in die Rede: »Oh, Sie irren sich, der König von Preußen protegiert die schlechte Musik nicht [312] aus staatsökonomischen Gründen, sondern vielmehr, weil er die Tonkunst haßt und wohl weiß, daß sie zugrunde gehen muß durch Beispiel und Leitung eines Mannes, der ohne Sinn für Wahrheit und Adel nur der rohen Menge schmeicheln will.«
Ich konnte nicht umhin, dem hämischen Italiener offen zu gestehen, daß es nicht klug von ihm sei, dem Nebenbuhler alles Verdienst abzusprechen. – »Nebenbuhler!« rief der Wütende und wechselte zehnmal die Farbe, bis endlich die gelbe wieder die Oberhand behielt – dann aber, sich fassend, frug er mit höhnischem Zähnefletschen: »Wissen Sie ganz gewiß, daß Meyerbeer wirklich der Komponist der Musik ist, die unter seinem Namen aufgeführt wird?« Ich stutzte nicht wenig ob dieser Tollhausfrage, und mit Erstaunen hörte ich, Meyerbeer habe in Italien einigen armen Musikern ihre Kompositionen abgekauft und daraus Opern verfertigt, die aber durchgefallen seien, weil der Quark, den man ihm geliefert, gar zu miserabel war. Später habe er von einem talentvollen Abate zu Venedig etwas Besseres erstanden, welches er dem »Crociato« einverleibte. Er besitze auch Webers hinterlassene Manuskripte, die er der Witwe abgeschwatzt und woraus er gewiß später schöpfen werde. »Robert le Diable« und die »Hugenotten« seien größtenteils die Produktion eines Franzosen, welcher Gouin heiße und herzlich gern unter Meyerbeers Namen seine Opern zur Aufführung bringe, um nicht sein Amt eines Chef de bureau an der Post einzubüßen, da seine Vorgesetzten gewiß seinem administrativen Eifer mißtrauen würden, wenn sie wüßten, daß er ein träumerischer Komponist; die Philister halten praktische Funktionen für unvereinbar mit artistischer Begabnis, und der Postbeamte Gouin ist klug genug, seine Autorschaft zu verschweigen und allen Weltruhm seinem ehrgeizigen Freund Meyerbeer zu überlassen. Daher die innige Verbindung beider Männer, deren Interessen sich ebenso innig ergänzen. Aber ein Vater bleibt immer Vater, und dem Freund Gouin liegt das Schicksal seiner Geisteskinder beständig am Herzen; die Details der Aufführung und des [313] Erfolgs von »Robert le Diable« und den »Hugenotten« nehmen seine ganze Tätigkeit in Anspruch, er wohnt jeder Probe bei, er unterhandelt beständig mit dem Operndirektor, mit den Sängern, den Tänzern, dem Chef de claque, den Journalisten; er läuft mit seinen Transtiefeln ohne Lederstrippen von morgens bis abends nach allen Zeitungsredaktionen, um irgendein Reklam zugunsten der sogenannten Meyerbeerschen Opern anzubringen, und seine Unermüdlichkeit soll jeden in Erstaunen setzen.
Als mir Spontini diese Hypothese mitteilte, gestand ich, daß sie nicht aller Wahrscheinlichkeit ermangle und daß, obgleich das vierschrötige Äußere, das ziegelrote Gesicht, die kurze Stirn, das schmierig schwarze Haar des erwähnten Herrn Gouin viel mehr an einen Ochsenzüchter oder Viehmäster als an einen Tonkünstler erinnere, dennoch in seinem Benehmen manches vorkomme, das ihn in den Verdacht bringe, der Autor der Meyerbeerschen Opern zu sein. Es passiert ihm manchmal, daß er »Robert le Diable« oder die »Hugenotten« »unsere Oper« nennt. Es entschlüpfen ihm Redensarten wie: »Wir haben heute eine Repetition« – »Wir müssen eine Arie abkürzen.« Auch ist es sonderbar, bei keiner Vorstellung jener Opern fehlt Herr Gouin, und wird eine Bravourarie applaudiert, vergißt er sich ganz und verbeugt sich nach allen Seiten, als wolle er dem Publiko danken. Ich gestand dieses alles dem grimmigen Italiener; »aber dennoch«, fügte ich hinzu, »trotzdem daß ich mit eigenen Augen dergleichen bemerkt, halte ich Herrn Gouin nicht für den Autor der Meyerbeerschen Opern; ich kann nicht glauben, daß Herr Gouin die ›Hugenotten‹ und ›Robert le Diable‹ geschrieben habe; ist es aber doch der Fall, so muß gewiß die Künstlereitelkeit am Ende die Oberhand gewinnen, und Herr Gouin wird öffentlich die Autorschaft jener Opern für sich vindizieren«.
»Nein«, erwiderte der Italiener mit einem unheimlichen Blick, der stechend wie ein blankes Stilett, »dieser Gouin kennt zu gut seinen Meyerbeer, als daß er nicht wüßte, welche Mittel seinem schrecklichen Freunde zu Gebote stehen, um jemand zu [314] beseitigen, der ihm gefährlich ist. Er wäre kapabel, unter dem Vorwande, sein armer Gouin sei verrückt geworden, denselben auf ewig in Charenton einsperren zu lassen, und der arme Schelm dürfte noch froh sein, mit dem Leben davonzukommen. Alle, die jenem Ehrgeizling hindernd im Wege stehen, müssen weichen. Wo ist Weber? wo Bellini? Hum! Hum!«
Dieses »Hum! Hum!« war trotz aller unverschämten Bosheit so drollig, daß ich nicht ohne Lachen die Bemerkung machte: »Aber Sie, Maestro, Sie sind noch nicht aus dem Wege geräumt, auch nicht Donizetti oder Mendelssohn oder Rossini oder Halévy.« – »Hum! Hum!« war die Antwort, »Hum! Hum! Halévy geniert seinen Konfrater nicht, und dieser würde ihn sogar dafür bezahlen, daß er nur existiere, als ungefährlicher Scheinrival, und von Rossini weiß er, durch seine Späher, daß derselbe keine Note mehr komponiert – auch hat Rossinis Magen schon genug gelitten, und er berührt kein Piano, um nicht Meyerbeers Argwohn zu erregen. Hum! Hum! Aber gottlob! nur unsere Leiber können getötet werden, nicht unsere Geisteswerke; diese werden in ewiger Frische fortblühen, während mit dem Tode jenes Cartouche der Musik auch seine Unsterblichkeit ein Ende nimmt und seine Opern ihm folgen ins stumme Reich der Vergessenheit!«
Nur mit Mühe zügelte ich meinen Unwillen, als ich hörte, mit welcher frechen Geringschätzung der welsche Neidhart von dem großen, hochgefeierten Meister sprach, welcher der Stolz Deutschlands und die Wonne des Morgenlandes ist und gewiß als der wahre Schöpfer von »Robert le Diable« und den »Hugenotten« betrachtet und bewundert werden muß! Nein, so etwas Herrliches hat kein Gouin komponiert! Bei aller Verehrung für den hohen Genius wollen freilich zuweilen bedenkliche Zweifel in mir aufsteigen in betreff der Unsterblichkeit dieser Meisterwerke nach dem Ableben des Meisters, aber in meiner Unterredung mit Spontini gab ich mir doch die Miene, als sei ich überzeugt von ihrer Fortdauer nach dem Tode, und um den boshaften Italiener zu ärgern, machte ich ihm im Vertrauen eine Mitteilung, woraus er ersehen konnte, wie weitsichtig [315] Meyerbeer für das Gedeihen seiner Geisteskinder bis über das Grab hinaus gesorgt hat. »Diese Fürsorge«, sagte ich, »ist ein psychologischer Beweis, daß nicht Herr Gouin, sondern der große Giacomo der wirkliche Vater sei. Derselbe hat nämlich in seinem Testament zugunsten seiner musikalischen Geisteskinder gleichsam ein Fideikommiß gestiftet, indem er jedem ein Kapital vermachte, dessen Zinsen dazu bestimmt sind, die Zukunft der armen Waisen zu sichern, so daß auch nach dem Hinscheiden des Herrn Vaters die gehörigen Popularitätsausgaben, der eventuelle Aufwand von Flitterstaat, Claque, Zeitungslob usw., bestritten werden können. Selbst für das noch ungeborne Prophetchen soll der zärtliche Erzeuger die Summe von 150000 Taler preuß. Cour. ausgesetzt haben. Wahrlich, noch nie ist ein Prophet mit einem so großen Vermögen zur Welt gekommen; der Zimmermannssohn von Bethlehem und der Kameltreiber von Mekka waren nicht so begütert. ›Robert le Diable‹ und die ›Hugenotten‹ sollen minder reichlich dotiert sein; sie können vielleicht auch einige Zeit vom eigenen Fette zehren, solange für Dekorationspracht und üppige Ballettbeine gesorgt ist; später werden sie Zulage bedürfen. Für den ›Crociato‹ dürfte die Dotation nicht so glänzend ausfallen; mit Recht zeigt sich hier der Vater ein bißchen knickerig, und er klagt, der lockere Fant habe ihm einst in Italien zuviel gekostet; er sei ein Verschwender. Desto großmütiger bedenkt Meyerbeer seine unglückliche, durchgefallene Tochter ›Emma di Resburgo‹; sie soll jährlich in der Presse wieder aufgeboten werden, sie soll eine neue Ausstattung bekommen und erscheint in einer Prachtausgabe von Satin-Velin; für verkrüppelte Wechselbälge schlägt immer am treuesten das liebende Herz der Eltern. Solcherweise sind alle Meyerbeerschen Geisteskinder gut versorgt, ihre Zukunft ist verassekuriert für alle Zeiten.« –
Der Haß verblendet selbst die Klügsten, und es ist kein Wunder, daß ein leidenschaftlicher Narr, wie Spontini, meine Worte nicht ganz bezweifelte. – Er rief aus: »Oh! er ist alles fähig! Unglückliche Zeit! Unglückliche Welt!«
[316] Ich schließe hier, da ich ohnehin heute sehr tragisch gestimmt bin und trübe Todesgedanken über meinen Geist ihre Schatten werfen. Heute hat man meinen armen Sakoski begraben, den berühmten Lederkünstler – denn die Benennung Schuster ist zu gering für einen Sakoski. Alle marchands bottiers und fabricants de chaussures von Paris folgten seiner Leiche. Er ward achtundachtzig Jahre alt und starb an einer Indigestion. Er lebte weise und glücklich. Wenig bekümmerte er sich um die Köpfe, aber desto mehr um die Füße seiner Zeitgenossen. Möge die Erde dich ebensowenig drücken wie mich deine Stiefel!
XIII
Paris, 3. Juli 1840
Für einige Zeit haben wir Ruhe, wenigstens vor den Deputierten und Fortepianospielern, den zwei schrecklichen Landplagen, wovon wir den ganzen Winter bis tief ins Frühjahr soviel erdulden müssen. Das Palais Bourbon und die Salons der H. H. Érard und Herz sind mit dreifachen Schlössern verriegelt. Gottlob, die politischen und musikalischen Virtuosen schweigen! Die paar Greise, die im Luxembourg sitzen, murmeln immer leiser oder nicken schlaftrunken ihre Einwilligung zu den Beschlüssen der jüngern Kammer. Ein paarmal vor einigen Wochen machten die alten Herren eine verneinende Kopfbewegung, die man als bedrohlich für das Ministerium auslegte; aber sie meinten es nicht so ernsthaft. Herr Thiers hat nichts weniger als einen bedeutenden Widerspruch von seiten der Pairskammer zu erwarten. Auf diese kann er noch sicherer zählen als auf seine Schildhalter in der Deputiertenkammer, obgleich er auch letztere mit gar starken Banden und Bändchen, mit rhetorischen Blumenketten und vollwichtigen Goldketten, an seine Person gefesselt hat!
Der große Kampf dürfte jedoch nächsten Winter hervorbrechen, nämlich, wenn Herr Guizot, der seinen Gesandtschaftsposten aufgeben wird, von London zurückkehrt und seine Opposition gegen Herrn Thiers aufs neue eröffnet. Diese [317] beiden Nebenbuhler haben schon frühe begriffen, daß sie zwar einen kurzen Waffenstillstand schließen, aber nimmermehr ihren Zweikampf ganz aufgeben können. Mit dem Ende desselben findet vielleicht auch das ganze parlamentarische Gouvernement in Frankreich seinen Abschluß.
Herr Guizot beging einen großen Fehler, als er an der Koalition teilnahm. Er hat später selber eingestanden, daß es ein Fehler gewesen, und gewissermaßen um sich zu rehabilitieren, ging er nach London: er wollte das Vertrauen der auswärtigen Mächte, das er in seiner Stellung als Oppositionsmann eingebüßt hatte, in seiner diplomatischen Laufbahn wiedergewinnen; denn er rechnet darauf, daß am Ende, bei der Wahl eines Konseilpräsidenten in Frankreich, wieder der fremdländische Einfluß obsiegen werde. Vielleicht rechnet er zugleich auf einige einheimische Sympathien, deren Herr Thiers allmählich verlustig gehen würde und die ihm, dem geliebten Guizot, zuflössen. Böse Zungen versichern mir, die Doktrinäre bildeten sich ein, man liebe sie schon jetzt. So weit geht die Selbstverblendung selbst bei den gescheitesten Leuten! Nein, Herr Guizot, wir sind noch nicht dahin gekommen, Sie zu lieben; aber wir haben auch noch nicht aufgehört, Sie zu verehren. Trotz all unsrer Liebhaberei für den beweglich brillanten Nebenbuhler haben wir dem schweren, trüben Guizot nie unsre Anerkenntnis versagt; es ist etwas Sicheres, Haltbares, Gründliches in diesem Manne, und ich glaube, die Interessen der Menschheit liegen ihm am Herzen.
Von Napoleon ist in diesem Augenblick keine Rede mehr; hier denkt niemand mehr an seine Asche, und das ist eben sehr bedenklich. Denn die Begeisterung, die durch das beständige Geträtsche am Ende in eine sehr bescheidene Wärme übergegangen war, wird nach fünf Monden, wenn der kaiserliche Leichenzug anlangt, mit erneueten Bränden aufflammen. Werden alsdann die emporsprühenden Funken großen Schaden anstiften? Es hängt alles von der Witterung ab. Vielleicht, wenn die Winterkälte frühe eintritt und viel Schnee fällt, wird der Tote sehr kühl begraben.
[318]XIV
Paris, den 25. Juli 1840
Auf den hiesigen Boulevardstheatern wird jetzt die Geschichte Bürgers, des deutschen Poeten, tragiert; da sehen wir, wie er, die »Leonore« dichtend, im Mondschein sitzt und singt: »Hurrah! les morts vont vite – mon amour, crains-tu les morts?« Das ist wahrhaftig ein guter Refrain, und wir wollen ihn unserm heutigen Berichte voranstellen, und zwar in nächster Beziehung auf das französische Ministerium. – Aus der Ferne schreitet die Leiche des Riesen von Sankt Helena immer bedrohlich näher, und in einigen Tagen öffnen sich auch die Gräber hier in Paris, und die unzufriedenen Gebeine der Juliushelden steigen hervor und wandern nach dem Bastillenplatz, der furchtbaren Stätte, wo die Gespenster von Anno 89 noch immer spuken... »Les morts vont vite – mon amour, crains-tu les morts?«
In der Tat, wir sind sehr beängstigt wegen der bevorstehenden Juliustage, die dieses Jahr ganz besonders pomphaft, aber, wie man glaubt, zum letztenmal gefeiert werden; nicht alle Jahr kann sich die Regierung solche Schreckenslast aufbürden. Die Aufregung wird dieser Tage größer sein, je wahlverwandter die Töne sind, die aus Spanien herüberklingen, und je greller die Details des Barceloner Aufstandes, wo sogenannte Elende bis zur gröbsten Beleidigung der Majestät sich vergaßen.
Während im Westen der Sukzessionskrieg beendigt und der eigentliche Revolutionskrieg beginnt, verwickeln sich die Angelegenheiten des Orients in einen unauflöslichen Knäuel. Die Revolte in Syrien setzt das französische Ministerium in die größte Verlegenheit. Auf der einen Seite will es mit all seinem Einfluß die Macht des Pascha von Ägypten unterstützen, auf der andern Seite darf es die Maroniten, die Christen auf dem Berg Libanon, welche die Fahne der Empörung aufpflanzten, nicht ganz desavouieren; – denn diese Fahne ist ja die französische Trikolore; die Rebellen wollen sich durch letztere als Angehörige Frankreichs bekunden, und sie glauben, daß dieses[319] nur scheinbar den Mehemed Ali unterstütze, im geheimen aber die syrischen Christen gegen die ägyptische Herrschaft aufwiegle. Inwieweit sind sie zu solcher Annahme berechtigt? Haben wirklich, wie man behauptet, einige Lenker der katholischen Partei, ohne Vorwissen der französischen Regierung, eine Schilderhebung der Maroniten gegen den Pascha angezettelt, in der Hoffnung, bei der Schwäche der Türken ließe sich jetzt nach Vertreibung der Ägyptier in Syrien ein christliches Reich begründen? Dieser ebenso unzeitige wie fromme Versuch wird dort viel Unglück stiften. Mehemed Ali war über den Ausbruch der syrischen Revolte so entrüstet, daß er wie ein wildes Tier raste und nichts Geringeres im Sinne hatte als die Ausrottung aller Christen auf dem Berg Libanon. Nur die Vorstellungen des österreichischen Generalkonsuls konnten ihn von diesem unmenschlichen Vorhaben abbringen, und diesem hochherzigen Manne verdanken viele Tausende von Christen ihr Leben, während ihm der Pascha noch mehr zu verdanken hat: er rettete nämlich seinen Namen vor ewiger Schande. Mehemed Ali ist nicht unempfindlich für das Ansehen, das er bei der zivilisierten Welt genießt, und Herr von Laurin entwaffnete seinen Zorn ganz besonders durch eine Schilderung der Antipathien, die er, durch die Ermordung der Maroniten, in ganz Europa auf sich lüde, zum höchsten Schaden seiner Macht und seines Ruhmes.
Das alte System der Völkervertilgung wird solchermaßen, durch europäischen Einfluß, im Orient allmählich verdrängt. Auch die Existenzrechte des Individuums gelangen dort zu höherer Anerkennung, und namentlich werden die Grausamkeiten der Tortur einem mildern Kriminalverfahren weichen. Es ist die Blutgeschichte von Damaskus, welche dieses letztere Resultat hervorbringen wird, und in dieser Beziehung dürfte die Reise des Herrn Crémieux nach Alexandria als eine wichtige Begebenheit eingezeichnet werden in die Annalen der Humanität. Dieser berühmte Rechtsgelehrte, der zu den gefeiertsten Männern Frankreichs gehört und den ich in diesen Blättern bereits besprach, hat schon seine wahrhaft fromme[320] Wallfahrt angetreten, begleitet von seiner Gattin, die alle Gefahren, womit man ihren Mann bedrohte, teilen wollte. Mögen diese Gefahren, die ihn vielleicht nur abschrecken sollten von seinem edlen Beginnen, ebenso klein sein wie die Leute, die sie bereiten! In der Tat, dieser Advokat der Juden plädiert zugleich die Sache der ganzen Menschheit. Um nichts Geringeres handelt es sich, als auch im Orient das europäische Verfahren beim Kriminalprozeß einzuführen. Der Prozeß gegen die Damaszener Juden begann mit der Folter; er kam nicht zu Ende, weil ein österreichischer Untertan inkulpiert war und der österreichische Konsul gegen das Torquieren desselben einschritt. Jetzt soll nun der Prozeß aufs neue instruiert werden, und zwar ohne obligate Folter, ohne jene Torturinstrumente, die den Beklagten die unsinnigsten Aussagen abmarterten und die Zeugen einschüchterten. Der französische Oberkonsul in Alexandria setzt Himmel und Erde in Bewegung, um diese erneuete Instruktion des Prozesses zu hintertreiben; denn das Betragen des französischen Konsuls von Damaskus könnte bei dieser Gelegenheit sehr stark beleuchtet werden, und die Schande seines Repräsentanten dürfte das Ansehen Frankreichs in Syrien erschüttern. Und Frankreich hat mit diesem Lande weit ausgreifende Plane, die noch von den Kreuzzügen datieren, die nicht einmal von der Revolution aufgegeben worden, die später Napoleon ins Auge faßte und woran selbst Herr Thiers denkt. Die syrischen Christen erwarten ihre Befreiung von den Franzosen, und diese, so freigeistig sie auch zu Hause sein mögen, gelten dennoch gern als fromme Schützer des katholischen Glaubens im Orient und schmeicheln dort der Zelosis der Mönche. So erklären wir es uns, weshalb nicht bloß Herr Cochelet in Alexandria, sondern sogar unser Konseilpräsident, der Sohn der Revolution in Paris, den Konsul von Damaskus in Schutz nehmen. – Es handelt sich jetzt wahrlich nicht um die hohe Tugend eines Ratti-Menton oder um die Schlechtigkeit der Damaszener Juden – es gibt vielleicht zwischen beiden keinen großen Unterschied, und wie jener für unsern Haß, so dürften letztere für unsere Vorliebe [321] zu gering sein –, aber es handelt sich darum, die Abschaffung der Tortur durch ein eklatantes Beispiel im Orient zu sanktionieren. – Die Konsuln der europäischen Großmächte, namentlich Österreichs und Englands, haben daher auf eine erneuerte Instruktion des Prozesses der Damaszener Juden ohne Zulassung der Tortur beim Pascha von Ägypten angetragen, und es mag ihnen vielleicht nebenher einige Schadenfreude gewähren, daß eben Herr Cochelet, der französische Konsul, der Repräsentant der Revolution und ihres Sohnes, sich jener erneuten Instruktion widersetzt und für die Tortur Partei nimmt.
XV
Paris, 27. Juli 1840
Hier überstürzen sich die Hiobsposten; aber die letzte, die schlimmste, die Konvention zwischen England, Rußland, Österreich und Preußen gegen den Pascha von Ägypten, erregte weit mehr jauchzende Kampflust als Bestürzung, sowohl bei der Regierung als bei dem Volke. Der gestrige »Constitutionnel«, welcher ohne Umschweife gestand, daß Frankreich ganz schnöde getäuscht und beleidigt sei, beleidigt bis zur Voraussetzung einer feigen Unterwürfigkeit – diese ministerielle Anzeige des in London ausgebrüteten Verrats wirkte hier wie ein Trompetenstoß, man glaubte den großen Zornschrei des Achilles zu vernehmen, und die verletzten Nationalgefühle und Nationalinteressen bewirken jetzt einen Waffenstillstand der hadernden Parteien. Mit Ausnahme der Legitimisten, die ihr Heil nur vom Ausland erwarten, versammeln sich alle Franzosen um die dreifarbige Fahne, und Krieg mit dem »perfiden Albion« ist ihre gemeinsame Parole.
Wenn ich oben sagte, daß die Kampflust auch bei der Regierung entloderte, so meine ich damit das hiesige Ministerium und zumal unsern kecken Konseilpräsidenten, der das Leben Napoleons bereits bis zum Ende des Konsulats beschrieben hat und mit südlich glühender Einbildungskraft seinem Helden auf so vielen Siegesfahrten und Schlachtfeldern folgte. [322] Es ist vielleicht ein Unglück, daß er nicht auch den russischen Feldzug und die große Retirade im Geiste mitmachte. Wäre Herr Thiers in seinem Buche bis zu Waterloo gelangt, so hätte sich vielleicht sein Kriegsmut etwas abgekühlt. Was aber weit wichtiger und weit beachtenswerter als die kriegerischen Gelüste des Premierministers, das ist das unbegrenzte Vertrauen, das er in seine eigenen militärischen Talente setzt. Ja, es ist eine Tatsache, die ich aus vierjähriger Beobachtung verbürgen kann: Herr Thiers glaubt steif und fest, daß nicht das parlamentarische Scharmützeln, sondern der eigentliche Krieg, das klirrende Waffenspiel, seine angeborne Vokation sei. Wir haben es hier nicht mit der Untersuchung zu tun, ob diese innere Stimme Wahrheit spricht oder bloß der eiteln Selbsttäuschung schmeichelt. Nur darauf wollen wir aufmerksam machen, wie dieser eingebildete Feldherrnberuf wenigstens zur Folge hat, daß Herr Thiers vor den Kanonen des neuen Fürstenkonvents nicht sonderlich erschrecken wird, daß es ihn heimlich freut, durch die äußerste Notwendigkeit gezwungen zu sein, seine militärischen Talente der überraschten Welt zu offenbaren, und daß gewiß schon in diesem Augenblick die französischen Admirale die bestimmteste Order erhalten haben, die ägyptische Flotte gegen jeden Überfall zu schützen.
Ich zweifle nicht an dem Resultat dieses Schutzes, wie furchtbar auch die Seemacht der Engländer. Ich habe Toulon unlängst gesehen und hege einen großen Respekt vor der französischen Marine. Letztere ist bedeutender, als man im übrigen Europa weiß; denn außer den Kriegsschiffen, die auf dem bekannten Etat stehen und die Frankreich gleichsam offiziell besitzt, wurde seit 1814 eine fast doppelt so große Anzahl im Arsenal von Toulon allmählich fertiggebaut, die in einer Frist von sechs Wochen ganz bemannbar ausgerüstet werden kann. – Wird aber durch ein bombardierendes Zusammentreffen der französischen und englischen Flotten im Mittelländischen Meere der Frieden von Europa gestört werden und der allgemeine Krieg zum Ausbruche kommen? Keineswegs. [323] Ich glaub es nicht. Die Mächte des Kontinents werden sich noch lange besinnen, ehe sie sich wieder mit Frankreich in ein Todesspiel einlassen. Und was John Bull betrifft, so weiß dieser dicke Mann sehr gut, was ein Krieg mit Frankreich, selbst wenn letzteres ganz isoliert zu stehen käme, seinem Säckel kosten würde; mit einem Wort: das englische Unterhaus wird auf keinen Fall die Kriegskosten bewilligen; und das ist die Hauptsache. Entstünde aber dennoch ein Krieg zwischen den beiden Völkern, so wäre das, mythologisch zu reden, eine Malice der alten Götter, die, um ihren jetzigen Kollegen, den Napoleon, zu rächen, vielleicht die Absicht haben, den Wellington wieder ins Feld zu schicken und durch den Generalfeldmarschall Thiers besiegen zu lassen!
XVI
Paris, 29. Juli 1840
Herr Guizot hat bewiesen, daß er ein ehrlicher Mann ist; er hat die geheime Verräterei der Engländer weder zu durchschauen noch durch Gegenlist zu vereiteln gewußt. Er kehrt als ehrlicher Mann zurück, und den diesjährigen Tugendpreis, den Prix Monthyon, wird ihm niemand streitig machen. Beruhige dich, puritanischer Stutzkopf, die treulosen »Kavaliere« haben dich hinters Licht geführt und zum Narren gehabt – aber dir bleiben deine stolzesten Selbstgefühle, das Bewußtsein, daß du noch immer du selbst bist. Als Christ und Doktrinär wirst du dein Mißgeschick geduldig ertragen, und seit wir herzlich über dich lachen können, öffnet sich dir auch unser Herz. Du bist wieder unser alter lieber Schulmeister, und wir freuen uns, daß der weltliche Glanz dir deine fromme, magisterliche Naivetät nicht geraubt hat, daß du gefoppt und gedrillt worden, aber ein ehrlicher Mann geblieben bist! Wir fangen an, dich zu lieben. Nur den Gesandtschaftsposten zu London möchten wir dir nicht mehr anvertrauen; dazu gehört ein Geierblick, der die Ränke des perfiden Albions zeitig genug auszuspionieren weiß, oder ein ganz unwissenschaftlicher, [324] derber Bursche, der keine gelehrte Sympathie hegt für die großbritannische Regierungsform, keine höflichen speeches in englischer Sprache zu machen versteht, aber auf französisch antwortet, wenn man ihn mit zweideutigen Reden hinhalten will. Ich rate den Franzosen, den ersten besten Grenadier der alten Garde als Gesandten nach London zu schicken und ihm allenfalls Vidocq als Wirklichen Geheimen Legationssekretär mitzugeben.
Sind aber die Engländer in der Politik wirklich so ausgezeichnete Köpfe? Worin besteht ihre Superiorität in diesem Felde? Ich glaube, sie besteht darin, daß sie erzprosaische Geschöpfe sind, daß keine poetischen Illusionen sie irreleiten, daß keine glühende Schwärmerei sie blendet, daß sie die Dinge immer in ihrem nüchternsten Lichte sehen, den nackten Tatbestand fest ins Auge fassen, die Bedingnisse der Zeit und des Ortes genau berechnen und in diesem Kalkül weder durch das Pochen ihres Herzens noch durch den Flügelschlag großmütiger Gedanken gestört werden. Ja, ihre Superiorität besteht darin, daß sie keine Einbildungskraft besitzen. Dieser Mangel ist die ganze Force der Engländer und der letzte Grund ihres Gelingens in der Politik, wie in allen realistischen Unternehmungen, in der Industrie, im Maschinenbau usw. Sie haben keine Phantasie; das ist das ganze Geheimnis. Ihre Dichter sind nur glänzende Ausnahmen; deshalb geraten sie auch in Opposition mit ihrem Volke, dem kurznasigen, halbstirnigen und hinterkopflosen Volke, dem auserwählten Volke der Prosa, das in Indien und Italien ebenso prosaisch, kühl und berechnend bleibt wie in Threadneedle Street. Der Duft der Lotusblume berauscht sie ebensowenig, wie die Flamme des Vesuvs sie erwärmt. Bis an den Rand des letztern schleppen sie ihre Teekessel und trinken dort Tee, gewürzt mit cant!
Wie ich höre, hat voriges Jahr die Taglioni in London keinen Beifall gefunden; das ist wahrhaftig ihr größter Ruhm. Hätte sie dort gefallen, so würde ich anfangen, an der Poesie ihrer Füße zu zweifeln. Sie selber, die Söhne Albions, sind die [325] schrecklichsten aller Tänzer, und Strauß versichert, es gebe keinen einzigen unter ihnen, welcher Takt halten könne. Auch ist er in der Grafschaft Middlesex zu Tode erkrankt, als er Altengland tanzen sah. Diese Menschen haben kein Ohr, weder für Takt noch für Musik über haupt, und ihre unnatürliche Passion für Klavierspielen und Singen ist um so widerwärtiger. Es gibt wahrlich auf Erden nichts so Schreckliches wie die englische Tonkunst, es sei denn die englische Malerei. Sie haben weder Gehör noch Farbensinn, und manchmal steigt in mir der Argwohn auf, ob nicht ihr Geruchsinn ebenfalls stumpf und verschnupft sei; es ist sehr leicht möglich, daß sie Roßäpfel und Apfelsinen nicht durch den bloßen Geruch voneinander unterscheiden können.
Aber haben sie Mut? Dies ist jetzt das wichtigste. Sind die Engländer so mutig, wie man sie auf dem Kontinent beständig schilderte? Die vielgerühmte Großmut der Mylords existiert nur noch auf unserm Theater, und es ist leicht möglich, daß der Aberglaube von der kaltblütigen Courage der Engländer ebenfalls mit der Zeit verschwindet. Ein sonderbarer Zweifel ergreift uns, wenn wir sehen, wie ein paar Husaren hinreichend sind, ein tobendes Meeting von hunderttausend Engländern auseinanderzujagen. Und haben auch die Engländer viel Mut als Individuen, so sind doch die Massen erschlafft durch die Gewöhnungen und Komforts eines mehr als hundertjährigen Friedens; seit so langer Zeit blieben sie im Inlande vom Krieg verschont, und was den Krieg betrifft, den sie im Auslande zu bestehen hatten, so führten sie ihn nicht eigenhändig, sondern durch angeworbene Söldner, gedungene Raubritter und Mietvölker. Auf sich schießen zu lassen, um Nationalinteressen zu verteidigen, wird nimmermehr einem Bürger der City, nicht einmal dem Lord Mayor einfallen; dafür hat man ja bezahlte Leute. Durch diesen allzu langen Friedenszustand, durch zu großen Reichtum und zu großes Elend, durch die politische Verderbnis, die eine Folge der Repräsentativverfassung, durch das entnervende Fabrikwesen, durch den ausgebildeten Handelsgeist, durch die religiöse Heuchelei, [326] durch den Pietismus, dieses schlimmste Opium, sind die Engländer als Nation so unkriegerisch geworden wie die Chinesen, und ehe sie diese letztern überwinden, sind vielleicht die Franzosen imstande, wenn ihnen eine Landung gelänge, mit weniger als hunderttausend Mann ganz England zu erobern. Zur Zeit Napoleons schwebten die Engländer beständig in einer solchen Gefahr, und das Land ward nicht geschützt durch seine Bewohner, sondern durch das Meer. Hätte Frankreich damals eine Marine besessen, wie es sie jetzt besitzt, oder hätte man die Erfindung der Dampfschiffe schon so furchtbar auszubeuten gewußt wie heutzutage, so wäre Napoleon sicher an der englischen Küste gelandet, wie einst Wilhelm der Eroberer – und er würde keinen großen Widerstand gefunden haben: denn er hätte eben die Eroberungsrechte des normannischen Adels vernichtet, das bürgerliche Eigentum geschützt und die englische Freiheit mit der französischen Gleichheit vermählt!
Weit greller, als ich sie ausgesprochen, stiegen die vorstehenden Gedanken gestern in mir auf beim Anblick des Zuges, der dem Leichenwagen der Juliushelden folgte. Es war eine ungeheure Volksmasse, die ernst und stolz dieser Totenfeier beiwohnte. Ein imposantes Schauspiel, und in diesem Augenblick sehr bedeutungsvoll. Fürchten sich die Franzosen vor den neuen Alliierten? Wenigstens in den drei Juliustagen spüren sie nie eine Anwandlung von Furcht, und ich kann sogar versichern, daß etwa hundertundfünfzig Deputierte, die noch in Paris sind, sich aufs bestimmteste für den Krieg ausgesprochen haben, im Fall die beleidigte Nationalehre dieses Opfer verlange. Was aber das wichtigste: Ludwig Philipp scheint dem ruhigen Erdulden jeder Unbill Valet gesagt und für den Fall der Not den durchgreifendsten Entschluß gefaßt zu haben. – Wenigstens sagt er es, und Herr Thiers versichert daß er den aufbrausenden Unwillen des Königs manchmal nur mit Mühe besänftige. Oder ist solche Kriegslust nur eine Kriegslist des göttlichen Dulders Odysseus?
[327]XVII
Paris, 30. Juli 1840
Es gab gestern keine Börse, ebensowenig wie vorgestern, und die Kurse hatten Muße, sich von der großen Gemütsbewegung etwas zu erholen. Paris, wie Sparta, hat seinen Tempel der Furcht, und das ist die Börse, in deren Hallen man immer um so ängstlicher zittert, je stürmischer der Mut ist, der draußen tobt.
Ich habe mich gestern sehr bitter über die Engländer ausgesprochen. Bei näherer Erkundigung erscheint ihre Schuld nicht so groß, wie ich anfangs glaubte. Wenigstens das englische Volk desavouiert seinen Mandatarius. Ein dicker Brite, der alle Jahr am 29. Julius hieherkommt, um seinen Töchtern das Feuerwerk auf dem Pont de la Concorde zu zeigen, versichert mir, es herrsche in England der größte Unwillen gegen den Coxcomb Palmerston, der voraussehen konnte, daß die Konvention wegen Ägypten die Franzosen aufs äußerste beleidigen müsse. Es sei in der Tat, gestehen die Engländer, eine Beleidigung von seiten Englands, aber es sei keine Verräterei: denn Frankreich habe seit langer Zeit darum gewußt, daß man Mehemed Ali aus Syrien mit Gewalt verjagen wolle; das französische Ministerium sei hiermit ganz einverstanden gewesen; es habe selber in betreff jener Provinz eine sehr zweideutige Rolle gespielt; die geheimen Lenker der syrischen Revolte seien Franzosen, deren katholischer Fanatismus nicht in Downing Street, sondern auf dem Boulevard des Capucines allerlei aufmunternde Sympathien finde; bereits in der Geschichte von den gefolterten Juden zu Damaskus habe sich das französische Ministerium zugunsten der katholischen Partei sehr kompromittiert; schon bei dieser Gelegenheit habe Lord Palmerston seine Mißachtung des französischen Premierministers hinlänglich beurkundet, indem er den Behauptungen desselben öffentlich widersprach usw. – Wie dem auch sei, Lord Palmerston hätte voraussehen können, daß die Konvention nicht ausführbar ist und daß also die Franzosen unnützerweise in Harnisch gesetzt würden, was immerhin seine gefährlichen [328] Folgen haben kann. Je länger wir darüber nachdenken, desto mehr wundern wir uns über das ganze Ereignis. Es gibt hier Motive, die uns bis jetzt noch verborgen sind, vielleicht sehr feine, staatskluge Motive – vielleicht auch sehr einfältige.
Ich habe oben der Geschichte von Damaskus erwähnt. Diese findet hier noch immer viel Besprechung, namentlich bildet sie einen stehenden Artikel im »Univers«, dem Organ der ultramontanen Priesterpartei. Eine geraume Zeit hindurch hat dieses Journal alle Tage einen Brief aus dem Orient mitgeteilt. Da nur alle acht Tage das Dampfboot aus der Levante anlangt, so sind wir hier um so mehr an ein Wunder zu glauben geneigt, als wir ohnehin durch die Damaszener Vorgänge in die Mirakelzeit des Mittelalters zurückversetzt sind. Ist es doch schon ein Wunder, daß die aus der Luft gegriffenen Nachrichten des »Univers« in Frankreich einigen Anklang finden! Ja, es ist nicht zu leugnen, ein großer Teil der Franzosen ist nicht abgeneigt, dem blutigen Unglimpf Glauben zu schenken, und die obskursten Erfindungen der Pfaffenlist stoßen hier auf sehr lauen Widerspruch. Verwundert fragen wir uns: Ist das Frankreich, die Heimat der Aufklärung, das Land, wo Voltaire gelacht und Rousseau geweint hat? Sind das die Franzosen, die einst der Göttin der Vernunft in Notre-Dame huldigten, allen Priestertrug abgeschworen und sich als die Nationalfeinde des Fanatismus in der ganzen Welt proklamierten? Wir wollen ihnen nicht unrecht tun: eben weil ein blinder Zorn gegen allen Aberglauben sie noch beseelt, eben weil sie, alte Kinder des achtzehnten Jahrhunderts, allen Religionen die infamsten Untaten zutrauen, hielten sie auch die Bekenner des Judentums fähig, dergleichen begangen zu haben, und ihre leichtsinnigen Ansichten über die Damaszener Vorgänge sind nicht aus Fanatismus gegen die Juden, sondern aus Haß gegen den Fanatismus selbst hervorgegangen. – Daß über jene Vorgänge keine so bornierten Meinungen in Deutschland aufkommen konnten, zeugt nur von unsrer größeren Gelahrtheit; geschichtliche Kenntnisse sind so sehr im deutschen Volke verbreitet, [329] daß selbst der grimmigste Groll nicht mehr zu den alten Blutmärchen greifen darf.
Wie sonderbar die Leichtgläubigkeit bei dem gemeinen Volk in Frankreich mit der größten Skepsis verbunden ist, bemerkte ich vor einigen Abenden auf der Place de la Bourse, wo ein Kerl mit einem großen Fernrohr sich postiert hatte und für zwei Sous den Mond zeigte. Er erzählte dabei den umstehenden Gaffern, wie groß dieser Mond sei, so viele tausend Quadratmeilen, wie es Berge darauf gebe und Flüsse, wie er so viele tausend Meilen von der Erde entfernt sei und dergleichen merkwürdige Dinge mehr, die einen alten Portier, der mit seiner Gattin vorbeiging, unwiderstehlich anreizten, zwei Sous auszugeben, um den Mond zu betrachten. Seine teure Ehehälfte jedoch widersetzte sich mit rationalistischem Eifer und riet ihm, seine zwei Sous lieber für Tabak auszugeben: das sei alles Aberglaube, was man von dem Mond erzähle, von seinen Bergen und Flüssen und seiner unmenschlichen Größe, das habe man erfunden, um den Leuten das Geld aus der Tasche zu locken.
XVIII
Granville (Departement de la Manche),
25. August 1840
Seit drei Wochen durchstreife ich die Normandie die Kreuz und die Quer, und über die Stimmung, die sich hier bei Gelegenheit der letzten Ereignisse kundgab, kann ich Ihnen aus eigener Beobachtung berichten. Die Gemüter waren durch die kriegerischen Trompetenstöße der französischen Presse schon ziemlich aufgeregt, als die Landung des Prinzen Ludwig allen möglichen Befürchtungen Spielraum gab. Man ängstigte sich durch die verzweiflungsvollsten Hypothesen. Bis auf diese Stunde glauben die Leute hierzulande, daß der Prinz auf eine ausgebreitete Verschwörung rechnete und sein langes Verharren bei der Säule von Boulogne von einem Rendezvous zeugte, das durch Verrat oder Zufall vereitelt ward. Zwei Drittel der [330] zahlreichen englischen Familien, die in Boulogne wohnen, nahmen Reißaus, ergriffen von panischer Furcht, als sie in dem geruhsamen Städtchen einige gefährliche Flintenschüsse vernahmen und den Krieg vor ihrer eigenen Tür sahen. Diese Flüchtlinge, um ihre Angst zu rechtfertigen, brachten die entsetzlichsten Gerüchte nach der englischen Küste, und Englands Kalkfelsen wurden noch blässer vor Schrecken. Durch Wechselwirkung werden jetzt die Engländer, die in der Normandie hausen, von ihren heimischen Angehörigen zurückberufen in das glückliche Eiland, das vor den Verheerungen des Krieges noch lange geschützt sein wird – nämlich so lange, bis einmal die Franzosen eine hinlängliche Anzahl Dampfschiffe ausgerüstet haben werden, womit man eine Landung in England bewerkstelligen kann.
In Boulogne wäre eine solche Dampfflotte bis zum Tage der Ausfahrt von unzähligen kleinen Forts beschützt. Letztere, welche die ganze Küste der Departements du Nord und de la Manche umgehen, sind auf Felsen gepflanzt, die, aus dem Meere hervorragend, wie vor Anker liegende steinerne Kriegsschiffe aussehen. Sie sind während der langen Friedenszeit etwas baufällig geworden, jetzt aber werden sie mit großem Eifer gerüstet. Von allen Seiten sah ich zu diesem Behufe eine Menge blanke Kanonen heranschleppen, die mich sehr freundlich anlachten; denn diese klugen Geschöpfe teilen meine Antipathie gegen die Engländer und werden solche gewiß weit donnernder und treffender aussprechen. Beiläufig bemerke ich, daß die Kanonen der französischen Küstenforts über ein Drittel weiter schießen als die englischen Schiffskanonen, welche zwar von so großem Kaliber, aber nicht von derselben Länge sein können.
Hier in der Normandie haben die Kriegsgerüchte alle Nationalgefühle und Nationalerinnerungen aufgeregt, und als ich im Wirtshaus zu Saint-Valéry, während des Tischgesprächs den Plan einer Landung in England diskutieren hörte, fand ich die Sache durchaus nicht lächerlich: denn auf derselben Stelle hatte sich einst Wilhelm der Eroberer eingeschifft, und[331] seine damaligen Kameraden waren ebensolche Normannen wie die guten Leute, die ich jetzt eine ähnliche Unternehmung besprechen hörte. Möge der stolze englische Adel nie vergessen, daß es Bürger und Bauern in der Normandie gibt, die ihre Blutsverwandtschaft mit den vornehmsten Häusern Englands urkundlich beweisen können und gar nicht übel Lust hätten, ihren lieben Vettern und Basen einen Besuch abzustatten.
Der englische Adel ist im Grunde der jüngste in Europa, trotz der hochklingenden Namen, die selten ein Zeichen der Abstammung, sondern gewöhnlich nur ein übertragener Titel sind. Der übertriebene Hochmut dieser Lordships und Ladyships ist vielleicht eine Nücke ihrer parvenierten Jugendlichkeit, wie denn immer, je jünger der Stammbaum, desto grünlich bitterer die Früchtchen. Jener Hochmut trieb einst die englische Ritterschaft in den verderblichen Kampf mit den demokratischen Richtungen und Ansprüchen Frankreichs, und es ist leicht möglich, daß ihre jüngsten Übermüte aus ähnlichen Gründen entsprungen: denn zu unserer größten Verwunderung fanden wir, daß bei jener Gelegenheit die Tories mit den Whigs übereinstimmten.
Woher aber kommt es, daß solche Emeute aller aristokratischen Interessen immer im englischen Volke so vielen Anklang fand? Der Grund liegt darin, daß erstens das ganze englische Volk, die Gentry ebensogut wie die High nobility und der Mob ebensogut wie jene, von sehr aristokratischer Gesinnung sind, und zweitens, weil immer im Herzen der Engländer eine geheime Eifersucht, wie ein böses Geschwür, juckt und eitert, sobald in Frankreich ein behaglicher Wohlstand emporblüht, sobald die französische Industrie durch den Frieden gedeiht und die französische Marine sich bedeutend ausbildet.
Namentlich in Beziehung auf die Marine wird den Engländern die gehässigste Mißgunst zugeschrieben, und in den französischen Häfen zeigt sich wirklich eine Entwickelung von Kräften, die leicht den Glauben erregt, die englische Seemacht in einiger Zeit von der französischen überflügelt zu sehen. Erstere ist seit zwanzig Jahren stationär geblieben, statt daß [332] letztere im tätigsten Fortschritt begriffen ist. Ich habe in einem früheren Briefe bereits bemerkt, wie im Arsenal zu Toulon der Bau der Kriegsschiffe so eifrig betrieben worden, daß im Fall eines Krieges binnen kurzer Frist fast doppelt so viele Schiffe, wie Frankreich 1814 besitzen durfte, in See stechen können. Ein Leipziger Tagesblatt widersprach dieser Behauptung in einer ziemlich herben Weise; ich kann nur die Achsel darüber zucken, denn dergleichen Angaben schöpfe ich nicht aus bloßem Hörensagen, sondern aus der unmittelbarsten Anschauung. In Cherbourg, wo ich mich vor acht Tagen befand (ein gut Stück französischer Marine plätschert dort im Hafen), versicherte man mir, daß zu Brest ebenfalls doppelt so viele Kriegsschiffe befindlich wie früher, nämlich über funfzehn Linienschiffe, Fregatten und Briggs, von der anständigsten Kanonenzahl, teils ganz, teils bis auf einige Zwanzigstel fertiggebaut und ausgerüstet. In vier Wochen werde ich Gelegenheit haben, sie persönlich kennenzulernen. Bis dahin begnüge ich mich, zu berichten, daß ebenso wie hier, in der Basse-Normandie, auch an der bretonischen Küste unter dem Seevolke die kriegsmutigste Aufregung herrscht und die ernsthaftesten Vorbereitungen zum Kriege gemacht werden. – –
Ach Gott! nur kein Krieg! Ich fürchte, daß das ganze französische Volk, wenn man es hart bedränge, jene rote Mütze wieder hervorholt, die ihm noch weit mehr als das dreieckige bonapartistische Wünschelhütchen das Haupt erhitzen dürfte! Ich möchte hier gern die Frage aufwerfen, inwieweit die dämonischen Zerstörungskräfte, die jenem alten Talisman in Frank reich gehorchen, auch im Auslande sich geltend machen könnten. Es wäre wichtig, zu untersuchen, von welcher Bedeutung die Gewalten sind, die einem Zaubermittel zugeschrieben werden, wovon die französische Presse in der jüngsten Zeit unter dem Namen »Propaganda« so geheimnisvoll und bedrohsam flüsterte und zischelte. Ich muß mich aus leicht begreiflichen Gründen aller solchen Untersuchungen enthalten, und in betreff der vielbesprochenen Propaganda erlaube ich mir nur eine parabolische Andeutung. Es ist Ihnen bekannt, [333] daß in Lappland noch viel Heidentum herrscht und daß die Lappen, welche zur See gehen wollen, sich vorher, um den notwendigen Fahrwind einzukaufen, zu einem Hexenmeister begehen. Dieser überliefert ihnen ein Tuch, worin drei Knoten sind. Sobald man auf dem Meere ist und den ersten Knoten öffnet, bewegt sich die Luft, und es bläst ein guter Fahrwind. Öffnet man den zweiten Knoten, so entsteht schon eine weit stärkere Lufterschütterung, und es heult ein wütendes Wetter. Öffnet man aber gar den dritten Knoten, so erhebt sich der wildeste Sturm und peitscht das rasende Meer, und das Schiff kracht und geht unter mit Mann und Maus. Wenn der arme Lappe zu seinem Hexenmeister kommt, beteuert er freilich, er habe genug an einem einzigen Knoten, an gutem Fahrwind, er brauche keinen stärkeren Wind und am allerwenigsten einen gefährlichen Sturm; aber es hilft ihm nichts, man verkauft ihm den Wind nur en gros, er muß für alle drei Sorten zahlen, und wehe ihm, wenn er etwa späterhin auf dem hohen Meere zuviel Branntwein trinkt und im Rausche die bedenklicheren Knoten aufknüpft! – Die Franzosen sind nicht so läppisch wie die Lappen, obgleich sie leichtsinnig genug wären, die Stürme zu entzügeln, wodurch sie selber zugrunde gehen müßten. Bis jetzt sind sie noch weit genug davon entfernt. Wie man mir mit Betrübnis versichert, hat sich das französische Ministerium nicht sehr kauflustig gezeigt, als ihm einige preußische und polnische Windmacher (die aber keine Hexenmeister sind!) ihren Wind anboten.
XIX
Paris, 21. September 1840
Ohne sonderliche Ausbeute bin ich dieser Tage von einem Streifzuge durch die Bretagne zurückgekehrt. Ein armselig ödes Land, und die Menschen dumm und schmutzig. Von den schönen Volksliedern, die ich dort zu sammeln gedachte, vernahm ich keinen Laut. Dergleichen existiert nur noch in alten Sangbüchern, deren ich einige aufkaufte; da sie jedoch in bretonischen [334] Dialekten geschrieben sind, muß ich sie mir erst ins Französische übersetzen lassen, ehe ich etwas davon mitteilen kann. Das einzige Lied, was ich auf meiner Reise singen hörte, war ein deutsches; während ich mich in Rennes barbieren ließ, meckerte jemand auf der Straße den Jungfernkranz aus dem »Freischütz« in deutscher Sprache. Den Sänger selbst hab ich nicht gesehen, aber seine veilchenblaue Seide klang mir tagelang noch im Gedächtnis. Es wimmelt jetzt in Frankreich von deutschen Bettlern, die sich mit Singen ernähren und den Ruhm der deutschen Tonkunst nicht sehr fördern.
Über die politische Stimmung der Bretagne kann ich nicht viel berichten, die Leute sprechen sich hier nicht so leicht aus wie in der Normandie; die Leidenschaften sind hier ebenso schweigsam wie tief, und der Freund wie der Feind der Tagesregierung brütet hier mit stummem Grimm. Wie im Beginn der Revolution gibt es auch jetzt noch in der Bretagne die glühendsten Enthusiasten der Revolution, und ihr Eifer wird durch die Schrecknisse, womit die Gegenpartei sie bedroht, bis zur blutdürstigsten Wut gesteigert. Es ist ein Irrtum, wenn man glaubt, daß die Bauern in der Bretagne aus Liebe für die ehemalige Adelsherrschaft bei jedem legitimistischen Aufruf zu den Waffen griffen. Im Gegenteil, die Greuel des alten Regimes sind noch im farbigsten Andenken, und die edlen Herren haben in der Bretagne entsetzlich genug gewirtschaftet. Sie erinnern sich vielleicht der Stelle in den Briefen der Frau von Sévigné, wo sie erzählt, wie die unzufriedenen Vilains und Roturiers dem Generalgouverneur die Fenster eingeschmissen und die Schuldigen aufs grausamste hingerichtet wurden. Die Zahl derjenigen, die durchs Rad starben, muß sehr groß gewesen sein, denn da man später mit dem Strange verfuhr, bemerkte Frau von Sévigné ganz naiv: nach dem vielen Rädern sei das Hängen für sie eine wahre Erfrischung. Die mangelnde Liebe wird durch Versprechungen ersetzt, und ein armer Bretone, der bei jedem legitimistischen Schilderheben sich tätig gezeigt und nichts als Wunden und Elend dabei gewann, gestand mir, daß er diesmal seines Lohnes gewiß sei, da Heinrich [335] V. bei seiner Rückkehr jedem, der für seine Sache gefochten, eine lebenslängliche Pension von fünfhundert Franken bezahlen werde.
Hegt aber das Volk in der Bretagne nur sehr laue und eigennützige Sympathien für die alte Noblesse, so folgt es desto unbedingter allen Inspirationen der Geistlichkeit, in deren geistiger und leiblicher Botmäßigkeit es geboren wird, lebt und stirbt. Wie dem Druiden in der alten Keltenzeit gehorcht der Bretone jetzt seinem Pfarrer, und nur durch dessen Vermittelung dient er dem Edelmann. Georg Cadoudal war wahrlich kein serviler Lakai des Adels, ebensowenig wie Charette, der sich über den letztern mit der bittersten Geringschätzung aussprach und an Ludwig XVIII. unumwunden schrieb: »La lâcheté de vos gentilshommes a perdu votre cause«; aber vor ihren tonsurten Oberhäuptern beugten diese Leute demütig das Knie. Selbst die bretonischen Jakobiner konnten sich nie ganz von ihren kirchlichen Velleitäten lossagen, und es blieb immer ein Zwiespalt in ihrem Gemüte, wenn die Freiheit in Konflikt geriet mit ihrem Glauben. – –
Wird es aber zum Krieg kommen? Jetzt nicht: doch der böse Dämon ist wieder entfesselt und spukt in den Gemütern. Das französische Ministerium handelte sehr unbesonnen, als es gleich mit vollen Backen in die Kriegstrompete stieß und ganz Europa auftrommelte. Wie der Fischer in dem arabischen Märchen hat Thiers die Flasche geöffnet, woraus der schreckliche Dämon emporstieg... er erschrak nicht wenig über dessen kolossale Gestalt und möchte ihn jetzt zurückbannen mit schlauen Worten. »Bist du wirklich aus einer so kleinen Bouteille hervorgestiegen?« sprach der Fischer zu dem Riesen, und zum Beweise verlangte er, daß er wieder in dieselbe Flasche hineinkrieche; und als der große Narr es tat, verschloß der Fischer die Flasche mit einem guten Stöpsel... Die Post geht ab, und wie die Sultanin Scheherezade unterbrechen wir unsre Erzählung, vertröstend auf morgen, wo wir aber ebenfalls, wegen der vielen eingeschobenen Episoden, keinen Schluß liefern.
[336]XX
Paris, den 1. Oktober 1840
»Haben Sie das Buch Baruch gelesen?« Mit dieser Frage lief einst Lafontaine durch alle Straßen von Paris, jeden seiner Bekannten anhaltend, um ihm die große Neuigkeit mitzuteilen, daß das Buch Baruch wunderschön sei, eine der besten Sachen, die je geschrieben worden. Die Leute sahen ihn verwundert an und lächelten vielleicht in derselben Weise, wie ich Sie lächeln sehe, wenn ich Ihnen mit der heutigen Post die wichtige Nachricht mitteile, daß »Tausend und eine Nacht« eines der besten Bücher ist und gar besonders nützlich und belehrsam in jetziger Zeit... Denn aus jenem Buche lernt man den Orient besser kennen als aus den Berichten Lamartines, Poujoulats und Konsorten; und wenn auch diese Kenntnis nicht hinreicht, die orientalische Frage zu lösen, so wird sie uns wenigstens ein bißchen aufheitern in unserm okzidentalischen Elend! Man fühlt sich so glücklich, während man dies Buch liest! Schon der Rahmen ist kostbarer als die besten Gemälde des Abendlandes. Welch ein prächtiger Kerl ist jener Sultan Schariar, der seine Gattinnen des andern Morgens, nach der Brautnacht, unverzüglich töten läßt! Welche Tiefe des Gemüts, welche schauerliche Seelenkeuschheit, welche Zartheit des ehelichen Bewußtseins offenbart sich in jener naiven Liebestat, die man bisher als grausam, barbarisch, despotisch verunglimpfte! Der Mann hatte einen Abscheu gegen jede Verunreinigung seiner Gefühle, und er glaubte sie schon verunreinigt durch den bloßen Gedanken, daß die Gattin, die heut an seinem hohen Herzen lag, vielleicht morgen in die Arme eines andern, eines schmutzigen Lumps, hinabsinken könne – und er tötete sie lieber gleich nach der Brautnacht! Da man so viele verkannte Edle, die das blödsinnige Publikum lange Zeit verlästerte und schmähte, jetzt wieder zu Ehren bringt, so sollte man auch den wackern Sultan Schariar in der öffentlichen Meinung zu rehabilitieren suchen. Ich selbst kann mich in diesem Augenblick einem solchen verdienstlichen Werke nicht unterziehen, da ich schon mit der Rehabilitation des seligen [337] Königs Prokrustus beschäftigt bin; ich werde nämlich beweisen, daß dieser Prokrustus bisher so falsch beurteilt worden, weil er seiner Zeit vorausgeschritten und in einer heroisch aristokratischen Periode die heutigsten Plebejerideen zu verwirklichen suchte. Keiner hat ihn verstanden, als er die Großen verkleinerte und die Kleinen so lange ausreckte, bis sie in sein eisernes Gleichheitsbett paßten.
Der Republikanismus macht in Frankreich täglich bedeutendere Fortschritte, und Robespierre und Marat sind vollständig rehabilitiert. Oh, edler Schariar und echt demokratischer Prokrustus! auch ihr werdet nicht lange mehr verkannt bleiben. Erst jetzt versteht man euch. Die Wahrheit siegt am Ende.
Madame Lafarge wird seit ihrer Verurteilung noch leidenschaftlicher als früher besprochen. Die öffentliche Meinung ist ganz zu ihren Gunsten, seitdem Herr Raspail sein Gutachten in die Waagschale geworfen. Bedenkt man einerseits, daß hier ein strenger Republikaner gegen seine eigenen Parteiinteressen auftritt und durch seine Behauptungen eins der volkstümlichsten Institute des neuen Frankreichs, die Jury, unmittelbar kompromittiert; und bedenkt man andrerseits, daß der Mann, auf dessen Ausspruch die Jury das Verdammungsurteil basierte, ein berüchtigter Intrigant und Scharlatan ist, eine Klette am Kleide der Großen, ein Dorn im Fleische der Unterdrückten, schmeichelnd nach oben, schmähsüchtig nach unten, falsch im Reden wie im Singen: o Himmel! dann zweifelt man nicht länger, daß Marie Capelle unschuldig ist und an ihrer Statt der berühmte Toxologe, welcher Dekan der Medizinischen Fakultät von Paris, nämlich Herr Orfila, auf dem Marktplatz von Tulle an den Pranger gestellt werden sollte! Wer aus näherer Beobachtung die Umtriebe jenes eiteln Selbstsüchtlings nur einigermaßen kennt, ist in tiefster Seele überzeugt, daß ihm kein Mittel zu schlecht ist, wo er eine Gelegenheit findet, sich in seiner wissenschaftlichen Spezialität wichtig zu machen und überhaupt den Glanz seiner Berühmtheit zu fördern! In der Tat, dieser schlechte Sänger, der, wenn er in den Soireen von Paris seine schlechten Romanzen meckert, kein[338] menschliches Ohr schont und jeden töten möchte, der ihn auslacht: er würde auch kein Bedenken tragen, ein Menschenleben zu opfern, wo es gälte, das versammelte Publikum glauben zu machen, niemand sei so geschickt wie er, jedes verborgene Gift an den Tag zu bringen! Die öffentliche Meinung geht dahin, daß im Leichnam des Lafarge gar kein Gift, desto mehr hingegen im Herzen des Herrn Orfila vorhanden war. Diejenigen, welche dem Urteil der Jury von Tulle beistimmen, bilden eine sehr kleine Minorität und gebärden sich nicht mehr mit der frühern Sicherheit. Unter ihnen gibt es Leute, welche zwar an Vergiftung glauben, dieses Verbrechen aber als eine Art Notwehr betrachten und gewissermaßen justifizieren. Lafarge, sagen sie, sei einer größern Untat anklagbar: er habe, um sich durch ein Heiratsgut vom Bankerotte zu retten, mit betrügerischen Vorspiegelungen das edle Weib gleichsam gestohlen und sie nach seiner öden Diebeshöhle geschleppt, wo, umgehen von der rohen Sippschaft, unter moralischen Martern und tödlichen Entbehrungen, die arme verzärtelte, an tausend geistige Bedürfnisse gewöhnte Pariserin, wie ein Fisch außer dem Wasser, wie ein Vogel unter Fledermäusen, wie eine Blume unter limosinischen Bestien, elendiglich dahinsterben und vermodern mußte! »Ist das nicht ein Meuchelmord, und war hier nicht Notwehr zu entschuldigen?« – so sagen die Verteidiger, und sie setzen hinzu: »Als das unglückliche Weib sah, daß sie gefangen war, eingekerkert in der wüsten Kartause, welche Glandier heißt, bewacht von der alten Diebesmutter, ohne gesetzliche Rettungshilfe, ja gefesselt durch die Gesetze selbst – da verlor sie den Kopf, und zu den tollen Befreiungsmitteln, die sie zuerst versuchte, gehört jener famöse Brief, worin sie dem rohen Gatten vorlog, sie liebe einen andern, sie könne ihn nicht lieben, er möge sie also loslassen, sie wolle nach Asien fliehen, und er möge ihr Heiratsgut behalten. Die holde Närrin! In ihrem Wahnsinn glaubte sie, ein Mann könne mit einem Weibe nicht leben, welches ihn nicht liebe, daran stürbe er, das sei der Tod... Da sie aber sah, daß der Mann auch ohne Liebe leben konnte, daß ihn Lieblosigkeit nicht [339] tötete, da griff sie zu purem Arsenik... Rattengift für eine Ratte!« – Die Männer der Jury von Tulle scheinen Ähnliches gefühlt zu haben, denn sonst wäre es nicht zu begreifen, weshalb sie in ihrem Verdikt von Milderungsgründen sprachen. Soviel ist aber gewiß, daß der Prozeß der Dame von Glandier ein wichtiges Aktenstück ist, wenn man sich mit der großen Frauenfrage beschäftigt, von deren Lösung das ganze gesellschaftliche Leben Frankreichs abhängt. Die außerordentliche Teilnahme, die jener Prozeß erregt, entspringt aus dem Bewußtsein eignen Leids. Ihr armen Frauen, ihr seid wahrhaftig übel dran. Die Juden in ihren Gebeten danken täglich dem lieben Gott, daß er sie nicht als Frauenzimmer zur Welt kommen ließ. Naives Gebet von Menschen, die eben durch Geburt nicht glücklich sind, aber ein weibliches Geschöpf zu sein für das schrecklichste Unglück halten! Sie haben recht, selbst in Frankreich, wo das weibliche Elend mit so vielen Rosen bedeckt wird.
XXI
Paris, 3. Oktober 1840
Seit gestern abend herrscht hier eine Aufregung, die alle Begriffe übersteigt. Der Kanonendonner von Beirut findet sein Echo in der Brust aller Franzosen. Ich selber bin wie betäubt: schreckliche Befürchtungen dringen in mein Gemüt. Der Krieg ist noch das geringste der Übel, die ich fürchte. In Paris können Auftritte stattfinden, wogegen alle Szenen der vorigen Revolution wie heitere Sommernachtsträume erscheinen möchten! Der vorigen Revolution? Nein, die Revolution ist noch eine und dieselbe, wir haben erst den Anfang gesehen, und viele von uns werden die Mitte nicht überleben! Die Franzosen sind in einer schlechten Lage, wenn hier die Bajonettenmehrzahl entscheidet. Aber das Eisen tötet nicht, sondern die Hand, und diese gehorcht der Seele. Es kommt nun darauf an, wieviel Seele auf jeder Waagschale sein wird. Vor den Bureaux de recrutements macht man heute Queue, wie vor den Theatern, wenn ein gutes Stück gegeben wird: eine unzählige [340] Menge junger Leute läßt sich als Freiwillige zum Militärdienst einschreiben. Im Palais Royal wimmelt's von Ouvriers, die sich die Zeitungen vorlesen und sehr ernsthaft dabei aussehen. Der Ernst, der sich in diesem Augenblick fast wortkarg äußert, ist unendlich beängstigender als der geschwätzige Zorn vor zwei Monaten. Es heißt, daß die Kammern berufen werden, was vielleicht ein neues Unglück. Deliberierende Korporationen lähmen jede handelnde Tatkraft der Regierung, wenn sie nicht selbst alle Regierungsgewalt in Händen haben, wie z.B. der Konvent von 1792. In jenem Jahre waren die Franzosen in einer weit schlimmern Lage als jetzt.
XXII
Paris, 7. Oktober 1840
Stündlich steigt die Aufregung der Gemüter. Bei der hitzigen Ungeduld der Franzosen ist es kaum zu begreifen, wie sie es aushalten können in diesem Zustand der Ungewißheit. »Entscheidung, Entscheidung um jeden Preis!« ruft das ganze Volk, das seine Ehre gekränkt glaubt. Ob diese Kränkung eine wirkliche oder nur eine eingebildete ist, vermag ich nicht zu entscheiden; die Erklärung der Engländer und Russen, daß es ihnen nur um die Sicherung des Friedens zu tun sei, klingt jedenfalls sehr ironisch, wenn zu gleicher Zeit zu Beirut der Kanonendonner das Gegenteil behauptet. Daß man auf den dreifarbigen Pavillon des französischen Konsuls zu Beirut mit besonderer Vorliebe gefeuert hat, erregt die meiste Entrüstung. Vorgestern abend verlangte das Parterre in der Großen Oper, daß das Orchester die Marseillaise anstimme; da ein Polizeikommissär diesem Verlangen widersprach, sang man ohne Begleitung, aber mit so schnaubendem Zorn, daß die Worte in den Kehlen stockten und ganz unverständlich hervorgebrüllt wurden. Oder haben die Franzosen die Worte jenes schrecklichen Lieds vergessen und erinnern sich nur noch der alten Melodie? Der Polizeikommissär, welcher auf die Szene stieg, um dem Publikum eine Gegenvorstellung zu machen, stotterte [341] unter vielen Verbeugungen: das Orchester könne die Marseillaise nicht aufspielen, denn dieses Musikstück stünde nicht auf dem Anschlagzettel. Eine Stimme im Parterre erwiderte: »Mein Herr, das ist kein Grund, denn Sie selbst stehen ja auch nicht auf dem Anschlagzettel.« Für heute hat der Polizeipräfekt allen Theatern die Erlaubnis erteilt, die Marseiller Hymne zu spielen, und ich halte diesen Umstand nicht für unwichtig. Ich sehe darin ein Symptom, dem ich mehr Glauben schenke als allen kriegerischen Deklamationen der Ministerialblätter. Letztere stoßen in der Tat seit einigen Tagen so bedeutend in die Trompete Bellonas, daß man den Krieg als etwas Unvermeidliches zu betrachten schien. Die Friedfertigsten waren der Kriegsminister und der Marineminister; der Kampflustigste war der Minister des Unterrichts – ein wackerer Mann, der seit seiner Amtsführung selbst die Achtung seiner Feinde erworben und jetzt ebensoviel Tatkraft wie Begeisterung entfaltet, aber die Kriegskräfte Frankreichs gewiß nicht so gut zu beurteilen weiß wie der Marineminister und der Kriegsminister. Thiers hält allen die Waage und ist wirklich der Mann der Nationalität. Letztere ist ein großer Hebel in seinen Händen, und er hat von Napoleon gelernt, daß man die Franzosen damit noch weit gewaltiger bewegen kann als mit Ideen. Trotz seinem Nationalismus bleibt aber Frankreich der Repräsentant der Revolution, und die Franzosen kämpfen nur für diese, wenn sie sich selbst aus Eitelkeit, Eigennutz und Torheit schlagen. Thiers hat imperialistische Gelüste, und wie ich Ihnen schon Ende Julius schrieb, der Krieg ist die Freude seines Herzens. Jetzt ist der Fußboden seines Arbeitzimmers ganz mit Landkarten bedeckt, und da liegt er auf dem Bauche und steckt schwarze und grüne Nadeln ins Papier, ganz wie Napoleon. Daß er an der Börse spekuliert habe, ist eine schnöde Verleumdung; ein Mensch kann nur einer einzigen Leidenschaft gehorchen, und der Ehrgeizige denkt selten an Geld. Durch seine Familiarität mit gesinnungslosen Glücksrittern hat sich Thiers all die boshaften Gerüchte, die an seinem Leumund nagen, selber zugezogen. Diese Leute, wenn er ihnen [342] jetzt den Rücken kehrt, schmähen ihn noch mehr als seine politischen Feinde. Aber warum pflegte er Umgang mit solchem Gesindel? Wer sich mit Hunden niederlegt, steht mit Flöhen auf.
Ich bewundere den Mut des Königs; jede Stunde, wo er zögert, dem verletzten Nationalgefühl Genugtuung zu schaffen, wächst die Gefahr, die den Thron noch entsetzlicher bedroht als alle Kanonen der Alliierten. Morgen, heißt es, sollen die Ordonnanzen publiziert werden, welche die Kammern berufen und Frankreich in Kriegszustand (état de guerre) erklären. Gestern abend, auf der Nachtbörse von Tortoni, hieß es, Lalande habe Befehl erhalten, nach der Straße von Gibraltar zu eilen und der russischen Flotte, wenn sie sich mit der englischen vereinigen wolle, den Durchgang ins Mittelländische Meer zu wehren. Die Rente, welche am Tage schon zwei Prozent gefallen war, purzelte noch zwei Prozent tiefer. Herr v. Rothschild, wird behauptet, hatte gestern Zahnschmerz; andre sagen Kolik. Was wird daraus werden? Das Gewitter zieht immer näher. In den Lüften vernimmt man schon den Flügelschlag der Walküren.
XXIII
Paris, 29. Oktober 1840
Thiers geht ab, und Guizot tritt wieder auf. Es ist aber dasselbe Stück, und nur die Akteure wechseln. Dieser Rollenwechsel geschah auf Verlangen sehr vieler hohen und allerhöchsten Personen, nicht des gewöhnlichen Publikums, das mit dem Spiel seines ersten Helden sehr zufrieden war. Dieser buhlte vielleicht etwas zu sehr um den Beifall des Parterres; sein Nachfolger hat mehr die höhern Regionen im Auge, die Gesandtenlogen.
In diesem Augenblick versagen wir nicht unser Mitleid dem Manne, der unter den jetzigen Umständen in das Hôtel des Capucines seinen Einzug hält; er ist viel mehr zu bedauern als derjenige, der dieses Marterhaus oder Drillbaus verläßt. Er ist fast ebenso zu bedauern wie der König selber; auf diesen [343] schießt man, den Minister verleumdet man. Mit wieviel Kot bewarf man Thiers während seines Ministeriums! Heute bezieht er wieder sein kleines Haus auf der Place Saint-George, und ich rate ihm, gleich ein Bad zu nehmen. Hier wird er sich wieder seinen Freunden in fleckenloser Größe zeigen, und wie vor vier Jahren, als er in derselben plötzlichen Weise das Ministerium verließ, wird jeder einsehen, daß seine Hände rein geblieben sind und sein Herz nicht eingeschrumpft. Er ist nur etwas ernsthafter geworden, obgleich der wahre Ernst ihm nie fehlte und sich, wie bei Cäsar, unter leichten Lebensformen verbarg. Die Beschuldigung der Forfanterie, die man in der letzten Zeit am öftesten gegen ihn vorbrachte, widerlegt er eben durch seinen Abgang vom Ministerium: eben weil er kein bloßer Maulheld war, weil er wirklich die größten Kriegsrüstungen vornahm, eben deshalb mußte er zurücktreten. Jetzt sieht jeder ein, daß der Aufruf zu den Waffen keine prahlerische Spiegelfechterei war. Über vierhundert Millionen beläuft sich schon die Summe, welche für die Armee, die Marine und die Befestigungswerke verwendet worden, und in einigen Monaten stehen sechs mal hunderttausend Soldaten auf den Beinen. Noch stärkere Vorbereitungen zum Kriege standen in Vorschlag, und das ist der Grund, weshalb der König, noch vor dem Beginn der Kammersitzungen, sich um jeden Preis des großen Rüstmeisters entledigen mußte. Einige beschränkte Deputiertenköpfe werden jetzt freilich über nutzlose Ausgaben schreien und nicht bedenken, daß es eben jene Kriegsrüstungen sind, die uns vielleicht den Frieden erhielten. Ein Schwert hält das andere in der Scheide. Die große Frage, ob Frankreich durch die Londoner Traktatsvorgänge beleidigt war oder nicht, wird jetzt in der Kammer debattiert werden. Es ist eine verwickelte Frage, bei deren Beantwortung man auf die Verschiedenheit der Nationalität Rücksicht nehmen muß. Vorderhand aber haben wir Frieden, und dem König Ludwig Philipp gebührt das Lob, daß er zur Erhaltung des Friedens ebensoviel Mut aufgewendet, als Napoleon dessen im Kriege bekundete. Ja, lacht nicht, er ist der Napoleon des Friedens!
[344] XXIV
Paris, 4. November 1840
Marschall Soult, der Mann des Schwertes, sorgt für die innere Ruhe Frankreichs, und dieses ist seine ausschließliche Aufgabe. Für die äußere Ruhe bürgt unterdessen Ludwig Philipp, der König der Klugheit, der mit geduldigen Händen, nicht mit dem Schwerte, die Wirrnisse der Diplomatie, den gordischen Knäuel, zu lösen sucht. Wird's ihm gelingen? Wir wünschen es, und zwar im Interesse der Fürsten wie der Völker Europas. Letztere können durch einen Krieg nur Tod und Elend gewinnen. Erstere, die Fürsten, würden, selbst im günstigsten Falle, durch einen Sieg über Frankreich die Gefahren verwirklichen, die vielleicht jetzt nur in der Imagination einiger Staatsleute als besorgliche Gedanken existieren. Die große Umwälzung, welche seit funfzig Jahren in Frankreich stattfand, ist, wo nicht beendigt, doch gewiß gehemmt, wenn nicht von außen das entsetzliche Rad wieder in Bewegung gesetzt wird. Durch die Bedrohnisse eines Krieges mit der neuen Koalition wird nicht bloß der Thron des Königs, sondern auch die Herrschaft jener Bourgeoisie gefährdet, die Ludwig Philipp rechtsmäßig, jedenfalls tatsächlich, repräsentiert. Die Bourgeoisie, nicht das Volk, hat die Revolution von 1789 begonnen und 1830 vollendet, sie ist es, welche jetzt regiert, obgleich viele ihrer Mandatarien von vornehmem Geblüte sind, und sie ist es, welche das andringende Volk, das nicht bloß Gleichheit der Gesetze, sondern auch Gleichheit der Genüsse verlangt, bis jetzt im Zaum hielt. Die Bourgeoisie, welche ihr mühsames Werk, die neue Staatsbegründung, gegen den Andrang des Volkes, das eine radikale Umgestaltung der Gesellschaft begehrt, zu verteidigen hat, ist gewiß zu schwach, wenn auch das Ausland sie mit vierfach stärkeren Kräften anfiele, und noch ehe es zur Invasion käme, würde die Bourgeoisie abdanken, die unteren Klassen würden wieder an ihre Stelle treten, wie in den schrecklichen neunziger Jahren, aber besser organisiert, mit klarerem Bewußtsein, mit neuen Doktrinen, mit neuen Göttern, mit neuen Erd- und Himmelskräften; statt mit einer politischen müßte das Ausland[345] mit einer sozialen Revolution in den Kampf treten. Die Klugheit dürfte daher den alliierten Mächten raten, das jetzige Regiment in Frankreich zu unterstützen, damit nicht weit gefährlichere und kontagiösere Elemente entzügelt werden und sich geltend machen. Die Gottheit selbst gibt ja ihren Stellvertretern ein so belehrendes Beispiel: der jüngste Mordversuch zeigt, wie die Vorsehung dem Haupte Ludwig Philipps einen ganz besondern Schutz angedeihen läßt... sie schützt den großen Spritzenmeister, der die Flamme dämpft und einen allgemeinen Weltbrand verhütet.
Ich zweifle nicht, daß es dem Marschall Soult gelingen wird, die innere Ruhe zu sichern. Durch seine Kriegsrüstungen hat ihm Thiers genug Soldaten hinterlassen, die freilich ob der veränderten Bestimmung sehr mißmutig sind. Wird er auf letztere zählen können, wenn das Volk mit bewaffnetem Ungestüm den Krieg begehrt? Werden die Soldaten dem Kriegsgelüste des eigenen Herzens widerstehen können und sich lieber mit ihren Brüdern als mit den Fremden schlagen? Werden sie den Vorwurf der Feigheit ruhig anhören können? Werden sie nicht ganz den Kopf verlieren, wenn plötzlich der tote Feldherr von St. Helena anlangt? Ich wollte, der Mann läge schon ruhig unter der Kuppel des Invalidendoms und wir hätten die Leichenfeier glücklich überstanden! –
Das Verhältnis Guizots zu den beiden obengenannten Trägern des Staates werde ich späterhin besprechen. Auch läßt sich noch nicht bestimmen, inwieweit er beide durch die Ägide seines Wortes zu schirmen denkt. Sein Rednertalent dürfte in einigen Wochen stark genug in Anspruch genommen werden, und wenn die Kammer, wie es heißt, über den casus belli ein Prinzip aufstellen wird, kann der gelehrte Mann seine Kenntnisse aufs glänzendste entwickeln. Die Kammer wird nämlich die Erklärung der koalisierten Mächte, daß sie bei der Pazifikation des Orients keine Territorialvergrößerungen und sonstige Privatvorteile beabsichtigen, in besondere Erwägung ziehen und jeden faktischen Widerspruch mit jener Erklärung als einen casus belli feststellen. Über die Rolle, die Thiers bei [346] dieser Gelegenheit spielen wird, und ob er dem alten Nebenbuhler Guizot wieder mit all seiner Sprachgewalt entgegenzutreten gedenkt, kann ich Ihnen ebenfalls erst später berichten.
Guizot hat einen schweren Stand, und ich habe Ihnen schon oft gesagt, daß ich großes Mitleid für ihn empfinde. Er ist ein wackerer, festgesinnter Mann, und Calamatta hat in einem vortrefflichen Porträt sein edles Äußere sehr getreu abkonterfeit. Ein starrer, puritanischer Kopf, angelehnt an eine steinerne Wand – bei einer hastigen Bewegung des Kopfes nach hinten könnte er sich sehr beschädigen. Das Porträt ist an den Fenstern von Goupil und Rittner ausgestellt. Es wird viel betrachtet, und Guizot muß schon in effigie viel ausstehen von den maliziösen Zungen.
XXV
Paris, 6. November 1840
Über die Juliusrevolution und den Anteil, den Ludwig Philipp daran genommen, ist jetzt ein Buch erschienen, welches die allgemeine Aufmerksamkeit erregt und überall besprochen wird. Es ist dies der erste Teil von Louis Blancs »Histoire de dix ans«. Ich habe das Werk noch nicht zu Gesicht bekommen; sobald ich es gelesen, will ich versuchen, ein selbständiges Urteil darüber zu fällen. Heute berichte ich Ihnen bloß, was ich von vornherein über den Verfasser und seine Stellung sagen kann, damit Sie den rechten Standpunkt gewinnen, von wo aus Sie genau ermessen mögen, wieviel Anteil der Parteigeist an dem Buche hat und wieviel Glauben Sie seinem Inhalt schenken oder verweigern können.
Der Verfasser, Herr Louis Blanc, ist noch ein junger Mann, höchstens einige dreißig Jahre alt, obgleich er seinem Äußern nach wie ein kleiner Junge von dreizehn Jahren aussieht. In der Tat, seine überaus winzige Gestalt, sein rotbäckiges, bartloses Gesichtchen und auch seine weichlich zarte, noch nicht zum Durchbruch gekommene Stimme geben ihm das Ansehen [347] eines allerliebsten Bübchens, das eben der dritten Schulklasse entsprungen und seinen ersten schwarzen Frack trägt, und doch ist er eine Notabilität der republikanischen Partei, und in seinem Räsonnement herrscht eine Mäßigung, wie man sie nur bei Greisen findet. – Seine Physiognomie, namentlich die muntern Äuglein, deuten auf südfranzösischen Ursprung. Louis Blanc ist geboren zu Madrid, von französischen Eltern. Seine Mutter ist Korsikanerin, und zwar eine Pozzo di Borgo. Er ward erzogen in Rodez. Ich weiß nicht, wie lange er schon in Paris verweilt, aber bereits vor sechs Jahren traf ich ihn hier als Redakteur eines republikanischen Journals, »Le Monde« geheißen, und seitdem stiftete er auch die »Revue du progrès«, das bedeutendste Organ des Republikanismus. Sein Vetter Pozzo di Borgo, der ehemalige russische Gesandte, soll mit der Richtung des jungen Mannes nicht sehr zufrieden gewesen sein und dar über nicht selten Klage geführt haben. (Von jenem berühmten Diplomaten sind, nebenbei gesagt, sehr betrübende Nachrichten hier angelangt, und seine Geisteskrankheit scheint unheilbar zu sein; er verfällt manchmal in Raserei und glaubt alsdann, der Kaiser Napoleon wolle ihn erschießen lassen.) Louis Blancs Mutter und seine ganze mütterliche Familie lebt noch in Korsika. Doch das ist die leibliche Sippschaft, die des Blutes. Dem Geiste nach ist Louis Blanc zunächst verwandt mit Jean-Jacques Rousseau, dessen Schriften der Ausgangspunkt seiner ganzen Denk- und Schreibweise. Seine warme, nette, wahrheitliche Prosa erinnert an jenen ersten Kirchenvater der Revolution. »L'organisation du travail« ist eine Schrift von Louis Blanc, die bereits vor einiger Zeit die Aufmerksamkeit auf ihn lenkte. Wenn auch nicht gründliches Wissen, doch eine glühende Sympathie für die Leiden des Volks zeigt sich in jeder Zeile dieses kleinen Opus, und es bekundet sich darin zu gleicher Zeit jene Vorliebe für unbeschränkte Herrscherei, jene gründliche Abneigung gegen genialen Personalismus, wodurch sich Louis Blanc von einigen seiner republikanischen Genossen, z.B. von dem geistreichen Pyat, auffallend unterscheidet. Diese Abweichung hat vor einiger Zeit fast ein Zerwürfnis hervorgebracht, [348] als Louis Blanc nicht die absolute Preßfreiheit anerkennen wollte, die von jenen Republikanern in Anspruch genommen wird. Hier zeigte es sich ganz klar, daß diese letztern die Freiheit nur der Freiheit wegen lieben, Louis Blanc aber dieselbe vielmehr als ein Mittel zur Beförderung philanthropischer Zwecke betrachtet, so daß ihm auf diesem Standpunkte die gouvernementale Autorität, ohne welche keine Regierung das Heil des Volks fördern könne, weit mehr gilt als alle Befugnisse und Berechtigungen der individuellen Kraft und Größe. Ja, vielleicht schon wegen seiner Taille ist ihm jede große Persönlichkeit zuwider, und er schielt an sie hinauf mit jenem Mißtrauen, das er mit einem andern Schüler Rousseaus, dem seligen Maximilian Robespierre, gemein hat. Ich glaube, der Knirps möchte jeden Kopf abschlagen lassen, der das vorgeschriebene Rekrutenmaß überragt, versteht sich, im Interesse des öffentlichen Heils, der allgemeinen Gleichheit, des sozialen Volksglücks. Er selbst ist mäßig, scheint dem eignen kleinen Körper keine Genüsse zu gönnen, und er will daher im Staate allgemeine Küchengleichheit einführen, wo für uns alle dieselbe spartanische schwarze Suppe gekocht werden soll und, was noch schrecklicher, wo der Riese auch dieselbe Portion bekäme, deren sich Bruder Zwerg zu erfreuen hätte. Nein, dafür dank ich, neuer Lykurg! Es ist wahr, wir sind alle Brüder, aber ich bin der große Bruder, und ihr seid die kleinen Brüder, und mir gebührt eine bedeutendere Portion. Louis Blanc ist ein spaßhaftes Kompositum von Liliputaner und Spartaner. Jedenfalls traue ich ihm eine große Zukunft zu, und er wird eine Rolle spielen, wenn auch eine kurze. Er ist ganz dazu gemacht, der große Mann der Kleinen zu sein, die einen solchen mit Leichtigkeit auf ihren Schultern zu tragen vermögen, während Menschen von kolossalem Zuschnitt, ich möchte fast sagen, Geister von starker Korpulenz, ihnen eine zu schwere Last sein möchten.
Das neue Buch von Louis Blanc soll vortrefflich geschrieben sein, und da es eine Menge unbekannter und boshafter Anekdoten enthält, hat es schon ein stoffartiges Interesse für die [349] schadenfrohe große Menge. Die Republikaner schwelgen darin mit Wonne; die misère, die Kleinheit jener regierenden Bourgeoisie, die sie stürzen wollen, ist hier sehr ergötzlich aufgedeckt. Für die Legitimisten aber ist das Buch wahrer Kaviar, denn der Verfasser, der sie selbst verschont, verhöhnt ihre bürgerlichen Besieger und wirft vergifteten Kot auf den Königsmantel von Ludwig Philipp. Sind die Geschichten, die Louis Blanc von ihm erzählt, falsch oder wahr? Ist letzteres der Fall, so hätte die große Nation der Franzosen, die soviel von ihrem Point d'honneur spricht, sich seit zehn Jahren von einem gewöhnlichen Gaukler, von einem gekrönten Bosco regieren und repräsentieren lassen. Es wird nämlich in jenem Buche folgendes er zählt: Den 1. August, als Karl X. den Herzog von Orleans zum Lieutenant-General ernannt, habe sich Dupin zu letzterm nach Neuilly begeben und ihm vorgestellt, daß er, um dem gefährlichen Verdacht der Zweideutigkeit zu entgehen, auf eine entschiedene Weise mit Karl X. brechen und ihm einen bestimmten Absagebrief schreiben müsse. Ludwig Philipp habe dem Rate Dupins seinen ganzen Beifall geschenkt und ihn selbst gebeten, einen solchen Brief für ihn zu redigieren; dieses sei geschehen, und zwar in den derbsten Ausdrücken, und Ludwig Philipp, im Begriff, den schon mit einem Adreßkuverte versehenen Brief zu versiegeln und das Siegellack bereits an die Wachskerze haltend, habe sich plötzlich zu Dupin gewandt mit den Worten: »In wichtigen Fällen konsultiere ich immer meine Frau, ich will ihr erst den Brief vorlesen, und findet er Beifall, so schicken wir ihn gleich ab.« Hierauf habe er das Zimmer verlassen, und nach einer Weile mit dem Briefe zurückkehrend, habe er denselben schnell versiegelt und unverzüglich an Karl X. abgeschickt. Aber nur das Adreßkuvert sei dasselbe gewesen, dem plump Dupinschen Briefe jedoch habe der fingerfertige Künstler ein ganz demütiges Schreiben substituiert, worin er, seine Untertanentreue beteuernd, die Ernennung als Lieutenant-General annahm und den König beschwor, zugunsten seines Enkels zu abdizieren. Die nächste Frage ist nun: Wie ward dieser Betrug entdeckt? [350] Hierauf hat Herr Louis Blanc einem Bekannten von mir mündlich die Antwort erteilt: Herr Berryer, als er nach Prag zu Karl X. reiste, habe demselben ehrfurchtsvoll vorgestellt, daß Seine Majestät sich einst mit der Abdikation etwas zu sehr übereilt, worauf ihm Se. Majestät, um sich zu justifizieren, den Brief zeigte, den ihm zu jener Zeit der Herzog von Orleans geschrieben; den Rat desselben habe er um so eifriger befolgt, da er in ihm den Lieutenant-General des Königreichs anerkannt hatte. Es ist also Herr Berryer, welcher jenen Brief gesehen hat und auf dessen Autorität die ganze Anekdote beruht. Für die Legitimisten ist diese Autorität gewiß hinreichend, und sie ist es auch für die Republikaner, die alles glauben, was der legitime Haß gegen Ludwig Philipp erfindet. Wir sahen dieses noch jüngst, als eine verrufene Vettel die bekannten falschen Briefe schmiedete, bei welcher Gelegenheit Herr Berryer sich bereits als Advokat der Fälschung in vollem Glanze zeigte. Wir, die wir weder Legitimist noch Republikaner sind, wir glauben nur an das Talent des Herrn Berryer, an sein wohltönendes Organ, an seinen Sinn für Spiel und Musik, und ganz besonders glauben wir an die ungeheuren Summen, womit die legitimistische Partei ihren großen Sachwalter honoriert.
Was Ludwig Philipp betrifft, so haben wir in diesen Blättern oft genug unsre Meinung über ihn ausgesprochen. Er ist ein großer König, obgleich ähnlicher dem Odysseus als dem Ajax, dem wütenden Autokraten, der im Zwist mit dem erfindungsreichen Dulder gar kläglich unterliegen mußte. Er hat aber die Krone Frankreichs nicht wie ein Schelm eskamotiert, sondern die bitterste Notwendigkeit, ich möchte sagen, die Ungnade Gottes drückte ihm die Krone aufs Haupt, in einer verhängnisvollen Schreckensstunde. Freilich, er hat bei dieser Gelegenheit ein bißchen Komödie gespielt, er meinte es nicht ganz ehrlich mit seinen Kommittenten, mit den Juliushelden, die ihn aufs Schild erhoben – aber meinten es diese so ganz ehrlich mit ihm, dem Orleans? Sie hielten ihn für einen bloßen Hampelmann, sie setzten ihn lustig auf den roten Sessel, im [351] festen Glauben, ihn mit leichter Mühe wieder herabwerfen zu können, wenn er sich nicht gelenkig genug an den Drähten regieren ließe oder wenn es ihnen gar einfiele, die Republik, das alte Stück, wieder aufzuführen. Aber diesmal, wie ich bereits mal gesagt habe, war es das Königtum selbst, welches die Rolle des Junius Brutus spielte, um die Republikaner zu täuschen, und Ludwig Philipp war klug genug, die Maske der schafmütigsten Einfalt vorzunehmen, mit dem großen sentimentalen Parapluie unterm Arm wie Staberle durch die Gassen von Paris zu schlendern, Bürger Krethi und Bürger Plethi die ungewaschenen Hände zu schütteln und zu lächeln und sehr gerührt zu sein. Er spielte wirklich damals eine kuriose Rolle, und als ich kurz nach der Juliusrevolution hierherkam, hatte ich noch oft Gelegenheit, darüber zu lachen. Ich erinnere mich noch sehr gut, daß ich bei meiner Ankunft gleich nach dem Palais Royal eilte, um Ludwig Philipp zu sehen. Der Freund, der mich führte, erzählte mir, daß der König jetzt nur zu bestimmten Stunden auf der Terrasse erscheine; früher aber, noch vor wenigen Wochen, habe man ihn zu jeder Zeit sehen können, und zwar für fünf Francs. »Für fünf Francs!« – rief ich mit Verwunderung – »zeigt er sich denn für Geld?« – »Nein, aber er wird für Geld gezeigt, und es hat damit folgende Bewandtnis: Es gibt eine Sozietät von Claqueurs, marchands de contremarques und sonstigem Lumpengesindel, die jedem Fremden anbieten, ihm für fünf Francs den König zu zeigen; gäbe man ihnen zehn Francs, so werde man ihn sehen, wie er die Augen gen Himmel richtet und die Hand beteuernd aufs Herz legt; gäbe man aber zwanzig Francs, so solle er auch die Marseillaise singen.« Gab man nun jenen Kerls ein Fünffrankenstück, so erhoben sie ein jubelndes Vivatrufen unter den Fenstern des Königs, und Höchstderselbe erschien auf der Terrasse, verbeugte sich und trat wieder ab. Hatte man jenen Kerls zehn Francs gegeben, so schrien sie noch viel lauter und gebärdeten sich wie besessen, während der König erschien, welcher alsdann zum Zeichen seiner stummen Rührung die Augen gen Himmel richtete und die Hand [352] beteuernd aufs Herz legte. Die Engländer aber ließen es sich manchmal zwanzig Francs kosten, und dann ward der Enthusiasmus aufs höchste gesteigert, und sobald der König auf der Terrasse erschien, ward die Marseillaise angestimmt und so fürchterlich gegrölt, bis Ludwig Philipp, vielleicht nur, um dem Gesang ein Ende zu machen, sich verbeugte, die Augen gen Himmel richtete, die Hand aufs Herz legte und die Marseillaise mitsang. Ob er auch mit dem Fuße den Takt schlug, wie behauptet wird, weiß ich nicht. Ich kann überhaupt die Wahrheit dieser Anekdote nicht verbürgen. Der Freund, der sie mir erzählte, ist seit sieben Jahren tot; seit sieben Jahren hat er nicht gelogen. Es ist also nicht Herr Berryer, auf dessen Autorität ich mich berufe.
XXVI
Paris, 7. November 1840
Der König hat geweint. Er weinte öffentlich, auf dem Throne, umgeben von allen Würdeträgern des Reichs, angesichts seines ganzen Volks, dessen erwählte Vertreter ihm gegenüberstanden, und Zeugen dieses kummervollen Anblicks waren alle Fürsten des Auslandes, repräsentiert in der Person ihrer Gesandten und Abgeordneten. Der König weinte! Dieses ist ein betrübendes Ereignis. Viele verdächtigen diese Tränen des Königs und vergleichen sie mit denen des Reineke. Aber ist es nicht schon hinlänglich tragisch, wenn ein König so sehr bedrängt und geängstet worden, daß er zu dem feuchten Hülfsmittel des Weinens seine Zuflucht genommen? Nein, Ludwig Philipp, der königliche Dulder, braucht nicht eben seinen Tränendrüsen Gewalt auzutun, wenn er an die Schrecknisse denkt, wovon er, sein Volk und die ganze Welt bedroht ist. –
Über die Stimmung der Kammer läßt sich noch nichts Bestimmtes vermelden. Und doch hängt alles davon ab, die innere wie die äußere Ruhe Frankreichs und der ganzen Welt. Entsteht ein bedeutender Zwiespalt zwischen den Bourgeoisnotabilitäten der Kammer und der Krone, so zögern die Häuptlinge [353] des Radikalismus nicht länger mit einem Aufstand, der schon im geheimen organisiert wird und der nur auf die Stunde harrt, wo der König nicht mehr auf den Beistand der Deputiertenkammer rechnen kann. Solange beide Teile nur schmollen, aber doch ihren Ehekontrakt nicht verletzen, kann kein Umsturz der Regierung gelingen, und das wissen die Rädelsführer der Bewegung sehr gut, deshalb verschlucken sie für den Augenblick all ihren Grimm und hüten sich vor jedem unzeitigen Schilderheben. Die Geschichte Frankreichs zeigt, daß jede bedeutende Phase der Revolution immer parlamentarische Anfänge hatte und die Männer des gesetzlichen Widerstandes immer mehr oder minder deutlich dem Volk das furchtbare Signal gaben. Durch diese Teilnahme, wir möchten fast sagen, Komplizität eines Parlaments ist das Interregnum der rohen Fäuste nie von langer Dauer, und die Franzosen sind vor der Anarchie viel mehr geschützt als andere Völker, die im revolutionären Zustand sind, z.B. die Spanier. Das sahen wir in den Tagen des Julius, wo das Parlament, die legislative Versammlung, sich in einen exekutierenden Konvent verwandelte. Es ist wieder eine solche Umwandlung, die man im schlimmsten Fall erwartet.
XXVII
Paris, 12. November 1840
Die Geburt des Herzogs von Chartres ist ein Nachtrag zur Kronrede. »Mitleid, das nackte Kindlein« – sagt Shakespeare. Und das Kindlein ist obendrein ein Prinz von Geblüt und also bestimmt, die traurigsten Prüfungen zu erdulden, wo nicht gar die königliche Dornenkrone von Frankreich auf dem Haupte zu tragen! Gebt ihm eine deutsche Hebamme, damit er die Milch der Geduld sauge. Er befindet sich frisch und gesund. Das kluge Kind hat gleich seine Situation begriffen und gleich zu weinen angefangen. Übrigens soll es dem Großvater sehr ähnlich sehen. Letzterer jauchzt vor Freude. Wir gönnen ihm von Herzen diesen Trost, diesen Balsam; hat er doch in [354] der letzten Zeit soviel gelitten! Ludwig Philipp ist der vortrefflichste Hausvater, und eben die übertriebene Sorgfalt für das Glück seiner Familie brachte ihn in so viele Kollisionen mit den Nationalinteressen der Franzosen. Eben weil er Kinder hat und sie liebt, hegt er auch die entschiedenste Zärtlichkeit für den Frieden. Kriegslustige Fürsten sind gewöhnlich kinderlos. Dieser Sinn für Häuslichkeit und häusliches Glück, wie dergleichen bei Ludwig Philipp vorherrschend, ist gewiß ehrenwert, und jedenfalls ist das allerhöchste Muster von dem heilsamsten Einfluß auf die Sitten. Der König ist tugendhaft im bürgerlichsten Geschmack, sein Haus ist das honetteste von ganz Frankreich, und die Bourgeoisie, die ihn zu ihrem Statthalter gewählt, hat noch immer hinlängliche Gründe, mit ihm zufrieden zu sein.
Solange die Bourgeoisie am Ruder steht, droht der jetzigen Dynastie keine Gefahr. Wie soll es aber gehen, wenn Stürme aufsteigen, wo stärkere Fäuste zum Ruder greifen und die Hände der Bourgeoisie, die mehr geeignet zum Geldzählen und Buchführen, sich ängstlich zurückziehen? Die Bourgeoisie wird noch weit weniger Widerstand leisten als die ehemalige Aristokratie; denn selbst in ihrer kläglichsten Schwäche, in ihrer Erschlaffung durch Sittenlosigkeit, in ihrer Entartung durch Kurtisanerie, war die alte Noblesse doch noch beseelt von einem gewissen Point d'honneur, das unsrer Bourgeoisie fehlt, die durch den Geist der Industrie emporblüht, aber auch untergehen wird. Man prophezeit ihr einen 10. August, aber ich zweifle, ob die bürgerlichen Ritter des Juliusthrons sich so heldenmütig zeigen werden wie die gepuderten Marquis des alten Regimes, die, in seidenen Röcken und mit dünnen Galanteriedegen, sich dem eindringenden Volke in den Tuilerien entgegensetzten.
Die Nachrichten, die uns aus dem Osten zukommen, sind für die Franzosen sehr betrübend. Die Autorität Frankreichs ist im Orient unwiederbringlich verloren und wird die Beute von England und Rußland. Die Engländer haben erlangt, was sie wollten, die tatsächliche Obmacht in Syrien, die Sicherung[355] ihrer Handelsstraße nach Indien: der Euphrat, einer der vier Paradiesflüsse, wird ein englisches Gewässer, worauf man mit dem Dampfschiffe fährt, wie nach Ramsgate und Margate usw. – auf Tower Street ist das Steamboat-Office, wo man sich einschreibt – zu Bagdad, dem alten Babylon, steigt man aus und trinkt Porter oder Tee. – Die Engländer schwören täglich in ihren Blättern, daß sie keinen Krieg wollten und daß der famose Pazifikationstraktat nicht im mindesten die Interessen Frankreichs verletzen und die Fackel des Kriegs in die Welt schleudern sollte – und dennoch war es der Fall: die Engländer haben die Franzosen aufs bitterste beleidigt und die ganze Welt einem allgemeinen Brande ausgesetzt, um für sich einige Schachvorteile zu erzielen! Aber die Selbstsucht sorgte nur für den Moment, und die Zukunft bereitet ihr die Strafe. Die Vorteile, die Rußland durch den erwähnten Traktat erntete, sind zwar nicht von so barer Münze, man kann sie nicht so schnell berechnen und einkassieren, aber sie sind von unschätzbarstem Werte für seine Zukunft. Zunächst ward dadurch die Allianz zwischen Frankreich und England aufgelöst, was ein wichtiger Gewinn für Rußland, das früh oder spät mit einer jener Mächte in die Schranken treten muß. Dann ward die Macht jenes Ägyptiers vernichtet, der, wenn er sich an die Spitze der Moslemin stellte, imstande war, das türkische Reich zu schützen vor den Russen, die es schon als ihr Eigentum betrachten. Und noch viele Vorteile der Art haben die Russen erbeutet, und zwar ohne großen Aufwand von Gefahr, da, im Fall eines Kriegs, die Franzosen nicht bis zu ihnen hinüberreichen könnten, ebensowenig wie sie den Engländern beizukommen vermöchten. Zwischen England und dem Zorn der Franzosen liegt das Meer, zwischen den letztern und den Russen liegt Deutschland; – und wir armen Deutschen, durch den Zufall der Örtlichkeit, wir hätten uns schlagen müssen für Dinge, die uns gar nichts angehen, für nichts und wieder nichts, gleichsam für des Kaisers Bart. – Ach, wäre es noch für den Bart eines Kaisers!
[356] XXVIII
Paris, 6. Januar 1841
Das junge Jahr begann wie das alte mit Musik und Tanz. In der Großen Oper erklingen die Melodien Donizettis, womit man die Zeit notdürftig ausfüllt, bis der Prophet kommt, nämlich das Meyerbeersche Opus dieses Namens. Vorgestern abend debütierte Mademoiselle Heinefetter mit großem, glänzenden Erfolg. Im Odéon, dem italienischen Nachtigallennest, flöten schmelzender als je der alternde Rubini und die ewig junge Grisi, die singende Blume der Schönheit. Auch die Konzerte haben schon begonnen in den rivalisierenden Sälen von Herz und Érard, den beiden Holzkünstlern. Wer in diesen öffentlichen Anstalten Polyhymnias nicht genug Gelegenheit findet, sich zu langweilen, der kann schon in den Privatsoireen sich nach Herzenslust ausgähnen: eine Schar junger Dilettanten, die zu den fürchterlichsten Hoffnungen berechtigen, läßt sich hier hören in allen Tonarten und auf allen möglichen Instrumenten; Herr Orfila meckert wieder seine unbarmherzigsten Romanzen, gesungenes Rattengift. Nach der schlechten Musik wird lauwarmes Zuckerwasser oder gesalzenes Eis herumgereicht und getanzt. Auch die Maskenbälle erheben sich schon unter Pauken- und Trompetenschall, und wie mit Verzweiflung stürzen sich die Pariser in den tosenden Strudel des Vergnügens. Der Deutsche trinkt, um sich von drückender Sorgenlast zu befreien; der Franzose tanzt den berauschenden betäubenden Galoppwalzer. Die Göttin des Leichtsinns möchte gern ihrem Lieblingsvolke allen trüben Ernst aus der Seele hinausgaukeln, aber es gelingt ihr nicht; in den Zwischenpausen der Quadrille flüstert Harlekin seinem Nachbar Pierrot ins Ohr: »Glauben Sie, daß wir uns dieses Frühjahr schlagen müssen?« Selbst der Champagner ist unmächtig und kann nur die Sinne benebeln, die Herzen bleiben nüchtern, und manchmal, beim lustigsten Bankett, erbleichen die Gäste, der Witz stirbt auf ihren Lippen, sie werfen sich erschrockene Blicke zu – an der Wand sehen sie die Worte: »Mene, Tekel, Peres!«
Die Franzosen verhehlen sich nicht das Gefahrvolle ihrer [357] Lage, aber der Mut ist ihre Nationaltugend. Und am Ende wissen sie sehr gut, daß die politischen Besitztümer, die ihre Väter mit kampflustigster Tapferkeit erworben haben, nicht durch duldende Nachgiebigkeit und müßige Demut bewahrt werden können. Selbst Guizot, der so unwürdig geschmähte Guizot, ist keineswegs gesonnen, den Frieden um jeden Preis zu erhalten. Dieser Mann behauptet zwar einen unerschrockenen Widerstand gegen den anstürmenden Radikalismus, aber ich bin überzeugt, daß er sich mit derselben Entschlossenheit dem Andrang absolutistischer und hierarchischer Bestrebungen entgegenstemmen würde. Ich weiß nicht, wie groß die Zahl der Nationalgardisten war, die beim kaiserlichen Leichenbegängnisse »A bas Guizot!« riefen; aber ich weiß, daß die Nationalgarde, verstünde sie ihre eigenen Interessen, ebenso verständig wie dankbar handeln würde, wenn sie gegen jene schnöden Rufe öffentlich protestierte. Denn die Nationalgarde ist am Ende doch nichts anderes als die bewaffnete Bourgeoisie, und eben diese, gefährdet zu gleicher Zeit durch die intrigierende Partei des alten Regimes und die Prädikanten einer Babeufschen Republik, hat in Guizot ihren natürlichen Schutzvogt gefunden, der sie schützt nach oben wie nach unten. Guizot hat nie etwas anderes gewollt als die Herrschaft der Mittelklassen, die er durch Bildung und Besitz dazu geeignet glaubte, die Staatsgeschäfte zu lenken und zu vertreten. Ich bin überzeugt, hätte er in der französischen Aristokratie noch ein Lebenselement gefunden, wodurch sie fähig gewesen wäre, zum Heil des Volkes und der Menschheit Frankreich zu regieren, Guizot wäre ihr Kämpe geworden, mit ebenso großem Eifer und gewiß mit größerer Uneigennützigkeit als Berryer und ähnliche Paladine der Vergangenheit; ich bin in gleicher Weise überzeugt, daß er für die Proletarierherrschaft kämpfen würde, und zwar mit strengerer Ehrlichkeit als Lamennais und seine Kreuzbrüder, wenn er die untern Klassen durch Bildung und Einsicht reif glaubte, das Staatsruder zu führen, und wenn er nicht einsähe, daß der unzeitige Triumph der Proletarier nur von kurzer Dauer und ein Unglück für die Menschheit [358] wäre, indem sie, in ihrem blödsinnigen Gleichheitstaumel, alles, was schön und erhaben auf dieser Erde ist, zerstören und namentlich gegen Kunst und Wissenschaft ihre bilderstürmende Wut auslassen würden.
Guizot ist jedoch kein Mann des starren Stillstandes, sondern des geregelten und gezeitigten Fortschritts, und die Zukunft wird diesem Manne die glorreichste Gerechtigkeit widerfahren lassen. Vielleicht wird dergleichen ihm schon in der nächsten Gegenwart zuteil: er braucht nur das Hôtel des Capucines zu verlassen. Würde er in diesem Fall wieder seinen Gesandtschaftsposten in London antreten? Würde er, trotz seiner Sympathie für England, jenes neue Ministerium unterstützen, das eine Allianz mit Rußland träumt? – Es ist möglich, denn im Fall man Frankreich zum Kriege zwänge, würde Guizot, alle revolutionären Mittel verschmähend, nur politischen Allianzen nachstreben. »Können wir, trotz aller Opfer und Mäßigung, den Frieden nicht aufrechterhalten, so werden wir den Krieg als eine Macht (puissance) führen und nicht als ein lärmender Haufen (cohue)« – so äußerte sich Guizot im vertrauten Salon. Hierin liegt aber der Hauptgrund, weshalb ihm alle jene Leute gram sind, die nur von einer Propaganda den Sieg erwarten und sich dabei als notwendige Werkzeuge wichtig machen wollen. Das sind namentlich die Journalisten, die ihrer Feder alle mögliche Hülfswirkung zutrauen. »Das Beste in der Welt ist eine baumwollene Nachtmütze« – sagt der Bonnetier, und die Journalisten sagen: »Das Beste ist ein Zeitungsartikel!« Wie sehr sie sich irren, erfuhren wir in jüngster Zeit, wo die propagandistischen Phrasen des »National«, des »Courrier français« und des »Constitutionnel« soviel Mißmut in Deutschland erregten. Da waren die Väter weit praktischer: als sie die kosmopolitischen Ideen der Revolution in Gefahr sahen, suchten sie Hülfe im Nationalgefühl. Die Söhne, welche ihre Nationalität bedroht sehen, nehmen ihre Zuflucht zu den kosmopolitischen Ideen; – diese aber treiben nicht so mächtig zur Tat wie jene begeisternden Erddünste, die wir Vaterlandsliebe nennen.
[359] Ob im Falle eines Krieges die russische Allianz für die Franzosen heilsamer sei als die Propaganda, daran zweifle ich. Durch letztere wird nur ihre zeitliche Gesellschaftsform bedroht, erstere aber gefährdet das Wesen der Gesellschaft selbst, ihr innerstes Lebensprinzip, die Seele des französischen Volks.
XXIX
Paris, 11. Januar 1841
Immer mehr verbreitet sich unter den Franzosen die Meinung, daß Bellonas Drommeten dieses Frühjahr den Gesang der Nachtigallen überschmettern und die armen Veilchen, zertreten vom Pferdehuf, ihren Duft im Pulverdampf verhauchen müssen. Ich kann dieser Ansicht keineswegs beistimmen, und die süßeste Friedenshoffnung nistet beharrlich in meiner Brust. Es ist jedoch immer möglich, daß die Unglückspropheten recht haben und der kecke Lenz mit unvorsichtiger Lunte den geladenen Kanonen nahe. Ist aber diese Gefahr überstanden und ist gar der heiße Sommer gewitterlos vorübergezogen, dann, glaube ich, ist Europa für lange Zeit vor den Schrecknissen eines Kriegs geschützt, und wir dürfen uns eines langen, dauernden Friedens versichert halten. Die Wirrnisse, die von oben kamen, werden alsdann auch dort oben ruhig gelöst worden sein, und das niedrige Gezücht des Nationalhasses, das sich in den untern Schichten der Gesellschaft entwickelt hat, wird von der bessern Einsicht der Völker wieder in seinen Schlamm zurückgetreten werden. Das wissen aber auch die Dämonen des Umsturzes diesseits und jenseits des Rheins, und wie hier in Frankreich die radikale Partei, aus Angst vor der definitiven Befestigung der Orleansschen Dynastie und ihrer auf lange Zeit gesicherten Dauer, die Wechselfälle des Kriegs herbeiwünscht, um nur die Chance eines Regierungswechsels zu gewinnen, so predigt jenseits des Rheins die radikale Partei einen Kreuzzug gegen die Franzosen, in der Hoffnung, daß die entzügelten Leidenschaften einen wilden Zustand herbeiführen, wo viel leichter als in einer zahmen und gezähmten [360] Periode die Ideen der Bewegung verwirklicht werden können. Ja, die Furcht vor der einschläfernden und fesselnden Macht des Friedens brachte diese Leute zu dem verzweiflungsvollen Entschluß, das französische Volk (wie sie in ihrer Unschuld sich ausdrücken) aufzuopfern. Wir sagen es offen, weil uns dieser Heroismus ebenso töricht wie undankbar erscheint und weil wir unsägliches Mitleid empfinden mit der bärenhaften Unbeholfenheit, die sich einbildet, klüger zu sein als alle Füchse der List! O ihr Toren, ich rate euch, legt euch nicht auf das gefährliche Fach der politischen Pfiffigkeit, seid deutsch ehrlich und menschlich dankbar und bildet euch nicht ein, ihr werdet auf eigenen Beinen stehen, wenn Frankreich fällt, die einzige Stütze, die ihr habt auf dieser Erde!
Werden aber nicht auch von oben die Funken der Zwietracht geschürt? Ich glaube es nicht, und es will mich bedünken, die diplomatischen Wirrnisse seien mehr ein Resultat der Ungeschicklichkeit als des bösen Willens. Wer will aber den Krieg? England und Rußland könnten sich schon jetzt zufriedengeben; – sie haben bereits genug Vorteile im trüben erfischt. Für Deutschland und Frankreich jedoch ist der Krieg ebenso unnötig wie gefährlich; – die Franzosen besäßen zwar gern die Rheingrenze, aber nur, weil sie sonst gegen etwaige Invasionen zuwenig geschützt sind, und die Deutschen brauchten nicht zu fürchten, die Rheingrenze zu verlieren, solange sie nicht selber den Frieden brechen. Weder das deutsche Volk noch das französische Volk begehrt nach Krieg. Ich brauche wohl nicht erst zu beweisen, daß die Rodomontaden unsrer Deutschtümler, die nach dem Besitz von Elsaß und Lothringen schreien, nicht der Ausdruck des deutschen Bauers und des deutschen Bürgers sind. Aber auch der französische Bürger und der französische Bauer, der Kern und die Masse des großen Volks, wünschen keinen Krieg, da die Bourgeoisie nur nach industriellen Ausbeutungen, nach Eroberungen des Friedens trachtet und der Landmann noch aus der Kaiserperiode sehr gut weiß, wie teuer, wie blutteuer er die Triumphe der Nationaleitelkeit bezahlen muß.
[361]Die kriegerischen Gelüste, die bei den Franzosen seit den Zeiten der Gallier so stürmisch loderten und brodelten, sind nachgerade ziemlich erloschen, und wie wenig die militärische furor francese jetzt bei ihnen vorherrschend, zeigte sich bei der Leichenfeier des Kaisers Napoleon Bonaparte. Ich kann nicht mit den Berichterstattern übereinstimmen, die in dem Schauspiel jenes wunderbaren Begräbnisses nur Pomp und Gepränge sahen. Sie hatten kein Auge für die Gefühle, die das französische Volk bis in seine Tiefen erschütterten. Diese Gefühle waren aber nicht die des soldatischen Ehrgeizes und Stolzes, den siegreichen Imperator begleitete nicht jener Prätorianerjubel, jene lärmige Ruhm- und Raubsucht, deren man sich in Deutschland noch erinnert aus den Tagen des Empire. Die alten Eroberer haben seitdem das Zeitliche gesegnet, und es war eine ganz neue Generation, die dem Leichenbegängnisse zuschaute, und wenn nicht mit brennendem Zorn, doch gewiß mit der Wehmut der Pietät sah sie auf diesen goldenen Katafalk, worin gleichsam alle Freuden, Leiden, glorreiche Irrtümer und gebrochene Hoffnungen ihrer Väter, die eigentliche Seele ihrer Väter, eingesargt lag! Da gab's mehr stumme Tränen als lautes Geschrei. Und dann war die ganze Erscheinung so fabelhaft, so märchenartig, daß man kaum seinen Augen traute, daß man zu träumen glaubte. Denn dieser Napoleon Bonaparte, den man begraben sah, war für das heutige Geschlecht schon längst dahingeschwunden in das Reich der Sage, zu den Schatten Alexanders von Mazedonien und Karls des Großen, und jetzt, siehe! eines kalten Wintertags erscheint er mitten unter uns Lebenden, auf einem goldenen Siegeswagen, der geisterhaft dahinrollt in den weißen Morgennebeln.
Diese Nebel aber zerrannen wunderbar, sobald der Leichenzug in den Champs-Élysées anlangte. Hier brach die Sonne plötzlich aus dem trüben Gewölk und küßte zum letztenmal ihren Liebling und streute rosige Lichter auf die imperialen Adler, die ihm vorangetragen wurden, und wie mit sanftem Mitleid bestrahlte sie die armen, spärlichen Überreste jener Legionen, die einst im Sturmschritt die Welt erobert und jetzt, [362] mit verschollenen Uniformen, matten Gliedern und veralteten Manieren, hinter dem Leichenwagen als Leidtragende einherschwankten. Unter uns gesagt, diese Invaliden der Großen Armee sahen aus wie Karikaturen, wie eine Satire auf den Ruhm, wie ein römisches Spottlied auf den toten Triumphator!
Die Muse der Geschichte hat diesen Leichenzug eingezeichnet in ihre Annalen als besondere Merkwürdigkeit; aber für die Gegenwart ist jenes Ereignis minder wichtig und liefert nur den Beweis, daß der Geist der Soldateska bei den Franzosen nicht so blühend vorwaltet, wie mancher Bramarbas diesseits des Rheins prahlt und mancher Schöps jenseits ihm nachschwatzt. Der Kaiser ist tot. Mit ihm starb der letzte Held nach altem Geschmack, und die neue Philisterwelt atmet auf, wie erlöst von einem glänzenden Alp. Über seinem Grabe erhebt sich eine industrielle Bürgerzeit, die ganz andre Heroen bewundert, etwa den tugendhaften Lafayette oder James Watt, den Baumwollespinner.
XXX
Paris, 31. Januar 1841
Zwischen Völkern, die eine freie Presse, unabhängige Parlamente und überhaupt die Institutionen des öffentlichen Verfahrens besitzen, können die Mißverständnisse, die durch die Intrigen von Hofjunkern und durch die Unholde der Parteisucht angezettelt werden, nicht auf die Länge fortdauern. Nur im Dunkeln kann die dunkle Saat zu einem unheilbaren Zerwürfnis emporwuchern. Wie diesseits, so haben auch jenseits des Kanals sich die edelsten Stimmen darüber ausgesprochen, daß nur frevelhafter Unverstand, wo nicht libertizide Böswilligkeit, den Frieden der Welt gestört; und während noch von seiten der englischen Regierung, durch die Schweigsamkeit der Thronrede, das schlechte Verfahren gegen Frankreich gleichsam offiziell fortgesetzt wird, protestiert dagegen das englische Volk durch seine würdigsten Repräsentanten und gewährt den Franzosen die unumwundenste Genugtuung. [363] Lord Broughams Rede im eben eröffneten Parlamente hat hier eine versöhnende Wirkung hervorgebracht, und er darf sich mit Recht rühmen, daß er ganz Europa einen großen Dienst erzeigt. Auch andre Lords, sogar Wellington, haben lobenswerte Worte gesprochen, und letzterer war diesmal das Organ der wahren Wünsche und Gesinnungen seiner Nation. Die angedrohte Allianz der Franzosen mit Rußland hat Sr. Herrlichkeit die Augen geöffnet, und der edle Lord ist nicht der einzige, dem solche Erleuchtung widerfuhr. Auch in unsern deutschen Gauen erschwingen sich die gemäßigten Tories zu einer bessern Erkenntnis der eigenen politischen Interessen, und ihre Bullenbeißer, die altdeutschen Rüden, die schon das freudigste Jagdgeheul erhoben, werden wieder ruhig angekoppelt; unsre christlich germanischen Nationalen erhalten die allerhöchste Weisung, nicht mehr gegen Frankreich zu bellen. Was aber die schreckliche Allianz betrifft, so steht sie gewiß noch in weitem Feld, und der Unmut gegen die Engländer, selbst gesteigert bis zum höchsten Hasse, dürfte in Frankreich noch immer keine Liebe für die Russen hervorrufen.
An eine baldige Lösung der orientalischen Wirren glaube ich ebensowenig wie an die moskowitische Allianz. Vielmehr verwickeln sich die Verhältnisse in Syrien, und Mehemed Ali spielt dort seinen Feinden manchen gefährlichen Schabernack. Es zirkulieren wunderliche, meistens aber widersprechende Gerüchte von den Listen, womit der Alte sein verlorenes Ansehen wiederzuerobern sucht. Sein Unglück ist die Überschlauheit, die ihn verhinderte, die Dinge in ihrem natürlichsten Lichte zu sehen. Er verfängt sich in den Fäden der eignen Ränke. Zum Beispiel, indem er die Presse zu ködern wußte und über seine Macht allerlei trügerische Berichte in Europa ausposaunen ließ, gewann er zwar die Sympathie der Franzosen, die den Wert seiner Allianz überschätzten, aber er war zugleich selbst daran schuld, daß die Franzosen ihm hinlängliche Kräfte zutrauten, ohne ihre Beihülfe bis zum Frühjahr Widerstand zu leisten. Hierdurch ging er zugrunde, nicht durch seine Tyrannei, wovon die »Allgemeine Zeitung« gewiß [364] allzu grelle Gemälde lieferte. Dem kranken Löwen gibt jetzt jeder die kleinlichsten Eselstritte. Das Ungeheuer ist vielleicht nicht so schlecht, wie es die Leute, die er nicht bestochen hat oder nicht bestechen wollte, ärgerlich behaupten. Augenzeugen seiner großmütigen Handlungen versichern, Mehemed Ali sei persönlich huldreich und gütig, er liebe die Zivilisation, und nur die äußerste Notwendigkeit, der Kriegszustand seiner Lande, zwänge ihn zu jenem Erpressungssystem, womit er seine Fellahs heimsuche. Diese unglücklichen Nilbauern seien in der Tat eine Herde von Jammergestalten, die, unter Stockschlägen zur Arbeit getrieben, bis aufs Blut ausgesaugt werden. Aber das sei, heißt es, altägyptische Methode, die unter allen Pharaonen dieselbe war und die man nicht nach modern europäischem Maßstabe beurteilen dürfe. Die Anklage der Philanthropen könnte der arme Pascha mit denselben Worten zurückweisen, womit unsre Köchin sich entschuldigte, als sie die Krebse in allmählich siedendem Wasser lebendig kochte. Sie wunderte sich, daß wir dieses Verfahren eine unmenschliche Grausamkeit nannten, und versicherte uns, die armen Tierchen seien von jeher daran gewöhnt. – Als Herr Crémieux mit Mehemed Ali von den Justizgreueln sprach, die in Damaskus verübt worden, fand er ihn zu den heilsamsten Reformen geneigt, und wären nicht die politischen Ereignisse allzu stürmisch dazwischengetreten, so hätte es der berühmte Advokat gewiß erreicht, den Pascha zur Einführung des europäischen Kriminalverfahrens in seinen Staaten zu bewegen.
Mit dem Sturze Mehemed Alis gehen auch die stolzen Hoffnungen zu Grabe, worin mohammedanische Phantasie, zumal unter den Zelten der Wüste, sich so schwärmerisch wiegte. Hier galt Ali für den Helden, der bestimmt sei, dem schwachen Türkenregimente zu Stambul ein barsches Ende zu machen und, dort selber das Kalifat übernehmend, die Fahne des Propheten zu schützen. Und wahrhaftig, in seiner starken Faust wäre sie besser aufgehoben als in den schwachen Händen des jetzigen Gonfaloniere des mohammedanischen Glaubens, der [365] früh oder spät den Legionen und den noch gefährlichern Machinationen des Zars aller Reußen erliegen muß. Dem politischen und religiösen Fanatismus, worüber der russische Kaiser, der zugleich das Oberhaupt der griechischen Kirche ist, verfügen kann, hätte ein regeneriertes Reich der Moslim unter Mehemed Ali oder einem sonstig neuen Dynasten mit ähnlicher Gewalt widerstanden, da ein ebenso ungestüm fanatisches Element zu seiner Erhaltung in die Schranken getreten wäre. Ich rede hier vom Genius der Araber, der nie ganz erstorben, sondern nur im stillen Beduinenleben eingeschlafen und oft wie träumend nach dem Schwerte griff, wenn irgendein ausgezeichneter Löwe draußen sein kriegerisches Gebrüll vernehmen ließ. – Diese Araber harren vielleicht nur des rechten Rufs, um schlafgestärkt wieder aus ihren schwülen Einöden hervorzustürmen, wie ehemals. – Wir haben sie aber nicht mehr zu fürchten, wie ehemals, wo wir vor den Halbmondstandarten zitterten, und es wäre vielmehr ein Glück für uns, wenn Konstantinopel jetzt der Tummelplatz ihres Glaubenseifers würde. Dieser wäre das beste Bollwerk gegen jenes moskowitische Gelüste, das nichts Geringeres im Schilde führt, als an den Ufern des Bosporus die Schlüssel der Weltherrschaft zu erkämpfen oder zu erschleichen. Welch eine Macht besitzt bereits der Kaiser von Rußland, den man wahrlich bescheiden nennen muß, wenn man bedenkt, wie stolz andere an seiner Stelle sich gebärden würden. Aber weit gefährlicher als der Stolz des Herrn ist der Knechtschaftshochmut seines Volks, das nur in seinem Willen lebt und mit blindem Gehorsam in der heiligen Machtvollkommenheit des Gebieters sich selber zu verherrlichen glaubt. Die Begeisterung für das römisch-katholische Dogma ist abgenutzt, die Ideen der Revolution finden nur noch laue Enthusiasten, und wir müssen uns wohl nach neuen, frischen Fanatismen umsehen, die wir dem slawisch-griechisch-orthodoxen, absoluten Kaiserglauben entgegensetzen könnten!
Ach! wie schrecklich ist diese orientalische Frage, die bei jeder Wirrnis uns so höhnisch angrinst! Wollen wir der Gefahr, [366] die uns von dorther bedroht, schon jetzt vorbeugen, so haben wir den Krieg. Wollen wir hingegen geduldig dem Fortschritt des Übels zusehen, so haben wir die sichere Knechtschaft. Das ist ein schlimmes Dilemma. Wie sie sich auch betrage, die arme Jungfrau Europa – sie mag mit Klugheit bei ihrer Lampe wachend bleiben oder als ein sehr unkluges Fräulein bei der erlöschenden Lampe einschlafen –, ihrer harret kein Freudentag.
XXXI
Paris, 13. Februar 1841
Sie gehen jeder Frage direkt auf den Leib und zerren daran so lange herum, bis sie entweder gelöst oder als unauflösbar beseitigt wird. Das ist der Charakter der Franzosen, und ihre Geschichte entwickelt sich daher wie ein gerichtlicher Prozeß. Welche logische, systematische Aufeinanderfolge bieten alle Vorgänge der französischen Revolution! In diesem Wahnsinn war wirklich Methode, und die Historiographen, die, nach dem Vorbild von Mignet, dem Zufall und den menschlichen Leidenschaften wenig Spielraum gestattend, die tollsten Erscheinungen seit 1789 als ein Resultat der strengsten Notwendigkeit darstellen – diese sogenannte fatalistische Schule ist in Frankreich ganz an ihrem Platz, und ihre Bücher sind ebenso wahrhaft wie leichtfaßlich. Die Anschauungs- und Darstellungsweise dieser Schriftsteller, angewendet auf Deutschland, würde jedoch sehr irrtumreiche und unbrauchbare Geschichtswerke hervorbringen. Denn der Deutsche, aus Scheu vor aller Neuerung, deren Folgen nicht klar zu ermitteln sind, geht jeder bedeutenden politischen Frage so lange wie möglich aus dem Wege oder sucht ihr durch Umwege eine notdürftige Vermittlung abzugewinnen, und die Fragen häufen und verwickeln sich unterdessen bis zu jenem Knäuel, welcher am Ende vielleicht, wie jener gordische, nur durch das Schwert gelöst werden kann. Der Himmel behüte mich, dem großen Volk der Deutschen hiermit einen Vorwurf machen zu wollen! Weiß ich doch, daß jener Mißstand aus einer Tugend hervorgeht, die [367] den Franzosen fehlt. Je unwissender ein Volk, desto leichter stürzt es sich in die Strömung der Tat; je wissenschaftsreicher und nachdenklicher ein Volk, desto länger sondiert es die Flut, die es mit klugen Schritten durchwatet, wenn es nicht gar zögernd davor stehenbleibt, aus Furcht vor verborgenen Untiefen oder vor der erkältenden Nässe, die einen gefährlichen Nationalschnupfen verursachen könnte. Am Ende ist auch wenig daran gelegen, daß wir solchermaßen nur langsam fortschreiten oder durch Stillstand einige hundert Jährchen verlieren, denn dem deutschen Volk gehört die Zukunft, und zwar eine sehr lange, bedeutende Zukunft. Die Franzosen handeln so schnell und handhaben die Gegenwart mit solcher Eile, weil sie vielleicht ahnen, daß für sie die Dämmerung heranbricht: hastig verrichten sie ihr Tagwerk. Aber ihre Rolle ist noch immer ziemlich schön, und die übrigen Völker sind doch nur das verehrungswürdige Publikum, das der französischen Staats- und Volkskomödie zuschaut. Dieses Publikum freilich wandelt zuweilen das Gelüste an, ein bißchen laut seinen Beifall oder Tadel auszusprechen, wo nicht gar auf die Szene zu steigen und mitzuspielen; aber die Franzosen bleiben doch immer die Hauptakteurs im großen Weltdrama, man mag ihnen Lorbeerkränze oder faule Äpfel an den Kopf werfen. »Mit Frankreich ist es aus« – mit diesen Worten läuft hier mancher deutsche Korrespondent herum und prophezeit den Untergang des heutigen Jerusalems; aber er selber fristet doch sein kümmerliches Leben durch Berichterstattung dessen, was diese so gesunkenen Franzosen täglich schaffen und tun, und seine respektiven Kommittenten, die deutschen Zeitungsredaktionen, würden ohne Berichte aus Paris keine drei Wochen lang ihre Journalspalten füllen können. Nein, Frankreich hat noch nicht geendet, aber – wie alle Völker, wie das Menschengeschlecht selbst – es ist nicht ewig, es hat vielleicht schon seine Glanzperiode überlebt, und es geht jetzt mit ihm eine Umwandlung vor, die sich nicht ableugnen läßt: auf seiner glatten Stirn lagern sich diverse Runzeln, das leichtsinnige Haupt bekommt graue Haare, senkt sich sorgenvoll und beschäftigt sich nicht mehr [368] ausschließlich mit dem heutigen Tage – es denkt auch an morgen.
Der Kammerbeschluß über die Fortifikation von Paris beurkundet eine solche Übergangsperiode des französischen Volksgeistes. Die Franzosen haben in der letzten Zeit sehr viel gelernt, sie verloren dadurch alle Lust des blinden Hinausstürmens in die gefährliche Fremde. Sie wollen jetzt sich selber zu Hause verschanzen gegen die eventuellen Angriffe der Nachbarn. Auf dem Grabe des kaiserlichen Adlers ist ihnen der Gedanke gekommen, daß der bürgerkönigliche Hahn nicht unsterblich sei. Frankreich lebt nicht mehr in dem kecken Rausche seiner unüberwindlichen Obmacht: es ward ernüchtert durch das aschermittwochliche Bewußtsein seiner Besiegbarkeit, und ach, wer an den Tod denkt, ist schon halb gestorben! Die Befestigungswerke von Paris sind vielleicht der Riesensarg, den der Riese sich selber dekretierte, in trüber Ahnung. Es mag jedoch noch eine gute Weile dauern, ehe seine Sterbestunde schlägt, und manchem Nichtriesen dürfte er zuvor die tödlichsten Hiebe versetzen. Jedenfalls wird er einst durch die klirrende Wucht seines Hinsinkens den Erdboden schüttern machen, und noch furchtbarer als im Leben wird er durch seine postumen Werke, als nachtwandelndes Gespenst, seine Feinde ängstigen. Ich bin überzeugt, im Fall man Paris zerstörte, würden seine Bewohner, wie einst die Juden, sich in die ganze Welt zerstreuen und dadurch noch erfolgreicher die Saat der gesellschaftlichen Umwandlung verbreiten.
Die Befestigung von Paris ist das wichtigste Ereignis unserer Zeit, und die Männer, die in der Deputiertenkammer dafür oder dagegen stimmten, haben auf die Zukunft den größten Einfluß geübt. An diese enceinte continue, an diese forts détachés knüpft sich jetzt das Schicksal des französischen Volks. Werden diese Bauten vor dem Gewitter schützen, oder werden sie die Blitze noch verderblicher anziehen? Werden sie der Freiheit oder der Knechtschaft Vorschub leisten? Werden sie Paris vor Überfall retten oder dem Zerstörungsrechte des Kriegs unbarmherzig bloßstellen? Ich weiß es nicht, denn ich [369] habe weder Sitz noch Stimme im Rate der Götter. Aber soviel weiß ich, daß die Franzosen sich sehr gut schlagen würden, wenn sie einst Paris verteidigen müßten gegen eine dritte Invasion. Die zwei frühern Invasionen würden nur dazu gedient haben, den Grimm der Gegenwehr zu steigern. Ob Paris, wenn es befestigt gewesen wäre, jene zwei ersten Male widerstanden hätte, wie in der Kammer behauptet ward, möchte ich aus guten Gründen bezweifeln. Napoleon, geschwächt durch alle möglichen Siege und Niederlagen, war nicht imstande, dem andrängenden Europa die Zaubermittel jener Idee, »welche Heere aus dem Boden stampft«, entgegenzusetzen; er hatte nicht mehr Kraft genug, die Fesseln zu brechen, womit er selber jene Idee angekettet; die Alliierten waren es, die bei der Einnahme von Paris jene gebundene Idee in Freiheit setzten. Die französischen Liberalen und Ideologen handelten gar nicht so dumm, gar nicht so närrisch, als sie dem bedrängten Imperator zu seiner Verteidigung keinen Beistand leisteten, denn dieser war ihnen weit gefährlicher als alle jene fremden Helden, die doch am Ende mit Geld und guten Worten abziehen mußten und nur einen matten Statthalter hinterließen, dessen man sich auch mit der Zeit entledigen konnte, wie im Julius 1830 wirklich geschah, seit welcher Zeit die Ideen der Revolution wieder in Paris installiert wurden. Die Macht jener Ideen ist es, die einer dritten Invasion die Stirne bieten würde und die jetzt, gewitzigt durch bittere Erfahrungen, auch die materiellen Bollwerke der Verteidigung nicht verschmäht.
Hier stoßen wir auf die Spaltung, welche in diesem Augenblick unter den Männern der radikalen Partei, in betreff der Befestigung von Paris, herrscht und die leidenschaftlichsten Debatten hervorruft. Bekanntlich hat die Fraktion der Republikaner, die durch den »National« repräsentiert wird, den Gesetzvorschlag der Befestigung am wirksamsten verfochten. Eine andere Fraktion, die ich die Linke der Republikaner nennen möchte, erhebt sich dagegen mit dem wildesten Zorn, und da sie in der Presse nur wenige Organe besitzt, so ist bis jetzt die »Revue du progrès« das einzige Journal, wo sie sich aussprechen [370] konnte. Die darauf bezüglichen Artikel flossen aus der Feder Louis Blancs und sind der höchsten Beachtung wert. Wie ich höre, beschäftigt sich auch Arago mit einer Schrift über denselben Gegenstand. Diese Republikaner sträuben sich gegen den Gedanken, daß die Revolution zu materiellen Bollwerken ihre Zuflucht nehmen müsse, sie sehen darin eine Schwächung der moralischen Wehrmittel, eine Erschlaffung der frühern dämonischen Energie, und sie möchten lieber, wie einst der gewaltige Konvent, den Sieg dekretieren als Sicherheitsanstalten treffen gegen die Niederlage. Es sind in der Tat die Traditionen des Wohlfahrtsausschusses, welche diesen Leuten vorschweben, statt daß die Messieurs des »National« vielmehr die Traditionen der Kaiserzeit im Sinne tragen. Ich sagte eben »Messieurs«, denn dies ist der Spottname, womit jene, die sich Citoyens nennen, ihre Antagonisten titulieren. Terroristisch sind im Grunde beide Fraktionen, nur daß die Messieurs des »National« lieber durch Kanonen, die Citoyens hingegen lieber durch die Guillotine agieren möchten. Es ist leicht begreiflich, daß erstere eine große Sympathie für einen Gesetzvorschlag empfinden mußten, wodurch die Revolution, zur Zeit der Not, in einem rein militärischen Gewande erscheinen könnte und die Kanonen imstande wären, die Guillotine im Zaume zu halten! So, und nicht anders, erkläre ich mir den Eifer, womit sich der »National« für die Befestigung von Paris aussprach.
Sonderbar! diesmal begegneten sich der »National«, der König und Thiers in dem heißesten Wunsche für dieselbe Sache. Und doch ist dieses Begegnis sehr natürlich. Laßt uns durch Zumutung arglistiger Hintergedanken keinen von diesen dreien verleumden. Wie sehr auch persönliche Neigungen im Spiele sind, so handelten doch alle drei zunächst im Interesse Frankreichs: Ludwig Philipp ebensogut wie Thiers und die Herren des »National«. Jedoch, wie gesagt, persönliche Neigungen kamen ins Spiel. Ludwig Philipp, dieser abgesagte Feind des Krieges, des Zerstörens, ist ein ebenso leidenschaftlicher Freund des Bauens, er liebt alles, wobei Hammer und [371] Kelle in Bewegung gesetzt wird, und der Plan der Befestigung von Paris schmeichelte dieser angebornen Passion. Aber Ludwig Philipp ist auch der Repräsentant der Revolution, er mag es wollen oder nicht, und wo diese bedroht wird, steht seine eigene Existenz in Frage. Er muß sich in Paris halten, um jeden Preis. Denn bemächtigen sich die fremden Potentaten seiner Hauptstadt, so würde seine Legitimität ihn nicht so inviolabel schützen wie jene Könige von Gottes Gnaden, die überall, wo sie sind, den Mittelpunkt ihres Reiches bilden. Fiele Paris gar in die Hände der Republikaner, infolge einer Revolte, so würden die fremden Mächte vielleicht mit Heeresmacht heranziehen, aber schwerlich, um eine Restauration zu versuchen zugunsten Ludwig Philipps, welcher im Julius 1830 König der Franzosen ward, nicht parceque Bourbon, sondern quoique Bourbon! Dies fühlt der kluge Herrscher, und er verschanzt sich in seinem Malapartus. Daß die Befestigung von Paris, wie für ihn selber, so auch für Frankreich heilsam und notwendig, ist sein fester Glaube, und neben der Privatlaune und dem Selbsterhaltungstrieb leitete ihn hier eine echte und wahrhafte Vaterlandsliebe. Jeder König ist ja ein natürlicher Patriot und liebt sein Land, in dessen Geschichte sein Leben wurzelt und mit dessen Schicksalen es verwachsen ist. Ludwig Philipp ist ein Patriot, und zwar im bürgerlichen, familienväterlichen, neufränkischen Sinne, wie denn überhaupt in den Orleans eine ganz andere Art des Patriotismus sich entwickelte als in den Bourbonen der ältern Linie, die mehr vom historischen Stammesstolze, vom mittelalterlichen Adeltum, beseelt waren als von eigentlicher Liebe für Frankreich.
Da diese Vaterlandsliebe von den Franzosen als die höchste Tugend angesehen wird, so war es eine sehr wirksame Büberei, daß die Feinde des Königs seine patriotischen Gesinnungen durch verfälschte Briefe verdächtigten. Ja, diese famosen Briefe sind zum Teil verfälscht, zum Teil ganz falsch, und ich begreife nicht, wie manche ehrliche Leute unter den Republikanern nur einen Augenblick an ihre Echtheit glauben konnten. Aber diese Leute sind immer die Düpes der Legitimisten, [372] welche die Waffen schmieden, womit jene das Leben oder den Leumund des Königs zu meucheln suchen. Der Republikaner ist immer bereit, sein Leben bei jeder gefährlichen Untat aufs Spiel zu setzen; aber er ist doch nur ein täppisches Werkzeug fremder Erfindsamkeit, die für ihn denkt und rechnet: man kann im wahren Sinne des Wortes von den Republikanern behaupten, daß sie das Pulver nicht erfunden haben, womit sie auf den König schießen.
Ja, wer in Frankreich das Nationalgefühl besitzt und begreift, übt den unwiderstehlichsten Zauber auf die Masse und kann sie nach Belieben lenken und treiben, ihnen das Geld oder das Blut abzapfen und sie in alle möglichen Uniformen stecken, in die Rittertracht des Ruhmes oder in die Livree der Knechtschaft. Das war das Geheimnis Napoleons, und sein Geschichtschreiber Thiers hat es ihm abgelauscht, abgelauscht mit dem Herzen, nicht mit dem bloßen Verstande; denn nur das Gefühl versteht das Gefühl. Thiers ist wahrhaft durchglüht vom französischen Nationalgefühl, und wer dieses gemerkt hat, versteht seine Macht und Unmacht, seine Irrtümer und Vorzüge, seine Größe und Kleinheit und sein Anrecht auf die Zukunft. Dieses Nationalgefühl erklärt alle Akte seines Ministeriums: hier sehen wir die Translation der kaiserlichen Asche, die glorreichste Feier des Heldentums, neben der kläglichen Vertretung jenes kläglichen Konsuls von Damaskus, welcher mittelalterliche Justizgreuel unterstützte, aber ein Repräsentant von Frankreich war; hier sehen wir das leichtsinnigste Aufbrausen und Alarmschlagen, als der Londoner Traktat divulgiert und Frankreich beleidigt ward, und daneben die besonnene Aktivität der Bewaffnung und jenen kolossalen Entschluß der Fortifikation von Paris. Ja, Thiers war es, welcher letztere begann und für dieses Beginnen auch nachträglich das Gesetz in der Kammer eroberte. Nie sprach er mit größerer Beredsamkeit, nie hat er mit feinerer Taktik einen parlamentarischen Sieg erfochten. Es war eine Schlacht, und im letzten Augenblick war die Entscheidung sehr zweifelhaft; aber das Feldherrnauge des Thiers entdeckte schnell [373] die Gefahr, die dem Gesetz drohte, und ein improvisiertes Amendement gab den Ausschlag. Ihm gebührt die Ehre des Tages.
Es fehlte nicht an Leuten, die den Eifer, den Thiers für den Gesetzentwurf an den Tag legte, nur egoistischen Motiven zuschrieben. Aber hier war wirklich nur der Patriotismus vorwaltend, und ich wiederhole es, Herr Thiers ist durchdrungen von diesem Gefühle. Er ist ganz der Mann der Nationalität, nicht der Revolution, als deren Sohn er sich gern darstellt. Mit dieser Kindschaft hat es freilich seine Richtigkeit, die Revolution ist seine Mutter, aber man darf nicht überschwengliche Sympathien daraus herleiten. Thiers liebt zunächst das Vaterland, und ich glaube, er würde diesem Gefühle alle mütterlichen Interessen aufopfern. Sein Enthusiasmus ist gewiß sehr abgekühlt für den ganzen Freiheitsspektakel, der nur noch als ein verhallendes Echo in seiner Seele nachklingt. Er hat ja als Geschichtschreiber alle Phasen desselben im Geiste mitgelebt, als Staatsmann mußte er mit der fortgesetzten Bewegung tagtäglich kämpfen und ringen, und nicht selten mag diesem Sohn der Revolution die Mutter sehr lästig, sehr fatal geworden sein:Gebreste denn er weiß recht gut, daß die alte Frau kapabel wäre, ihm selber den Kopf abschlagen zu lassen. – Sie ist nämlich nicht von sanftem Naturell; ein Berliner würde sagen: sie hat kein Gemüt. Wenn die Herren Söhne sie zuweilen schlecht behandeln, so muß man nicht vergessen, daß sie selber, die alte Frau, für ihre Kinder niemals dauernde Zärtlichkeit bewiesen und die besten immer ermordet hat.
XXXII
Paris, 31. März 1841
Die Debatten in der Deputiertenkammer über das literarische Eigentum sind sehr unersprießlich. Es ist aber jedenfalls ein bedeutendes Zeichen der Zeit, daß die heutige Gesellschaft, die auf dem Eigentumsrechte basiert ist, auch den Geistern eine gewisse Teilnahme an solchem Besitzprivilegium gestatten [374] möchte, aus Billigkeitsgefühl oder vielleicht auch als Bestechung! Kann der Gedanke Eigentum werden? Ist das Licht das Eigentum der Flamme, wo nicht gar des Kerzendochts? Ich enthalte mich jedes Urteils über solche Frage und freue mich nur darüber, daß ihr dem armen Dochte, der sich brennend verzehrt, eine kleine Vergütung verwilligen wollt für sein großes, gemeinnütziges Beleuchtungsverdienst!
Das Schicksal des Mehemed Ali wird hier weniger besprochen, als man glauben sollte; doch will es mich bedünken, als herrsche in den Gemütern ein um so tieferes Mitleid für den Mann, der dem Sterne Frankreichs zuviel vertraut hat. Das Ansehen der Franzosen im Orient geht verloren, und dieser Verlust wirkt auch mißlich auf ihre okzidentalischen Verhältnisse; Sterne, an die man nicht mehr glauben kann, erbleichen. – Als die amerikanischen Händel sich so bedenklich gestalteten, ward von englischer Seite die Ausgleichung der ägyptischen Erblichkeitsfrage aufs emsigste betrieben. Frankreich hatte da leichtes Spiel, zum Besten des Paschas zu agieren; das Ministerium scheint aber nichts getan zu haben, um den getreusten Alliierten zu retten.
Die amerikanischen Händel sind es aber nicht allein, was die Engländer antreibt, die ägyptische Erblichkeitsfrage so bald als möglich abzufertigen und somit die französische Diplomatie wieder in den Stand zu setzen, an den Beratungen und Beschlüssen der europäischen Großmächte teilzunehmen. Die Dardanellenfrage steht drohend vor der Tür, verlangt schnelle Entscheidung, und hier rechnen die Engländer auf die konferenzielle Stütze des französischen Kabinetts, dessen Interessen bei dieser Gelegenheit mit ihren eigenen übereinstimmen, Rußland gegenüber.
Ja, die sogenannte Dardanellenfrage ist von der höchsten Wichtigkeit, und nicht bloß für die erwähnten Großmächte, sondern für uns alle, für den Kleinsten wie für den Größten für Reuß-Schleiz-Greiz und Hinterpommern ebensogut wie für das allmächtige Österreich, für den geringsten Schuhflicker wie für den reichsten Lederfabrikanten; denn das Schicksal[375] der Welt selbst steht hier in Frage, und diese Frage muß an den Dardanellen gelöst werden, gleichviel in welcher Weise. Solange dieses nicht geschehen, kränkelt Europa an einem heimlichen Übel, das ihm keine Ruhe läßt und das, je später, desto entsetzlicher, am Ende zum Ausbruch kommt. Die Dardanellenfrage ist nur ein Symptom der orientalischen Frage selbst, der türkischen Erbschaftsfrage, des Grundübels, woran wir siechen, des Krankheitsstoffs, der im europäischen Staatskörper gärt und der leider nur gewaltsam ausgeschieden, vielleicht nur mit dem Schwerte ausgeschnitten werden kann. Wenn sie auch von ganz an dern Dingen sprechen, so schielen doch alle Machthaber nach den Dardanellen, nach der Hohen Pforte, nach dem alten Byzanz, nach Stambul, nach Konstantinopel – das Gehreste hat viele Namen. Wäre im europäischen Staatsrechte das Prinzip der Volkssouveränetät sanktioniert, so könnte das Zusammenbrechen des Osmanischen Kaisertums nicht für die übrige Welt so gefährlich sein, da alsdann in dem aufgelösten Reiche die einzelnen Völker sich bald ihre besondern Regenten selbst erwählen und sich so gut als möglich fortregieren lassen würden. Aber im allergrößten Teil Europas herrscht noch das Dogma des Absolutismus, wonach Land und Leute das Eigentum des Fürsten sind und dieses Eigentum durch das Recht des Stärkern, durch die ultima ratio regis, das Kanonenrecht, erwerbbar ist. – Was Wunder, daß keiner der hohen Potentaten den Russen die große Erbschaft gönnen wird und jeder ein Stück von dem morgenländischen Kuchen haben will; jeder wird Appetit bekommen, wenn er sieht, wie die Barbaren des Nordens sich gütlich tun, und der kleinste deutsche Duodezfürst wird wenigstens auf ein Biergeld Anspruch machen. Das sind die menschlichen Antriebe, weshalb der Untergang der Türkei für die Welt verderblich werden muß. Die politischen Beweggründe, warum hauptsächlich England, Frankreich und Österreich nicht erlauben können, daß Rußland sich in Konstantinopel festsetze, sind jedem Schulknaben einleuchtend.
Der Ausbruch eines Krieges, der in der Natur der Dinge [376] liegt, ist aber vorderhand vertagt. Kurzsichtige Politiker, die nur zu Palliativen ihre Zuflucht nehmen, sind beruhigt und hoffen ungetrübte Friedenstage. Besonders unsre Finanziers sehen wieder alles im lieblichsten Hoffnungslichte. Auch der größte derselben scheint sich solcher Täuschung hinzugeben, aber nicht zu jeder Stunde. Herr von Rothschild, welcher seit einiger Zeit etwas unpäßlich schien, ist jetzt wieder ganz hergestellt und sieht gesund und wohl aus. Die Zeichendeuter der Börse, welche sich auf die Physiognomie des großen Barons so gut verstehen, versichern uns, daß die Schwalben des Friedens in seinem Lächeln nisten, daß jede Kriegsbesorgnis aus seinem Gesichte verschwunden, daß in seinen Augen keine elektrischen Gewitterfünkchen sichtbar seien und daß also das entsetzliche Kanonendonnerwetter, das die ganze Welt bedrohte, sich gänzlich verzogen habe. Er niese sogar den Frieden. Es ist wahr, als ich das letztemal die Ehre hatte, Herrn von Rothschild meine Aufwartung zu machen, strahlte er vom erfreulichsten Wohlbehagen, und seine rosige Laune ging fast über in Poesie; denn, wie ich schon einmal erzählt, in solchen heitern Momenten pflegt der Herr Baron den Redefluß seines Humors in Reimen ausströmen zu lassen. Ich fand, daß ihm das Reimen diesmal ganz besonders gelang; nur auf »Konstantinopel« wußte er keinen Reim zu finden, und er kratzte sich an dem Kopf, wie alle Dichter tun, wenn ihnen der Reim fehlt. Da ich selbst auch ein Stück Poet bin, so erlaubte ich mir, dem Herrn Baron zu bemerken, ob sich nicht auf »Konstantinopel« ein russischer »Zobel« reimen ließe. Aber dieser Reim schien ihm sehr zu mißfallen, er behauptete, England würde ihn nie zugeben, und es könnte dadurch ein europäischer Krieg entstehen, welcher der Welt viel Blut und Tränen und ihm selber eine Menge Geld kosten würde.
Herr von Rothschild ist in der Tat der beste politische Thermometer; ich will nicht sagen Wetterfrosch, weil das Wort nicht hinlänglich respektvoll klänge. Und man muß doch Respekt vor diesem Manne haben, sei es auch nur wegen des Respektes, den er den meisten Leuten einflößt. Ich besuche ihn [377] am liebsten in den Bureaux seines Comptoirs, wo ich als Philosoph beobachten kann, wie sich das Volk, und nicht bloß das Volk Gottes, sondern auch alle andern Völker, vor ihm beugen und bücken. Das ist ein Krümmen und Winden des Rückgrats, wie es selbst dem besten Akrobaten schwerfiele. Ich sah Leute, die, wenn sie dem großen Baron nahten, zusammenzuckten, als berührten sie eine voltaische Säule. Schon vor der Tür seines Kabinetts ergreift viele ein Schauer der Ehrfurcht, wie ihn einst Moses auf dem Horeb empfunden, als er merkte, daß er auf dem heiligen Boden stand. Ganz so, wie Moses alsbald seine Schuhe auszog, so würde gewiß mancher Mäkler oder Agent de change, der das Privatkabinett des Herrn von Rothschild zu betreten wagt, vorher seine Stiefel ausziehen, wenn er nicht fürchtete, daß alsdann seine Füße noch übler riechen und den Herrn Baron dieser Mistduft inkommodieren dürfte. Jenes Privatkabinett ist in der Tat ein merkwürdiger Ort, welcher erhabene Gedanken und Gefühle erregt, wie der Anblick des Weltmeeres oder des gestirnten Himmels: wir sehen hier, wie klein der Mensch und wie groß Gott ist! Denn das Geld ist der Gott unserer Zeit, und Rothschild ist sein Prophet.
Vor mehreren Jahren, als ich mich einmal zu Herrn von Rothschild begeben wollte, trug eben ein galonierter Bedienter das Nachtgeschirr desselben über den Korridor, und ein Börsenspekulant, der in demselben Augenblick vorbeiging, zog ehrfurchtsvoll seinen Hut ab vor dem mächtigen Topfe. So weit geht, mit Respekt zu sagen, der Respekt gewisser Leute. Ich merkte mir den Namen jenes devoten Mannes, und ich bin überzeugt, daß er mit der Zeit ein Millionär sein wird. Als ich einst dem Herrn * erzählte, daß ich mit dem Baron Rothschild in den Gemächern seines Comptoirs en famille zu Mittag gespeist, schlug jener mit Erstaunen die Hände zusammen und sagte mir, ich hätte hier eine Ehre genossen, die bisher nur den Rothschilds von Geblüt oder allenfalls einigen regierenden Fürsten zuteil geworden und die er selbst mit der Hälfte seiner Nase einkaufen würde. Ich will hier bemerken, daß die Nase [378] des Herrn *, selbst wenn er die Hälfte einbüßte, dennoch eine hinlängliche Länge behalten würde.
Das Comptoir des Herrn von Rothschild ist sehr weitläufig, ein Labyrinth von Sälen, eine Kaserne des Reichtums; das Zimmer, wo der Baron von Morgen bis Abend arbeitet – er hat ja nichts andres zu tun als zu arbeiten –, ist jüngst sehr verschönert worden. Auf dem Kamin steht jetzt die Marmorbüste des Kaisers Franz von Österreich, mit welchem das Haus Rothschild die meisten Geschäfte gemacht hat. Der Herr Baron will überhaupt aus Pietät die Büsten von allen europäischen Fürsten anfertigen lassen, die durch sein Haus ihre Anleihen gemacht, und diese Sammlung von Marmorbüsten wird eine Walhalla bilden, die weit großartiger sein dürfte als die Regensburger. Ob Herr Rothschild seine Walhallagenossen in Reimen oder im ungereimten königlich bayrischen Lapidarstil feiern wird, ist mir unbekannt.
XXXIII
Paris, 20. April 1841
Der diesjährige Salon offenbarte nur eine buntgefärbte Ohnmacht. Fast sollte man meinen, mit dem Wiederaufblühen der bildenden Künste habe es bei uns ein Ende; es war kein neuer Frühling, sondern ein leidiger Alteweibersommer. Einen freudigen Aufschwung nahm die Malerei und die Skulptur, sogar die Architektur, bald nach der Juliusrevolution; aber die Schwingen waren nur äußerlich angeheftet, und auf den forcierten Flug folgte der kläglichste Sturz. Nur die junge Schwesterkunst, die Musik, hatte sich mit ursprünglicher, eigentümlicher Kraft erhoben. Hat sie schon ihren Lichtgipfel erreicht? Wird sie sich lange darauf behaupten? Oder wird sie schnell wieder herabsinken? Das sind Fragen, die nur ein späteres Geschlecht beantworten kann. Jedenfalls hat es aber den Anschein, als ob in den Annalen der Kunst unsre heutige Gegenwart vorzugsweise als das Zeitalter der Musik eingezeichnet werden dürfte. Mit der allmählichen Vergeistigung [379] des Menschengeschlechts halten auch die Künste ebenmäßig Schritt. In der frühesten Periode mußte notwendigerweise die Architektur alleinig hervortreten, die unbewußte rohe Größe massenhaft verherrlichend, wie wir's z.B. sehen bei den Ägyptiern. Späterhin erblicken wir bei den Griechen die Blütezeit der Bildhauerkunst, und diese bekundet schon eine äußere Bewältigung der Materie: der Geist meißelte eine ahnende Sinnigkeit in den Stein. Aber der Geist fand dennoch den Stein viel zu hart für seine steigenden Offenbarungsbedürfnisse, und er wählte die Farbe, den bunten Schatten, um eine verklärte und dämmernde Welt des Liebens und Leidens darzustellen. Da entstand die große Periode der Malerei, die am Ende des Mittelalters sich glänzend entfaltete. Mit der Ausbildung des Bewußtseinlebens schwindet bei den Menschen alle plastische Begabnis, am Ende erlischt sogar der Farbensinn, der doch immer an bestimmte Zeichnung gebunden ist, und die gesteigerte Spiritualität, das abstrakte Gedankentum, greift nach Klängen und Tönen, um eine lallende Überschwenglichkeit auszudrücken, die vielleicht nichts anderes ist als die Auflösung der ganzen materiellen Welt: die Musik ist vielleicht das letzte Wort der Kunst, wie der Tod das letzte Wort des Lebens.
Ich habe diese kurze Bemerkung hier vorangestellt, um anzudeuten, weshalb die musikalische Saison mich mehr ängstigt als erfreut. Daß man hier fast in lauter Musik ersäuft, daß es in Paris fast kein einziges Haus gibt, wohin man sich wie in eine Arche retten kann vor dieser klingenden Sündflut, daß die edle Tonkunst unser ganzes Leben überschwemmt – dies ist für mich ein bedenkliches Zeichen, und es ergreift mich darob manchmal ein Mißmut, der bis zur murrsinnigsten Ungerechtigkeit gegen unsre großen Maestri und Virtuosen ausartet. Unter diesen Umständen darf man keinen allzu heitern Lobgesang von mir erwarten für den Mann, den hier die schöne Welt, besonders die hysterische Damenwelt, in diesem Augenblick mit einem wahnsinnigen Enthusiasmus umjubelt und der in der Tat einer der merkwürdigsten Repräsentanten [380] der musikalischen Bewegung ist. Ich spreche von Franz Liszt, dem genialen Pianisten. Ja, der Geniale ist jetzt wieder hier und gibt Konzerte, die einen Zauber üben, der ans Fabelhafte grenzt. Neben ihm schwinden alle Klavierspieler – mit Ausnahme eines einzigen, des Chopin, des Raffaels des Fortepiano. In der Tat, mit Ausnahme dieses Einzigen sind alle andern Klavierspieler, die wir dieses Jahr in unzähligen Konzerten hörten, eben nur Klavierspieler, sie glänzen durch die Fertigkeit, womit sie das besaitete Holz handhaben, bei Liszt hingegen denkt man nicht mehr an überwundene Schwierigkeit, das Klavier verschwindet, und es offenbart sich die Musik. In dieser Beziehung hat Liszt, seit wir ihn zum letztenmal hörten, den wunderbarsten Fortschritt gemacht. Mit diesem Vorzug verbindet er eine Ruhe, die wir früher an ihm vermißten. Wenn er z.B. damals auf dem Pianoforte ein Gewitter spielte, sahen wir die Blitze über sein eigenes Gesicht dahinzucken, wie von Sturmwind schlotterten seine Glieder, und seine langen Haarzöpfe träuften gleichsam vom dargestellten Platzregen. Wenn er jetzt auch das stärkste Donnerwetter spielt, so ragt er doch selber darüber empor, wie der Reisende, der auf der Spitze einer Alpe steht, während es im Tal gewittert: die Wolken lagern tief unter ihm, die Blitze ringeln wie Schlangen zu seinen Füßen, das Haupt erhebt er lächelnd in den reinen Äther.
Trotz seiner Genialität begegnet Liszt einer Opposition hier in Paris, die meistens aus ernstlichen Musikern besteht und seinem Nebenbuhler, dem kaiserlichen Thalberg, den Lorbeer reicht. – Liszt hat bereits zwei Konzerte gegeben, worin er, gegen allen Gebrauch, ohne Mitwirkung anderer Künstler ganz allein spielte. Er bereitet jetzt ein drittes Konzert zum Besten des Monuments von Beethoven. Dieser Komponist muß in der Tat dem Geschmack eines Liszt am meisten zusagen. Namentlich Beethoven treibt die spiritualistische Kunst bis zu jener tönenden Agonie der Erscheinungswelt, bis zu jener Vernichtung der Natur, die mich mit einem Grauen erfüllt, das ich nicht verhehlen mag, obgleich meine Freunde darüber [381] den Kopf schütteln. Für mich ist es ein sehr bedeutungsvoller Umstand, daß Beethoven am Ende seiner Tage taub ward und sogar die unsichtbare Tonwelt keine klingende Realität mehr für ihn hatte. Seine Töne waren nur noch Erinnerungen eines Tones, Gespenster verschollener Klänge, und seine letzten Produktionen tragen an der Stirne ein unheimliches Totenmal.
Minder schauerlich als die Beethovensche Musik war für mich der Freund Beethovens, l'ami de Beethoven, wie er sich hier überall produzierte, ich glaube sogar auf Visitenkarten. Eine schwarze Hopfenstange mit einer entsetzlich weißen Krawatte und einer Leichenbittermiene. War dieser Freund Beethovens wirklich dessen Pylades? Oder gehörte er zu jenen gleichgültigen Bekannten, mit denen ein genialer Mensch zuweilen um so lieber Umgang pflegt, je unbedeutender sie sind und je prosaischer ihr Geplapper ist, das ihm eine Erholung gewährt nach ermüdend poetischen Geistesflügen? Jedenfalls sahen wir hier eine neue Art der Ausbeutung des Genius, und die kleinen Blätter spöttelten nicht wenig über den ami de Beethoven. »Wie konnte der große Künstler einen so unerquicklichen, geistesarmen Freund ertragen!« riefen die Franzosen, die über das monotone Geschwätz jenes langweiligen Gastes alle Geduld verloren. Sie dachten nicht daran, daß Beethoven taub war.
Die Zahl der Konzertgeber während der diesjährigen Saison war Legion, und an mittelmäßigen Pianisten fehlte es nicht, die in öffentlichen Blättern als Mirakel gepriesen wurden. Die meisten sind junge Leute, die in bescheiden eigner Person jene Lobeserhebungen in die Presse fördern. Die Selbstvergötterungen dieser Art, die sogenannten Reklamen, bilden eine sehr ergötzliche Lektüre. Eine Reklame, die jüngst in der »Gazette musicale« enthalten war, meldete aus Marseille, daß der berühmte Döhler auch dort alle Herzen entzückt habe und besonders durch seine interessante Blässe, die, eine Folge überstandener Krankheit, die Aufmerksamkeit der schönen Welt in Anspruch genommen. Der berühmte Döhler ist seitdem nach [382] Paris zurückgekehrt und hat mehre Konzerte gegeben; er spielt in der Tat hübsch, nett und niedlich. Sein Vortrag ist allerliebst, beurkundet eine erstaunliche Fingerfertigkeit, zeugt aber weder von Kraft noch von Geist. Zierliche Schwäche, elegante Ohnmacht, interessante Blässe.
Zu den diesjährigen Konzerten, die im Andenken der Kunstliebhaber forttönen, gehören die Matineen, welche von den Herausgebern der beiden musikalischen Zeitungen ihren Abonnenten geboten wurden. Die »France musicale«, redigiert von den Brüdern Escudier, glänzte in ihrem Konzert durch die Mitwirkung der italienischen Sänger und des Violinspielers Vieuxtemps, der als einer der Löwen der musikalischen Saison betrachtet wurde. Ob sich unter dem zottigen Fell dieses Löwen ein wirklicher König der Bestien oder nur ein armes Grauchen verbirgt, vermag ich nicht zu entscheiden. Ehrlich gesagt, ich kann den übertriebenen Lobsprüchen, die ihm gezollt wurden, keinen Glauben schenken. Es will mich bedünken, als ob er auf der Leiter der Kunst noch nicht eine sonderliche Höhe erklommen. Vieuxtemps steht etwa auf der Mitte jener Leiter, auf deren Spitze wir einst Paganini erblickten und auf deren letzter, unterster Sprosse unser vortrefflicher Sina steht, der berühmte Badegast von Boulogne und Eigentümer eines Autographs von Beethoven. Vielleicht steht Herr Vieuxtemps dem Herrn Sina noch viel näher als dem Niccolò Paganini.
Vieuxtemps ist ein Sohn Belgiens, wie denn überhaupt aus den Niederlanden die bedeutendsten Violinisten hervorgingen. Die Geige ist ja das dortige Nationalinstrument, das von groß und klein, von Mann und Weib kultiviert wird, von jeher, wie wir auf den holländischen Bildern sehen. Der ausgezeichnetste Violinist dieser Landsmannschaft ist unstreitig Bériot, der Gemahl der Malibran; ich kann mich manchmal der Vorstellung nicht erwehren, als säße in seiner Geige die Seele der verstorbenen Gattin und sänge. Nur Ernst, der poesiereiche Böhme, weiß seinem Instrument so schmelzende, so verblutend süße Klagetöne zu entlocken. – Ein Landsmann Bériots ist Artôt, ebenfalls ein ausgezeichneter Violinist, bei dessen Spiel man [383] aber nie an eine Seele erinnert wird: ein geschniegelter, wohlgedrechselter Gesell, dessen Vortrag glatt und glänzend, wie Wachsleinen. Hauman, der Sohn des Brüsseler Nachdruckers, treibt auf der Violine das Metier des Vaters: was er geigt, sind reinliche Nachdrücke der vorzüglichsten Geiger, die Texte hie und da verbrämt mit überflüssigen Originalnoten und vermehrt mit brillanten Druckfehlern. – Die Gebrüder Franco-Mendès, welche auch dieses Jahr Konzerte gaben, wo sie ihr Talent als Violinspieler bewährten, stammen ganz eigentlich aus dem Lande der Trekschuiten und Quispeldorchen. Dasselbe gilt von Batta, dem Violoncellisten; er ist ein geborner Holländer, kam aber früh hieher nach Paris, wo er durch seine knabenhafte Jugendlichkeit ganz besonders die Damen ergötzte. Er war ein liebes Kind und weinte auf seiner Bratsche wie ein Kind. Obgleich er mittlerweile ein großer Junge geworden, so kann er doch die süße Gewohnheit des Greinens nimmermehr lassen, und als er jüngst wegen Unpäßlichkeit nicht öffentlich auftreten konnte, hieß es allgemein: durch das kindische Weinen auf dem Violoncello habe er sich endlich eine wirkliche Kinderkrankheit, ich glaube die Masern, an den Hals gespielt. Er scheint jedoch wieder ganz hergestellt zu sein, und die Zeitungen melden, daß der berühmte Batta nächsten Donnerstag eine musikalische Matinee bereite, welche das Publikum für die lange Entbehrnis seines Lieblings entschädigen werde.
Das letzte Konzert, welches Herr Maurice Schlesinger den Abonnenten seiner »Gazette musicale« gab und das, wie ich bereits angedeutet habe, zu den glänzendsten Erscheinungen der Saison gehörte, war für uns Deutsche von ganz besonderm Interesse. Auch war hier die ganze Landsmannschaft vereinigt, begierig, die Mademoiselle Löwe zu hören, die gefeierte Sängerin, die das schöne Lied von Beethoven, »Adelaide«, in deutscher Zunge sang. Die Italiener und Herr Vieuxtemps, welche ihre Mitwirkung versprochen, ließen während des Konzerts absagen, zur größten Bestürzung des Konzertgebers, welcher mit der ihm eigentümlichen Würde vors Publikum trat und [384] erklärte: Herr Vieuxtemps wolle nicht spielen, weil er das Lokal und das Publikum als seiner nicht angemessen betrachte! Die Insolenz jenes Geigers verdient die strengste Rüge. Das Lokal des Konzertes war der Musardsche Saal der Rue Vivienne, wo man nur während des Karnevals ein bißchen Cancan tanzt, jedoch das übrige Jahr hindurch die anständigste Musik von Mozart, Giacomo Meyerbeer und Beethoven exekutiert. Den italienischen Sängern, einem Signor Rubini und Signor Lablache, verzeiht man allenfalls ihre Laune; von Nachtigallen kann man sich wohl die Prätension gefallen lassen, daß sie nur vor einem Publikum von Goldfasanen und Adlern singen wollen. Aber Mynheer, der flämische Storch, dürfte nicht so wählig sein und eine Gesellschaft verschmähen, worunter sich das honetteste Geflügel, Pfauen und Perlhühner die Menge und mitunter auch die ausgezeichnetsten deutschen Schnapphähne und Mistfinken befanden. – Welcher Art war der Erfolg des Debüts der Mademoiselle Löwe? Ich will die ganze Wahrheit kurz aussprechen: sie sang vortrefflich, gefiel allen Deutschen und machte Fiasko bei den Franzosen.
Was dieses letztere Mißgeschick betrifft, so möchte ich der verehrten Sängerin zu ihrem Troste versichern, daß es eben ihre Vorzüge waren, die einem französischen Sukzeß im Wege standen. In der Stimme der Mlle. Löwe ist deutsche Seele, ein stilles Ding, das sich bis jetzt nur wenigen Franzosen offenbart hat und in Frankreich nur allmählich Eingang findet. Wäre Mlle. Löwe einige Dezennien später gekommen, sie hätte vielleicht größere Anerkennung gefunden. Bis jetzt aber ist die Masse des Volks noch immer dieselbe. Die Franzosen haben Geist und Passion, und beides genießen sie am liebsten in einer unruhigen, stürmischen, gehackten, aufreizenden Form. Dergleichen vermißten sie aber ganz und gar bei der deutschen Sängerin, die ihnen noch obendrein die Beethovensche »Adelaide« vorsang. Dieses ruhige Ausseufzen des Gemütes, diese blauäugigen, schmachtenden Waldeinsamkeitstöne, diese gesungenen Lindenblüten mit obligatem Mondschein, dieses Hinsterben in überirdischer Sehnsucht, dieses erzdeutsche Lied [385] fand kein Echo in französischer Brust und ward sogar als transrhenanische Sensiblerie verspöttelt.
Obgleich Mlle. Löwe hier keinen Beifall fand, geschah doch alles mögliche, um ihr ein Engagement für die Académie royale de musique auszuwirken. Der Name Meyerbeer wurde bei dieser Gelegenheit aufdringlicher in Anschlag gebracht, als es dem verehrten Meister wohl lieb sein möchte. Ist es wahr, wollte Meyerbeer seine neue Oper nicht zur Aufführung geben, im Falle man die Löwe nicht engagierte? Hat Meyerbeer wirklich die Erfüllung der Wünsche des Publikums an eine so kleinliche Bedingung geknüpft? Ist er wirklich so überbescheiden, daß er sich einbildet, der Erfolg seines neuen Werks sei abhängig von der mehr oder minder geschmeidigen Kehle einer Primadonna?
Die zahlreichen Verehrer und Bewunderer des bewunderungswürdigen Meisters sehen mit Betrübnis, wie der Hochgefeierte bei jeder neuen Produktion seines Genius sich mit der Sicherstellung des Erfolgs so unsäglich abmüht und an das winzigste Detail desselben seine besten Kräfte vergeudet. Sein zarter, schwächlicher Körperbau muß darunter leiden. Seine Nerven werden krankhaft überreizt, und bei seinem chronischen Unterleibsleiden wird er oft von der herrschenden Cholerine heimgesucht. Der Geisteshonig, der aus seinen musikalischen Meisterwerken träufelt und uns erquickt, kostet dem Meister selbst die furchtbarsten Leibesschmerzen. Als ich das letztemal die Ehre hatte, ihn zu sehen, erschrak ich über sein miserables Aussehen. Bei seinem Anblick dachte ich an den Diarrhöengott der tartarischen Volkssage, worin schauderhaft drollig erzählt wird, wie dieser bauchgrimmige Kakodämon auf dem Jahrmarkte von Kasan einmal zu seinem eigenen Gebrauche sechstausend Töpfe kaufte, so daß der Töpfer dadurch ein reicher Mann wurde. Möge der Himmel unserm hochverehrten Meister eine bessere Gesundheit schenken, und möge er selber nie vergessen, daß sein Lebensfaden sehr schlapp und die Schere der Parze desto schärfer ist. Möge er nie vergessen, welche hohe Interessen sich an seine Selbsterhaltung knüpfen. [386] Was soll aus seinem Ruhme werden, wenn er selbst, der hochgefeierte Meister, was der Himmel noch lange verhüte, plötzlich dem Schauplatz seiner Triumphe durch den Tod entrissen würde? Wird ihn die Familie fortsetzen, diesen Ruhm, worauf ganz Deutschland stolz ist? An materiellen Mitteln würde es der Familie gewiß nicht fehlen, wohl aber an intellektuellen Mitteln. Nur der große Giacomo selbst, der nicht bloß Generalmusikdirektor aller Königl. Preuß. Musikanstalten, sondern auch der Kapellenmeister des Meyerbeerschen Ruhmes ist, nur er kann das ungeheure Orchester dieses Ruhmes dirigieren. – Er nickt mit dem Haupte, und alle Posaunen der großen Journale ertönen unisono; er zwinkert mit den Augen, und alle Violinen des Lobes fiedeln um die Wette; er bewegt nur leise den linken Nasenflügel, und alle Feuilleton-Flageolette flöten ihre süßesten Schmeichellaute. – Da gibt es auch unerhörte, antediluvianische Blasinstrumente, Jerichotrompeten und noch unentdeckte Windharfen, Saiteninstrumente der Zukunft, deren Anwendung die außerordentlichste Begabnis für Instrumentation bekundet. – Ja, in so hohem Grade wie unser Meyerbeer verstand sich noch kein Komponist auf die Instrumentation, nämlich auf die Kunst, alle möglichen Menschen als Instrumente zu gebrauchen, die kleinsten wie die größten, und durch ihr Zusammenwirken eine Übereinstimmung in der öffentlichen Anerkennung, die ans Fabelhafte grenzt, hervorzuzaubern. Das hat kein andrer jemals verstanden. Während die besten Opern von Mozart und Rossini bei der ersten Vorstellung durchfielen und erst Jahre vergingen, ehe sie wahrhaft gewürdigt wurden, finden die Meisterwerke unsres edlen Meyerbeer bereits bei der ersten Aufführung den ungeteiltesten Beifall, und schon den andern Tag liefern sämtliche Journale die verdienten Lob- und Preisartikel. Das geschieht durch das harmonische Zusammenwirken der Instrumente; in der Melodie muß Meyerbeer den beiden genannten Meistern nachstehen, aber er überflügelt sie durch Instrumentation. Der Himmel weiß, daß er sich oft der niederträchtigsten Instrumente bedient; aber vielleicht eben durch diese bringt er die [387] großen Effekte hervor auf die große Menge, die ihn bewundert, anbetet, verehrt und sogar achtet. – Wer kann das Gegenteil beweisen? Von allen Seiten fliegen ihm die Lorbeerkränze zu, er trägt auf dem Haupte einen ganzen Wald von Lorbeeren, er weiß sie kaum mehr zu lassen und keucht unter dieser grünen Last. Er sollte sich einen kleinen Esel anschaffen, der, hinter ihm her trottierend, ihm die schweren Kränze nachtrüge. Aber Gouin ist eifersüchtig und leidet nicht, daß ihn ein anderer begleite.
Ich kann nicht umhin, hier ein geistreiches Wort zu erwähnen, das man dem Musiker Ferdinand Hiller zuschreibt. Als nämlich jemand denselben darüber befragte, was er von Meyerbeers Opern halte, soll Hiller ausweichend verdrießlich geantwortet haben: »Ach, laßt uns nicht von Politik reden!«
XXXIV
Paris, 29. April 1841
Ein ebenso bedeutungsvolles wie trauriges Ereignis ist das Verdikt der Jury, wodurch der Redakteur des Journals »La France« von der Anklage absichtlicher Beleidigung des Königs freigesprochen wurde. Ich weiß wahrlich nicht, wen ich hier am meisten beklagen soll! Ist es jener König, dessen Ehre durch verfälschte Briefe befleckt wird und der dennoch nicht wie jeder andere sich in der öffentlichen Meinung rehabilitieren kann? Was jedem andern in solcher Bedrängnis gestattet ist, bleibt ihm grausam versagt. Jeder andere, der sich in gleicher Weise, durch falsche Briefe von landesverräterischem Inhalt, dem Publikum gegenüber bloßgestellt sähe, könnte es dahin bringen, sich förmlich in Anklagestand setzen zu lassen und infolge seines Prozesses die Unechtheit jener Briefe aufs bündigste zu erweisen. Eine solche Ehrenrettung gibt es aber nicht für den König, den die Verfassung für unverletzlich erklärt und nicht persönlich vor Gericht zu stellen erlaubt. Noch weniger ist ihm das Duell gestattet, das Gottesurteil, das in Ehrensachen noch immer eine gewisse justifizierende Geltung [388] bewahrt: Ludwig Philipp muß ruhig auf sich schießen lassen, darf aber nimmermehr selbst zur Pistole greifen, um von seinen Beleidigern Genugtuung zu fordern. Ebensowenig kann er im üblich patzigen Stile eine abgedrungene Erklärung gegen seine Verleumder in den respektiven Landeszeitungen inserieren lassen: denn ach! Könige, wie große Dichter, dürfen sich nicht auf solchem Wege verteidigen und müssen alle Lügen, die man über ihre Person verbreitet, mit schweigender Langmut ertragen. In der Tat, ich hege das schmerzlichste Mitgefühl für den königlichen Dulder, dessen Krone nur eine Zielscheibe der Verleumdung und dessen Zepter, wo es eigene Verteidigung gilt, minder brauchbar wie ein gewöhnlicher Stock. – Oder soll ich noch weit mehr euch bedauern, ihr Legitimisten, die ihr euch als die auserwählten Paladine des Royalismus gebärdet und dennoch in der Person Ludwig Philipps das Wesen des Königtums, das königliche Ansehen, herabgewürdigt habt? Jedenfalls habe ich Mitleid mit euch, wenn ich an die schrecklichen Folgen denke, die ihr durch solchen Frevel zunächst auf eure eignen törichten Häupter herabruft! Mit dem Umsturz der Monarchie harret euer wieder daheim das Beil und in der Fremde der Bettelstab. Ja, euer Schicksal wäre jetzt noch weit schmählicher als in früheren Tagen: euch, die gefoppten Compères eurer Henker, würde man nicht mehr mit wildem Zorn töten, sondern mit höhnischem Gelächter und in der Fremde würde man euch nicht mehr mit jener Ehrfurcht, die einem unverschuldeten Unglück gebührt, sondern mit Geringschätzung das Almosen hinreichen.
Was soll ich aber von den guten Leuten der Jury sagen, die in wetteifernder Verblendung das Brecheisen legten an das Fundament des eignen Hauses? Der Grundstein, worauf ihre ganze bürgerliche Staatsboutique ruht, die königliche Autorität, ward durch jenes beleidigende und schmachvolle Verdikt heillos gelockert. Die ganze verderbliche Bedeutung dieses Verdikts wird jetzt allmählich erkannt, es ist das unaufhörliche Tagesgespräch, und mit Entsetzen sieht man, wie der fatale Ausgang des Prozesses ganz systematisch ausgebeutet wird. [389] Die verfälschten Briefe haben jetzt eine legale Stütze, und mit der Unverantwortlichkeit steigt die Frechheit bei den Feinden der bestehenden Ordnung. In diesem Augenblick werden lithographierte Kopien der vorgeblichen Autographen in unzähligen Exemplaren über ganz Frankreich verbreitet, und die Arglist reibt sich vergnügt die Hände, ob des gelungenen Meisterstücks. Die Legitimisten rufen »Viktoria!«, als hätten sie eine Schlacht gewonnen. Glorreiche Schlacht, wo die Contemporaine, die verrufene Mme. de Saint-Elme, das Banner trug! Der edle Baron Larochejacquelein beschirmte mit seinem Wappenschild diese neue Jeanne d'Arc. Er verbürgt ihre Glaubwürdigkeit – warum nicht auch ihre jungfräuliche Reinheit? Vor allen aber verdankt man diesen Triumph dem großen Berryer, dem bürgerlichen Dienstmann der legitimistischen Ritterschaft, der immer geistreich spricht, gleichviel für welche schlechte Sache.
Indessen, hier in Frankreich, dem Lande der Parteien, wo den Ereignissen alle ihre Konsequenzen unmittelbar abgepreßt werden, geht die böse Wirkung immer Hand in Hand mit einer mehr oder minder heilsamen Gegenwirkung. Und dieses zeigt sich auch bei Gelegenheit jenes unglückseligen Verdikts. Die argen Folgen desselben werden für den Moment einigermaßen neutralisiert durch den Jubel und das Siegesgeschrei, das die Legitimisten erheben: das Volk haßt sie so sehr, daß es all seinen Unmut gegen Ludwig Philipp vergißt, wenn jene Erbfeinde des neuen Frankreichs allzu jauchzend über ihn triumphieren. Der schlimmste Vorwurf, der gegen den König in jüngster Zeit aufgebracht wurde, war ja eben, daß man ihn beschuldigte, er betreibe allzu eifrig seine Aussöhnung mit den Legitimisten und opfere ihnen die demokratischen Interessen. Deshalb erregte die Beleidigung, die dem König gerade durch diese frondierenden Edelleute widerfuhr, zunächst eine gewisse Schadenfreude bei der Bourgeoisie, die, angehetzt durch die Journale des unzufriedenen Mittelstandes, von den reaktionären Vorsätzen des jetzigen Ministeriums die verdrießlichsten Dinge fabelt.
Welche Bewandtnis hat es aber mit jenen reaktionären Vorsätzen, [390] die man absonderlich Herrn Guizot zuschreibt? Ich kann ihnen keinen Glauben schenken. Guizot ist der Mann des Widerstandes, aber nicht der Reaktion. Und seid überzeugt, daß man ihn ob seines Widerstandes nach oben schon längst verabschiedet hätte, wenn man nicht seines Widerstandes nach unten bedürfte. Sein eigentliches Geschäft ist die tatsächliche Erhaltung jenes Regiments der Bourgeoisie, das von den marodierenden Nachzüglern der Vergangenheit ebenso grimmig bedroht wird wie von der plünderungssüchtigen Avantgarde der Zukunft. Herr Guizot hat sich eine schwierige Aufgabe gestellt, und niemand weiß ihm Dank dafür. Am undankbarsten wahrlich zeigen sich gegen ihn eben jene guten Bürger, die seine starke Hand schirmt und schützt, denen er aber nie vertraulich die Hand gibt und mit deren kleinlichen Leidenschaften er nie gemeinschaftliche Sache macht. Sie lieben ihn nicht, diese Spießbürger, denn er lacht nicht mit ihnen über Voltairesche Witze, er ist nicht industriell und tanzt nicht mit ihnen um den Maibaum der Gloire! Er trägt das Haupt sehr hoch, und ein melancholischer Stolz spricht aus allen seinen Zügen: »Ich könnte vielleicht etwas Besseres tun, als für dieses Lumpenpack in mühsamen Tageskämpfen mein Leben vergeuden!« Das ist in der Tat der Mann, der nicht sehr zärtlich um Popularität buhlt und sogar den Grundsatz aufgestellt hat, daß ein guter Minister unpopulär sein müsse. Er hat nie der Menge gefallen wollen, sogar nicht in jenen Tagen der Restauration, wo er als gelehrter Volkstribun am herrlichsten gefeiert wurde. Als er in der Sorbonne seine denkwürdigen Vorlesungen hielt und der Beifall der Jugend sich ein bißchen allzu stürmisch äußerte, dämpfte er selber diesen huldigenden Lärm, mit den strengen Worten: »Meine Herren, auch im Enthusiasmus muß die Ordnung vorwalten!« Ordnungsliebe ist überhaupt ein vorstechender Zug des Guizotschen Charakters, und schon aus diesem Grunde wirkte sein Ministerium sehr wohltätig in die Konfusion der Gegenwart. Man hat ihn wegen dieser Ordnungsliebe nicht selten der Pedanterei beschuldigt, und ich gestehe, der schroffe Ernst seiner Erscheinung wird gemildert [391] durch eine gewisse anklebende gelehrte Magisterhaftigkeit, die an unsre deutsche Heimat, besonders an Göttingen, erinnert. Er ist ebensowenig reaktionär, wie Hofrat Heeren, Tychsen oder Eichhorn solches gewesen – aber er wird nie erlauben, daß man die Pedelle prügle oder sich sonstig auf der Weenderstraße herumbalge und die Laternen zerschlage.
XXXV
Paris, 19. Mai 1841
Vorigen Sonnabend hielt diejenige Sektion des Institut Royal, welche sich Académie des sciences morales et politiques nennt, eine ihrer merkwürdigsten Sitzungen. Der Schauplatz war, wie gewöhnlich, jene Halle des Palais Mazarin, die durch ihre hohe Wölbung, sowie durch das Personal, das manchmal dort seinen Sitz nimmt, so oft an die Kuppel des Invalidendoms erinnerte. In der Tat, die andern Sektionen des Instituts, die dort ihre Vorträge halten, zeugen nur von greisenhafter Ohnmacht, aber die obenerwähnte Académie des sciences morales et politiques macht eine Ausnahme und trägt den Charakter der Frische und Kraft. Es herrscht in dieser letzten Sektion ein großartiger Sinn, während die Einrichtung und der Gesamtgeist des Institut Royal sehr kleinlich ist. Ein Witzling bemerkte sehr richtig: »Diesmal ist der Teil größer als das Ganze.« In der Versammlung vom vorigen Sonnabend atmete eine ganz besonders jugendliche Regung: Cousin, welcher präsidierte, sprach mit jenem mutigen Feuer, das manchmal nicht sehr wärmt, aber immer leuchtet; und gar Mignet, welcher das Gedächtnis des verstorbenen Merlin de Douai, des berühmten Juristen und Konventglieds, zu feiern hatte, sprach so blühend schön, wie er selbst aussieht. Die Damen, die den Sitzungen der Section des sciences morales et politiques immer in großer Anzahl beiwohnen, wenn ein Vortrag des schönen Secrétaire perpétuel angekündigt ist, kommen dorthin vielleicht mehr, um zu sehen, als um zu hören, und da viele darunter sehr hübsch sind, so wirkt ihr Anblick manchmal störend auf die [392] Zuhörer. Was mich betrifft, so fesselte mich diesmal der Gegenstand der Mignetschen Rede ganz ausschließlich, denn der berühmte Geschichtschreiber der Revolution sprach wieder über einen der wichtigsten Führer der großen Bewegung, welche das bürgerliche Leben der Franzosen umgestaltet, und jedes Wort war hier ein Resultat interessanter Forschung. Ja, das war die Stimme des Geschichtschreibers, des wirklichen Chefs von Klios Archiven, und es schien, als hielt er in den Händen jene ewigen Tabletten, worin die strenge Göttin bereits ihre Urteilssprüche eingezeichnet. Nur in der Wahl der Ausdrücke und in der mildernden Betonung bekundete sich manchmal die traditionelle Lobpflicht des Akademikers. Und dann ist Mignet auch Staatsmann, und mit kluger Scheu mußten die Tagesverhältnisse berücksichtigt werden bei der Besprechung der jüngsten Vergangenheit. Es ist eine bedenkliche Aufgabe, den überstandenen Sturm zu beschreiben, während wir noch nicht in den Hafen gelangt sind. Das französische Staatsschiff ist vielleicht noch nicht so wohl geborgen, wie der gute Mignet meint. Unfern vom Redner, auf einer der Bänke mir gegenüber, sah ich Herrn Thiers, und sein Lächeln war für mich sehr bedeutungsvoll bei denjenigen Stellen, wo Mignet mit allzu großer Behagnis von der definitiven Begründung der modernen Zustände sprach: so lächelt Äolus, wenn Daphnis am windstillen Ufer des Meeres die friedliche Flöte bläst!
Die ganze Rede von Mignet dürfte Ihnen in kurzem gedruckt zu Gesicht kommen, und die Fülle des Inhalts wird Sie alsdann gewiß erfreuen; aber nimmermehr kann die bloße Lektüre den lebendigen Vortrag ersetzen, der, wie eine tiefsinnige Musik, im Zuhörer eine Reihenfolge von Ideen anregt. So klingt mir noch beständig im Gedächtnis eine Bemerkung, die der Redner in wenigen Worten hinwarf und die dennoch fruchtbar an wichtigen Gedanken ist. Er bemerkte nämlich, wie ersprießlich es sei, daß das neue Gesetzbuch der Franzosen von Männern abgefaßt worden, die aus den wilden Drangsalen der größten Staatsumwälzung soeben hervorgegangen und folglich die menschlichen Passionen und zeitlichen Bedürfnisse gründlichst [393] kennengelernt hatten. Ja, beachten wir diesen Umstand, so will es uns bedünken, als begünstigte derselbe ganz besonders die jetzige französische Legislation, als verliehe er einen ganz außerordentlichen Wert jenem Code Napoléon und dessen Kommentarien, welche nicht wie andere Rechtsbücher von müßigen und kühlen Kasuisten angefertigt sind, sondern von glühenden Menschheitsrettern, die alle Leidenschaften in ihrer Nacktheit gesehen und in die Schmerzen aller neuern Lebensfragen durch die Tat eingeweiht worden. Von dem Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung hat die philosophische Schule in Deutschland ebenso unrichtige Begriffe wie die historische; erstere ist tot, und letztere hat noch nicht gelebt.
Die Rede, womit Victor Cousin vorigen Sonnabend die Sitzung der Akademie eröffnete, atmete einen Freiheitssinn, den wir immer mit Freude bei ihm anerkennen werden. Er ist übrigens in diesen Blättern von einem unsrer Kollegen so reichlich gelobhudelt worden, daß er vorderhand dessen genug haben dürfte. Nur soviel wollen wir erwähnen, daß der Mann, den wir früherhin nicht sonderlich liebten, uns in der letzten Zeit zwar keine währliche Zuneigung, aber eine bessere Anerkennung einflößte. Armer Cousin, wir haben dich früherhin sehr malträtiert, dich, der du immer für uns Deutsche so liebreich und freundlich warest. Sonderbar, eben während der treue Zögling der deutschen Schule, der Freund Hegels, unser Victor Cousin, in Frankreich Minister war, brach in Deutschland gegen die Franzosen jener blinde Groll los, der jetzt allmählich schwindet und vielleicht einst unbegreiflich sein wird. Ich erinnere mich, zu jener Zeit, vorigen Herbst, begegnete ich Herrn Cousin auf dem Boulevard des Italiens, wo er vor einem Kupferstichladen stand und die dort ausgestellten Bilder von Overbeck bewunderte. Die Welt war aus ihren Angeln gerissen, der Kanonendonner von Beirut, wie eine Sturmglocke, weckte alle Kampflust des Orients und des Okzidents, die Pyramiden Ägyptens zitterten, diesseits und jenseits des Rheins wetzte man die Säbel – und Victor Cousin, damaliger Minister von Frankreich, stand ruhig vor dem Bilderladen des [394] Boulevard des Italiens und bewunderte die stillen, frommen Heiligenköpfe von Overbeck und sprach mit Entzücken von der Vortrefflichkeit deutscher Kunst und Wissenschaft, von unserem Gemüt und Tiefsinn, von unserer Gerechtigkeitsliebe und Humanität. »Aber um des Himmels willen«, unterbrach er sich plötzlich, wie aus einem Traum erwachend, »was bedeutet die Raserei, womit ihr in Deutschland jetzt plötzlich gegen uns schreit und lärmt?« Er konnte diese Berserkerwut nicht begreifen, und auch ich begriff nichts davon, und Arm in Arm über den Boulevard hinwandelnd, erschöpften wir uns in lauter Konjekturen über die letzten Gründe jener Feindseligkeit, bis wir an das Passage des Panoramas gelangten, wo Cousin mich verließ, um sich bei Marquis ein Pfund Schokolade zu kaufen.
Ich konstatiere mit besonderer Vorliebe die kleinsten Umstände, welche von der Sympathie zeugen, die ich in betreff Deutschlands bei den französischen Staatsmännern finde. Daß wir dergleichen bei Guizot antreffen, ist leicht erklärlich, da seine Anschauungsweise der unsrigen verwandt ist und er die Bedürfnisse und das gute Recht des deutschen Volks sehr gründlich begreift. Dieses Verständnis versöhnt ihn vielleicht auch mit unsern beiläufigen Verkehrtheiten: die Worte »Tout comprendre, c'est tout pardonner« las ich dieser Tage auf dem Petschaft einer schönen Dame. Guizot mag immerhin, wie man behauptet, von puritanischem Charakter sein, aber er begreift auch Andersfühlende und Andersdenkende. Sein Geist ist auch nicht poesiefeindlich eng und dumpf: dieser Puritaner war es, welcher den Franzosen eine Übersetzung des Shakespeare gab, und als ich vor mehren Jahren über den britischen Dichterkönig schrieb, wußte ich den Zauber seiner phantastischen Komödien nicht besser zu erörtern, als indem ich den Kommentar jenes Puritaners, des Stutzkopfs Guizot, wörtlich mitteilte.
Sonderbar! das kriegerische Ministerium vom 1. März, das jenseits des Rheines so verschrien ward, bestand zum größten Teil aus Männern, welche Deutschland mit dem treuesten Eifer verehrten und liebten. Neben jenem Victor Cousin, welcher begriffen, daß bei Immanuel Kant die beste Kritik der reinen [395] Vernunft und bei Marquis die beste Schokolade zu finden, saß damals im Ministerrate Hr. v. Rémusat, der ebenfalls dem deutschen Genius huldigte und ihm ein besonderes Studium widmete. Schon in seiner Jugend übersetzte er mehrere deutsche dramatische Dichtungen, die er im »Théâtre étranger« abdrucken ließ. Dieser Mann ist ebenso geistreich wie ehrlich, er kennt die Gipfel und die Tiefen des deutschen Volkes, und ich bin überzeugt, er hat von dessen Herrlichkeit einen höhern Begriff als sämtliche Komponisten des Beckerschen Lieds, wo nicht gar als der große Niklas Becker selbst! – Was uns in der jüngsten Zeit besonders gut an Rémusat gefiel, war die unumwundene Weise, womit er den guten Leumund eines edlen Waffenbruders gegen verleumderische Insinuationen verteidigte.
XXXVI
Paris, 22. Mai 1841
Die Engländer hier schneiden sehr besorgliche Gesichter. »Es geht schlecht, es geht schlecht«, das sind die ängstlichen Zischlaute, die sie einander zuflüstern, wenn sie sich bei Galignani begegnen. Es hat in der Tat den Anschein, als wackle der ganze großbritannische Staat und sei dem Umsturz nahe, aber es hat nur den Anschein. Dieser Staat gleicht dem Glockenturm von Pisa: seine schiefe Stellung ängstigt uns, wenn wir hinaufblicken, und der Reisende eilt mit rascheren Schritten über den Domhof, fürchtend, der große Turm machte ihm unversehens auf den Kopf fallen. Als ich zur Zeit Cannings in London war und den wilden Meetings des Radikalismus beiwohnte, glaubte ich, der ganze Staatsbau stürze jetzt zusammen. Meine Freunde, welche England während der Aufregung der Reformbill besuchten, wurden dort von demselben Angstgefühl ergriffen. Andere, die dem Schauspiel der O'Connellschen Umtriebe und des katholischen Emanzipationslärms beiwohnten, empfanden ähnliche Beängstigung. Jetzt sind es die Korngesetze, welche einen so bedrohlichen Staatsuntergangssturm veranlassen – aber fürchte dich nicht, Sohn Albions:
[396]Kracht's auch, bricht's doch nicht,
Bricht's auch, bricht's nicht mit dir!
Hier zu Paris herrscht in diesem Augenblick große Stille. Man wird es nachgerade müde, beständig von den falschen Briefen des Königs zu sprechen, und eine erfrischende Diversion gewährte uns die Entführung der spanischen Infantin durch Ignaz Gurowski, einen Bruder jenes famosen Adam Gurowski, dessen Sie sich vielleicht noch erinnern. Vorigen Sommer war Freund Ignaz in Mademoiselle Rachel verliebt; da ihm aber der Vater derselben, der von sehr guter jüdischer Familie ist, seine Tochter verweigerte, so machte er sich an die Prinzessin Isabella Fernanda von Spanien. Alle Hofdamen beider Kastilien, ja des ganzen Universums, werden die Hände vor Entsetzen über den Kopf zusammenschlagen: jetzt begreifen sie endlich, daß die alte Welt des traditionellen Respektes ein Ende hat!
XXXVII
Paris, 11. Dezember 1841
Jetzt, wo das Neujahr herannaht, der Tag der Geschenke, überbieten sich hier die Kaufmannsläden in den mannigfaltigsten Ausstellungen. Der Anblick derselben kann dem müßigen Flaneur den angenehmsten Zeitvertreib gewähren; ist sein Hirn nicht ganz leer, so steigen ihm auch manchmal Gedanken auf, wenn er hinter den blanken Spiegelfenstern die bunte Fülle der ausgestellten Luxus- und Kunstsachen betrachtet und vielleicht auch einen Blick wirft auf das Publikum, das dort neben ihm steht. Die Gesichter dieses Publikums sind so häßlich ernsthaft und leidend, so ungeduldig und drohend, daß sie einen unheimlichen Kontrast bilden mit den Gegenständen, die sie begaffen, und uns die Angst anwandelt, diese Menschen möchten einmal mit ihren geballten Fäusten plötzlich dreinschlagen und all das bunte, klirrende Spielzeug der vornehmen Welt mitsamt dieser vornehmen Welt selbst gar jämmerlich zertrümmern! Wer kein großer Politiker ist, sondern ein gewöhnlicher [397] Flaneur, der sich wenig kümmert um die Nuance Dufaure und Passy, sondern um die Miene des Volks auf den Gassen, dem wird es zur festen Überzeugung, daß früh oder spät die ganze Bürgerkomödie in Frankreich mitsamt ihren parlamentarischen Heldenspielern und Komparsen ein ausgezischt schreckliches Ende nimmt und ein Nachspiel aufgeführt wird, welches das Kommunistenregiment heißt! Von langer Dauer freilich kann dieses Nachspiel nicht sein; aber es wird um so gewaltiger die Gemüter erschüttern und reinigen, es wird eine echte Tragödie sein.
Die letzten politischen Prozesse dürften manchem die Augen öffnen, aber die Blindheit ist gar zu angenehm. Auch will keiner an die Gefahren erinnert werden, die ihm die süße Gegenwart verleiden können. Deshalb grollen sie alle jenem Manne, dessen strenges Auge am tiefsten hinabblickt in die Schreckensnächte der Zukunft und dessen hartes Wort vielleicht manchmal zur Unzeit, wenn wir eben beim fröhlichsten Mahle sitzen, an die allgemeine Bedrohnis erinnert. Sie grollen alle jenem armen Schulmeister Guizot. Sogar die sogenannten Konservativen sind ihm abhold, zum größten Teil, und in ihrer Verblendung glauben sie ihn durch einen Mann ersetzen zu können, dessen heiteres Gesicht und gefällige Rede sie minder schreckt und ängstigt. Ihr konservativen Toren, die ihr nichts imstande seid zu konservieren als eben eure Torheit, ihr solltet diesen Guizot wie euren Augapfel schonen; ihr solltet ihm die Mücken abwedeln, die radikalen sowohl wie die legitimen, um ihn bei guter Laune zu erhalten; ihr solltet ihm auch manchmal Blumen schicken ins Hôtel des Capucines, aufheiternde Blumen, Rosen und Veilchen, statt ihm durch tägliches Nergeln dieses Logis zu verleiden oder gar ihn hinauszuintrigieren. An eurer Stelle hätte ich immer Angst, er möchte den glänzenden Quälnissen seines Ministerplatzes plötzlich entspringen und sich wieder hinaufretten in sein stilles Gelehrtenstübchen der Rue L'Évêque, wo er einst so idyllisch glücklich lebte unter seinen schafledernen und kalbledernen Büchern.
Ist aber Guizot wirklich der Mann, der imstande wäre, das [398] hereinbrechende Verderben abzuwenden? Es vereinigen sich in der Tat bei ihm die sonst getrennten Eigenschaften der tiefsten Einsicht und des festen Willens er würde mit einer antiken Unerschütterlichkeit allen Stürmen Trotz bieten und mit modernster Klugheit die schlimmen Klippen vermeiden – aber der stille Zahn der Mäuse hat den Boden des französischen Staatsschiffes allzusehr durchlöchert, und gegen diese innere Not, die weit bedenklicher als die äußere, wie Guizot sehr gut begriffen, ist er unmächtig. Hier ist die Gefahr. Die zerstörenden Doktrinen haben in Frankreich zu sehr die unteren Klassen ergriffen – es handelt sich nicht mehr um Gleichheit der Rechte, sondern um Gleichheit des Genusses auf dieser Erde, und es gibt in Paris etwa 400000 rohe Fäuste, welche nur des Losungswortes harren, um die Idee der absoluten Gleichheit zu verwirklichen, die in ihren rohen Köpfen brütet. Von mehren Seiten hört man, der Krieg sei ein gutes Ableitungsmittel gegen solchen Zerstörungsstoff. Aber hieße das nicht Satan durch Beelzebub beschwören? Der Krieg würde nur die Katastrophe beschleunigen und über den ganzen Erdboden das Übel verbreiten, das jetzt nur an Frankreich nagt; – die Propaganda des Kommunismus besitzt eine Sprache, die jedes Volk versteht: die Elemente dieser Universalsprache sind so einfach wie der Hunger, wie der Neid, wie der Tod. Das lernt sich so leicht!
Doch laßt uns dieses trübe Thema verlassen und wieder zu den heitern Gegenständen übergehen, die hinter den Spiegelfenstern auf der Rue Vivienne oder den Boulevards ausgestellt sind. Das funkelt, das lacht und locht! Keckes Leben, ausgesprochen in Gold, Silber, Bronze, Edelstein, in allen möglichen Formen, namentlich in den Formen aus der Zeit der Renaissance, deren Nachbildung in diesem Augenblick eine herrschende Mode. Woher die Vorliebe für diese Zeit der Renaissance, der Wiedergeburt oder vielmehr der Auferstehung, wo die antike Welt gleichsam aus dem Grabe stieg, um dem sterbenden Mittelalter seine letzten Stunden zu verschönen? Empfindet unsre Jetztzeit eine Wahlverwandtschaft mit jener Periode, [399] die, ebenso wie wir, in der Vergangenheit eine verjüngende Quelle suchte, lechzend nach frischem Lebenstrank? Ich weiß nicht, aber jene Zeit Franz' I. und seiner Geschmacksgenossen übt auf unser Gemüt einen fast schauerlichen Zauber, wie Erinnerung von Zuständen, die wir im Traum durchlebt; und dann liegt ein ungemein origineller Reiz in der Art und Weise, wie jene Zeit das wiedergefundene Altertum in sich zu verarbeiten wußte. Hier sehen wir nicht, wie in der Davidschen Schule, eine akademisch trockene Nachahmung der griechischen Plastik, sondern eine flüssige Verschmelzung derselben mit dem christlichen Spiritualismus. In den Kunst- und Lebensgestaltungen, die der Vermählung jener heterogensten Elemente ihr abenteuerliches Dasein verdankten, liegt ein so süßer melancholischer Witz, ein so ironischer Versöhnungskuß, ein blühender Übermut, ein elegantes Grauen, das uns unheimlich bezwingt, wir wissen nicht wie.
Doch wie wir heute die Politik den Kannegießern von Profession überlassen, so überlassen wir den patentierten Historikern die genauere Nachforschung, in welchem Grad unsere Zeit mit der Zeit der Renaissance verwandt ist; und als echte Flaneurs wollen wir auf dem Boulevard Montmartre vor einem Bilde stehenbleiben, das dort die Herren Goupil und Rittner ausgestellt haben und das gleichsam als der Kupferstichlöwe der Saison alle Blicke auf sich zieht. Es verdient in der Tat diese allgemeine Aufmerksamkeit: es sind »Die Fischer« von Léopold Robert, die dieser Kupferstich darstellt. Seit Jahr und Tag erwartete man denselben, und er ist gewiß eine köstliche Weihnachtsgabe für das große Publikum, dem das Originalbild unbekannt geblieben. Ich enthalte mich aller detaillierten Beschreibung dieses Werks, da es in kurzem ebenso bekannt sein wird wie die »Schnitter« desselben Malers, wozu es ein sinnreiches und anmutiges Seitenstück bildet. Wie dieses berühmte Bild eine sommerliche Kampagne darstellt, wo römische Landleute gleichsam auf einem Siegeswagen mit ihrem Erntesegen heimziehen, so sehen wir hier, auf dem letzten Bild von Robert, als schneidendsten Gegensatz, den kleinen winterlichen [400] Hafen von Chioggia und arme Fischerleute, die, um ihr kärgliches Tagesbrot zu gewinnen, trotz Wind und Wetter sich eben anschicken zu einer Ausfahrt ins Adriatische Meer. Weib und Kind und die alte Großmutter schauen ihnen nach mit schmerzlicher Resignation – gar rührende Gestalten, bei deren Anblick allerlei polizeiwidrige Gedanken in unserm Herzen laut werden. Diese unseligen Menschen, die Leibeigenen der Armut, sind zu lebenslänglicher Mühsal verdammt und verkümmern in harter Not und Betrübnis. Ein melancholischer Fluch ist hier gemalt, und der Maler, sobald er das Gemälde vollendet hatte, schnitt er sich die Kehle ab. Armes Volk! armer Robert! – Ja, wie die »Schnitter« dieses Meisters ein Werk der Freude sind, das er im römischen Sonnenlicht der Liebe empfangen und ausgeführt hat, so spiegeln sich in seinen »Fischern« alle die Selbstmordgedanken und Herbstnebel, die sich, während er in der zerstörten Venezia hauste, über seine Seele lagerten. Wie uns jenes erstere Bild befriedigt und entzückt, so erfüllt uns dieses letztere mit empörungssüchtigem Unmut: dort malte Robert das Glück der Menschheit, hier malte er das Elend des Volks.
Ich werde nie den Tag vergessen, wo ich das Originalgemälde, »Die Fischer« von Robert, zum ersten Male sah. Wie ein Blitzstrahl aus unumwölktem Himmel hatte uns plötzlich die Nachricht seines Todes getroffen, und da jenes Bild, welches gleichzeitig anlangte, nicht mehr im bereits eröffneten Salon ausgestellt werden konnte, faßte der Eigentümer, Herr Paturle, den löblichen Gedanken, eine besondere Ausstellung desselben zum Besten der Armen zu veranstalten. Der Maire des zweiten Arrondissements gab dazu sein Lokal, und die Einnahme, wenn ich nicht irre, betrug über sechzehntausend Franken. (Mögen die Werke aller Volksfreunde so praktisch nach ihrem Tode fortwirken!) Ich erinnere mich, als ich die Treppe der Mairie hinaufstieg, um zu dem Expositionszimmer zu gelangen, las ich auf einer Nebentüre die Aufschrift: Bureau des décès. Dort im Saale standen sehr viele Menschen vor dem Bilde versammelt, keiner sprach, es herrschte eine ängstliche, [401] dumpfe Stille, als läge hinter der Leinwand der blutige Leichnam des toten Malers. Was war der Grund, weshalb er sich eigenhändig den Tod gab, eine Tat, die im Widerspruch war mit den Gesetzen der Religion, der Moral und der Natur, heiligen Gesetzen, denen Robert sein ganzes Leben hindurch so kindlich Gehorsam leistete? Ja, er war erzogen im schweizerisch strengen Protestantismus, er hielt fest an diesem väterlichen Glauben mit unerschütterlicher Treue, und von religiösem Skeptizismus oder gar Indifferentismus war bei ihm keine Spur. Auch ist er immer gewissenhaft gewesen in der Erfüllung seiner bürgerlichen Pflichten, ein guter Sohn, ein guter Wirt, der seine Schulden bezahlte, der allen Vorschriften des Anstandes genügte, Rock und Hut sorgsam bürstete, und von Immoralität kann ebenfalls bei ihm nicht die Rede sein. An der Natur hing er mit ganzer Seele, wie ein Kind an der Brust der Mutter; sie tränkte sein Talent und offenbarte ihm alle ihre Herrlichkeiten, und, nebenbei gesagt, sie war ihm lieber als die Tradition der Meister: ein überschwengliches Versinken in den süßen Wahnwitz der Kunst, ein unheimliches Gelüste nach Traumweltgenüssen, ein Abfall von der Natur, hat also ebenfalls den vortrefflichen Mann nicht in den Tod gelockt. Auch waren seine Finanzen wohlbestellt, er war geehrt, bewundert und sogar gesund. Was war es aber? Hier in Paris ging einige Zeit die Sage, eine unglückliche Leidenschaft für eine vornehme Dame in Rom habe jenen Selbstmord veranlaßt. Ich kann nicht daran glauben. Robert war damals achtunddreißig Jahre alt, und in diesem Alter sind die Ausbrüche der großen Passion zwar sehr furchtbar, aber man bringt sich nicht um, wie in der frühen Jugend, in der unmännlichen Werther-Periode.
Was Robert aus dem Leben trieb, war vielleicht jenes entsetzlichste aller Gefühle, wo ein Künstler das Mißverhältnis entdeckt, das zwischen seiner Schöpfungslust und seinem Darstellungsvermögen stattfindet: dieses Bewußtsein der Unkraft ist schon der halbe Tod, und die Hand hilft nur nach, um die Agonie zu verkürzen. Wie brav und herrlich auch die Leistungen [402] Roberts, so waren sie doch gewiß nur blasse Schatten jener blühenden Naturschönheiten, die seiner Seele vorschwebten, und ein geübtes Auge entdeckte leicht ein mühsames Ringen mit dem Stoff, den er nur durch die verzweiflungsvollste Anstrengung bewältigte. Schön und fest sind alle diese Robertschen Bilder, aber die meisten sind nicht frei, es weht darin nicht der unmittelbare Geist: sie sind komponiert. Robert hatte eine gewisse Ahnung von genialer Größe, und doch war sein Geist gebannt in kleinen Rahmen. Nach dem Charakter seiner Erzeugnisse zu urteilen, sollte man glauben, er sei Enthusiast gewesen für Raffael Sanzio von Urbino, den idealen Schönheitsengel – nein, wie seine Vertrauten versichern, war es vielmehr Michelangelo Buonarroti, der stürmische Titane, der wilde Donnergott des Jüngsten Gerichts, für den er schwärmte, den er anbetete. Der wahre Grund seines Todes war der bittere Unmut des Genremalers, der nach großartigster Historienmalerei lechzte – er starb an einer Lakune seines Darstellungsvermögens.
Der Kupferstich von den »Fischern«, den die Herren Goupil und Rittner jetzt ausgestellt haben, ist vortrefflich, in bezug auf das Technische: ein wahres Meisterstück, weit vorzüglicher als der Stich der »Schnitter«, der vielleicht mit zu großer Hast verfertigt worden. Aber es fehlt ihm der Charakter der Ursprünglichkeit, der uns bei den »Schnittern« so vollselig entzückt und der vielleicht dadurch entstand, daß dieses Gemälde aus einer einzigen Anschauung, sei es eine äußere oder innere, gleichviel, hervorgegangen und derselben mit großer Treue nachgebildet ist. Die »Fischer« hingegen sind zu sehr komponiert, die Figuren sind mühsam zusammengesucht, nebeneinander gestellt, inkommodieren sich wechselseitig mehr, als sie sich ergänzen, und nur durch die Farbe ist das Verschiedenartige im Originalgemälde ausgeglichen und erhielt das Bild den Schein der Einheit. Im Kupferstich, wo die Farbe, die bunte Vermittlung, fehlt, fallen natürlicherweise die äußerlich verbundenen Teile wieder auseinander, es zeigt sich Verlegenheit und Stückwerk, und das Ganze ist kein Ganzes mehr. »Es ist [403] ein Zeichen von Raffaels Größe«, sagte mir jüngst ein Kollege, »daß seine Gemälde im Kupferstich nichts von ihrer Harmonie verlieren. Ja, selbst in den dürftigsten Nachbildungen, allen Kolorits, wo nicht gar aller Schattierung entkleidet, in ihren nackten Konturen, bewahren die Raffaelschen Werke jene harmonische Macht, die unser Gemüt bewegt. Das kommt daher, weil sie echte Offenbarungen sind, Offenbarungen des Genius, der, eben wie die Natur, schon in den bloßen Umrissen das Vollendete gibt.«
Ich will mein Urteil über die Robertschen »Fischer« resümieren: es fehlt ihnen die Einheit, und nur die Einzelnheiten, namentlich das junge Weib mit dem kranken Kinde, verdienen das höchste Lob. Zur Unterstützung meines Urteils berufe ich mich auf die Skizze, worin Robert gleichsam seinen ersten Gedanken ausgesprochen: hier, in der ursprünglichen Konzeption, herrscht jene Harmonie, die dem ausgeführten Bilde fehlt, und wenn man sie mit diesem vergleicht, merkt man gewiß, wie der Maler seinen Geist lange Zeit gezerrt und abgemüdet haben muß, ehe er das Gemälde in seiner jetzigen Gestalt zustande brachte.
XXXVIII
Paris, den 19. Dezember 1841
Wird sich Guizot halten? Heiliger Gott, hierzuland hält sich niemand auf die Länge, alles wackelt, sogar der Obelisk von Luxor! Das ist keine Hyperbel, sondern buchstäbliche Wahrheit; schon seit mehren Monaten geht hier die Rede, der Obelisk stehe nicht fest auf seinem Postament, er schwanke zuweilen hin und her, und eines frühen Morgens werde er den Leuten, die eben vorüberwandeln, auf die Köpfe purzeln. Die Ängstlichen suchen schon jetzt, wenn ihr Weg sie über die Place Louis-Quinze führt, sich etwas entfernt zu halten von der fallenden Größe. Die Mutigern lassen sich freilich nicht in ihrem gewöhnlichen Gange stören, weichen keinen Fingerbreit, können aber doch nicht umhin, im Vorübergehen ein [404] bißchen hinaufzuschielen, ob der große Stein wirklich nicht wackelmütig geworden. Wie dem auch sei, es ist immer schlimm, wenn das Publikum Zweifel hegt über die Festigkeit der Dinge; mit dem Glauben an ihre Dauer schwindet schon ihre beste Stütze. Wird er sich halten? Jedenfalls glaub ich, daß er sich die nächste Sitzung hindurch halten wird, sowohl der Obelisk als Guizot, der mit jenem eine gewisse Ähnlichkeit hat, z.B. die, daß er ebenfalls nicht auf seinem rechten Platze steht. Ja, sie stehen beide nicht auf ihrem rechten Platz, sie sind herausgerissen aus ihrem Zusammenhang, ungestüm verpflanzt in eine unpassende Nachbarschaft. Jener, der Obelisk, stand einst vor den lotosknäufigen Riesensäulen am Eingang des Tempels von Luxor, welcher wie ein kolossaler Sarg aussieht und die ausgestorbene Weisheit der Vorwelt, getrocknete Königsleichen, einbalsamierten Tod enthält. Neben ihm stand ein Zwillingsbruder von demselben roten Granit und derselben pyramidalischen Gestalt, und ehe man zu diesen beiden gelangte, schritt man durch zwei Reihen Sphinxe, stumme Rätseltiere, Bestien mit Menschenköpfen, ägyptische Doktrinäre. In der Tat, solche Umgebung war für den Obelisken weit geeigneter als die, welche ihm auf der Place Louis-Quinze zuteil ward, dem modernsten Platz der Welt, dem Platz, wo eigentlich die moderne Zeit angefangen und von der Vergangenheit gewaltsam abgeschnitten wurde mit frevelhaftem Beil. – Zittert und wackelt vielleicht wirklich der große Obelisk, weil es ihm graut, sich auf solchem gottlosen Boden zu befinden, er, der gleichsam ein steinerner Schweizer in Hieroglyphenlivree jahrtausendelang Wache hielt vor den heiligen Pforten der Pharaonengräber und des absoluten Mumientums? Jedenfalls steht er dort sehr isoliert, fast komisch isoliert, unter lauter theatralischen Architekturen der Neuzeit, Bildwerken im Rokokogeschmack, Springbrunnen mit vergoldeten Najaden, allegorischen Statuen der französischen Flüsse, deren Piedestal eine Portierloge enthält, in der Mitte zwischen dem Arc de triomphe, den Tuilerien und der Chambre des députés – ungefähr wie der sazerdotal tiefsinnige, ägyptisch [405] steife und schweigsame Guizot zwischen dem imperialistisch rohen Soult, dem merkantilisch flachköpfigen Human und dem hohlen Schwätzer Villemain, der halb voltairisch und halb katholisch angestrichen ist und in jedem Fall einen Strich zuviel hat.
Doch laßt uns Guizot beiseite setzen und nur von dem Obelisken reden: es ist ganz wahr, daß man von seinem baldigen Sturze spricht. Es heißt: im stillen Sonnenbrand am Nil, in seiner heimatlichen Ruhe und Einsamkeit, hätte er noch Jahrtausende aufrecht stehenbleiben können, aber hier in Paris agitierte ihn der beständige Wetterwechsel, die fieberhaft aufreibende, anarchische Atmosphäre, der unaufhörlich wehende feuchtkalte Kleinwind, welcher die Gesundheit weit mehr angreift als der glühende Samum der Wüste; kurz, die Pariser Luft bekomme ihm schlecht. Der eigentliche Rival des Obelisken von Luxor ist noch immer die Colonne Vendôme. Steht sie sicher? Ich weiß nicht, aber sie steht auf ihrem rechten Platze, in Harmonie mit ihrer Umgebung. Sie wurzelt treu im nationalen Boden, und wer sich daran hält, hat eine feste Stütze. Eine ganz feste? Nein, hier in Frankreich steht nichts ganz fest. Schon einmal hat der Sturm das Kapital, den eisernen Kapitalmann, von der Spitze der Vendômesäule herabgerissen, und im Fall die Kommunisten ans Regiment kämen, dürfte wohl zum zweiten Male dasselbe sich ereignen, wenn nicht gar die radikale Gleichheitsraserei die Säule selbst zu Boden reißt, damit auch dieses Denkmal und Sinnbild der Ruhmsucht von der Erde schwinde: kein Mensch und kein Menschenwerk soll über ein bestimmtes Kommunalmaß hervorragen, und der Baukunst ebensogut wie der epischen Poesie droht der Untergang. »Wozu noch ein Monument für ehrgeizige Völkermörder«, hörte ich jüngst ausrufen bei Gelegenheit des Modellkonkurses für das Mausoleum des Kaisers, »das kostet das Geld des darbenden Volkes, und wir werden es ja doch zerschlagen, wenn der Tag kommt!« Ja, der tote Held hätte in St. Helena bleiben sollen, und ich will ihm nicht dafür stehen, daß nicht einst sein Grabmal zertrümmert und [406] seine Leiche in den schönen Fluß geschmissen wird, an dessen Ufern er so sentimental ruhen sollte, nämlich in die Seine! Thiers hat ihm als Minister vielleicht keinen großen Dienst geleistet.
Wahrlich, er leistet dem Kaiser einen größern Dienst als Historiker, und ein solideres Monument als die Vendômesäule und das projektierte Grabmal errichtet ihm Thiers durch das große Geschichtsbuch, woran er beständig arbeitet, wie sehr ihn auch die politischen Tageswehen in Anspruch nehmen. Nur Thiers hat das Zeug dazu, die große Historie des Napoleon Bonaparte zu schreiben, und er wird sie besser schreiben als diejenigen, die sich dazu besonders berufen glauben, weil sie treue Gefährten des Kaisers waren und sogar beständig mit seiner Person in Berührung standen. Die persönlichen Bekannten eines großen Helden, seine Mitkämpfer, seine Leibdiener, seine Kämmerer, Sekretäre, Adjutanten, vielleicht seine Zeitgenossen überhaupt, sind am wenigsten geeignet, seine Geschichte zu schreiben; sie kommen mir manchmal vor wie das kleine Insekt, das auf dem Kopf eines Menschen herumkriecht, ganz eigentlich in der unmittelbarsten Nähe seiner Gedanken verweilt, ihn überall begleitet und doch nie von seinem wahren Leben und der Bedeutung seiner Handlungen das mindeste ahnte.
Ich kann nicht umhin, bei dieser Gelegenheit auf einen Kupferstich aufmerksam zu machen, der in diesem Augenblick bei allen Kunsthändlern ausgehängt ist und den Kaiser darstellt nach einem Gemälde von Delaroche, welches derselbe für Lady Sandwich gemalt hat. Der Maler verfuhr bei diesem Bilde (wie in allen seinen Werken) als Eklektiker, und zur Anfertigung desselben benutzte er zunächst mehre unbekannte Porträte, die sich im Besitz der Bonapartischen Familie befinden, sodann die Maske des Toten, ferner die Details, die ihm über die Eigentümlichkeiten des kaiserlichen Gesichts von einigen Damen mitgeteilt worden, und endlich seine eignen Erinnerungen, da er in seiner Jugend mehrmals den Kaiser gesehen. Mein Urteil über dieses Bild kann ich hier nicht mitteilen,[407] da ich zugleich über die Art und Weise des Delaroche ausführlich reden müßte. Die Hauptsache habe ich bereits angedeutet: das eklektische Verfahren, welches eine gewisse äußere Wahrheit befördert, aber keinen tiefern Grundgedanken aufkommen läßt. – Dieses neue Porträt des Kaisers ist bei Goupil und Rittner erschienen, die fast alle bekannten Werke des Delaroche in Kupferstich herausgegeben. Sie gaben uns jüngst seinen Karl I., welcher im Kerker von den Soldaten und Schergen verhöhnt wird, und als Seitenstück erhielten wir im selben Format den Grafen Stafford, welcher, zur Richtstätte geführt, dem Gefängnisse vorbeikommt, wo der Bischof Law gefangensitzt und dem vorüberziehenden Grafen seinen Segen erteilt, wir sehen nur seine aus einem Gitterfenster hervorgestreckten zwei Hände, die wie hölzerne Wegweiser aussehen, recht prosaisch abgeschmackt. In derselben Kunsthandlung erschien auch des Delaroche großes Kabinettstück: der sterbende Richelieu, welcher mit seinen beiden Schlachtopfern, den zum Tode verurteilten Rittern Saint-Mars und de Thou, in einem Boote die Rhône hinabfährt. Die beiden Königskinder, die Richard III. im Tower ermorden läßt, sind das Anmutigste, was Delaroche gemalt und als Kupferstich in bemeldeter Kunsthandlung herausgegeben. In diesem Augenblick läßt dieselbe ein Bild von Delaroche stechen, welches Maria Antoinette im Tempelgefängnisse vorstellt; die unglückliche Fürstin ist hier äußerst ärmlich, fast wie eine Frau aus dem Volke gekleidet, was gewiß dem edlen Faubourg die legitimsten Tränen entlocken wird. Eins der Hauptrührungswerke von Delaroche, welches die Königin Jeanne Grey vorstellt, wie sie im Begriff ist, ihr blondes Köpfchen auf den Block zu legen, ist noch nicht gestochen und soll nächstens ebenfalls erscheinen. Seine Maria Stuart ist auch noch nicht gestochen. Wo nicht das Beste, doch gewiß das Effektvollste, was Delaroche geliefert, ist sein Cromwell, welcher den Sargdeckel aufhebt von der Leiche des enthaupteten Karl I., ein berühmtes Bild, worüber ich vor geraumer Zeit ausführlich berichtete. Auch der Kupferstich ist ein Meisterstück technischer [408] Vollendung. Eine sonderbare Vorliebe, ja Idiosynkrasie bekundet Delaroche in der Wahl seiner Stoffe. Immer sind es hohe Personen, die entweder hingerichtet werden oder wenigstens dem Henker verfallen. Herr Delaroche ist der Hofmaler aller geköpften Majestäten. Er kann sich dem Dienst solcher erlauchten Delinquenten niemals ganz entziehen, und sein Geist beschäftigt sich mit ihnen selbst bei Porträtierung von Potentaten, die auch ohne scharfrichterliche Beihilfe das Zeitliche segneten. So z.B. auf dem Gemälde seiner sterbenden Elisabeth von England sehen wir, wie die greise Königin sich verzweiflungsvoll auf dem Estrich wälzt, in dieser Todesstunde gequält von der Erinnerung an den Grafen Essex und Maria Stuart, deren blutige Schatten ihr stieres Auge zu erblicken scheint. Das Gemälde ist eine Zierde der Luxembourg-Galerie und ist nicht so schauderhaft banal oder banal schauderhaft wie die andern erwähnten historischen Genrebilder, Lieblingsstücke der Bourgeoisie, der wackern, ehrsamen Bürgersleute, welche die Überwindung der Schwierigkeiten für die höchste Aufgabe der Kunst halten, das Grausige mit dem Tragischen verwechseln und sich gern erbauen an dem Anblick gefallener Größe, im süßen Bewußtsein, daß sie vor dergleichen Katastrophen gesichert sind in der bescheidenen Dunkelheit einer arrière-boutique der Rue Saint-Denis.
XXXIX
Paris, 28. Dezember 1841
Von der eben eröffneten Deputiertenkammer erwarte ich nicht viel Erquickliches. Da werden wir nichts sehen als lauter Kleingezänke, Personenhader, Unmacht, wo nicht gar endliche Stockung. In der Tat, eine Kammer muß kompakte Parteimassen enthalten, sonst kann die ganze parlamentarische Maschine nicht fungieren. Wenn jeder Deputierte eine besondere, abweichende, isolierte Meinung zu Markte bringt, wird nie ein Votum gefällt werden, das man nur einigermaßen als Ausdruck eines Gesamtwillens betrachten könnte, und doch ist es [409] die wesentlichste Bedingung des Repräsentativsystems, daß ein solcher Gesamtwille sich beurkunde. Wie die ganze französische Gesellschaft, so ist auch die Kammer in so viele Spaltungen und Splitter zerfallen, daß hier keine zwei Menschen mehr in ihren Ansichten ganz übereinstimmen. Betrachte ich in dieser politischen Beziehung die jetzigen Franzosen, so erinnere ich mich immer der Worte unseres wohlbekannten Adam Gurowski, der den deutschen Patrioten jede Möglichkeit des Handelns absprach, weil unter zwölf Deutschen sich immer vierundzwanzig Parteien befänden: denn bei unserer Vielseitigkeit und Gewissenhaftigkeit im Denken habe jeder von uns auch die entgegengesetzte Ansicht mit allen Überzeugungsgründen in sich aufgenommen, und es befänden sich daher zwei Parteien in einer Person. Dasselbe ist jetzt bei den Franzosen der Fall. Wohin aber führt diese Zersplitterung, diese Auflösung aller Gedankenbande, dieser Partikularismus, dieses Erlöschen alles Gemeingeistes, welches der moralische Tod eines Volks ist? – Der Kultus der materiellen Interessen, des Eigennutzes, des Geldes, hat diesen Zustand bereitet. Wird dieser lange währen, oder wird wohl plötzlich eine gewaltige Erscheinung, eine Tat des Zufalls oder ein Unglück, die Geister in Frankreich wieder verbinden? Gott verläßt keinen Deutschen, aber auch keinen Franzosen, er verläßt überhaupt kein Volk, und wenn ein Volk aus Ermüdung oder Faulheit einschläft, so bestellt er ihm seine künftigen Wecker, die, verborgen in irgendeiner dunkeln Abgeschiedenheit, ihre Stunde erwarten, ihre aufrüttelnde Stunde. Wo wachen die Wecker? Ich habe manchmal darnach geforscht, und geheimnisvoll deutete man alsdann – auf die Armee! Hier in der Armee, heißt es, gebe es noch ein gewaltiges Nationalbewußtsein; hier, unter der dreifarbigen Fahne, hätten sich jene Hochgefühle hingeflüchtet, die der regierende Industrialismus vertreibe und verhöhne; hier blühe noch die genügsame Bürgertugend, die unerschrockene Liebe für Großtat und Ehre, die Flammenfähigkeit der Begeisterung; während überall Zwietracht und Fäulnis, lebe hier noch das gesündeste Leben, zugleich ein angewohnter [410] Gehorsam für die Autorität, jedenfalls bewaffnete Einheit – es sei gar nicht unmöglich, daß eines frühen Morgens die Armee das jetzige Bourgeoisieregiment, dieses zweite Direktorium, über den Haufen werfe und ihren achtzehnten Brumaire mache! – Also Soldatenwirtschaft wäre das Ende des Liedes, und die menschliche Gesellschaft bekäme wieder Einquartierung?
Die Verurteilung des Herrn Dupoty durch die Pairskammer entsprang nicht bloß aus greisenhafter Furcht, sondern aus jenem Erbgroll gegen die Revolution, der im Herzen vieler edlen Pairs heimlich nistet. Denn das Personal der erlauchten Versammlung besteht nicht aus lauter frischgebackenen Leuten der Neuzeit; man werfe nur einen Blick auf die Liste der Männer, die das Urteil gefällt, und man sieht mit Verwunderung, daß neben dem Namen eines imperialistischen oder philippistischen Emporkömmlings immer zwei bis drei Namen des alten Regimes sich geltend machen. Die Träger dieser Namen bilden also natürlicherweise die Majorität; und da sitzen sie auf den Sammetbänken des Luxembourg, alte guillotinierte Menschen mit wieder angenähten Köpfen, wonach sie jedesmal ängstlich tasten, wenn draußen das Volk murmelt – Gespenster, die jeden Hahn hassen und den gallischen am meisten, weil sie aus Erfahrung wissen, wie schnell sein Morgengeschrei ihrem ganzen Spuk ein Ende machen könnte –, und es ist ein entsetzliches Schauspiel, wenn diese unglücklichen Toten Gericht halten über Lebendige, über die jüngsten und verzweiflungsvollsten Kinder der Revolution, über jene verwahrlosten und enterbten Kinder, deren Elend ebenso groß ist wie ihr Wahnsinn, über die Kommunisten!
XL
Paris, 12. Januar 1842
Wir lächeln über die armen Lappländer, die, wenn sie an Brustkrankheit leiden, ihre Heimat verlassen und nach St. Petersburg reisen, um dort die milde Luft eines südlichen [411] Klimas zu genießen. Die algierschen Beduinen, die sich hier befinden, dürften mit demselben Recht über manche unsrer Landsleute lächeln, die ihrer Gesundheit wegen den Winter lieber in Paris zubringen als in Deutschland und sich einbilden, daß Frankreich ein warmes Land sei. Ich versichere Sie, es kann bei uns auf der Lüneburger Heide nicht kälter sein als hier in diesem Augenblick, wo ich Ihnen mit froststeifen Fingern schreibe. Auch in der Provinz muß eine bittere Kälte herrschen. Die Deputierten, welche jetzt rudelweise anlangen, erzählen nur von Schnee, Glatteis und umgestürzten Diligencen. Ihre Gesichter sind noch rot und verschnupft, ihr Gehirn eingefroren, ihre Gedanken neun Grad unter Null. Bei Gelegenheit der Adresse werden sie auftauen. Alles hat jetzt hier ein frostiges und ödes Ansehen. Nirgends Übereinstimmung bei den wichtigsten Fragen, und beständiger Windwechsel. Was man gestern wollte, heute will man's nicht mehr, und Gott weiß, was man morgen begehren wird. Nichts als Hader und Mißtrauen, Schwanken und Zersplitterung. König Philipp hat die Maxime seines mazedonischen Namensgenossen, das »Trenne und herrsche!«, bis zum schädlichsten Übermaß ausgeübt. Die zu große Zerteilung erschwert wieder die Herrschaft, zumal die konstitutionelle, und Guizot wird mit den Spaltungen und Zerfaserungen der Kammer seine liebe Not haben. Guizot ist noch immer der Schutz und Hort des Bestehenden. Aber die sogenannten Freunde des Bestehenden, die Konservativen, sind dessen wenig eingedenk, und sie haben bereits vergessen, daß noch vorigen Freitag in derselben Stunde »A bas Guizot!« und »Vive Lamennais!« gerufen worden! Für den Mann der Ordnung, für den großen Ruhestifter war es in der Tat ein indirekter Triumph, daß man ihn herab würdigte, um jenen schauderhaften Priester zu feiern, der den politischen Fanatismus mit dem religiösen vermählt und der Weltverwirrung die letzte Weihe erteilt. Armer Guizot, armer Schulmeister, armer Rector magnificus von Frankreich! dir bringen sie ein »Pereat«, diese Studenten, die weit besser täten, wenn sie deine Bücher studierten, worin soviel Belehrung [412] enthalten, soviel Tiefsinn, soviel Winke für das Glück der Menschheit! »Nimm dich in acht«, sagte einst ein Demagoge zu einem großen Patrioten, »wenn das Volk in Wahnsinn gerät, wird es dich zerreißen.« Und dieser antwortete: »Nimm dich in acht, denn dich wird das Volk zerreißen, wenn es wieder zur Vernunft kommt.« Dasselbe hätten wohl vorigen Freitag Lamennais und Guizot zueinander sagen können. Jener tumultuarische Auftritt sah bedenklicher aus, als die Zeitungen meldeten. Diese hatten ein Interesse, den Vorfall einigermaßen zu vertuschen, die ministeriellen sowohl als die Oppositionsblätter; letztere, weil jene Manifestation keinen sonderlichen Anklang im Volke fand. Das Volk sah ruhig zu und fror. Bei neun Grad Kälte ist kein Umsturz der Regierung in Paris zu befürchten. Im Winter gab es hier nie Emeuten. Seit der Bestürmung der Bastille bis auf die Revolte des Barbès hat das Volk immer seinen Unmut bis zu den wärmeren Sommermonden vertagt, wo das Wetter schön war und man sich mit Vergnügen schlagen konnte. –
XLI
Paris, 24. Januar 1842
In der parlamentarischen Arena sah man dieser Tage wieder einen glänzenden Zweikampf von Guizot und Thiers, jener zwei Männer, deren Namen in jedem Munde und deren unaufhörliche Besprechung nachgerade langweilig werden dürfte. Ich wundere mich, daß die Franzosen noch nicht darüber die Geduld verlieren, daß man seit Jahr und Tag, von Morgen bis Abend, beständig von diesen beiden Personen schwatzt Aber im Grunde sind es ja nicht Personen, sondern Systeme, von denen hier die Rede ist, Systeme, die überall zur Sprache kommen müssen, wo eine Staatsexistenz von außen bedroht ist, überall, in China so gut wie in Frankreich. Nur daß hier Thiers und Guizot genannt wird, was dort, in China, Lin und Keschen heißt. Ersterer ist der chinesische Thiers und repräsentiert das kriegerische System, welches die herandrohende Gefahr durch [413] die Gewalt der Waffen, vielleicht auch nur durch schreckendes Waffengeräusch, abwehren wollte. Keschen hingegen ist der chinesische Guizot, er repräsentiert das Friedenssystem, und es wäre ihm vielleicht gelungen, die rothaarigen Barbaren durch kluge Nachgiebigkeit wieder aus dem Lande hinauszukomplimentieren, wenn die Thierssche Partei in Peking nicht die Oberhand gewonnen hätte. Armer Keschen! eben weil wir so fern vom Schauplatze, konnten wir ganz klar einsehen, wie sehr du recht hattest, den Streitkräften des Mittelreichs zu mißtrauen, und wie ehrlich du es mit deinem Kaiser meintest, der nicht so vernünftig wie Ludwig Philipp! Ich habe mich recht gefreut, als dieser Tage die »Allgemeine Zeitung« berichtete, daß der vortreffliche Keschen nicht entzweigesägt worden, wie es früher hieß, sondern nur sein ungeheures Vermögen eingebüßt habe. Letzteres kann dem hiesigen Repräsentanten des Friedenssystems nimmermehr passieren; wenn er fällt, können nicht seine Reichtümer konfisziert werden – Guizot ist arm wie eine Kirchenmaus. Und auch unser Lin ist arm, wie ich bereits öfter erwähnt habe; ich bin überzeugt, er schreibt seine Kaisergeschichte hauptsächlich des Geldes wegen. Welch ein Ruhm für Frankreich, daß die beiden Männer, die alle seine Macht verwalteten, zwei arme Mandarinen sind, die nur in ihrem Kopfe ihre Schätze tragen!
Die letzten Reden dieser beiden haben Sie gelesen und fanden vielleicht darin manche Belehrung über die Wirrnisse, welche eine unmittelbare Folge der orientalischen Frage. – Was in diesem Augenblick besonders merkwürdig, ist die Milde der Russen, wo von Erhaltung des türkischen Reichs die Rede. Der eigentliche Grund aber ist, daß sie faktisch schon den größten Teil desselben besitzen. Die Türkei wird allmählich russisch ohne gewaltsame Okkupation. Die Russen befolgen hier eine Methode, die ich nächstens einmal beleuchten werde. Es ist ihnen um die reelle Macht zu tun, nicht um den bloßen Schein derselben, nicht um die byzantinische Titulatur. Konstantinopel kann ihnen nicht entgehen, sie verschlingen es, sobald es ihnen paßt. In diesem Augenblick aber paßt es[414] ihnen noch nicht, und sie sprechen von der Türkei mit einer süßlichen, fast herrenhutischen Friedfertigkeit. Sie mahnen mich an die Fabel von dem Wolf, welcher, als er Hunger hatte, sich eines Schafes bemächtigte. Er fraß mit gieriger Hast dessen beide Vorderbeine, jedoch die Hinterbeine des Tierleins verschonte er und sprach: »Ich bin jetzt gesättigt, und diesem guten Schafe, das mich mit seinen Vorderbeinen gespeiset hat, lasse ich aus Pietät alle seine übrigen Beine und den ganzen Rest seines Leibes.«
XLII
Paris, den 7. Februar 1842
»Wir tanzen hier auf einem Vulkan« – aber wir tanzen. Was in dem Vulkan gärt, kocht und brauset, wollen wir heute nicht untersuchen, und nur wie man darauf tanzt, sei der Gegenstand unserer Betrachtung. Da müssen wir nun zunächst von der Académie royale de musique reden, wo noch immer jenes ehrwürdige Corps de ballet existiert, das die choreographischen Überlieferungen treulich bewahrt und als die Pairie des Tanzes zu betrachten ist. Wie jene andere, die im Luxembourg residiert, zählt auch diese Pairie unter ihrem Personal gar viele Perücken und Mumien, über die ich mich nicht aussprechen will aus leicht begreiflicher Furcht. Das Mißgeschick des Herrn Perré, des Geranten des »Siècle«, der jüngst zu sechs Monaten Karzer und 10000 Franken verurteilt worden, hat mich gewitzigt. Nur von Carlotta Grisi will ich reden, die in der respektablen Versammlung der Rue Lepelletier gar wunderlieblich hervorstrahlt, wie eine Apfelsine unter Kartoffeln. Nächst dem glücklichen Stoff, der den Schriften eines deutschen Autors entlehnt, war es zumeist die Carlotta Grisi, die dem Ballett »Die Willi« eine unerhörte Vogue verschaffte. Aber wie köstlich tanzt sie! Wenn man sie sieht, vergißt man, daß Taglioni in Rußland und Elßler in Amerika ist, man vergißt Amerika und Rußland selbst, ja die ganze Erde, und man schwebt mit ihr empor in die hängenden Zaubergärten jenes [415] Geisterreichs, worin sie als Königin waltet. Ja, sie hat ganz den Charakter jener Elementargeister, die wir uns immer tanzend denken und von deren gewaltigen Tanzweisen das Volk soviel Wunderliches fabelt. In der Sage von den Willis ward jene geheimnisvolle, rasende, mitunter menschenverderbliche Tanzlust, die den Elementargeistern eigen ist, auch auf die toten Bräute übertragen; zu dem altheidnisch übermütigen Lustreiz des Nixen- und Elfentums gesellten sich noch die melancholisch wollüstigen Schauer, das dunkelsüße Grausen des mittelalterlichen Gespensterglaubens.
Entspricht die Musik dem abenteuerlichen Stoffe jenes Balletts? War Herr Adam, der die Musik geliefert, fähig, Tanzweisen zu dichten, die, wie es in der Volkssage heißt, die Bäume des Waldes zum Hüpfen und den Wasserfall zum Stillstehen zwingen? Herr Adam war, soviel ich weiß, in Norwegen, aber ich zweifle, ob ihm dort irgendein runenkundiger Zauberer jene Strömkarlmelodie gelehrt, wovon man nur zehn Variationen aufzuspielen wagt; es gibt nämlich noch eine elfte Variation, die großes Unglück anrichten könnte: spielt man diese, so gerät die ganze Natur in Aufruhr, die Berge und Felsen fangen an zu tanzen, und die Häuser tanzen, und drinnen tanzen Tisch und Stühle, der Großvater ergreift die Großmutter, der Hund ergreift die Katze zum Tanzen, selbst das Kind springt aus der Wiege und tanzt. Nein, solche gewalttätige Melodien hat Herr Adam nicht von seiner nordischen Reise heimgebracht; aber was er geliefert, ist immer ehrenwert, und er behauptet eine ausgezeichnete Stellung unter den Tondichtern der französischen Schule.
Ich kann nicht umhin, hier zu erwähnen, daß die christliche Kirche, die alle Künste in ihren Schoß aufgenommen und benutzt hat, dennoch mit der Tanzkunst nichts anzufangen wußte und sie verwarf und verdammte. Die Tanzkunst erinnerte vielleicht allzusehr an den alten Tempeldienst der Heiden, sowohl der römischen Heiden als der germanischen und keltischen, deren Götter eben in jene elfenhaften Wesen übergingen, denen der Volksglaube, wie ich oben andeutete, [416] eine wundersame Tanzsucht zuschrieb. Überhaupt ward der böse Feind am Ende als der eigentliche Schutzpatron des Tanzes betrachtet, und in seiner frevelhaften Gemeinschaft tanzten die Hexen und Hexenmeister ihre nächtlichen Reigen. Der Tanz ist verflucht, sagt ein fromm bretonisches Volkslied, seit die Tochter der Herodias vor dem argen Könige tanzte, der ihr zu Gefallen Johannem töten ließ. »Wenn du tanzen siehst«, fügt der Sänger hinzu, »so denke an das blutige Haupt des Täufers auf der Schüssel, und das höllische Gelüste wird deiner Seele nichts anhaben können!« Wenn man über den Tanz in der Académie royale de musique etwas tiefer nachdenkt, so erscheint er als ein Versuch, diese erzheidnische Kunst gewissermaßen zu christianisieren, und das französische Ballett riecht fast nach gallikanischer Kirche, wo nicht gar nach Jansenismus, wie alle Kunsterscheinungen des großen Zeitalters Ludwigs XIV. Das französische Ballett ist in dieser Beziehung ein wahlverwandtes Seitenstück zu der Racineschen Tragödie und den Gärten von Le Nôtre. Es herrscht darin derselbe geregelte Zuschnitt, dasselbe Etikettenmaß, dieselbe höfische Kühle, dasselbe gezierte Sprödetun, dieselbe Keuschheit. In der Tat, die Form und das Wesen des französischen Balletts ist keusch, aber die Augen der Tänzerinnen machen zu den sittsamsten Pas einen sehr lasterhaften Kommentar, und ihr liederliches Lächeln ist in beständigem Widerspruch mit ihren Füßen. Wir sehen das Entgegengesetzte bei den sogenannten Nationaltänzen, die mir deshalb tausendmal lieber sind als die Ballette der Großen Oper. Die Nationaltänze sind oft allzu sinnlich, fast schlüpfrig in ihren Formen, z.B. die indischen, aber der heilige Ernst auf den Gesichtern der Tanzenden moralisiert diesen Tanz und erhebt ihn sogar zum Kultus. Der große Vestris hat einst ein Wort gesagt, worüber bereits viel gelacht worden. In seiner pathetischen Weise sagte er nämlich zu einem seiner Jünger: »Ein großer Tänzer muß tugendhaft sein.« Sonderbar! der große Vestris liegt schon seit vierzig Jahren im Grab (er hat das Unglück des Hauses Bourbon, womit die Familie Vestris immer sehr befreundet war, nicht überleben [417] können), und erst vorigen Dezember, als ich der Eröffnungssitzung der Kammern beiwohnte und träumerisch mich meinen Gedanken überließ, kam mir der selige Vestris in den Sinn, und wie durch Inspiration begriff ich plötzlich die Bedeutung seines tiefsinnigen Wortes: »Ein großer Tänzer muß tugendhaft sein!«
Von den diesjährigen Gesellschaftsbällen kann ich wenig berichten, da ich bis jetzt nur wenig Soireen mit meiner Gegenwart beehrt habe. Dieses ewige Einerlei fängt nachgerade an, mich zu ennuyieren, und ich begreife nicht, wie ein Mann es auf die Länge aushalten kann. Von Frauen begreife ich es sehr gut. Für diese ist der Putz, den sie auskramen können, das Wesentlichste. Die Vorbereitungen zum Ball, die Wahl der Robe, das Ankleiden, das Frisiertwerden, das Probelächeln vor dem Spiegel, kurz, Flitterstaat und Gefallsucht sind ihnen die Hauptsache und gewähren ihnen die genußreichste Unterhaltung. Aber für uns Männer, die wir nur demokratisch schwarze Fräcke und Schuhe anziehen (die entsetzlichen Schuhe!) – für uns ist eine Soiree nur eine unerschöpfliche Quelle der Langeweile, vermischt mit einigen Gläsern Mandelmilch und Himbeersaft. Von der holden Musik will ich gar nicht reden. Was die Bälle der vornehmen Welt noch langweiliger macht, als sie von Gott und Rechts wegen sein dürften, ist die dort herrschende Mode, daß man nur zum Scheine tanzt, daß man die vorgeschriebenen Figuren nur gehend exekutiert, daß man ganz gleichgültig, fast verdrießlich die Füße bewegt. Keiner will mehr den andern amüsieren, und dieser Egoismus beurkundet sich auch im Tanze der heutigen Gesellschaft.
Die untern Klassen, wie gerne sie auch die vornehme Welt nachäffen, haben sich dennoch nicht zu solchem selbstsüchtigen Scheintanz verstehen können; ihr Tanzen hat noch Realität, aber leider eine sehr bedauernswürdige. Ich weiß kaum, wie ich die eigentümliche Betrübnis ausdrücken soll, die mich jedesmal ergreift, wenn ich an öffentlichen Belustigungsorten, namentlich zur Karnevalszeit, das tanzende Volk betrachte. [418] Eine kreischende, schrillende, übertriebene Musik begleitet hier einen Tanz, der mehr oder weniger an den Cancan streift. Hier höre ich die Frage: Was ist der Cancan? Heiliger Himmel, ich soll für die »Allgemeine Zeitung« eine Definition des Cancan geben! Wohlan: Der Cancan ist ein Tanz, der nie in ordentlicher Gesellschaft getanzt wird, sondern nur auf gemeinen Tanzböden, wo derjenige, der ihn tanzt, oder diejenige, die ihn tanzt, unverzüglich von einem Polizeiagenten ergriffen und zur Tür hinausgeschleppt wird. Ich weiß nicht, ob diese Definition hinlänglich belehrsam, aber es ist auch gar nicht nötig, daß man in Deutschland ganz genau erfahre, was der französische Cancan ist. Soviel wird schon aus jener Definition zu merken sein, daß die vom seligen Vestris angepriesene Tugend hier kein notwendiges Requisit ist und daß das französische Volk sogar beim Tanzen von der Polizei inkommodiert wird. Ja, dieses letztere ist ein sehr sonderbarer Übelstand, und jeder denkende Fremde muß sich darüber wundern, daß in den öffentlichen Tanzsälen bei jeder Quadrille mehre Polizeiagenten oder Kommunalgardisten stehen, die mit finster katonischer Miene die tanzende Moralität bewachen. Es ist kaum begreiflich, wie das Volk unter solcher schmählichen Kontrolle seine lachende Heiterkeit und Tanzlust behält. Dieser gallische Leichtsinn aber macht eben seine vergnügtesten Sprünge, wenn er in der Zwangsjacke steckt, und obgleich das strenge Polizeiauge es verhütet, daß der Cancan in seiner zynischen Bestimmtheit getanzt wird, so wissen doch die Tänzer durch allerlei ironische Entrechats und übertreibende Anstandsgesten ihre verpönten Gedanken zu offenbaren, und die Verschleierung erscheint alsdann noch unzüchtiger als die Nacktheit selbst. Meiner Ansicht nach ist es für die Sittlichkeit von keinem großen Nutzen, daß die Regierung mit so vielem Waffengepränge bei dem Tanze des Volks interveniert; das Verbotene reizt eben am süßesten, und die raffinierte, nicht selten geistreiche Umgehung der Zensur wirkt hier noch verderblicher als erlaubte Brutalität. Diese Bewachung der Volkslust charakterisiert übrigens den hiesigen [419] Zustand der Dinge und zeigt, wie weit es die Franzosen in der Freiheit gebracht haben.
Es sind aber nicht bloß die geschlechtlichen Beziehungen, die auf den Pariser Bastringuen der Gegenstand ruchloser Tänze sind. Es will mich manchmal bedünken, als tanze man dort eine Verhöhnung alles dessen, was als das Edelste und Heiligste im Leben gilt, aber durch Schlauköpfe so oft ausgebeutet und durch Einfaltspinsel so oft lächerlich gemacht worden, daß das Volk nicht mehr wie sonst daran glauben kann. Ja, es verlor den Glauben an jenen Hochgedanken, wovon unsre politischen und literarischen Tartüffe soviel singen und sagen; und gar die Großsprechereien der Ohnmacht verleideten ihm so sehr alle idealen Dinge, daß es nichts anderes mehr darin sieht als die hohle Phrase, als die sogenannte Blague, und wie diese trostlose Anschauungsweise durch Robert Macaire repräsentiert wird, so gibt sie sich doch auch kund in dem Tanz des Volks, der als eine eigentliche Pantomime des Robert-Macairetums zu betrachten ist. Wer von letzterm einen ungefähren Begriff hat, begreift jetzt jene unaussprechlichen Tänze, welche, eine getanzte Persiflage, nicht bloß die geschlechtlichen Beziehungen verspotten, sondern auch die bürgerlichen, sondern auch alles, was gut und schön ist, sondern auch jede Art von Begeisterung, die Vaterlandsliebe, die Treue, den Glauben, die Familiengefühle, den Heroismus, die Gottheit. Ich wiederhole es, mit einer unsäglichen Trauer erfüllt mich immer der Anblick des tanzenden Volks an den öffentlichen Vergnügungsorten von Paris; und gar besonders ist dies der Fall in den Karnevalstagen, wo der tolle Mummenschanz die dämonische Lust bis zum Ungeheuerlichen steigert. Fast ein Grauen wandelte mich an, als ich einem jener bunten Nachtfeste beiwohnte, die jetzt in der Opéra comique gegeben werden und wo, nebenbei gesagt, weit prächtiger als auf den Bällen der Großen Oper der taumelnde Spuk sich gebärdet. Hier musiziert Beelzebub mit vollem Orchester, und das freche Höllenfeuer der Gasbeleuchtung zerreißt einem die Augen. Hier ist das verlorne Tal, wovon die Amme erzählt; hier tanzen [420] die Unholden wie bei uns in der Walpurgisnacht, und manche ist darunter, die sehr hübsch und bei aller Verworfenheit jene Grazie, die den verteufelten Französinnen angeboren ist, nicht ganz verleugnen kann. Wenn aber gar die Galoppronde erschmettert, dann erreicht der satanische Spektakel seine unsinnigste Höhe, und es ist dann, als müsse die Saaldecke platzen und die ganze Sippschaft sich plötzlich emporschwingen auf Besenstielen, Ofengabeln, Kochlöffeln – »oben hinaus, nirgends an!« – ein gefährlicher Moment für viele unserer Landsleute, die leider keine Hexenmeister sind und nicht das Sprüchlein kennen, das man herbeten muß, um nicht von dem wütenden Heer fortgerissen zu werden.
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