Karl Gutzkow
Das Urbild des Tartüffe
Lustspiel in fünf Aufzügen

[152]

Personen

Personen.

    • Ludwig der Vierzehnte, König von Frankreich.

    • Lionne, Minister.

    • Delarive, Kammerherr.

    • Präsident La Roquette.

    • Parlamentsrat Lefêvre.

    • Leibarzt Dubois.

    • Chapelle, Akademiker.

    • Molière.

    • Armande,
    • Madeleine, Schauspielerinnen.

    • Matthieu, Bürger von Paris.

    • Germain, Bedienter des Chapelle.

    • Louison, Armandens Mädchen.

    • Lakai des Königs.

    • Bedienter des Ministers.

    • Ein Offizier.

    • Zwei Kommissare.

    • Theaterdiener.

    • Abgeordnete.

    • Volk und Publikum hinter der Szene.

Vorwort

Aus den Intrigen, welche die erste Aufführung des »Tartüffe« von Molière verhindern sollten, einen neuen »Tartüffe« zu bilden, hatte schon Goldoni versucht. Ohne diesen Vorausgang unter den hundert Lustspielen und Possen des Venezianers zu kennen, las ich das betreffende Stück erst, als meine Arbeit bereits vielfach gegeben war. Der Richtung seiner Zeit und den strengen Theatergesetzen eines Jahrhunderts gemäß, wo in Rom die Frauenrollen noch von Männern gespielt wurden, hielt sich Goldoni, ohne die Heuchelei im Lichte seiner Zeit schärfer auszuführen, an dieselbe enge Familiensphäre, in welcher sich der Scheinheilige bei Molière bewegt. Seine Wiedergabe der Molièreschen Fabel scheint mir frostig zu sein.

Vorstehendes Lustspiel wurde im Sommer 1844 geschrieben und nahm seine nächste Veranlassung aus dem Geist und den Kämpfen der damaligen Zeit. Am Bundestage, in Österreich, in Sachsen, in Preußen waren die Bücher-, Zeitungs- und Dramenverbote an der Tagesordnung. Rücksichtslos gingen die polizeilichen Maßnahmen über die Lebensinteressen der Autoren hinweg. Eine kalte, mumienhaft vertrocknete Praxis der Zensurbehörden kümmerte sich um keine Bitte, keine Versicherung, die Harmlosigkeit der ihnen vorgelegten Erfindungen betreffend; in Preußen herrschte eine Koterie höherer Polizei- und Regierungsbeamten, deren oberster Chef, Tzschoppe, mit fixen, man könnte sagen, Alba-Ideen und schon als ein Irrer umging, während er noch den Staatsrat besuchte.

Die historischen Tatsachen, die ich der somit erklärlichen Anwendung des »facit indignatio versum« diesem Lustspiel zugrunde legte, erhoben, da die eigentliche Absicht anderswo lag, keinen Anspruch auf besondere historische Treue. Noch war damals das Molière zugeschriebene Wort: »Monsieur le président ne veut pas qu'on le joue!« meines Wissens nicht für [153] apokryph erklärt. Der Präsident, den Molière dann nur gemeint haben konnte, war Guillaume de Lamoignon, der damalige Chef der ausübenden Gerechtigkeit in Frankreich. Der Name kommt auch in den ersten Anfängen der französischen Revolution vor, wo ein Lamoignon Justizminister war, ein Achselträger. Ich faßte den Urgroßvater auf, wie ihn als ebenfalls so gewesen jene Anekdote hinstellte.

Doch sind die Literaturen der Völker nicht mehr die Geheimnisse einer Familie unter sich. Ich hatte mich nicht allzusehr um die Namen des Personals meines Stücks gekümmert und meiner Hauptidee nur eine phantastische Realität zum Grunde gelegt. Damit kam ich übel an. Die Franzosen sehen nur zuweilen in unsere Literatur, wie in einen matterleuchteten Guckkasten, wie man ihn, mit halb erblindeten Gläsern, auf Jahrmärkten findet; aber sie hatten das von Lamoignon in Deutschland entworfene Bild eines bei ihnen als Mäcen der Künste gefeierten Mannes, an welchen Boileau manche seiner Satiren gerichtet, denunziert bekommen. An Aufhetzern gegen mich in Paris, deutschen Landsleuten, hat es nie gefehlt. Heine war darunter der Tätigste.

Manchmal glaube ich an eine persönliche Wiederbegegnung mit den Abgeschiedenen dieser Erde in irgendeinem paradiesischen oder acherontischen Jenseits, wo man ihnen für Haß und Liebe Rechenschaft zu geben hat; ja meine Ästhetik hat Anwandlungen mönchischer Askese, denen zufolge ich von jedem historischen Drama, dessen Inhalt sich nur irgendwie eine Entstellung der Geschichte erlaubt, und wär' es Schillers »Don Carlos« oder Goethes »Egmont«, behaupte, es steckt ein böser Wurm darin, der seine Lebensblüte mit der Zeit tötet – man kommt dahin, wenn man als Autor viel experimentiert hat und Dinge, die man sich heiter und fröhlich gedacht, später in Sack und Asche bereuen soll. So rechnete ich zu den Sünden, deren aufrichtiges Bekennen mich vielleicht mehr oder weniger heilig machen wird, die Einführung des Parlamentspräsidenten Lamoignon, der gerichtlich allerdings unter das Verbot des »Tartüffe« seinen Namen gesetzt hatte, als »Urbild der Tartüffe«, und forschte, wen ich, historisch richtiger, dafür an seine Stelle setzen sollte. Denn eine unumstößliche Tradition bleibt es, daß dem »Imposteur«, unter welchem Namen »Tartüffe« bekanntlich zuletzt freigegeben wurde, ein wirklicher Vorgang aus dem Leben eines allbekannten, schon 1667 von Paris allgemein belachten Namens zugrunde lag. Dieser Name war so bekannt, daß die galanten Kavaliere und schönen Damen jener Tage, deren Briefe und Erinnerungen uns [154] jetzt als Gesichtsquellen vorliegen, ganz vergessen haben – wenigstens hat man dies bisher geglaubt – ihn zu nennen.

Vor zehn Jahren hat sich ein junger Schriftsteller, Paul Lindau, veranlaßt gesehen, durch einen Angriff auf mein Stück, in welches schon längst La Roquette statt Lamoignon eingeführt war, anzuzeigen, daß er, wie jener Raimundsche Bediente, »zwei Jahre in Paris« war. Ein anerkennenswerter Eifer brachte Tatsachen zur Widerlegung meiner Charakteristik ins Treffen, von denen nur einige zu sehr nach dem Kaliber der Nachschlagewörterbücher aussahen, um für verständige Richter, welche die Freiheiten der Komödie gewahrt wünschen, von erheblicher Wirkung zu sein. Die mit französischen Büchern beneidenswert reich ausgestattete Bibliothek meines erbitterten Tadlers, der zehn Jahre später seine verschollene Abhandlung in ein Buch, »Rücksichtslosigkeiten«, wieder aufgenommen hat, in allen Ehren, so sagen meine angezweifelten »Studien«, daß der »Tartüffe« ein Geistlicher war, Abbé Roquette, Almosenier des Prinzen Conti, Bischof in jener alten Stadt Autun, die hundert Jahre später noch einmal einem andern Reineke Fuchs ein bischöfliches Pallium gab, Talleyrand. In der»Revue française« (1859, Nr. 101 bis 105) hatEduard Fournier den ausführlichen Beweis geliefert, daß Paris nur über den Bischof von Autun, Abbé Roquette, gelacht haben konnte, als Molière den »Tartüffe« gab. Beide waren eine Zeitlang gute Bekannte – bis zu Roquettes aufsteigender Karriere. Molière rächte sich. Einen empfindlichen Schlag versetzte der galante Bischof von Autun dem »Kammerdiener und Tapezierer des Königs, Poquelin« (als welcher Molière in dem französischen Staatshandbuch figurierte), dadurch, daß ihm der »fromme« Sinn desselben die Vorstellungen verbot, die Molière im Languedoc geben wollte. Seitdem glaubte sich Molière überall von Roquette, der trotz seiner Bischofswürde in Paris als Mann der Gesellschaft lebte, verfolgt. Während sein »Tartüffe« verboten blieb, schrieb er den ersten Akt des »Misanthrope«. Auch hier, behauptete man, hatte Molière nur Roquette im Auge, wenn er von einem »Schurken« spricht, den alle Welt kenne und der dennoch durch sein Lächeln sich überall den Weg bahne. Daß ein solcher Bösewicht, heißt es im »Misanthrope«, »mit Glanz umgeben sein könnte«,


»fait gronder le mérite et rougir la vertu«.

Auf die selbstgefälligen, gelehrttuenden Auslassungen des »Rücksichtslosen« einzugehen, kann keine Veranlassung vorliegen. Der Vorwurf, ich müßte den »Tartüffe« nicht gelesen haben, ist kindisch. Wenn ich vom »Tartüffe« abwich, werde ich wohl, in [155] Rücksicht auf modernes Theater, meine Gründe gehabt haben. Eine philologische Abhandlung hätte allerdings jede Einzelheit strenger genommen. Ist man von vornherein überzeugt, daß es sich hier um ein Werk handelt, das nach seiner ganzen Fassung, nach seinem ersichtlichen Zusammendrängen des Stoffs zu den Bedingungen der drei Einheiten nahezu phantastischer Natur ist, eine Fiktion a priori, gewöhnlich Gedicht genannt, so hat jede gelehrttuende Mäkelei recht und auch nicht. Nur die besondere Zugabe einer Verdrehung, ja sogar einer boshaften oder Paul Lindauschen, wie man schon nach dem inzwischen gesteigerten Ruf dieses Feuilletonisten sagen könnte, wollen wir noch ablehnen. Den Präsidenten Lamoignon hätte der Verfasser, berichtet der gewissenhafte »Rücksichtslose«, früher für den Tartüffe genommen, weil – so lautet die Anklage – dessen Urenkel ja auch nichts getaugt hätte. Für die Unterstellung eines Verfahrens, das ebenso albern wie schlecht wäre, findet sich in meinem Vorwort von 1862 keine Spur eines Anhalts.

Schließlich bemerke ich, daß im Dialog diese Bearbeitung von 1862, die hier aufs neue wiedergegeben ist, mancherlei Änderungen bringt. Eine Bitte, sämtliche Soufflierbücher und Rollen in den deutschen Theaterbibliotheken zu kassieren und sie nach dieser neuen vollständigen Durcharbeitung ausschreiben zu lassen, wage ich, da ich die Theater in ihrer täglichen Verpflichtung, für Neues und Neuestes zu sorgen, kenne, kaum auszusprechen, würde jedoch die Gewährung mit Dank anerkennen.

[156] Kurze Charakteristik der Personen

Ludwig XIV. Fast noch Jüngling, graziös, leicht, gefällig geistreich. Er muß vom jugendlichen Liebhaber gespielt werden.

Lionne. Herablassend im zweiten Akt, später furchtsam und geschmeidig.

Delarive. Höfling. Lächelnde Indifferenz.

Lamoignon (= La Roquette). Der Tartüffe, so wie er gewöhnlich auf der Bühne gespielt wird.

Lefêvre. Junger Bonvivant, nicht ohne Borniertheit, wenn er auf sein Steckenpferd, die Jurisprudenz, kommt. Immer humoristisch und leicht.

Dubois. Sanguiniker trotz des wohlgenährten Embonpoints.

Chapelle. Trockne, passive Komik. Ein langes hölzernes Ausrufungszeichen. Nicht ohne Verstand, aber dummgeworden durch Einbildung.

Molière. Choleriker, wie alle Originale, die das, was sie erfunden haben, auch selbst verteidigen müssen. Es ist die Rolle des ersten Helden und Liebhabers.

Armande Die erste Liebhaberin.

Madeleine. Im Soubrettenton.

Matthieu. Quecksilber.

Germain. Der Verstand seines Herrn.

1. Akt

1. Szene
Erster Auftritt
Germain trägt eine Schüssel und Serviette. Lefêvre.

LEFÊVRE.
Guten Morgen, lieber Germain. Ist Chapelle zu Hause?
GERMAIN.

Ich bedaure, Herr Parlamentsrat. Herr Chapelle ist schon in aller Frühe ausgegangen. Aber – vielleicht Madame Chapelle? Wünschen Sie nicht einzutreten –? Das Frühstück wird eben serviert.

LEFÊVRE.

Ah! – Ich werde nicht verfehlen. Übrigens hab' ich Herrn Chapelle eine Nachricht zu bringen, die ihm außerordentlich viel Vergnügen machen wird. Ist er vielleicht in der Akademie?

GERMAIN.
Die Akademie hat Ferien, Herr Parlamentsrat. Mein Herr schlug den Weg nach dem Palais Royal ein.
LEFÊVRE.

Nach dem Palais Royal? So ist er wohl gar ins königliche Theater gegangen, um der endlichen Prüfung seines Trauerspiels beizuwohnen. Wie heißt es doch?

GERMAIN.
Nebukadnezar.
LEFÊVRE.

Nebu – Komischer Titel für ein Trauerspiel! Es ist bald ein Uhr. Ich will nicht hoffen, daß sein Stück Längen hat.

GERMAIN.
Wenn es gefällt, Herr Parlamentsrat, so hat es Herr Chapelle im Grunde nur Ihnen zu danken.
LEFÊVRE.

Das ist wahr! Ich habe diesem Nebukadnezar die Möglichkeit seiner Existenz gerettet. Molière wollte ihn nicht für die Darstellung annehmen. Ich glaube, er fürchtete, daß sich der Darsteller der Titelrolle weigern würde, im fünften Akt über die Bühne zu kriechen und Gras zu fressen. Ich bestritt Molièren das Recht, die Tragödie eines Akademikers zurückzuweisen, und verklagte den kühnen Alleinherrscher unserer Bühne. Ich lebe nur für die Gesetze. Jurist mit Leib und Seele setzte ich es gerichtlich [159] durch, daß sich Molière wenigstens zu einer Prüfungslektüre vor dem Komitee der versammelten Schauspieler verstehen mußte. Und Sie glauben, daß diese vielleicht heute stattgefunden hat?

GERMAIN.
Wenn ich nicht irre, hör' ich Herrn Chapelle schon zurückkommen.
2. Szene
Zweiter Auftritt
Die Vorigen. Chapelle.

LEFÊVRE.
Guten Morgen, guten Morgen, lieber Chapelle!

Chapelle tritt nachdenklich ein und zählt an den Fingern.
GERMAIN.

Herr Chapelle scheint Verse abzuzählen. Beiseite. Er ist so geizig, daß sich bei ihm nur Verse finden, die zu wenig, nie welche, die zu viel Füße haben. Ab nach innen.

CHAPELLE
wie aus einem Traum erwachend.
Wer sprach da? Ah, lieber Freund, ich bemerkte dich nicht.
LEFÊVRE.
Du schienst in einer poetischen Vision zu schweben.
CHAPELLE.
Wo ist meine Frau? Dank deinen Bemühungen, ich komme aus der Prüfung meines Stückes.
LEFÊVRE.
Und wie ist sie ausgefallen?
CHAPELLE.

Freund! Wenn ich alle Äußerungen der Schauspieler zusammenfasse – wenn ich mich mit Bescheidenheit auf den Eindruck, den mein Werk im ganzen genommen hervorbrachte, besinne – so denk' ich – glänzend!

LEFÊVRE.

Nimm meinen Glückwunsch. Ich komme, dir ein anderes Resultat zu bringen, das du weniger deiner bewunderungswürdigen Bescheidenheit und meiner Rechtskunde als deinem Glücke verdankst. Die Besorgnisse über die Gefährlichkeit des biblischen Inhalts deines Stückes sind glücklich beseitigt.

CHAPELLE.
Du kommst –?
LEFÊVRE.

Von Almosenier des Königs! Er äußerte sich, es wäre ja selten die Geistlichkeit selbst, die sich der Behandlung biblischer Gegenstände widersetzte. Gefährlich nur wär' es, das Mißfallen gewisser weltlicher Personen zu erregen, die mit der Religion auf einem vertrautern Fuße leben, als die Geistlichkeit selbst. Von diesen nannte mir der edle und wahrhaft fromme Mann vorzugsweise einen allmächtigen Namen, der sich möglicherweise über die Wahl deines Stoffes im Nebukadnezar ungünstig äußern könnte.

CHAPELLE.
Den Präsidenten La Roquette?
LEFÊVRE.

Den Präsidenten La Roquette! Ich hin zu La [160] Roquette, sondierte, horchte, ließ dies und jenes fallen, was ihn angenehm berühren mußte, und erreichte dann das erfreuliche Resultat, daß das Haupt unserer allmächtigen Frommen, der Chef aller wohltätigen Vereine und Armenkassen, der gefürchtete Verketzerer aller Sünder und Sünderinnen unsers sündigen Jahrhunderts, sich nicht nur über die obschwebende Differenz, dein Sujet betreffend, auf das wohlwollendste äußerte, sondern sich sogar bereit erklärte, selbst zu dir zu kommen und dir über die günstigen Aussichten deines Talents Glück zu wünschen. Du mußt wissen, daß er die Absicht hat, sich für den nächsten erledigten Stuhl in der Akademie zu melden.

CHAPELLE.

La Roquette kommt zu mir? Der allgewaltige La Roquette? Der Präsident des obersten Tribunals! Meine Stimme ist ihm gewiß. Nun wohl, es läßt sich ja alles vortrefflich an. Ich denke, Molière soll nicht länger der Alleinherrscher des Geschmacks sein. Heut' bei der Leseprobe war er totenstill. Ich sah's ihm an, der Geist meiner Schöpfung warf ihn zu Boden. Die übrigen Schauspieler lasen ihre Rollen mit stiller Gelassenheit. Es war eine feierliche, polizeilich anbefohlene Leseprobe.

LEFÊVRE.
Und das Endresultat, die Meinung des Komitee, ob das Stück gegeben werden könne oder nicht?
CHAPELLE.

Das Komitee wollte sein Urteil gleich nach den Schlußworten fällen, aber Molière fürchtete, der Eindruck möchte noch zu frisch, zu günstig sein, und schob die Abstimmung einige Stunden auf. Sie wird mir sogleich überbracht werden. Freund, wir haben gesiegt! Meine Frau wird glücklich sein. Frühstücken wir jetzt!

3. Szene
Dritter Auftritt
Germain war inzwischen ab und zu gegangen und kommt jetzt von außen rasch mit einem Briefe.
Die Vorigen.

GERMAIN.

Herr Chapelle, soeben kommt dieser Brief, wenn ich nicht irre, durch denselben Boten des Theaters, der Ihnen früher die abschlägige –

LEFÊVRE.
Stille!

Chapelle erbricht und liest.
LEFÊVRE.
Dein Recht mußte dir werden. Das Gesetz ist nicht dafür da, daß es umgangen wird!

Chapelle schwankt an einen Sessel, auf den er niederfällt.
LEFÊVRE
nimmt den hingefallenen Brief auf und bedeutet Germain zu gehen.
Was ist?
[161]
GERMAIN
für sich.
Literarische Familiengeheimnisse? Ab.
LEFÊVRE
liest.

»Protokoll über die Prüfung des Trauerspiels Nebukadnezar von Herrn Chapelle, Mitglied der französischen Akademie. Da sich diese Dichtung weder an die vorgeschriebenen Gesetze des überlieferten Dramas hält noch in den neuen Regeln, die sie aufzustellen scheint (scheint unterstrichen!), irgendeinen Anspruch auf Originalität, Reiz und Interesse machen kann, ferner, da durch die Aufführung dieser im ganzen sowohl wie im einzelnen mißlungenen Arbeit dem Publikum keine angenehme Unterhaltung, wohl aber der Kasse ein empfindlicher Nachteil erwachsen würde, so lautete das einstimmige Urteil des versammelten Personals: Nicht angenommen! Unterzeichnet: Das Komitee der königlichen Schauspieler zur Prüfung dramatischer Erzeugnisse. Sekretär: La Grange.« War La Grange nicht derjenige Künstler, der bereits früher einmal gelegentlich einige deiner Verse für zu kurz erklärte?


Chapelle schweigt.
LEFÊVRE.
Aus wie vielen Versen bestand doch dein Trauerspiel?

Chapelle schweigt.
LEFÊVRE.

Ich hätte nicht geglaubt, daß dein Stück eine so tragische Wendung nehmen würde! Du scheinst sprachlos geworden.

CHAPELLE.

Nein, ich werde reden – reden, wenn ich mich – räche! Ich werde diesen Schauspielern ihre Blößen aufdecken, ich werde diesen Molière bis in sein Nichts zergliedern, ich denunziere die gegenwärtige dramatische Literatur an alle Akademien der Welt – nicht angenommen!

LEFÊVRE.
Die beste Rache, die du nehmen könntest, wäre, daß du ein gelungeneres Trauerspiel schriebest.
CHAPELLE.

Gelungeneres? Diese Histrionen würden den Sophokles durchfallen lassen, wenn sie zufällig von ihm beleidigt worden wären.

LEFÊVRE.
Unstreitig besitzest du mehr Geist als Molière.
CHAPELLE.
Leider!
LEFÊVRE.
Mehr Witz.
CHAPELLE.
Leider!
LEFÊVRE.
Mehr Kraft des Ausdrucks.
CHAPELLE.
Das ist es eben!
LEFÊVRE.

Stürze Molière auf seinem eignen Felde! Ihr Herren von der Akademie, ich bin nur ein Notar, ein Jurist, aber ich glaube an eure großen Verdienste, doch ihr wißt sie nicht im zeitgemäßen Sinne auszubeuten. Die Bühne soll das Leben [162] mit der Kunst, die Kunst mit dem Leben vermitteln. Stellt doch Menschen hin, die nicht vergangenen Jahrhunderten, sondern der Gegenwart, nicht den Assyriern und Babyloniern, nein euren Umgebungen entnommen sind. Chapelle, schreibe auch du einmal ein Stück über – was soll ich sagen – über –

CHAPELLE.
Die Juristen?
LEFÊVRE.

Das ist anzüglich. Nein, nimm dir irgend eine unverfänglichere Torheit der Zeit heraus, z.B. den Gelehrtendünkel!

CHAPELLE.
Unverfänglich?
LEFÊVRE.
Oder den Geiz –
CHAPELLE.
Hat Molière bearbeitet!
LEFÊVRE.

Und die Prahlerei auch – und die Eifersucht auch. – Aber rächen mußt du dich! Edel rächen! Was fällt mir ein! Wenn man Mit halber Stimme. einen Scheinheiligen auf die Bühne brächte!

CHAPELLE.
Einen Scheinheiligen?
LEFÊVRE.

Einen Menschen, der äußerlich fromm und innerlich ein Fuchs ist. – Einen Schleicher, der sich in die Familien drängt – mit den Augen blinzelt – überall nur Sünde wittert und bei Licht besehen – ein rechter Heuchler ist –

CHAPELLE.
Der Stoff ist gut –
LEFÊVRE.
Das Ganze muß auf irgendeiner Intrige beruhen –
CHAPELLE.
Allerdings –
LEFÊVRE.
Es müssen verschiedene pikante Charaktere auftreten –
CHAPELLE.
Jawohl, jawohl –
LEFÊVRE.

Das Ganze muß ein Spiegel unserer Zeit sein, man muß glauben, die Menschen mit Händen greifen zu können –

CHAPELLE.
Vortrefflich!
LEFÊVRE.

Ich weiß, du wirst das machen, du hast Geist, hast Beobachtungsgabe, kennst die Menschen – du würdest in einem solchen Charakterbilde, etwa genannt: Der Scheinheilige – Großes leisten –

CHAPELLE.
Möglich, möglich!
LEFÊVRE.

Mir fällt dieser Stoff nur so zu deiner Genugtuung ein; Chapelle, ich mache keineswegs Prätensionen damit –

CHAPELLE.

Bitte, Lefêvre! Ei, du bist ja einer der geistreichsten Menschen in Paris! Du hast Ideen, du hast Stoffe. Ja, wenn der Dichter mit solchen Menschen umgeht, mit praktischen Lebenskennern, die uns Anregungen geben, die unsere schlummernde Originalität wecken; ich sagt' es immer – ein [163] Freund, ein Mitarbeiter, und ich gebe meinem Jahrhundert etwas zu raten auf! Willst du nicht zu meiner Frau gehen? Wir frühstücken zusammen. Wir besprechen das Sujet noch einmal – bei einem Glase Wein, da ist man angeregter – verschweige aber meiner Frau noch das Unglück mit meinem Nebukadnezar, und sollte, sie's ahnen, die Treue, Treffliche, so tröste sie, Freund, hörst du? Sollte sie weinen, so – so frühstückt nur immer einstweilen zusammen – und tröste sie!


Geleitet ihn an die Tür.
LEFÊVRE.
Vergiß dein Kuvert nicht! Ab nach innen.
4. Szene
Vierter Auftritt
Chapelle allein. Dann Matthieu und Madeleine.

CHAPELLE.

Ja, ich will mich an Molière rächen – durch ein Stück in seiner eignen Manier! Ha, ha! Hörst du, Molière, durch ein dramatisches Sittenbild –: Der Scheinheili – Es klopft. Wer klopft? Doch nicht bereits der Präsident?

MATTHIEU
steckt den Kopf herein.

Niemand da? Ah Hereintretend. Herr Chapelle! Nur näher, werdende Künstlerin! Hier tritt ein! Hier ist das Heiligtum eines großen Mannes! –


Madeleine tritt ein.
MATTHIEU.

Herr Chapelle, Sie erinnern sich Ihres Landsmannes, des Gewürzkrämers Matthieu, Rue du Coq, zu ebner Erde ...

CHAPELLE.
Womit kann ich Ihnen dienen, Herr Matthieu? ...
MATTHIEU.

Mit Bewilligung einer Gnade, um welche selbst die berühmtesten Dichter zuweilen bitten müssen, um die Gnade, mich anzuhören. Madeleine, hierher!

CHAPELLE.
Was soll das junge Mädchen?
MATTHIEU.
Madeleine, nähere dich ehrfurchtsvoll diesem großen Manne! Siehst du, das nennt man einen Dichter!

Madeleine knixt.
CHAPELLE.

Bitte, Herr Matthieu, Sie werden je reicher, je komischer. Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuchs? Beiseite. Ein lästiger Mensch, aber ein dramatischer Dichter kann sich nicht genug Popularität verschaffen.

MATTHIEU
zu Madeleine.
Sprich offen! Wie heißt du?
MADELEINE.
Madeleine Béjart aus Châlons an der Saône.
CHAPELLE.
Ah, eine Landsmännin von uns!
MATTHIEU.

Ja, Herr Chapelle, Châlons hat die Ehre, daß [164] wir drei, wie wir hier beisammenstehen, in seinen Mauern geboren wurden.

MADELEINE.
Châlons hat keine Mauern.
MATTHIEU.

Eine rhetorische Figur! Lerne etwas: ein sogenannter Pleonasmus! Nicht wahr, Herr Chapelle? O ich besuche jede Sitzung der Akademie. Ich verstehe mich auf die Sitzungen der Akademie –

CHAPELLE.

Sie scheinen auch Ihren erfreulichen Besuch auf die Länge einer akademischen Sitzung ausdehnen zu wollen.

MATTHIEU.

Zur Sache! Sie wissen, Herr Chapelle, daß wir Milchvettern sind; die Amme Ihres Milchbruders war die Milchschwester meiner Tante. In Châlons beide geboren und auferzogen, gingen Sie zur Würze des Ausdrucks und dem Salz des Witzes über: ich handelte mit Salz und Gewürzen mehr in der natürlichen Bedeutung des Wortes. Sie waren so gütig, meinem Geschäft Ihre Kundschaft und Ihr schmeichelhaftes Wohlwollen zu erhalten; ich pflegte dagegen bei öffentlichen Sitzungen den Applaus, welchen Ihre Reden hervorbringen sollten –

CHAPELLE.
Sie sind sehr weitläufig, Herr Matthieu.
MATTHIEU.

Meine Schwäche, ich klatsche gern. Das liegt in unserm Geschäft. Herr Chapelle, ich benutzte kürzlich einen Teil meiner Revenuen zu einer Erholungsgreise nach der Stätte unserer Geburt. Châlons hat sich sehr verändert! Der Hafen hat wegen tückischer Überschwemmungen der Saône bedeutend erweitert werden müssen, die Linden auf der Promenade sind teilweise ausgegangen, dafür hat man jetzt eine Allee mit Pappeln – wissen Sie an der Ecke, wo die Saône –

CHAPELLE.
Ich beschwöre Sie – keine Reisebilder!
MATTHIEU.

Nein, nur Fakta! Madeleine Béjart ist eine arme Waise. Eine Verwandte von mir hatte sich ihrer Erziehung angenommen, ohne die Mittel zu besitzen, nach ihrem Tode etwas für sie tun zu können. Sie starb –

CHAPELLE
ärgerlich.
Wer?
MATTHIEU.
Die Verwandte.
CHAPELLE.
Von wem? Mein liebes Kind, könnten Sie nicht die Rolle des Herrn Matthieu übernehmen?
MATTHIEU.

Rolle, Herr Chapelle! Rolle! Sie sind auf dem rechten Wege. Ja, Rolle! Madeleine wurde meine Mündel. Ich entdeckte in dem lieben Kinde ein merkwürdiges Talent – ein Talent –

CHAPELLE.
Wozu?
MATTHIEU.
Sie besitzt eine Stimme, ein Organ –
CHAPELLE.

Habe keine Beziehung zur Oper – ich bedaure, [165] Herr Matthieu – mein Frühstück – meine Frau – mein Hausfreund –

MATTHIEU.

Herr Chapelle, Sie mißverstehen mich! Wir gehören zu den Anbetern des Schauspiels, wir versäumen keine Vorstellung des bewunderungswürdigen Molière, keine! Und da meine kleine Schutzbefohlene soviel Talent für die Deklamation zeigte, so hab' ich sie mit reinem Gewissen – für die Bühne bestimmt.

CHAPELLE.

Viel Glück! Viel Glück! Gehen Sie nur zu Ihrem bewunderungswürdigen Herrn Molière. Was wollen Sie von mir?

MATTHIEU.

Herr Chapelle, Sie sind gewissermaßen noch mehr als Molière, Sie sind Akademiker! Sie gehören einem Institute an, das die Geheimnisse der Sprache studiert hat. Chapelle, wenn Sie mich, Ihren Landsmann und Milchvetter, wenn Sie dies kleine Wesen würdigen wollten, in Ihrem Nebukadnezar ihr eine Rolle –

CHAPELLE.
Lassen Sie mich mit meinem Nebukadnezar in Ruhe!
MATTHIEU.

Engagiert ist sie bereits bei der Truppe des Königs, aber Sie wissen, eine Kunstnovize bedarf Protektion, bedarf das Fürwort der Dichter selbst! Ich hörte von einem Meisterstück, das von Ihnen gegeben werden soll –

CHAPELLE.
Engagiert? Bei Molière? So lassen Sie sich von Herrn Molière Rollen geben –
MATTHIEU.

Sie empfing bereits eine zur Probe, Herr Chapelle, aber ich sagte zu Madeleine: Wir gehen damit zu dem großen Chapelle, er wird dir nicht nur eine Rolle von sich zuerteilen, sondern dir auch die Molièresche einstudieren, er wird dir die Schönheiten dieser Rolle auseinandersetzen –

CHAPELLE.
Ich soll eine Molièresche Rolle einstudieren?
MATTHIEU.
Erst eine Rolle, eine einzige, die Arme! Freilich in einem neuen Stück von Molière.
CHAPELLE.

Und schon wieder ein neues Stück von Molière? Haha! Gewiß einmal ein ernstes Drama –? Nicht umsonst fürchtet er die Konkurrenz mit höhern, akademischen Dramen! Nicht wahr?

MATTHIEU.

Nein, Herr Chapelle – ein sehr lustiges. Madeleine, das schüchterne Kind, wohnte schon der Leseprobe bei – was behandelt es?

MADELEINE
schüchtern.
Einen – Scheinheiligen.

Chapelle horcht auf.
[166]
MADELEINE.
Einen Menschen, der äußerlich fromm und innerlich ein Fuchs ist –
CHAPELLE.
Was?
MADELEINE.

Einen Schleicher, der sich in die Familien drängt, immer mit den Augen blinzelt, überall nur Sünde wittert und bei Licht besehen ein rechter Heuchler ist.

CHAPELLE.
Das ist – das hat –?
MATTHIEU.
Sprich dich doch deutlicher aus!
MADELEINE.

Eine allerliebste Intrige – pikante Charaktere – das Ganze ist ein Spiegel unserer Zeit – man glaubt die Heuchler mit Händen greifen zu können.

CHAPELLE
stürzt in den Sessel.
Ha!
MATTHIEU.
Was ist Ihnen?
CHAPELLE.
Ich sterbe!
MATTHIEU.
Ich begreife nicht –
CHAPELLE.
Mein Stoff!
MATTHIEU.
Sie erschrecken uns –
CHAPELLE.
Man hat mir meinen Stoff gestohlen! Herr, wie heißt das Stück?
MATTHIEU.
Madeleine, wie heißt das Stück?
MADELEINE.
Meine Rolle heißt Dorine.
CHAPELLE.
Wie heißt das Stück?
MATTHIEU.
Die Arme hat als Kunstnovize bei der Probe gezittert und immer nur an ihr Stichwort gedacht –
CHAPELLE
packt Matthieu an die Brust.
Der Titel!
MATTHIEU.

Bester Herr Milchvetter, wenn Ihnen an dem Titel soviel gelegen ist – die Rolle hat sie schon im Kopfe – aber der Titel – Hm! Hm! Ich nehme einen Fiaker – in fünf Minuten wissen wir den Titel. Herr Chapelle, erholen Sie sich – prüfen Sie das Mädchen – nur eine Szene! Fangen Sie an! Akt 1, Szene 1 – Bringen Sie ihr das Pantomimische bei! In fünf Minuten bin ich zurück!


Ab.
5. Szene
Fünfter Auftritt
Chapelle. Madeleine.

CHAPELLE.

O, so soll denn dieser Tag mein Ende sein! Sehen Sie nun, mein Kind, wie gefährlich diese Laufbahn ist, die theatralische! Ich erfand mir mit den Anstrengungen des äußersten Nachdenkens einen Stoff! Wissen Sie, was für die Bühne ein Stoff ist?

MADELEINE.
Ich denke durch meine Garderobe stets zum Gelingen des Ganzen beizutragen.
[167]
CHAPELLE.
Stoff! Stoff! Sie verstehen mich falsch!
MADELEINE.

Ich glaube es wohl, Herr Chapelle – ach! und ich weiß es nicht, ob mir an der Wiege gesungen wurde, daß ich Schauspielerin werden sollte; aber Herr Matthieu hat es nun einmal beschlossen. Aufrichtig gesagt, vorläufig gefallen mir auch die Dinge ganz gut. Seit vier Wochen, daß ich in Paris bin, führt mich Herr Matthieu jeden Abend ins Theater. Zwar ist seine Art sich zu benehmen sehr auffallend: er applaudiert in einem fort –

CHAPELLE.
Molièren?
MADELEINE.

Ihm am meisten, aber auch andern und allen Damen; ich fürchte mich schon, daß er mein erstes Debüt durch seine allzu wohlwollenden Hände zerstören wird. Man hat mich vor nichts so sehr als vor dem sogenannten Familienapplause gewarnt.

CHAPELLE.

Mein liebes Kind, Beifall ist Beifall. Der Applaus ist das einzige Wesen der Gesellschaft, auf dessen Ursprung man heutiges Tages nicht mehr sieht. Applaus ist immer willkommen, in jedem Range, adelig oder bürgerlich, ob er nun in aufsteigender Linie Zeigt aufs Parterre. von unten nach oben, oder Auf die Galerie. in herabsteigender Linie von oben nach unten kommt.

MADELEINE.

Herr Chapelle, dann bitt' ich, sagen Sie mir, ob ich die Regeln der Kunst erfülle, wenn ich in dem neuen Stück von Molière etwa so spiele –

CHAPELLE.
Welche Rolle stellen Sie in – mei nem Stück denn vor?
MADELEINE.

Ein durchtriebenes allerliebstes Kammermädchen, das alle Fäden der Intrige in der Hand hält und zur Entlarvung des Scheinheiligen am allermeisten beiträgt.

CHAPELLE.
Ganz meine Idee!
MADELEINE.
Der Scheinheilige kommt. Er kommt erst im dritten Akt.
CHAPELLE.
Um die Spannung zu steigern. Ganz meine Idee!
MADELEINE.

Beim Eintreten ruft er seinem Bedienten zu, er solle sagen, er wäre ins Gefangenhaus gegangen und teile dort den Armen sein bißchen Armut aus.

CHAPELLE.
In Versen! Ganz meine Idee!
MADELEINE.

Jetzt erblickt mich der Scheinheilige. Erst fährt er mich an, dann aber weidet er sich an meiner Schönheit – an meiner Schönheit – die Schönheit, Herr Chapelle, steht in meiner Rolle vorgeschrieben –

CHAPELLE.
Ich höre den rasenden Beifall des Publikums.
MADELEINE.

Was will Sie? fragt der Scheinheilige. Ich [168] stottre, und meine Verwirrung benutzend zieht er sein Taschentuch –

CHAPELLE.
Sein Taschentuch? Darüber – war ich noch zweifelhaft –
MADELEINE.

Sein Taschentuch und wirft mir dies Taschentuch auf meine Schultern – etwa so! Bitte, nehmen Sie Ihr Taschentuch!

CHAPELLE
zieht sein Taschentuch.
Ich trug mich seit Monaten mit einer allerdings ähnlichen Szene!
MADELEINE.
Er sagt, nämlich der Scheinheilige:

Mein Gott im Himmel, weh, das ist nicht zu ertragen!
Ach, nehme Sie, bevor Sie redet, dieses Tuch!

Darauf sage ich:
Wozu?
Darauf er:
Bedecke Sie damit, o Sinnestrug,
Den sünd'gen Busen sich; denn leicht ertranken.
Macht dies die Seele sonst durch sündige Gedanken.

Nun wirft er mir, halb von mir abgestoßen, halb zu mir hingezogen, das Tuch zu – werfen Sie doch! – und macht dabei eine Miene, einen Ausdruck, eine Physiognomie – Bravo! Bravo! Ganz so hat mir's Molière vorgemacht –

CHAPELLE.
Ich – Ich spiele – in einem Stücke von Molière? In einem Stück, dessen Ideen mir – gehören –?
GERMAIN
sieht durch die Türe.
Herr Chapelle, Ihr Consommé wird kalt. Horcht auf. Ha! Was macht Herr Lefêvre?

Es fallen im Nebenzimmer Teller entzwei.
CHAPELLE.

Schurke! Opfert man denn überall mein Eigentum? Meine Frau – meine Dramen – meine Teller, wollt' ich sagen – Diebe! Räuber!


Läuft nach innen.
6. Szene
Sechster Auftritt
Madeleine. Ein anderer Bedienter öffnete. La Roquette wird im Vorsaal sichtbar. Er erscheint in gleicher Tracht, gleicher Manier wie bei Molière Tartüffe.

MADELEINE.

Das ist eine Poetenwirtschaft! Und nun steh' ich hier ganz allein – Und was ist denn das da wieder für ein – Schleicher –?

LA ROQUETTE
spricht in den Vorsaal zurück.

Lorenz! Wenn man nach mir fragt, so sage, ich ginge ins Gefangenhaus, um dort, wie ich gewohnt, milde Werke der Barmherzigkeit zu üben.

MADELEINE.
Mein Gott, was ist denn das? Das ist ja der Scheinheilige selbst!
[169]
LA ROQUETTE
hinaussprechend.

Lorenz, hänge mein hären Gewand und mein Büßerhemd an ihren Ort und bitte, daß dich Gott erleuchten möge!

MADELEINE.

Das sind die wörtlichen Umschreibungen meiner Szene! Der strenge Herr Chapelle will mich wahrscheinlich auf andere Art prüfen? Durch einen Dritten?

LA ROQUETTE
tritt vor, sieht sich um und sagt nach einer Pause.
Was will Sie? Wer ist Sie?
MADELEINE
beiseite.
Mein Himmel, ganz wie in dem Stück! Stellt sich schüchtern zum Komödie spielen an. »Ihnen sagen« –
LA ROQUETTE.
Ich wünsche Herrn Chapelle zu sprechen – Wer ist Sie denn?
MADELEINE
beiseite.
Was soll ich nur davon denken?
LA ROQUETTE
beiseite.
Ein allerliebstes Mädchen! Bin ich denn nicht gemeldet worden? Er fühlt an seine Taschen.
MADELEINE
beiseite.
Bei Gott, er zieht sein Taschentuch –
LA ROQUETTE
beiseite.

Sie hat einen reizenden Wuchs! Die Schultern sind graziös geformt. Ich will mein gewöhnliches Mittel anwenden! Zieht sein Tuch.

MADELEINE
beiseite.

Er kennt die Szene, wie sie Molière geschrieben hat ... Es ist ein Abgeordneter der Akademie, der mich examinieren will.

LA ROQUETTE
laut.

Aber, Gott im Himmel, wie ist das zu ertragen, Kind, so entblößt zu gehen – wie soll man denn mit jemand reden, der seine Reize so offen zur Schau stellt ...

MADELEINE
beiseite.

Der Sinn der Worte ist richtig, aber er hält die Stichworte nicht. Ich bringe mein Stichwort Laut und schnippisch. »Mein Herr, was soll's? Wozu?«

LA ROQUETTE
beiseite.

Allerliebste kleine Hexe das! Laut. Bedecke Sie damit – o Sinnestrug! – den sündigen, schönen, Nähert sich immer mehr mit dem Tuch. abscheulichen, reizenden, schwarzen, weißen Busen, Will das Tuch ihr auflegen. kleine Eva!

MADELEINE.
Mein Herr, Sie setzen Ihrer Rolle so viel Worte zu, daß ich nicht imstande bin, Ihnen zu folgen.
LA ROQUETTE.
Meiner Rolle? Ich fühle nichts als die lebendigste Wirklichkeit.
MADELEINE.

Ich weiß es wohl, Sie wollen ein armes Mädchen aus der Provinz auf die Probe stellen, aber Sie müssen sich auch an die Worte halten, die Ihnen Herr Molière vorgeschrieben hat.

LA ROQUETTE.

Mir Worte? Herr Molière hätte mir Worte vorgeschrieben? Ha, ha! Sie liebenswürdige kleine Dame sind wohl eine im Dienst der schönen Sünde stehende Komödiantin?

[170]
MADELEINE.

Madeleine Béjart aus Châlons, engagiert am königlichen Theater auf sechs Monate zur Probe – Wochengage zehn Livres, Handschuhe werden geliefert. Herr Chapelle hat versprochen, sich meiner weitern ästhetischen Ausbildung anzunehmen, aber Herr Chapelle ist leider zuviel beschäftigt. Bilden Sie vielleicht Schauspieler?

LA ROQUETTE.

Ha, wer bildet heutiges Tages nicht Schauspieler! Komödie will in dieser Welt ja alles spielen, und wer nicht selbst spielt, studiert die Rollen wenigstens andern ein. Ja, meine ästhetischen Grundsätze, meine Kenntnisse der Deklamation und Aktion Er rückt immer Madeleinen nach. auf so liebenswürdige anmutige Erscheinungen anzuwenden, wie Sie, meine kleine Mademoiselle Béjart aus Châlons, engagiert am königlichen Theater auf sechs Monate zur Probe, Wochengage zwanzig Livres –

MADELEINE.
Zehn, nur zehn, mein Herr!
LA ROQUETTE.

Warum nicht zwanzig, aus Privatmitteln, süßer Engel? Handschuhe – seidene Kleider – ein hübsches Stockwerk zur Miete in der Rue Richelieu, Delikatessen für die Tafel werden geliefert, Pasteten, Trüffeln –

MADELEINE.
Wie versteh' ich Sie!
LA ROQUETTE.

Dramaturgische Anfänge, mein süßes Kind – ... ich schwöre dir, daß mich zu einem Wesen wie du eine plötzlich erwachende Kunstliebe veranlassen könnte – ... Er hat den Arm um sie geschlungen.

7. Szene
Siebenter Auftritt
Die Vorigen. Chapelle und Lefêvre.

LEFÊVRE
noch drinnen.
Wo ist denn die Kleine – Ha!

La Roquette fährt zurück.
CHAPELLE.
Irr' ich nicht –
LEFÊVRE
in leichter Weinlaune.
So war das eine Umarmung!
MADELEINE.
Der Herr wollte mein Talent auf die Probe stellen.
LEFÊVRE.
Und nicht auch Ihre Tugend?
LA ROQUETTE.

Weltlust! Weltlust! Die kleine Sünderin bat mich, eine Rolle mit ihr einzustudieren. Die Nähe eines so berühmten Dichters hat etwas Ansteckendes, und wenn man wegen einiger kleinen Jugendverse sogar den törichten Ehrgeiz hat, an die Akademie zu denken – Beiseite. Wohin verirrt' ich mich –!

LEFÊVRE
beiseite zu Chapelle, der nach Stühlen sucht und komplimentiert.

Schade, diese Szene hättest du anbringen können! Nun beruhige dich, Freund: ich denke, es soll dir an Stoffen nicht fehlen. Z.B. [171] der Hausfreund oder der Mit Andeutung vom Hörnersetzen. gekrönte Dichter – oder ähnliche aus dem Leben gegriffene Charaktere. Verbeugt sich lachend gegen La Roquette. Herr Präsident, ich verstehe jetzt vollkommen Ihre bisher verborgen gebliebene geheime Neigung, Mitglied der Akademie zu werden! Ganz gehorsamst! Ab.

CHAPELLE.

Vergeben Sie den Ihnen bekannten heitern Humor meines Freundes, mein künftiger Herr Kollega! Sie waren im Begriff –

MADELEINE.
Dra – ma – tur –
LA ROQUETTE
beiseite.

Schweigen Sie doch! Laut. Unendlich bedaur' ich das Schicksal Ihrer Tragödie, das ich bereits erfahren habe, um so mehr, als der Zufall Ihnen in dieser kleinen Dame eine Künstlerin zugeführt hätte, die vielleicht –

MADELEINE.
Denken Sie nur, Herr Chapelle, der Herr da weiß ganze Szenen aus Molières neuem Stücke auswendig.
Zugleich.
LA ROQUETTE.
Aus Molières – neuem Stücke?
CHAPELLE
beiseite.

Das trifft sich prächtig! Laut. Das neue Stück von Molière, in dem er die Wölfe geißeln will, die unter dem Deckmantel der Religion schleichen.

LA ROQUETTE.
Solche Gegenstände gedenkt Herr Molière auf die Bühne zu bringen?
MADELEINE.
Herr Chapelle hat ja selbst einen Scheinheiligen schildern wollen –
LA ROQUETTE.
In der Tat?
CHAPELLE.
Vor langen Jahren!
MADELEINE.

Irgendeine einflußreiche Persönlichkeit aus den höchsten Ständen, einen Mann, der die Titel und Ämter verschenkt an die, welche mit der Religion heucheln.

Zugleich.
LA ROQUETTE.
Ei, ei, ei!
CHAPELLE
beiseite.
Die verdammte Plauderin!
MADELEINE.
Einen Erzfeind der Aufklärung und des gesunden Menschenverstandes.
Zugleich.
LA ROQUETTE.
Ei, ei, ei, ei!
CHAPELLE.

Nicht so, nicht so, Herr Kollege! Im Gegenteil, nur Molière hat diesen Gegenstand behandelt, und zwar mit einer Bitterkeit, die an das Anzüglichste erinnert, was je Aristophanes geschrieben hat. Denken Sie sich! Schon das erste Auftreten des Scheinheiligen. Ein Kammermädchen steht auf der Bühne – der Frömmler tritt ein – er erblickt das Mädchen – lüstern tritt der Heuchler heran, weidet sich an ihrem reizenden Nacken und zieht endlich, um zwischen Heuchelei und Vergnügen zu schwelgen, sein Schnupftuch –

LA ROQUETTE.
Schnupftuch? Was?
[172]
MADELEINE.

Vortrefflich! Gerade so charakterisierte Molière auf der Leseprobe den Moment, wo der Scheinheilige entlarvt wird!

LA ROQUETTE.

Entlarvt wird! Dem Gelächter der Mitspielenden, dem Applause von Paris, von Frankreich und der ganzen Welt preisgegeben? Herr Chapelle –? Was sind das für Dinge? Sie scheinen unterrichtet zu sein –

CHAPELLE.

Sie verschmähen den Rest meines kleinen Frühstücks nicht? Kommen Sie, mein baldiger Herr Kollege! Ich weiß noch, von dem vorjährigen Diner bei Sr. Majestät dem König, wo ich die Ehre hatte – Sie lieben die kleinen Trüffeln aus dem Languedoc, die Trüffeln, die so tief unter der Erde stecken –

Einer unterbricht die Rede des andern.
LA ROQUETTE.

Haha! – die kleinen, versteckten – ich entsinne mich des Diners; aber sagen Sie – das Stück, was ist das für ein verwerfliches Stück?

CHAPELLE.

Meiner Frau ist eine kleine Lieferung dieser Trüffeln zugekommen – aus dem Languedoc – sie haben einen eignen Namen, diese Trüffeln – man nennt sie nicht Trüffes – Führt ihn fort.

Einer unterbricht die Rede des andern.
LA ROQUETTE.
Nein, nein, diese Gattung nennt man Tartüffes, lieber Chapelle – aber das empörende Stück?
CHAPELLE.

Ganz recht – kommen Sie doch zu näherer Besprechung – in der Tat, Madame Chapelle wird es Vergnügen machen, Ihnen von diesen Tartüffes eine kleine Kollation vorzusetzen Will ihn fortziehen.

8. Szene
Achter Auftritt
Matthieu. Die Vorigen.

MATTHIEU.

Halt, da bin ich! Madeleine! Du hast keinen Augenblick zu verlieren. In einer Stunde ist plötzlich erste Probe angesetzt! Der Theaterdiener begegnete mir – Ja, Herr Chapelle – von der Lieblingsspeise des Scheinheiligen, den kleinen Trüffeln aus dem Languedoc – heißt das neue Stück, das bewunderungswürdige, von ganz Paris schon vergötterte Stück, der Tartüffe! Wie ich in die Nähe des Theaters komme, begegnet mir der Probenansager. Heut abend nach der Vorstellung findet die erste Probe, Szenenprobe statt. In acht Tagen müssen sechzehn Proben gehalten sein, und dann heraus mit dem – Tartüffe! Alle Logen sind schon auf zehn Vorstellungen vorausbestellt. Das Publikum stürmt die Kasse. Molière hat sein Meisterstück geschrieben. Madeleine! Wir haben keine Zeit zu [173] verlieren. Dein erstes Debüt, dein Ruhm, dein Triumph ist an den Triumph des Tartüffe gekettet! –


Zieht Madeleinen mit sich.
MADELEINE
verbeugt sich.
Guten Appetit, meine Herren, zu Ihren kleinen Tartüffes! Mit Matthieu ab.
Zugleich.
CHAPELLE
sieht La Roquette starr an.
Tartüffe?
LA ROQUETTE
ebenso.
Tartüffe?

Der Vorhang fällt.

2. Akt

1. Szene
Erster Auftritt
Armande und Lefêvre treten ein.

LEFÊVRE.

Ist es möglich, Fräulein Armande, die erste Künstlerin ihres Jahrhunderts, hier im Revier der Pariser Polizei? Soll ich doch Sr. Exzellenz, dem Herrn Minister persönlich –

ARMANDE.
Lassen Sie, Herr Parlamentsrat!
LEFÊVRE.
Ich gehe eben selbst zu ihm und melde Ihre Anwesenheit –
ARMANDE.

Bitte! Wenn einer der Sträuße, die Sie mir für meine Rollen so oft aus Ihrer Loge auf die Bühne geworfen, aufrichtig gemeint und Ihr Prozeß gegen unsere Truppe, den Nebukadnezar wenigstens zur Leseprobe zu bringen, nur eine kalte Advokatenpflicht war, für welche Sie übrigens Madame Chapelle belohnen wird, so möcht' ich, daß Sie statt meiner dem Minister eine Angelegenheit vortrügen, die mich außerordentlich beunruhigt.

LEFÊVRE.

Ganz Paris kennt das Interesse, das man an Ihnen in den – allerhöchsten Kreisen nimmt. Ich bin gewiß, daß der Minister keine Gelegenheit vorübergehen läßt, Ihnen zu dienen. Also wollen Sie wirklich nicht selbst –?

ARMANDE.

Nein, Herr Lefêvre! Auch Sie können statt meiner reden – Beiseite. Molière ist auf die ganze Welt eifersüchtig – möglicherweise sogar auf den alten Lionne –!

LEFÊVRE
beiseite.
Sie wird vom König protegiert, was bedarf sie des Ministers? ...
ARMANDE.

Sie wissen, Herr Lefêvre, daß Molière die Absicht hat, endlich binnen drei Tagen sein neues Lustspiel aufzuführen.

[174]
LEFÊVRE.

Bis zur Rückkehr des Königs von Versailles – den Tartüffe, von dem bereits ganz Paris erfüllt ist. Se. Majestät wird entzückt sein, Sie wiederzusehen –

ARMANDE.

Es wird Ihnen nicht unbekannt sein, daß dies in Wahrheit meisterhafte Werk einen Gegenstand behandelt –

LEFÊVRE.

Der meinem unglücklichen Freunde Chapelle gestohlen wurde. Sie sind doch nicht wegen dieses Diebstahls auf der Polizei?

ARMANDE.
Ohne Scherz! In der Tat bin ich hier wegen eines Diebstahls.
LEFÊVRE.

Man hat Ihnen Ihr Herz gestohlen! Und da Sie wissen, daß niemand darüber unglücklicher sein würde, als der König –

ARMANDE.
Sie zwingen mich, in der Tat selbst mit dem Minister zu reden

Will hinein.
LEFÊVRE.

Würdigen Sie mich Ihres Vertrauens! Und ich besinne mich ja, der Minister ist krank: der Leibarzt Sr. Majestät ist bei ihm. Worüber grübeln Sie? Ihre schönen Augen –

MADELEINE.
Tragen vielleicht zur Genesung des Ministers bei

Will hineingehen und sucht, von Lefêvre verhindert, dann andere Türen.
LEFÊVRE.

Halt! – Das ist das Paßbureau – hier ist das Archiv der Gesundheitspolizei – dort das Magazin der gestohlenen Taschentücher, die ihren Herrn nicht wiedergefunden haben – hier füttert man die Hunde, die ohne Halsband aufgegriffen wurden ... Bin ich Ihres Vertrauens nicht würdig, schöne Armande?

ARMANDE.
Nun, denn! Wissen Sie, Herr Parlamentsrat, was in der Theaterwelt ein Soufflierbuch ist?
LEFÊVRE.

Ein Soufflierbuch? Das ist der Blasebalg schlechter Gedächtnisse, die Rettungsmaschine oft sehr schwüler Verlegenheiten.

ARMANDE.

Es beunruhigt die Gesellschaft, daß auf eine unbegreifliche Weise gestern in aller Frühe auf der dreizehnten Probe des Tartüffe das Soufflierbuch vom Pulte des Souffleurs entwendet worden ist.

LEFÊVRE.
La Grange, ein Schauspieler, der so schlecht lernen soll, wird in Verzweiflung sein.
ARMANDE.

Wir alle sind es. Nicht, daß uns nicht noch ein Exemplar des Stückes zu Gebote stände – darüber sind wir ohne Sorge. Aber Sie müssen wissen, was es heißt, das Soufflierbuch eines Lustspieles, gegen dessen Tendenz sich hier und da Intrigen anspinnen lassen, ist auf unbegreifliche Art aus den [175] Theaterräumen entwendet worden. Vor allen Dingen dürfte Molière selbst von diesem Vorfall nicht eine Silbe erfahren.

LEFÊVRE.
Was könnte er zu fürchten haben?
ARMANDE.

Molière ist von der reizbarsten Empfindlichkeit. Überall sieht er Gespenster, überall Feinde. Erführe er, daß man ihm heimlich das Soufflierbuch des Tartüffe entwendet hat, so würd' er sich sagen: Jetzt geht es zum Erzbischof von Paris, zum apostolischen Vikar, man verdächtigt mir ein Werk, daß ich nur im Interesse der guten Sitten und der Religion geschrieben habe –

LEFÊVRE.

Oder irgendein guter Freund, der Rezensionen schreibt, sucht sich bereits aus dem Manuskripte über die – Schönheiten des Stücks zu orientieren. Haben Sie auf niemand Verdacht?

ARMANDE.

Allerdings. Seit einiger Zeit hat man einen Mann beobachtet, der sich jedesmal zu den Proben des Tartüffe heimlich in den dunkeln Zuschauerraum schlich. Arbeiter, die mit dem Reinigen der Parterrelogen beschäftigt sind, wollen plötzlich mit ihrem Kehrbesen etwas Menschliches angetroffen haben, was, aufgestöbert, sich sogleich über die Brüstung im Parterre verlor. Um die Proben nicht zu stören, durften sie diesen Spuk nicht weiter verfolgen. Als aber nach einer zufälligen Entfernung des Souffleurs im dritten Akt bei seiner Rückkehr in den menschenfreundlichen Rettungskasten heute von seinem Pulte das Buch weggenommen war, gestanden die Arbeiter ihr Versehen ein, und einer behauptete, den wahrscheinlichen Dieb bereits erkannt zu haben.

LEFÊVRE.
Ich staune! Und wer wäre das?
ARMANDE.
Es ist ohne Zweifel ein gewisser Gewürzkrämer Matthieu aus der Rue du Coq.
LEFÊVRE.

Für seine Tüten wird doch der Mann nicht aus Papiermangel Theatermanuskripte stehlen? Wenn man die Wohnung des Maitre Matthieu untersuchte, natürlich ohne alle Beunruhigung für Molière selbst –

ARMANDE.

Sie sind ein so warmer Freund der Musen! Wenden Sie von Molières Haupt eine Wetterwolke ab, die ihn, wenn sie zum Ausbruch käme, unfehlbar zu Boden würfe! Wer kann wissen, in wessen Auftrag Matthieu gehandelt hat! Es kann ein Abgesandter – Sieht sich um. Was seh' ich? Molière schon selbst hier? Sollte er es bereits erfahren haben? – Spähenden Blicks steht er dort an der Säule – Er darf mich nicht entdecken –

LEFÊVRE.
Führt ihn wirklich bereits sein gestohlenes Manuskript hierher?
[176]
ARMANDE
beiseite.

Nein, ich fürchte – er ist nur mir gefolgt – sein Mißtrauen kennt keine Grenzen – Laut. Wie entkomm' ich?

LEFÊVRE.
Dorthin, Fräulein Armande!

Zeigt einen Ausweg nach rechts.
ARMANDE.
Und die besprochene Angelegenheit – hinter welcher vielleicht eine böse Intrige verborgen liegt –?
LEFÊVRE.

Werd' ich nun unverzüglich dem Minister vortragen – es gibt strenge Gesetze gegen Manuskriptenraub – gegen Gedankendiebstahl – Plagiate – wer weiß, ob dieser Gewürzkrämer Matthieu nicht die Absicht hat, sich auf irgendeine Art auch in die Akademie zu stehlen – ganz wie ein gewisser – Beiseite. Es geht etwas vor –! Laut. Ganz recht, Rue du Coq – man muß den Befehl seiner Verhaftung erwirken – hier, hier – reizende Armande! Führt sie zur Seite hinaus und begleitet sie.

2. Szene
Zweiter Auftritt
Molière allein. Später kehrt Lefêvre zurück.

MOLIÈRE.

Wag' ich mich weiter? In dies Palais ist sie gegangen! Schon immer bemerkt' ich, daß sie Geheimnisse hat –! Seit der König in Versailles ist, hofft' ich, diese mich zur Verzweiflung bringenden Dinge würden ein Ende nehmen – Aber sie sind alle falsch, diese Larven, die nur einmal eine Messerspitze voll Schminke auf ihre Wangen malten! Lug auf der Bühne – Lug hinter ihr – keine Empfindung, die wahr aus dem Busen quölle – eben noch treu in unserm Arm, eben noch zärtlich in unsere vertrauenden Augen lächelnd, und mit einem Tritt an die Lampen – hier, da an der Brüstung – gehören ihre Blicke der ganzen Welt, liebäugeln sie mit dem, dahin – dorthin – und das nennen sie Künstlerschaft, das nennen sie in den Geist ihrer Rollen eindringen!

LEFÊVRE
zurückkehrend.

Guten Morgen, Molière – Wie kommt die öffentliche Sicherheit zum Besuch eines Dichters, der die Polizei bald entbehrlich machen wird? Vor Molière ist ja kein Verbrechen mehr sicher.

MOLIÈRE.

Ist Mademoiselle Armande beim Minister? Ich sah sie hier in das Hotel eines ihrer hohen Verehrer eintreten.

LEFÊVRE
ans Fenster zeigend.

Dort unten sehen Sie die reizende Sylphide über den Platz schreiten. Sie hat mir wegen Chapelle vergeben und ich hoffe, Molière, Sie tun es nicht minder –

MOLIÈRE.
In der Tat, sie ist's. Was hatte sie hier – ist sie bestohlen worden?
[177]
LEFÊVRE.

Molière! Welches Mienenspiel! Sie können nicht an Stehlen denken, und man glaubt Sie bereits in der Rolle des Geizigen zu sehen. Bestohlen! Allerdings. Sie sind es, Molière!

MOLIÈRE.
Ich bin bestohlen worden –
LEFÊVRE.
Haha! Als wenn Sie den Geizigen spielten! Und ich sehe das ohne Eintrittsgeld!
MOLIÈRE.
Hat man mir einen Diebstahl verschwiegen? Was ist mir entwendet worden?
LEFÊVRE.

Man hat einen Menschen gesehen, der sich in die Proben Ihres neuen Stückes schlich, und während alle mit Andacht an ihren Aufgaben beschäftigt waren, in der Garderobe eine Ihrer – besten – – Perücken stahl.

MOLIÈRE.

Perücken? Wirklich? Und darum wäre Armande hier gewesen? Die Perücke vielleicht, die ich im Menschenhasser trage? Sie war allerdings aus meinen eigenen Haaren zusammengesetzt, Herr Lefêvre, und die Sorgen die einen Theaterdirektor drücken, geben ihm nicht viel Aussicht, auf die Länge noch viel neue zu bekommen. Indessen Pferdehaare tun's auch, wenn auch die Tragödien der Akademiker, falls wir sie alle aufführen müßten, die Matratzen teurer machen dürften! Dank' Ihnen, Herr Lefêvre, für die gerichtliche Leseprobe des Nebukadnezar! Also davon wollte Armande Anzeige machen! Eine Perücke hat man mir gestohlen!

LEFÊVRE
beiseite.

Leichtgläubig, wie ein Kind!Laut. Molière, ein Advokat ist der Freund jedes Hilfebegehrenden! Ich sah den Kummer meines Freundes, die Tränen seines liebenden Weibes! Seien Sie überzeugt, Molière, daß ich mit derselben Unparteilichkeit – Was ist das für ein Geräusch?

3. Szene
Dritter Auftritt
Matthieu geführt von zwei Polizeidienern. Die Vorigen.

MATTHIEU
war draußen schon hörbar.

Das ist ja unerhört – Ein Bürger von Paris – wie kann man einen Bewunderer Molières – Herr Molière, erbarmen Sie sich, wie kann man mir zutrauen, einen Eingriff in Ihr Eigentum unternommen zu haben! – Ich, Jean Pierre Matthieu, Rue du Coq – Vormund und Theatermutter der Madeleine Béjart –

LEFÊVRE
beiseite.
Verdammte Begegnung!
MOLIÈRE.
Matthieu, Sie sind der Perückendieb?
MATTHIEU.
Perückendieb?
LEFÊVRE.
Den Arrestanten in die Verhörszimmer!
[178]
MATTHIEU.

Mein Herr, ich wollte soeben in das Verhörszimmer. Ich, ich verhöre Madeleinen Béjart, die ich, ich erfunden habe, ihre unvergleichliche Rolle in einem Stücke, dessen Manuskript man mich beschuldigt entwendet zu haben –

MOLIÈRE.
Manuskript entwendet?
LEFÊVRE.
Fort, fort mit ihm!
MOLIÈRE.
Das Manuskript des – Tartüffe ist gestohlen? –
MATTHIEU.

Ha, ich, ich, der ich dies Meisterwerk aus allen Proben, denen ich allerdings heimlich, aber nur aus Enthusiasmus beiwohnte, auswendig kann – ich sollte dem Souffleur das Buch des Tartüffe gestohlen haben?

MOLIÈRE.
Was hör' ich?
LEFÊVRE.

Molière, ich bitte, beruhigen Sie sich über diesen Fall, der allerdings auf Wahrheit beruht – Fräulein Armande teilte der Polizei die Nachricht mit, daß auf eine rätselhaft Art aus dem Theaterraum das geschriebene Exemplar des Tartüffe abhanden gekommen ist. Da man nun annehmen kann, daß eine Person, die auf zweideutige Art das Theater durchschleicht –

MATTHIEU.

Molière kennt mich, Molière weiß, was meine Hände für die Kunst zu tun imstande sind; Molière weiß, daß ich nur aus Kunstinteresse den Proben beiwohnte. Ha, ein Werk entwenden, das der Welt vorenthalten bleiben soll, bis zum Aufgehen des Vorhangs –!

MOLIÈRE
aufgeregt.

Herr Lefêvre – entlassen Sie Herrn Matthieu! Dieser ehrliche Mann ist unschuldig! In der Tat, man hat mir den Tartüffe entwendet – man hat ihn mir entwenden lassen, um das Werk vor der Darstellung zu verurteilen –! Armande, edle Freundin, nun versteh' ich deine teilnehmende Fürsorge –! Unerhört! Sie kennen nicht diese Umtriebe des Neides und der Kabale – der Fall ist in dieser Art noch nicht vorgekommen – ein Raub bereits der Manuskripte –!

4. Szene
Vierter Auftritt
Dubois tritt mit einem Billett aus dem Zimmer des Ministers. Die Vorigen.
Dubois nimmt Lefêvre beiseite und läßt ihn bedenklich in den Brief einsehen.

MATTHIEU.
Das ist der Leibarzt des Königs! Der soll mich untersuchen, ob ich, ich eines Diebstahls fähig bin!
LEFÊVRE
mit dem Billett zu Molière.

Molière, es würde leichtsinnig von uns sein, wenn wir Ihnen den Inhalt eines anonymen Briefes vorenthalten wollten, welchen soeben der Polizeiminister erhalten hat und den mir Herr Dubois, Leibarzt [179] Sr. Majestät des Königs, mitteilt, um die Ansicht eines Juristen zu hören. Lesen Sie.

MOLIÈRE
liest in großer Aufregung.

»Herr Polizeiminister! Man hört, daß es im Werke ist, mit der Freiheit der Bühne einen noch nie dagewesenen Mißbrauch zu treiben. Herr Molière in seiner Sucht, sich an der gebildeten Gesellschaft dafür, daß der Stand des Schauspielers nicht der geachtetste in Frankreich ist, durch Geißelung sogenannter Torheiten und Laster zu rächen, hat seine Hand nun auch nach der Religion ausgestreckt. Unter dem Namen Tartüffe bezweckt er einen Charakter auf die Bühne zu bringen, dem Frömmigkeit die erste Lebenstugend ist. Die gute Sache der Religion erwartet von dem Minister der Polizei, daß er die Aufführung eines solchen Pasquills hintertreibt und die ohnehin schon gesunkene moralische Ehre der Stadt Paris vor den Augen der Christenheit rettet. Eine Anzahl frommer Seelen.«

MATTHIEU.

Eine von den frommen Seelen hat das Stück gestohlen! Aber beruhigen Sie sich, Herr Molière. Ich gehe nach Haus. Ich stelle das Stück aus dem Gedächtnis wieder her. Ich habe nicht umsonst seit acht Tagen die Kehrbesen der Logenschließerinnen und die Vorwürfe Madeleinens ausgehalten. Tartüffe kann nicht konfisziert werden. Tartüffe wird existieren, Tartüffe lebt aus meinem Gedächtnisse wieder auf für ewige Zeiten!Ab!


Polizeibeamte folgen.
DUBOIS.
Herr Molière, Ihre persönliche Anwesenheit wird dem Herrn Minister erwünscht sein. Se. Exzellenz!
5. Szene
Fünfter Auftritt
Lionne. Die Vorigen.

LIONNE.
Ah, guten Morgen, Lefêvre! Was sagen Sie zu dem Briefe?
LEFÊVRE.
Es ist gewiß sehr erfreulich, daß Molière gerade selbst zugegen ist.
LIONNE.
Wie, Herr Molière, Sie selbst.
MOLIÈRE.

Exzellenz, ich selbst, und noch ergriffen und erschüttert von dem Eindruck einer Denunziation, die ich zitternd in meinen Händen halte.

LIONNE.
Man hat mir das neue Stück, das Sie demnächst aufzuführen gedenken, zu verdächtigen gesucht.
MOLIÈRE.

Nicht zu verdächtigen – man hat mit offenbar lügnerischer Entstellung der wahren Tendenz dieses Stückes die Aufführung desselben in das religiöse Gewissen eines Mannes [180] schieben wollen, der zu billig, zu gerecht sein wird, die Sache der Kunst den Heuchlern zu opfern!

LIONNE.

Die Sache der Kunst, Molière, darf den gesellschaftlichen Institutionen keinen Anstoß geben. Indessen, teilen Sie mir den Inhalt des Tartüffe mit, und Sie werden finden, daß ich Satire vom Pasquill zu unterscheiden weiß. Setzen wir uns.


Setzt sich.
DUBOIS
beiseite.
Es ist schon elf – indessen – Molière zu hören – Nimmt einen Stuhl.
LEFÊVRE
beiseite.

Wenn ich auch eine Sitzung des Gerichtshofes versäume – dergleichen kommt nicht wieder! Nimmt sich einen Stuhl.


Sie sitzen.
MOLIÈRE.

Exzellenz, ich muß Sie daran erinnern, welche Aufgabe ich der französischen Bühne gestellt habe. Ich habe das Lustspiel von meinen Vorgängern in Form sittenloser und ausgelassener Possen überkommen und habe mit meinen schwachen Kräften versucht, ihm einen edlern Ausdruck zu geben. In der Poesie suchte ich eine Waffe zu finden für den Kampf der Aufklärung gegen die Lüge; ich habe den Egoismus, die Eitelkeit, den gesellschaftlichen Betrug auf der Bühne schon in den meisten seiner Spielarten darzustellen gewagt, und man hat mir das Zeugnis gegeben, daß durch mich die Bühne wenigstens eine würdigere Bedeutung gewonnen hat.

LIONNE.

Nicht nur die Nation, sondern auch Se. Majestät, Ludwig XIV., haben Molière in diesen ruhmwürdigen Bestrebungen anerkannt.

LEFÊVRE
beiseite.
Guter Chapelle, wenn du das hören müßtest!
MOLIÈRE.

Nach einer Reihe komischer Charaktere, die die Leidenschaft des Geizes, der unbegründeten Eifersucht, die Titelsucht darstellten, bin ich nun auch an eine der gefährlichsten Gattungen von Betrügern gekommen, an die Scheinheiligen, an die um Dunkeln schleichenden religiösen Heuchler. Fern sei es von mir, wahrhaft fromme Gemüter beleidigen zu wollen, fern sei es, durch den Scherz der Bühne die Sache der Religion zu beeinträchtigen – aber liegt nicht wie ein Alp auf dem Staat, auf der Gesellschaft jene falsche Religiosität, die die alles umfassende Liebe Gottes zum Privilegium einer einzelnen kleinen Koterie machen will? Sehen wir nicht täglich in die Herzen der Familien, auf die Katheder der Schulen, in die Kabinette der Minister, an die Stufen des Thrones Männer schleichen, die unter dem Deckmantel der Religion nur ihren persönlichen Ehrgeiz verbergen und nichts lieber an sich reißen möchten, als die [181] Herrschaft der ganzen Welt, während doch der Stifter unserer Religion gesagt hat: Mein Reich ist nicht von dieser Welt?! Diesen Feinden der Gesellschaft, Exzellenz, die da verfolgen, wie sie sagen, aus Mitleid, die da hassen, wie sie sagen, aus Liebe, diesen hab' ich in meinem Tartüffe den Handschuh hingeworfen zu einem ehrlichen Kampf, und ich erwarte von allen denen, die ein reines Gewissen haben, daß sie mich in diesem Kampfe unterstützen.

LIONNE.
Entwickeln Sie mir den Schlachtplan, den Sie sich dabei vorgezeichnet haben!
MOLIÈRE.

In meinem Tartüffe hab' ich die Verwirrung einer Familie geschildert, die einst das Opfer eines solchen Heuchlers wurde. Mein Vater war mit einem Manne befreundet, der sich auf die redlichste Art von der Welt ein bedeutendes Vermögen erworben hatte. Um es zu genießen, zog Duplessis aufs Land und lebte eine Zeitlang glücklich im Besitz einer schönen und liebenswürdigen Frau und zweier holden Mädchen, ihrer einzigen Kinder. Da führte ein böser Stern in den Schoß dieser Familie einen Mann, der unter dem Deckmantel der Frömmigkeit das Verderben aller wurde. Geschützt zuerst von Duplessis' alter Mutter, erwarb er sich bald die Freundschaft des reichen Mannes und benutzte sein Vertrauen zu einer Oberherrschaft, die er zuletzt über alle Angelegenheiten des Hauses gewann. Seelenfreundschaft, Herzenverschmelzung waren die Worte, die er stets im Munde führte. Duplessis, von Natur zur Melancholie geneigt, verlor den Sinn für die praktischen Bedingungen des Lebens und überließ dem heuchlerischen Freunde die Verwaltung seines Vermögens. Vortrefflich verstand es der Bösewicht, davon Vorteil zu ziehen. Man warnte Duplessis, aber ein blindes Vertrauen fesselte ihn an einen Menschen, dessen drittes Wort die Religion war. Endlich aber wurde er auf eine furchtbare Art enttäuscht. Er entdeckte, daß der schändliche Freund durch eine falsche, verhimmelnde und sinnliche Philosophie auch sein Weib Adele betört hatte, und so schwach war sein Geist durch diese falsche Religiosität geworden, daß Duplessis in dem Augenblick, wo er Weib und Freund ihrer Schändlichkeit überführen konnte, statt sich zu rächen, in einem Anfall von Geistesverwirrung sich selbst das Leben nahm. Mit dem geraubten Vermögen verließ der Betrüger das Haus und gab das entwürdigte Weib und die armen Kinder dem größten Elend preis; die Mutter starb am gebrochenen Herzen, ihre Kinder gerieten in fremde Pflege. Unmöglich war es, von den Tausenden, die ihnen gehörten, aus den Händen des Betrügers ein Almosen zu entreißen. [182] Gegen gerichtliche Verfolgung hatte er sich durch Klauseln verschanzt, er stieg von Stufe zu Stufe, er steht jetzt – doch nein! Er ist jetzt keine Person mehr, sondern nur eine Idee, die ich mir erlaubt habe zu meinem Tartüffe zu benutzen.


Lionne steht auf, die andern auch.
LIONNE.

Molière, Ludwig XIV. stellte mich an den Posten, den ich bekleide, um die Feinde der sittlichen Ordnung seines Landes zu bekämpfen. Ein solcher ist ein Dichter nicht, der sein schönes Talent nur dazu anwendet, treu der Mit- und Nachwelt zu dienen. Unter diesen Umständen hab' ich gegen die Aufführung Ihres Tartüffe nichts einzuwenden.

DUBOIS UND LEFÊVRE.
Brav, Lionne!
MOLIÈRE.

Sie beschämen mich, Exzellenz; was ich vermag, entlehnt' ich ja nur meiner Kunst, die ich liebe und die, das ist mein ganzer Stolz, mich – dafür auch wieder liebt.

LIONNE.
Und wer ist das Urbild Ihres Tartüffe?
MOLIÈRE
ausweichend.

Er – lebt – wohl nicht mehr. Und ohnehin, Herr Minister, die Tartüffes dieser und jeder Gattung laufen jetzt auf der Straße herum, daß man mit einem einzigen Griff deren Dutzende an den Fingern hat.

LIONNE.

Weichen Sie mir nicht aus, Molière! Sagen Sie offen, könnte vielleicht irgend jemand den Tartüffe, abgesehen von dem vielleicht – verstorbenen Urbilde, noch ganz besonders auf sich beziehen?

MOLIÈRE.

Ich gestehe, daß ich mich bemüht habe, hier und da einzelne Züge von solchen Scheinheiligen zu entdecken. Ich erfuhr, um damit zu schließen, eine Anekdote. Zu einem Hauptchef dieser finstern Partei kam eine junge Bäuerin aus Limoges, ein allerliebstes, junges, frisches Ding, das nirgends einen bessern Dienst zu finden glaubte, als in einem so frommen Hause. Mein Tartüffe fing an sie zu examinieren. Er wollte untersuchen, ob sie fest im Glauben wäre, zugleich, ob sie kräftige Schultern hätte, um – ihre Sünden zu tragen. Die junge Dorfschöne trug ein rotgewürfeltes Baumwollentuch, Tartüffe faßte einen Zipfel des Tuches und zerrt erst leise und dann immer stärker an dem roten Tuche. Die junge Bäuerin zieht sich zurück. Tartüffe folgt, und endlich hat er das Tuch in der Hand. In dem Augenblick geht die Tür auf. Ein Geistlicher besucht den Tartüffe. Um des Heilands Wunden, was machen Sie da, Tartüffe? fragt der fromme Freund. Totenblaß vor Angst sammelt sich der überraschte Heuchler und stottert die Antwort: Lieber Bruder im Herrn, ich suchte mir nur Aufklärung über die Baumwollenindustrie von Limoges zu verschaffen.

[183]
LEFÊVRE.

Sieh! Sieh! Kürzlich hab' ich jemanden in ähnlichen industriellen Studien überrascht. Es ist doch nicht der Präsident La Roquette?

MOLIÈRE.
La Ro –? Ich habe in meinem Tartüffe – keine einzelne Person, sondern eine – Gattung geschildert.
LIONNE.

Molière, wenn in Ihrem Tartüffe keine staatsgefährlichern Dinge vorkommen, so seien Sie unbekümmert. Tartüffe darf existieren, existieren für die französische Bühne – wenn noch Logen übrig sind, ich bitte um eine – meinen Glückwunsch zu dem vorauszusehenden glänzenden Erfolg!

MOLIÈRE.

Meine Brust erweitert sich bei dem Gedanken, daß der Dichter, Hand in Hand mit der Weisheit der Fürsten und der besonnenen Mäßigung der Staatsmänner, dem großen Berufe leben darf, wie mit Rosenfingern über die Erde zu schweben und Morgenröte auszustreuen, wo nächtiger Schlummer die Menschen noch gefangen hält. Diese eben erlebte Stunde, Exzellenz, gibt mir den Mut, freudig fortzuwandeln auf meiner dornenvollen Bahn. Es ist Zeit zur Probe. Entschuldigen Sie, daß ich mich verabschiede.


Ab.
LEFÊVRE
seinen Hut holend.
Allerdings zweierlei Stoffe, aus denen mein guter Chapelle und Molière geschaffen wurden!
DUBOIS
ebenso.

Schade, daß unsere Tartüffes nicht das Theater besuchen; die Szene, wo sie sich als Beförderer der Baumwollenindustrie von Limoges erblicken, müßte ihnen ganz besonders Vergnügen machen.

LIONNE.
Der König liebt Molière, ich will Den Brief zerreißend. solchen Insinuationen kein Gehör schenken.
BEDIENTER
meldet.
Herr Präsident La Roquette!

Alle sehen sich erstaunt an.
DUBOIS.
Wir bekommen eine Spezies des Tartüffes früher dargestellt als das Publikum auf der Bühne.
LIONNE.
Was mag er wollen?
LEFÊVRE.
Da ist er.
6. Szene
Sechster Auftritt
La Roquette. Die Vorigen.

LIONNE.
Freund Präsident, eine seltene Ehre!
LA ROQUETTE.

Vergebung, mein geliebter Bruder, ich bin nur wenig Herr meiner Zeit. Diese vielen barmherzigen Vereine, diese gottesfürchtigen milden Stiftungen, diese Universitätsreformen, Generalsynoden, neuen Schulverfassungen und was alles in das Leben eines Mannes einschlägt, der so gern den Staat auf christlichere Grundlagen verpflanzen möchte –

[184]
DUBOIS.
Diese Maßregeln bekommen Ihrer Gesundheit vortrefflich.
LA ROQUETTE.

Finden Sie das, Leibarzt? Fühlen Sie doch meinen Puls? Oder nein, lassen Sie, ich habe keinen Glauben mehr an die Ärzte.

DUBOIS.
Sie, der Sie so reich an Glauben sind! Wer hätte Ihnen diesen Glauben genommen?
LA ROQUETTE.
Die Satiriker des Tages! Doktorchen, in Paris wird alles verspottet.
LEFÊVRE.
Sogar das Studium der Baumwollenindustrie.
LA ROQUETTE.
Der Baumwollen – Wie kommen Sie auf Baumwolle?
LEFÊVRE
beiseite.

Er stutzt! Laut. Nicht wahr, es werden noch immer so viel fromme Schafe in Frankreich geschoren, daß bei uns von Baumwolle noch nicht viel die Rede ist?

LA ROQUETTE.

Sie spielen auf die Advokaten an, Herr Parlamentsrat! Seitdem unsere modernen Satiriker uns gezeigt haben, was Notare sind, kann man beim Gleichnis von der Schafschur nur an Prozesse denken. Doch das beiseit! Lieber Lionne, ich bringe Ihnen eine unangenehme Kommission.

LIONNE.
Freund La Roquette war von jeder ein Bote des Friedens!
LA ROQUETTE.
Ich habe mich auch ungern mit einer Angelegenheit befaßt, die Ihnen verdrießlich sein wird.
LIONNE.
Die Polizei hat abgehärtete Nerven. Tragen Sie Ihre Sache nur vor!
DUBOIS.
Privatangelegenheit?

Will seinen Hut nehmen.
LA ROQUETTE.

Nur zu öffentlich, Doktor! Eine Anzahl der ehrenwertesten Bürger von Paris, zweihundertundsiebzig Namen richtig gezählt, haben mich beauftragt, Ihnen eine Bittschrift zu überreichen und eine günstige Entscheidung bei Ihnen zu befürworten.


Zieht eine große Rolle aus der Tasche.
LEFÊVRE.
Man wünscht vielleicht, daß auf die roten Tücher von Limoges ein Zoll gelegt wird?
LA ROQUETTE
beiseite.
Was will er denn nur mit den roten Tüchern von Limoges?
LEFÊVRE
beiseite.
Allerliebst! Der Industriefreund ist La Roquette.
LA ROQUETTE.

Ich glaube, es ist eine sündhafte Theaterangelegenheit – zweihundertundsiebzig Bürger wünschen in jenem Papiere –

LIONNE.
Eine Kleinigkeit. Das Verbot des Tartüffe!
LEFÊVRE UND DUBOIS.
Ist's möglich?
[185]
LA ROQUETTE.

Ganz recht – man glaubt, daß es in Frankreich Anstoß erregen dürfte, wenn man dem Spottgelächter durch Schauspiele alle aufrichtigen Bekenner der Religion preisgibt –

LEFÊVRE.
Alle, Herr Präsident? Nur einen!
LA ROQUETTE.
Wen?
DUBOIS.
Der gleichsam die ganze Gattung repräsentiert –
LA ROQUETTE.

Sagen Sie, der die Religion selbst vertritt! Jene zweihundertundsiebzig Bürger finden in diesen Attentaten auf das Heiligste der Erde etwas Anstößiges und bitten den Polizeiminister, die Aufführung des Tartüffe zu verbieten.

LIONNE.
Ich suche in der Liste vergeblich einen Namen, den Ihrigen, La Roquette.
LA ROQUETTE.

Nach meinem Glauben steht die Sache der Religion zu fest, als daß sie durch Baalspriester verlieren könnte.

LIONNE.

Brav, La Roquette! Teilen Sie Ihren Klienten ganz dieselbe Antwort mit. Der Tartüffe von Molière wird in drei Tagen gegeben werden.

LA ROQUETTE.
In drei – Tagen –?
LEFÊVRE.

Die Schauspieler haben so gut gelernt, daß sie nur noch wenig Proben nötig haben. Besonders geht die Szene mit dem Tuche sehr gut –

LA ROQUETTE.
Welche?
LEFÊVRE.
Kommen mehrere Tuchszenen vor?
LA ROQUETTE.

Meine Herren, ich wiederhole, was ich jenen zweihundertundsiebzig der ersten und angesehensten Bürger von Paris sagte, daß die Religion den Spott eines Gauklers nicht zu fürchten hat –

DUBOIS.
Aber dieser Gaukler soll viel Geist und ein sehr großes Nachahmungstalent haben.
LA ROQUETTE.

Das werden Sie bald selbst erfahren – Wissen Sie nicht, daß nach glücklichem Erfolge des Tartüffe sein nächstes Sujet der »Kranke in der Einbildung« sein wird?

DUBOIS.
Molière wird kranke Menschen nicht verspotten.
LA ROQUETTE.
Die Kranken nicht, aber die Ärzte.
DUBOIS.
Was sollte Molière an den Ärzten zu tadeln haben?
LA ROQUETTE.

Lassen Sie sich die zwei ersten Akte eines Lustspielchens geben, das Molière bei Ninon de Lenclos vorgelesen hat. Binnen wenig Monaten werden nicht nur die Tartüffes, sondern auch die Diafoirus dem Gelächter von Paris preisgeben sein.

DUBOIS.
Wer ist Diafoirus?
LA ROQUETTE.

Der größte Ignorant in der Medizin, der sich jemals Doktor genannt hat, ein Quacksalber, der ohne Sinn und [186] Verstand die Menschen mit Purganzen umbringt, ein gewissenloser Küchenlateiner, der von der Fakultät in Montpellier für eine neue Gattung Pillen belobt wurde, die aus Brotkrumen gedreht wurden, für eine Tinktur, die Brunnenwasser war, für ein Pflaster, das aus ganz gewöhnlichem Pech bestand! Herr, binnen einem Jahr werden die Ärzte ihre Kutschen abschaffen müssen, und wo ein Kranker liegt und ein Arzt erscheint, da wird man den Arzt zur Tür hinauswerfen.

DUBOIS
sieht nach seiner Uhr.

Ich plaudre – und plaudre – man hat mir allerdings gesagt, daß bei Ninon über zwei Akte von Molière sehr anzüglich und in der Tat über uns Ärzte gelacht worden ist – aber, Exzellenz, hören Sie darauf gar nicht – die Bühne muß ihre Freiheit haben.

LA ROQUETTE.

Und noch ein anderer Arzt kommt in jenem Lustspiel vor, ein gewisser Purgon, und ein Apotheker, namens Fleurant, der Blühende, weil Ärzte und Apotheker zusammen blühen und gedeihen, während die Kranken zugrunde gehen – und Purgon und Diafoirus haben sich beide den Tod geschworen, und mit Pillen und Latwergen liefern sie ihre Schlachten – in dem kranken Leichnam des armen Argant. Noch weiß ich nicht, ob Dubois mehr dem Diafoirus oder dem Purgon ähnlich sehen wird, aber das weiß ich, daß die Ärzte sich beeilen können, ihre goldgesegnete Praxis sicherzustellen; denn nach Molières »Krankem in der Einbildung« werden die Pariser nicht mehr wissen, wie man einen Arzt von einem Scharlatan unterscheidet.

DUBOIS.

Exzellenz, allerdings sollte die Bühnenfreiheit gewisse Grenzen haben, die Molière, ein Mann, der mir am Unterleib zu leiden scheint, mit einem Wort ein Hypochonder, nicht überschreiten sollte. Indessen – allerdings – wenn man freilich – gesetzt auch – gewissermaßen – Es ist das nur so meine einfache, schlichte Meinung, Exzellenz. Ich habe die Ehre, guten Morgen zu wünschen.


Ab.
LEFÊVRE
den Minister betrachtend, der die Adresse liest.

Die Adresse scheint zu wirken. Herr Präsident hat Molière in seinem Pult auch ein Stück gegen die Advokaten liegen? Mich sollen Sie so bald nicht bekehren.

LA ROQUETTE.

Herr Parlamentsrat, es sollte mir leid tun, wenn Sie glaubten, daß ich gegen Molière eingenommen bin und überhaupt das Verbieten von Büchern und Theatervorstellungen billigte. Indessen schätz' ich die Advokaten zu sehr – Bin ich doch selbst der Präsident eines Gerichtshofes –

LEFÊVRE.
Molière wird die Advokaten nicht angreifen.
LA ROQUETTE.
Er hat sie schon angegriffen.
[187]
LEFÊVRE.
Wo?
LA ROQUETTE.
Im Tartüffe. Ich habe den Tartüffe gelesen.
LEFÊVRE.
Wissen Sie, daß dem Dichter ein Exemplar gestohlen wurde?
LA ROQUETTE.

In – der – Versammlung jener zweihundertsiebzig Bürger war ein Exemplar aufgeschlagen. Wie es dorthin gekommen, weiß ich nicht. Hier ist der Tartüffe.


Holt ein Buch in Kleinquart aus der Tasche.
LIONNE
nimmt es.
Das also ist das Werk, das uns in der Tat so ernst zu beschäftigen anfängt!
LEFÊVRE.

Nun bin ich doch begierig, wo Molière hier auch die Advokaten und Notare lächerlich gemacht haben kann.

LA ROQUETTE.

Vier Akte hindurch gilt der Jubel des Publikums jenem Scheinheiligen, in dessen Zeichnung sich kein in dem Herrn Gerechter wiedererkennen wird. Aber im fünften Akt dreht sich die Sache. Tartüffe hat durch Erbschleicherei – lesen Sie selbst – sich ein Kodizill zu verschaffen gewußt, das ihn in den Besitz eines bedeutenden Teils von Orgons Vermögen setzt. Die Justiz, im Bund mit der Scheinheiligkeit, wird dargestellt in der Person eines Herrn Loyal – Loyal, Advokat, Notar und erster Huissier am obersten Gerichtshof von – Konstantinopel oder Kalkutta, wo Sie wollen – wer wird da an Paris denken?

LEFÊVRE
für sich.
Sonderbar, ich bin Advokat, Notar und erster Huissier –
LA ROQUETTE.

Akt fünf, Szene vier. Lesen Sie nur die salbungsvollen Worte, die Herr Molière dem Repräsentanten der Notare in den Mund legt, lesen Sie die Worte, die Herr Loyal von sich selber spricht: Ich bin der Herr Loyal, ja, aus der Normandie –

LEFÊVRE.
Ich bin aus der Normandie! Beiseite. Ist das die Rache für die polizeiliche Leseprobe?
LA ROQUETTE.

Herr Loyal setzt sein ganzes System erbärmlicher Schikanen auseinander, durch welches dieser Stand der Notare, wie Sie wissen, sich im Pariser Publikum einer so großen Popularität zu erfreuen hat. Glauben Sie, Exzellenz, daß das Parterre bei der Stelle weinen wird, wenn der arme geprellte und betrogene Orgon sagt – hier lesen Sie, Exzellenz – er gebe hundert Louisdor darum, wenn er dem rechtsverdrehenden Herrn Loyal geben dürft' einen Schlag, den er verspüren sollt' bis auf den Jüngsten Tag!

LEFÊVRE.

Dieser Vers steht dort? Das ist arg von Molière! Ich habe nicht geglaubt, daß Molière darauf ausgeht, den Stand der Notare und Huissiers lächerlich zu machen. Exzellenz, [188] gewisse Grenzen muß die Bühne haben – Grenzen, die ein Mann, wie Molière, ein Mann, der sich ärgert, daß Fälle vorkommen, wo er Prozesse verliert, respektieren sollte.

LIONNE.
Sie wünschen das Verbot des Tartüffe?
LEFÊVRE.

Das nicht – keineswegs – allein – indessen – allerdings – wenn man freilich – gesetzt auch – ich habe die Ehre, mich gehorsamst zu empfehlen.


Ab.
LIONNE.

Sie mögen in manchem Punkt recht haben, lieber Freund, und ich selbst gehöre am wenigsten zu denen, welche die Ausgelassenheit der Literatur billigen. Indessen Sie kennen den Lärm, den solche Verbote hervorrufen, Sie wissen, daß der König, wenn ihn auch Krieg, Administration und Bauten so einnehmen, daß er selbst wenig lesen kann, sich doch einen freien Sinn über die Interessen der Kunst erhalten hat; er liebt Molière –

LA ROQUETTE.
Sr. Majestät dem König wird ohnehin die Aufführung des Tartüffe sehr schmeichelhaft sein –
LIONNE.
Wieso dem – König?
LA ROQUETTE.
Weil sich am Schluß des Stücks eine pikante Hinweisung auf ihn selber findet.
LIONNE.
Auf Se. Majestät?
LA ROQUETTE.

Eine Person des Stücks hat die Keckheit, Ludwig XIV. eine Art Triumph- und Lobrede von der Bühne herab zu halten.

LIONNE.
Eine Person –? Doch wohl nicht gar –
LA ROQUETTE.
Eine Dame? Das wäre sehr indiskret.
LIONNE.

Präsident! Bleiben Sie bei der Sache – Molières Herz mag ihn hierin irregeleitet haben. Indessen gilt diese Lobrede doch wohl nur dem Gerechtigkeitssinn des Fürsten?

LA ROQUETTE.

Die Schlußworte sprechen die Freude aus, daß Ludwig XIV. einfache, schlichte Religiosität dem gleißnerischen Treiben der Tartüffes vorzieht –

LIONNE.
Die Freude, daß –? Hm!
LA ROQUETTE.

Se. Majestät ist bis zur Stunde noch im Zweifel, was Sie vom Kampf gegen die Jansenisten, von unsern Missionen in den Provinzen, von den Ordensverbrüderungen denken sollen – nun nimmt sich bereits ein Schauspieler die Freiheit, ihm vor ganz Frankreich den Weg zu zeigen, den er im gegenwärtigen Kampf der Religion gegen die Weltlichkeit dieser Tage einschlagen soll!

LIONNE.

Der König wird sich verletzt, beleidigt fühlen, wenn man sich erlaubt, aus seiner Seele heraus Theorien und Grundsätze zu proklamieren, die ihm, öffentlich auf der Bühne ausgesprochen, auf diese Art gleichsam zwangsweise zugemutet werden.

[189]
LA ROQUETTE.
Namentlich durch den Mund der Polizei!
LIONNE.
Der Poli –?
LA ROQUETTE.
Jene Lobrede hält dem König ein einfacher, biederer, gemütlicher Polizeikommissarius.
LIONNE
sieht das Buch an.
Polizeikommiss –?
LA ROQUETTE.

Man wird nun in England sagen, wenn in Frankreich der König gelobt werden will, muß er die Polizei zu Hilfe rufen!

LIONNE.

Wirklich die Popo – Popolizei? Auch die Polizei soll der Satire nicht mehr heilig sein? La Roquette, setzen Sie diese ehrenwerten Bürger von Paris in Kenntnis, daß ich mich bewogen fühle, an das Wohl der Menschheit zu denken. Wenn die Polizei nicht mehr sicher ist –! Genug, dies Buch werd' ich Molière, als durch meine Bemühungen aufgefunden, zurückstellen, aber mit dem Bemerken, daß ich im Interesse der einzig wahren Religion eines gebildeten Staates, im Interesse der Polizei, die Aufführung seines Tartüffe verbieten müsse!


Ab.
LA ROQUETTE
triumphierend.

Alle sind sie Tartüffes! Alle –! Ob in schwarzen Gewändern, ob heimlich oder offen, ob betend oder fluchend, ob vor Heiligen kniend oder vor schönen Weibern oder – vor ihrem eigenen Egoisums – alle sind sie Tartüffes! Der Sieg ist mein! Jetzt hab' ich nur noch die eine Frage: Duplessis, wie ist Molière zu deiner Geschichte gekommen? Bleibt in sinnender Überlegung stehen.


Der Vorhang fällt.

3. Akt

1. Szene
Erster Auftritt
Delarive. Dann ein Lakai und Lionne.

DELARIVE
am Fenster.

Minute auf Minute vergeht, und die ersehnte Antwort will nicht eintreffen. Armande weiß es kaum, wie sehr sie ihren königlichen Beschützer beschäftigt. Versailles in seiner Einsamkeit scheint auf seine Phantasie wieder ebenso belebend gewirkt zu haben, wie jetzt die Nähe des Lampenlichtes –

LAKAI.
Se. Exzellenz, der Polizeiminister.

Ab.
LIONNE
eintretend.
Guten Morgen, Kammerherr – Sie sind lange in Versailles geblieben.
[190]
DELARIVE.
Zeitig genug zurückgekehrt, um herzlich lachen zu können.
LIONNE.
Worüber?
DELARIVE.
Lionne, Sie sind der erste Komiker von Paris –
LIONNE.
Die Polizei erscheint Ihnen komisch? Worüber lachen Sie denn?
DELARIVE.
Ha, ha, ha! Sie werden den König in einer Laune finden – Ha, ha, ha!
LIONNE.
Ha, ha, ha!
DELARIVE.
Worüber lachen Sie denn?
LIONNE.
Ja, worüber lachen denn Sie?
DELARIVE.

Kommen Sie, Lionne! Der König wird Sie umarmen, Sie haben ihm die heiterste Morgenstunde verschafft – ha, ha, ha!

LIONNE.
Etwas Polizeiliches ist ihm lächerlich vorgekommen? Doch sonderbar –

Delarive zieht ihn lachend fort zur Seite.
2. Szene
Zweiter Auftritt
Madeleine tritt vorsichtig umspähend in königlicher Pagentracht ein.

MADELEINE.

Nun, da bin ich! – – Ich fange meine theatralische Laufbahn mit Verkleidungsrollen an. Tartüffe ist verboten, und jetzt müssen wir auf der Straße Komödie spielen! Armande sagte mir, ich sollte eine Sänfte nehmen, dreist, am Tuileriengarten aussteigen, wie ein Page an den Schildwachen keck vorübergehen, die große Treppe hinauf, dann links und dies Briefchen an einen Herrn abgeben, der nicht jung, nicht alt, nicht hübsch, nicht häßlich ist, einen Mann, der sich Kammerherr Delarive nennt –

3. Szene
Dritter Auftritt
Delarive. Madeleine.

DELARIVE.
Ein Page, den ich nicht kenne –
MADELEINE.

Mein Herr, daß Sie nicht jung, nicht alt, nicht hübsch, nicht häßlich sind, das kann ich mir selber sagen, ob Sie aber ein Mann sind, der sich Kammerherr Delarive nennt –

DELARIVE.
Hat man dich kleinen Naseweis bei Sr. Majestät angestellt, während wir in Versailles waren?
MADELEINE.

Es tut mir leid, mein Herr, daß man dies wahrscheinlich getan hat, ohne Sie zu fragen. Dies Billet soll Sr. Majestät dem König eigenhändig übergeben werden.

[191]
DELARIVE.

Von wem? Beiseite. Seiner Impertinenz nach zu schließen, scheint der Bursch dem ältesten Adel Frankreichs anzuhören –

MADELEINE.
Untersuchen Sie den Brief nicht zu lange! Se. Majestät werden die Handschrift sehr bald erkennen –
DELARIVE.

Wissen Sie nicht, daß Sie als Page keinen Brief annehmen dürfen, dessen Empfänger sich nicht genannt hat? Wie lange trägt man dieses Kleid? Beiseite. Ich glaube, es ist der junge Herzog von Crillon!

MADELEINE
beiseite.

Ich zittere an allen Gliedern; aber ich soll ja dreist und keck auftreten Laut. Erst seit einer Stunde.

DELARIVE.

Ohne daß Sie dem diensttuenden Kammerherrn vorgestellt sind? Und dieser grobe Sammet, diese unechten Tressen –

MADELEINE.

Sie sehen daraus, Herr Kammerherr, welche Unterschleife man sich in der Intendantur der königlichen Garderobe erlaubt! –

DELARIVE.
Ich höre Se. Majestät – Fort! –
MADELEINE.

Der Brief ist von einer Dame, mein Herr! Für den Fall, daß Se. Majestät mich als Boten der Antwort zu befehlen geruhen, wart' ich hier im Nebenzimmer – –

DELARIVE
drängt Madeleine zur Seite ab.

Diese grobe Uniform! Man möchte glauben, der Intendant borgt die Pagenkleider aus Molières Theatergarderobe –

MADELEINE
im Abgehen.

Oder die Theatergarderobe Molières kauft dem Intendanten die abgelegten Livreen ab. Kennen Sie die Geschichte von der plauderhaften Schere? Es war einmal eine Schere –

DELARIVE.
Scheren Sie sich! Der König! Madeleine ab zur Seite.
4. Szene
Vierter Auftritt
Ludwig XIV. von innen Lionne. Delarive.

LUDWIG.
Ha, ha, ha! Lionne! Das ist eine sehr lustige Geschichte!
LIONNE.
Ew. Majestät geruhen –
LUDWIG.

Sehr ungnädig zu sein! Kaum hat man sich einige Tage von Paris entfernt, so glaubt man in ein Chaos zurückzukehren.

LIONNE.

Ich dachte im Interesse der Ordnung zu handeln, wenn ich die Aufführung eines Stückes verbot, das mehr ein Pasquill als ein Kunstwerk ist.

LUDWIG.
Die Polizei spricht von Kunstwerken! Sie bleiben immer im Komischen!
[192]
LIONNE.

Sire, ich bin nicht Kenner genug, um zu entscheiden, ob ein Werk nach den Regeln des Aristoteles gearbeitet ist, aber das weiß ich, der Tartüffe wimmelt von Anzüglichkeiten auf die Polizei.

LUDWIG.

Sagen Sie, wenn ehrliche Menschen über die Polizei lachen, ist denn das ein Verbrechen? Es wäre nur schlimm, Lionne, wenn die Verbrecher Sie auslachten! Sie haben durch Ihr Verbot ganz Paris aufgeregt; Sie haben meine Regierung hingestellt, als müßte sie vor den Versen eines Schauspielers zittern; das gibt nur denen, die unterdrückt werden, Märtyrerkronen, und die, die sich fürchten, erscheinen kindisch.

LIONNE.
Wenn Sie geruhen wollten, Sire, das Stück zu lesen –
LUDWIG.

Um Gottes willen nicht, Lionne! Dazu braucht' ich drei ungestörte Stunden, und wo fänden sich die auf dem Throne von Frankreich! Beiseite zu Delarive. Nun, Delarive? Wie ist's mit Armande? Haben Sie Erkundigungen eingezogen?

DELARIVE.

Leider! Sie wird der Truppe nach Lyon folgen, wohin Molière während der Ferien zu Gastvorstellungen eingeladen ist.

LUDWIG.

Diese Ferien, diese Urlaube, ich werde sie abschaffen. Lyon soll sich selbst ein Theater halten! Beiseite. – Delarive, ich hoffe, daß wir mit Armanden wieder anknüpfen. Nichts von Lyon! Ich gebe die Erlaubnis nicht.

DELARIVE
beiseite.
Die Geschenke, die Ew. Majestät der liebenswürdigen Dame angeboten, hat sie angenommen.
LUDWIG
beiseite.

Bester, das beweist nichts! Schauspielerinnen betet man an, beschenkt sie, sie bewilligen uns nichts und die Geschenke – behalten sie doch.

DELARIVE.
Es ist mir fast, als käme dies Billet von Armande – Von einer Dame ist es.
LUDWIG.

Ein Billet Öffnet. von Armanden! »Sire, ich schreibe Ihnen in der größten Betrübnis. Das Verbot des Tartüffe – Liest für sich weiter. wie kann ein Monarch – die erhabenen Grundsätze – die Rolle der Elmire lassen Sie mich Ihnen heute trotz der Kulissengesetze in Ew. Majestät Theaterloge – – Laut. großmütiger Schutz der Künste und Wissenschaften – das Verbot eines Stückes – Armandens ewige Dankbarkeit, Liebe und Verehrung –!« Ist es möglich! Laut und mit Zorn. Lionne, ich begreife nicht, wie man ein Stück, das so vortreffliche Rollen enthält, verbieten kann! Es ist unerhört, welche Impopularität man auf meinen Namen bürdet – Ich finde das Verbot geradezu unpassend, abscheulich und kann nicht begreifen, welche Rücksicht ich [193] auf die Heuchler und Frömmler zu nehmen habe, und warum man überhaupt solche Dinge an die große Glocke hängt und mich zwingt, über Dinge zu entscheiden, die man stillschweigend ihren harmlosen, natürlichen Lauf gehen lassen sollte.

LIONNE.

Sire befehlen, so werd' ich Anstalten treffen, daß die Vorstellungen des Tartüffe freigegeben werden! Verbeugt sich und will gehen.


Lakai erscheint.
LUDWIG.
Hab' ich noch eine Audienz zu geben?
LAKAI.
Präsident La Roquette.
LUDWIG.
La Roquette? Was führt den frommen Mann zu dem weltlichen Ludwig?
LIONNE
beiseite.
Nun werd' ich warten können –
5. Szene
Fünfter Auftritt
La Roquette tritt ein. Die Vorigen.

LUDWIG.
Sie sind nicht in der Kirche, Präsident? Man pflegt Sie um diese Zeit im Beichtstuhl zu sehen.
LA ROQUETTE.

Der Drang, Ew. Majestät nach Allerhöchstdero Rückkunft von Versailles wohlbehalten und in jugendlicher Schöne zu begrüßen ...

LUDWIG.
Hat sich während meiner Abwesenheit im Parlamente Neues begeben?
LA ROQUETTE.

Die Tatsachen stehen in Frankreich auf so festem Grunde, daß es der Veränderungen und Neuigkeiten wenige gibt.

LUDWIG.

Und denken Sie sich, La Roquette, dennoch verbieten meine Räte und Minister eine harmlose Komödie, die zum Vergnügen der Einwohner von Paris auf meiner Bühne dargestellt werden sollte!

LA ROQUETTE.
Ew. Majestät meinen –
LUDWIG.

Den Tartüffe von Molière, einem Dichter, den ich schätze, den ich auszeichne. Können fromme Gemüter dadurch beleidigt werden, wenn man religiöse Falschmünzer an den Pranger stellt?

LA ROQUETTE.

Ew. Majestät muß ich danken, daß ich bei dieser Veranlassung von dem Tartüffe etwas Näheres erfahre. Die Bühne liegt so ganz außer dem Kreise der Dinge, auf welche ich meine sündigen Augen richte –

LIONNE
beiseite.
Spitzbube!
LUDWIG.

Nicht wahr, Lionne? Sie sagten etwas? Sie sehen ohne Zweifel, daß auch Präsident La Roquette es fühlt, wie treffend der Stoff ist, wie belehrend und wie harmlos!

[194]
LA ROQUETTE.

Unendlich harmlos! Nur bedaur' ich in diesem Falle jene armen Deputationen, die im Vorsaal harren, um Ew. Majestät für die Unterdrückung des Tartüffe den Dank aller Ihrer getreuen Untertanen auszusprechen –

LUDWIG
voll Erstaunen.
Delarive!

Delarive geht an die Tür und öffnet.
LUDWIG.

Deputationen, die mir Glück wünschen, daß ich den Tartüffe verboten habe! Ha, ha! Herein doch mit diesen komischen Leichengratulanten! Wahrhaftig, wäre Molière da, daraus macht' er eine Komödie!

6. Szene
Sechster Auftritt
Dubois. Lefêvre. Chapelle. Die Vorigen.

LUDWIG.

Willkommen, meine Herren, in Paris. Guter Dubois, was tun denn Sie unter diesen Deputationen? Sie wollen mir doch nicht auch Dank sagen, daß man den Tartüffe verboten hat?

DUBOIS.
Sire, im Namen der Ärzte von Paris –
LUDWIG.

Dubois! Ich glaube gar, Sie haben ein Komplott, nicht gegen Molière, nein, mit ihm, um mir Spaß zu machen.

DUBOIS.

Majestät, ohne Scherz, wohin soll es führen, wenn die Bühne sich erlauben darf, jeden Stand, jedes Gewerbe, jede Kunst und Wissenschaft dem Gelächter der Menge preiszugeben?

LUDWIG.

Dubois! Ein Arzt protestiert gegen das Lachen! Das Lachen ist ja die einzige Arzenei, die man sich nicht aus der Apotheke verschreiben kann.

DUBOIS.

Molière hat die Absicht, nach und nach jede Kunst, jede Wissenschaft herabzuwürdigen. Jetzt schon arbeitet er an einer Satire gegen die Ärzte. Wenn sich das Vertrauen gegen die Ärzte verliert, dann, Majestät, hört jede öffentliche Ordnung auf. Der Aberglaube wird an die Stelle vernünftiger Einsicht treten; die Menschen werden hinsterben wie die Fliegen; die Bevölkerungstabellen aus Paris und den Provinzen werden für Dero untertänigste Armee die traurigsten Resultate liefern.

LUDWIG.

Wo ist Condé, wo ist Turenne, damit die mir sagen, Molières Lustspiele werden Frankreich entvölkern! Und Sie, Lefêvre, wird durch Molières Lustspiele in Frankreich die gefährliche Mode eingeführt werden, weniger Prozesse zu führen?

LEFÊVRE.

Sire, ich komme als Abgeordneter des entrüsteten Justizpalastes. Die Advokaten von Paris haben jahrelang die giftigen Pfeile ertragen, die Molière in seinen Komödien auf sie abschießt. So sehr sie auch empfanden, daß ihre Praxis unter[195] diesen Diatriben litt, sie haben geschwiegen. Im Tartüffe aber geht Molière so weit, den Huissiers, wenn sie im Namen des Gesetzes erscheinen, um saumselige Schuldner auszupfänden, Schläge anzudrohen. Sire, kein Staat kann bestehen, wo die Huissiers Schläge bekommen.

LUDWIG.

Meine Herren, wohin geraten wir denn! Hab' ich nicht, fast bis zum Überdruß, hören müssen, daß Racine, Corneille, Molière, Boileau und ich zusammengenommen das Zeitalter des Augustus wiederholen? Wer ist hier dieser Herr?

DELARIVE.
Chapelle, Mitglied der Akademie.
LUDWIG
halblaut.

Schlimm für den Ruhm eines Akademikers, wenn man ihn nicht auf den ersten Blick erkennt! Laut. Sie kommen doch nicht im Namen des Aristoteles?

CHAPELLE.
Sire, als die Musen eines Tages die Ehre hatten, die erhabenen Träume Ew. Majestät zu umschweben – –
LUDWIG.
Ich schlafe sehr niedrig, Chapelle.
CHAPELLE.
Als eines Tages die Musen die Ehre hatten, die Träume –
LUDWIG.
Ich schlafe nicht am Tage, Chapelle – also, was geschah da?
CHAPELLE.
Ew. Majestät stifteten die Akademie.
LUDWIG.
Ganz recht! Warum haben Sie Molière noch nicht aufgenommen?
CHAPELLE.

Sire, einen Schauspieler! Einen Possendichter, der sich nicht an die Regeln hält! Im Namen dieser Regeln, im Namen dieser ewigen Kunstgesetze steh' ich vor Ew. Majestät und flehe demutsvoll, inbrünstiglich, ein huldvolles Auge auf die Verschlechterung des Geschmacks zu werfen und Dero erhabenen Schutz von einer Literatur abzulenken, welche die Neuerung wagt, sich mehr an spanische, englische und italienische Muster zu halten, als an die ewigen Vorbilder der Griechen und der Römer. Ja, Sire, statt dem Ideale zu dienen, greift dieser Molière seine Stoffe förmlich, mit Erlaubnis zu sagen, von der Straße auf – Menschen, die uns stündlich in den Weg laufen, bringt er bestäubt und ungesäubert auf die Bühne und läßt sie in einer Sprache reden, Sire, in einer Sprache, die immer mehr zur bürgerlichen Prosa des Lebens herabsinkt. Majestät, in diesem Tartüffe kommt eine Szene vor, wo der scheinheilige Betrüger einem Frauenzimmer ein Tuch –

LA ROQUETTE.
Halten Sie sich doch an die Sache!
LUDWIG.
Ein Tuch?
CHAPELLE.
Ja, Sire Tartüffe nähert sich Elmiren mit zweideutigen Absichten –
[196]
LUDWIG
beiseite.
Das ist Armandens Rolle!
CHAPELLE.

Elmire weist Tartüffe zurück. Er aber, bei jener Stelle, wo er ausweichend erklärt, er hätte das Tuch, das Elmire trägt, nur deshalb berührt, um die Baumwollenindustrie –

LA ROQUETTE.
Sie gehen zu sehr in die Details ein –
LUDWIG.
Lassen Sie ihn doch, Präsident! Die Szene scheint originell zu sein –
CHAPELLE.

Nicht von der Szene red' ich, Sire, nicht von der Erfindung, sondern von einem entsetzlichen Reim, den sich der Autor an dieser Stelle wider alle Regeln der Metrik erlaubt hat – er läßt nämlich in einem Verse die neunte Silbe, nein, die siebente oder doch die neunte – – nein, nein, die siebente – oder – Die Akademie hat diesen Gegen stand ausführlich in einer eigenen Denkschrift behandelt, die ich hiermit die Ehre habe, Ew. Majestät demutsvoll zur baldigen Lektüre zu überreichen.

LUDWIG
nimmt den ihm überreichten Quartband und legt ihn auf den Tisch.

Ich werde diese kleine Broschüre lesen, sehr bald lesen! O, ich bin ein großer Freund vom Lesen! – Also eine ganze Armee gegen ein Lustspiel! Herr Präsident, ich wende mich an Sie. Vertiefen Sie sich ganz in die Seele Ihres Souveräns, ermessen Sie meine Stellung zur Zeit, forschen Sie meinen innersten Gedanken nach, und geben Sie mir dann einfach über das Schicksal des Tartüffe den Rat, den ich wünschen muß.

Zugleich.
LA ROQUETTE.
Sire – ich – über – den Tartüffe?
LIONNE
beiseite.
La Roquette, mein Nachfolger?
DUBOIS
beiseite.
Ihre Stellung als Minister wird gefährlich –!
LUDWIG.
Ich habe hier noch einige kleine Geschäfte –

Sucht in andern Papieren und spricht mit Delarive.
LA ROQUETTE UND LIONNE.
Majestät!
LUDWIG.
Zu diesen Herren reden Sie, La Roquette!
LIONNE.
Meine Herren – Sie hören –
LUDWIG.
Nein, Lionne, La Roquette! Ich fange an, zu La Roquette Vertrauen zu gewinnen –
Zugleich.
LEFÊVRE
beiseite.
Er wird seine Stelle bekommen.
LA ROQUETTE
beiseite.
Minister – durch einen Selbstmord –!
LIONNE.

Sire, ich verstehe jetzt vollkommen Ihre Absichten – Meine Herren, Sie hören, daß Se. Majestät ein viel zu großer Verehrer der wahren Interessen – der schönen Künste –

LA ROQUETTE.
Und der Komödie ist, als daß Sie der Neugier des Publikums –
LIONNE.
Dem Vergnügen des Publikums –
LA ROQUETTE.
Eine Vorstellung entziehen möchten, die –
[197]
LIONNE.
Durch die –
LA ROQUETTE.
Von der –
LIONNE.
Durch welche –
LA ROQUETTE.
Von welcher
LUDWIG.

Ah, ich habe noch Räte, die die Tiefe meines Herzens ergründen! Ja, meine Herren, Sie hören, daß ich das Verbot des Ministers nicht billigen kann; ich rate Ihnen, rate Ihren Kommittenten, getrosten Mutes in die erste Vorstellung des Tartüffe zu gehen und Ihre Bedenklichkeiten dadurch zu heilen, daß Sie in den allgemeinen Beifall des Publikums mit einstimmen. Sie, Herr Präsident, Sie haben die Messe versäumt. Entschuldigen Sie mich bei Ihrem Beichtvater! Ich kann den Tartüffe nicht verbieten; denn merken Sie wohl, meine Herren, zu allen Zeiten, von dem Tage an, wo das Königtum langweilig wurde, datierten sich die Republiken. Und ich leugne nicht, es ist schön, meine Herren, König von Frankreich zu sein! Wendet sich nach innen.


Delarive folgt.
DUBOIS
sieht Lefêvre lange an und bricht dann ab.
Guten Morgen! Ab.
LEFÊVRE
sieht ebenso Chapelle an.
Guten Morgen! Ab.
CHAPELLE
sieht ebenso Lionne an.
Exzellenz, guten Morgen! Ab.
LIONNE
sieht La Roquette an.
Herr Nachfolger, guten Morgen! Ab.
LA ROQUETTE
allein und außer sich.

Er bleibt Minister, und alles ist verloren! Vernichtet, geopfert dem Gelächter von Paris und der Welt! Der Tartüffe bin ich! Orgon ist Duplessis, Elmire ist Adele – Molière, wer hat dich in das Reich der Toten geführt? Heilige Vernunft! Gib mir einen Rat, Faltet die Hände. ich flehe zu dir, Schlauheit der Luchse, Klugheit der Schlangen, Geschmeidigkeit der Katzen, wirf mir eine Schlinge zu, noch so dünn, ich fädle sie in eine Intrige –! Ich, ich soll auf die Bühne –! O Gott, wenn ich je falsch gebetet habe, daß heute ein aufrichtiger Blick gen oben mir Hilfe brächte –

7. Szene
Siebenter Auftritt
Madeleine. La Roquette.

MADELEINE
beiseite.

Da ist ja schon wieder der Tartüffe! Der alte Freund des Herrn Chapelle ist wahrhaftig in die Rolle ganz vernarrt.

LA ROQUETTE
murmelt.
Wenn ich Molière dem König plötzlich irgendwie verhaßt machen könnte!
[198]
MADELEINE
beiseite.

Er spielt die sechste Szene aus dem dritten Akt! Er gesteht seine Sünden ein und will seinen Freund Orgon durch Demut rühren.

LA ROQUETTE
wie vorhin.
Satan, hilf!
MADELEINE.
Bravo, Herr Tartüffe! Vortrefflich – Tartüffe flucht auch, wenn die Leute glauben, er betet.
LA ROQUETTE.
Was ist! Ich bete wirklich!
MADELEINE.
Haha, gerade so hat Molière dies scheinbare Gebet auch auf der Probe markiert.
LA ROQUETTE.
Wer sind Sie? Stören Sie mich nicht in meiner Andacht!
MADELEINE.

Nächst Molière sind Sie der vortrefflichste Schauspieler in ganz Paris, und ich begreife ganz die Freundschaft des Herrn Chapelle – Beiseite. Aber was tu' ich! Ich verrate mich ja – Er scheint mich nicht zu erkennen –

LA ROQUETTE.
Sieh – sieh! Das ist ja – so wahr ich lebe – Madeleine – Béjart –
MADELEINE.
St! Den Finger auf den Mund! Schweigen Sie!
LA ROQUETTE.
Wie kommen Sie in diese Kleider und hierher, allerliebstes Kind?
MADELEINE.

In Sachen unseres gemeinschaftlichen Freundes Molière, mit dessen Schöpfungen Sie so vertraut sind. Wissen Sie denn, daß die Aufführung des Tartüffe verboten ist?

LA ROQUETTE.

O trösten Sie mich – Sich verbessernd. trösten Sie sich, Se. Majestät haben soeben das genannte Lustspiel wieder freigegeben –

MADELEINE.
Freigegeben? Es war Ihre Stimme, die soeben –
LA ROQUETTE.

Das Verbot aufhob! Sie können nunmehro alle Herzen von Paris erobern, Sie kleiner – Teufel! Wie kommst du – in – diese Kleidung?

MADELEINE.

Nun könnt' ich Sie küssen, umarmen – ich sehe nicht mehr, daß Sie so grundhäßlich sind – Tartüffe wird gegeben – weil Sie dafür sprachen? Um Ihretwillen?

LA ROQUETTE.
Meinet –? Ja! Ich – ich bat darum! Aber wie kommst du kleiner Narr in diese Kleidung?
MADELEINE.

Diese Kleidung? ... Nun, da Sie Molières wahrer Freund sind, der begeisterte Vertraute seiner neuesten Schöpfungen und so außerordentlich die Kunst lieben, so hören Sie! Mädchen, sagte Armande zu mir, auf der Bühne will sich dir durch das Verbot des Tartüffe noch kein Wirkungskreis eröffnen, da, nimm die Kleider eines königlichen Pagen! – [199] Aber – was tu' ich – Paragraph sieben der Theatergesetze verbietet, Kulissengeheimnisse auszuplaudern!

LA ROQUETTE.

Sie schrieb – an Se. Majestät – nicht wahr – an Se. Majestät – der Armanden beschützt – der sie mit liebenden Armen beschützt – etwa so wie ich dich hier umfange – kleiner Goldfasan!

MADELEINE.
Behüte, wo denken Sie hin? – Das würde sich Herr Molière sehr verbitten.
LA ROQUETTE.
Molière? Protegiert dich Molière?
MADELEINE.
Das würde sich Fräulein Armande verbitten.
LA ROQUETTE.

Armande – Molière – sind also ein Paar? Und doch gibt es einen vertrauten Briefwechsel – hierher in die Tuilerien –?

MADELEINE.

St! Ich habe keine Zeit zu verlieren – mein Pflegevater Matthieu hat die Absicht, alle Gewürzkrämer von Paris zu einem feierlichen Zuge zu versammeln und Se. Majestät um die Rücknahme des Verbots zu bitten! Nun soll er kommen und dem König ein Lebehoch bringen. Molières und Armandens Freude muß ich sehen, und von Ihnen will ich erzählen, daß Sie den Tartüffe gerettet haben! Wenn Molière ihn einmal fünfundzwanzigmal gespielt hat, werd' ich sagen, ich kenne einen Künstler aus der alten Schule, der Molièren ablöst und die Partie übernimmt, wie sie geschrieben ist, einen Mann, der sich glücklich schätzt, sich als Tartüffe nicht bloß von den vier Wänden, sondern von der ganzen Welt bewundern zu lassen.


Schnell ab.
LA ROQUETTE
allein.

Die Ideen dieser Gans sind so naiv, daß man ihre Dummheit beinahe für die boshafteste Satire halten möchte! Und Matthieu ihr Pflegevater? Dieser soll sogar das Volk aufwiegeln –? Es ist ein Komplott, das sich wider mich verschworen hat! Gibt es denn keine Bastille mehr?

8. Szene
Achter Auftritt
Delarive. La Roquette.

DELARIVE
sich umsehend.

Sie sind noch da, Herr Präsident? Geht an die Tür, wo er Madeleine vermutet, öffnet und findet sie nicht. Sonderbar – sie hat sich entfernt –

LA ROQUETTE.
Sie suchen einen jungen Pagen, Baron!
DELARIVE.
Allerdings. Ist er Ihnen begegnet?
LA ROQUETTE.
Es war die Schauspielerin Madeleine Béjart, neu engagiertes Mitglied der königlichen Bühne.
DELARIVE.
Wie? Sie überraschen mich.
[200]
LA ROQUETTE.
Sollten Sie das nicht an den – Konturen der Livree gemerkt haben?
DELARIVE.
Was die Frommen für scharfe Augen haben!
LA ROQUETTE.

Dem kleinen Pagen wurde die Zeit zu lange. Als er hörte, daß der Tartüffe gestattet ist, lief er fort und sagte: Wie glücklich wird Molière sein! Die Einnahmen des Tartüffe sind dazu bestimmt, daß der Direktor unserer Gesellschaft endlich die längst beabsichtigte Verbindung mit Armanden schließen kann –! Ich kenne Armanden nicht, nicht Molière, verstehe nichts von Kassenzweck – Aber, fuhr der drollige Page fort, am Tage nach der Aufführung des Tartüffe wird sich Molière mit jener Dame vermählen, die im Tartüffe die Elmire spielt.

DELARIVE.
Molière – mit – Armanden?
LA ROQUETTE.

Ich höre die Betglocke. Ich muß in die Kirche und den Himmel um Vergebung bitten, daß ich mich so lange mit profanen Angelegenheiten befaßt habe. Beten Sie denn auch manchmal zu Ihrem Schöpfer? Gedenken Sie denn auch manchmal Ihrer Sünden? Beiseite. Die königliche Ei fersucht wird ihre Wirkung tun! Laut. Ich gehe und werde Sie in mein Gebet einschließen. Ab.

9. Szene
Neunter Auftritt
Ludwig XIV. Delarive.

LUDWIG.
Endlich Ruhe! Der Bote genau instruiert?
DELARIVE.

Sire, Sie werden mein Erstaunen teilen. Soeben hör' ich, die Vorstellungen des Tartüffe sollen einen eigentümlichen Zweck haben –

LUDWIG.

Einen Kassenzweck hoff' ich – Ich finde in den Rechnungen, daß der Preis meiner Loge gesteigert ist –

DELARIVE.

Allerdings einen Kassenzweck! Um den Trousseau herzustellen, den Molière Armanden zu ihrer Vermählung schenken wird –

LUDWIG.
Zu ihrer Vermählung? Mit wem?
DELARIVE.
Eine Überraschung für ganz Paris! Mit Molière selbst.
LAKAI.
Der Direktor der königlichen Schauspiele bittet um die Gnade, Sr. Majestät aufwarten zu dürfen.
LUDWIG.
Molière – Armande –? Eine Vermählung mit ihr?

Lakai öffnet.

[201]
10. Szene
Zehnter Auftritt
Molière in freudiger Aufregung. Die Vorigen.

LUDWIG.
Molière! Was muß ich von Ihnen hören! Molière, Sie beabsichtigen –
MOLIÈRE.
Ew. Majestät für eine Nachricht zu danken, die mich zum Glücklichsten aller Sterblichen macht –
LUDWIG.
Molière, ist es wahr, daß Sie mit der Aufführung des Tartüffe – – geheime Zwecke verbinden?
MOLIÈRE.
Sire, nur den offenen Zweck, die Heuchelei zu entlarven und die Tugend zu rechtfertigen.
LUDWIG.

Nein; man hat mir ganz andere Dinge berichtet! Man hat mir gesagt, daß Sie nur deshalb den Tartüffe so anzüglich geschrieben haben, weil – Sie volle Häuser machen wollen!

MOLIÈRE.

Wollte Gott, Majestät, alle Stücke, die ich aufführen muß, hätten sich diesen löblichen Zweck gesetzt. Sire, man hat den Tartüffe verboten, weil er dem Throne gefährlich wäre –

LUDWIG.
Ich rede nicht vom Throne –
MOLIÈRE.
Weil er der Kirche –
LUDWIG.
Ich rede nicht von der Kirche –
MOLIÈRE.
Weil er gegen die Regeln des Aristoteles verstieße –
LUDWIG.
Ich rede nicht Aristoteles –
MOLIÈRE.
Ew. Majestät haben das Verbot aufgehoben – Ganz Paris ist in Bewegung.
LUDWIG.
Paris könnte der Ruhe pflegen –
MOLIÈRE.
Sire! Die Munizipalität von Paris kommt, um Ew. Majestät ein Lebehoch zu bringen.
LUDWIG.

Die Munizipalität soll meine Ohren schonen! Molière, ich schätze Sie, aber ich gestehe Ihnen, Sie – – Sie greifen mir ja alle bestehenden Verhältnisse an! Sie – – Sie schonen ja niemanden! Wenn das so fortgeht, bin ich selbst nicht mehr vor Ihnen sicher.

MOLIÈRE.
Majestät?
LUDWIG.
Können Sie leugnen, Molière, daß Sie die Aufführung des Tartüffe nur deshalb so beeilen, weil –
MOLIÈRE.
Weil ich nach Lyon zu reisen gedenke und gern noch mit einem neuen Stück von Paris geschieden wäre.
LUDWIG.

Das ist nicht allein der Grund – Sie haben tiefergehende Pläne – Sie sind im Begriff – – Ihre Umstände auf andere Art zu verändern –

MOLIÈRE.

Majestät, wäre die Kunde schon zu Ihnen gedrungen? Ja, Sire, ich liebe, ich liebe die treueste, die liebenswürdigste [202] Jüngerin der Musen, ich liebe meine Schülerin Armande und schätze mich glücklich, ich werde wiedergeliebt.

LUDWIG.

Wiedergeliebt werden Sie? Sie wollen mit den Einnahmen des Tartüffe sich eine Wirtschaft einrichten – für einen Dichter wie – – prosaisch das!

MOLIÈRE.
Sire, die französischen Münzen tragen alle das Bildnis eines sehr poetischen Königs.
LUDWIG.

Ich habe Ihren Tartüffe in Schutz genommen gegen die Ärzte, gegen die Advokaten, gegen die Akademiker, ich nehme sogar an, daß die Geistlichkeit, diejenige wenigstens, die ich achte, sich durch Ihr Stück nicht beleidigt fühlen kann – aber ich höre nun doch –

MOLIÈRE.
Majestät, dies plötzliche Mißtrauen –
LUDWIG.

Ihre Hast, Ihre Eile, diesen Tartüffe aufzuführen; es kommen Stellen im Tartüffe vor, schwierige, höchst schwierige Stellen –

MOLIÈRE.
Das Ensemble wird vollendet sein –
LUDWIG.

Auch in der Szene, wo Sie mit Elmire spielen? – Gestehen Sie nur, wenn Sie Tartüffe spielen und Armande Elmire – Sie haben da zusammen eine Szene mit einem Tuch – das ist – gerade herausgesagt, das ist eine undelikate Szene – eine Szene, die die Grenzen der Bühne überschreitet. Ich will lachen im Theater, ja! – aber ich will es denn doch nicht – auf Kosten des – ja, in der Tat, des – des Anstandes tun.

MOLIÈRE.
Sire, des Anstandes?
LUDWIG.

Hm! die Szene mit dem Tuch hat etwas Pikantes, das – zu weit geht. Die Szene mag – witzig sein, sie mag – originell sein – aber mit einem Worte, ich finde sie nicht – sittlich!

MOLIÈRE.
Majestät, nicht sittlich?
LUDWIG.

Wer wird eine solche Szene ansehen können, ohne zu erröten? Die Bühne ist denn doch nicht dazu da, um durch Zweideutigkeiten die Damen zu beleidigen – Molière, sagen Sie selbst, wenn Sie sich z.B. Armanden nähern –

MOLIÈRE.
Elmiren, Majestät –!
LUDWIG.
Wenn Sie zu ihr sagen: Ich, Molière, ich –
MOLIÈRE.
Ich Tartüffe, Majestät!
LUDWIG.

Tartüffe oder Molière – Molière oder Tartüffe – es ist Paris im Jahre 1667 – es ist ein wirkliches Tuch, es sind wirkliche Hände –

MOLIÈRE.
Majestät, mein Spiel wird so zurückhaltend wie möglich sein!
[203]
LUDWIG.

Zurückhaltend oder nicht – ... ich habe in solchen Dingen ein Gefühl, auf das ich mich verlassen darf. In der Ferne hört man Musik. Seit wie lange stehen Sie schon mit Armanden so vertraut?

MOLIÈRE.
Das erklärte Einverständnis findet im stillen bereits seit zwei Jahren statt.
LUDWIG.
Seit zwei – das ist nicht wahr! Für sich. Die Falsche, die Heuchlerin –
MOLIÈRE.
Sire –
LUDWIG.
Gehen Sie! Machen Sie Hochzeit! Eine – – prosaische Hochzeit! Beiseite. Seit zwei Jahren!
MOLIÈRE.
Die Hochzeit kann erst folgen nach der Einnahme, die mir Tartüffe verschaffen wird –
LUDWIG.
Dann bedaur' ich, daß Sie warten müssen.
MOLIÈRE.
Majestät?
LUDWIG.
Ich sage nicht, daß ich den Tartüffe verbiete, aber – was bedeutet die Musik?
DELARIVE.

Die Bürgerschaft von Paris nähert sich dem Louvre, um Ew. Majestät für die Aufhebung des Verbots den Dank der Stadt auszudrücken.

LUDWIG.

Dank? Das lieb' ich nicht – das will ich nicht! Das sind Demonstrationen, die nur böses Blut setzen! Angriffe auf den Staat würden mich gleichgültig lassen, Molière, denn mein Staat steht fest ... Angriffe auf unsere Justiz veracht' ich, denn ich liebe die Gerechtigkeit – die Kirche kann sich gleichfalls nicht getroffen fühlen, denn sie beschützt keine Heuchler – Aristoteles kümmert mich am wenigsten, das mag die Akademie vertreten; aber das, worauf mir doch alles ankommt und wenigstens meinem persönlichen Geschmack entspricht, Molière, das ist – – das ist denn doch die – Moral! Ja, Molière die Moral! Sagen Sie Paris, ich verbiete den Tartüffe nicht, das nicht – keineswegs – aber ich – Beiseite. was tun, um Zeit zu gewinnen?

MOLIÈRE
beiseite.
Was werd' ich hören müssen!
LUDWIG.

Ja, das ist's! Molière, schicken Sie mir ein Exemplar Ihres Lustspiels. Sagen Sie der Stadt Paris: Ludwig XVI. hat sich entschlossen, den Tartüffe weder zu verbieten, noch ihn zu gestatten, aber Ludwig XIV. wird dennoch Gerechtigkeit üben, er wird das größte erdenklichste Opfer über sich gewinnen, was er bei den Sorgen des Thrones nur bringen kann, er wird den Tartüffe lesen!


Winkt Delarive und geht ab.
DELARIVE.
Armer Molière, Könige handeln rasch, aber sie lesen – langsam!

Folgt.
[204]
MOLIÈRE.
Himmel, was hat den König – gegen mich – so eingenommen?

Draußen Tusch und ein Hoch! Die Flügeltüren öffnen sich. Die Abgeordneten der Bürgerschaft werden sichtbar.
11. Szene
Elfter Auftritt
Matthieu in einer Gildenuniform. Molière. Zuletzt Offizier.

MATTHIEU.

Sire, im Namen der Bürgerschaft von Paris! Tritt feierlich vor und verbeugt sich. Allerdurchlauchtigster, großmächtigster – – Sie sind's, Molière? Wo ist der König?

MOLIÈRE.
Er liest den Tartüffe!
MATTHIEU.
Verboten oder erlaubt?
MOLIÈRE.
Wird in zwei Jahren entschieden sein!
MATTHIEU.

In zwei Jahren? Dann wollen wir doch die Feierlichkeiten abbestellen – Am Fenster. Meine Herren! Pariser! Ruhe! Ruhe! Der König liest!

MOLIÈRE.

Wollen Sie in die Bastille kommen? Gehen Sie ins Theater, Matthieu, und sagen Sie, in meinem Namen sagen Sie es, daß die heutigen Zettel mit einem schwarzen Rand erscheinen sollen. Mit einem schwarzen Rande! Ja, ich wag' es! Und muß ich dafür dem Publikum Rechenschaft geben, so werd' ich an die Lampen treten und mit Tränen im Auge sprechen –

MATTHIEU
zieht sein Tuch.
Die Claque wird weinen –
MOLIÈRE.

Zeitgenossen! Pariser! Die finstern Gewalten haben gesiegt. Mein Tartüffe, der euch einen Heuchler entlarven sollte, ist verboten. Wer die im Dunkeln schleichende Hand ist, die selbst auf das hellste Auge in Frankreich die schwarze Binde des Argwohns legen konnte, ich weiß es nicht, aber, wenn mich meine Ahnung nicht trügt –

MATTHIEU.
So werden wir siegen – ... ich entflammte die Galerie zur Wut – ich stürme den Kronleuchter –
OFFIZIER
ist eingetreten und schlägt Matthieu auf die Schulter.
Mein Herr!
MATTHIEU.
Sie wünschen –?
OFFIZIER.
Als Unruhstifter und Volksaufwiegler werden Sie mir folgen –
MATTHIEU.
In einen Sperrsitz?
OFFIZIER.
Ja! In die Bastille!
MATTHIEU.
Was?
MOLIÈRE.
Auf wessen Befehl?
OFFIZIER.
Auf Befehl des Herrn Präsidenten La Roquette –
[205]
MOLIÈRE.

La Roquette? Wohlan! In Ihren Kerker, Matthieu! An den Vorhang der Bühne, auf den Tafeln der Geschichte werd' ich zum Beginn des Kampfes ein für sich selbst redendes Wort schreiben: Pariser, ich hab' euch den Tartüffe aufführen wollen, aber – der Präsident La Roquette will nicht, daß man Mit doppelsinniger Betonung. ihn auf die Bühne bringt!


Alle ab.
Der Vorhang fällt.

4. Akt

1. Szene
Erster Auftritt
Louison. La Roquette treten ein.

LOUISON
zeigt nach innen.

Dies ist die Wohnung meines Fräuleins, hier ihre Garderobe, und dort geht es sogleich zum Theater hinaus – Ja, mein Herr, Madeleine Béjart wohnt hier bei Armande –

LA ROQUETTE.
Bei der Verlobten des großen Molière! Die Wohnung liegt in der Tat dem Theater so nahe –?
LOUISON.
Sie liegt im Theater selbst! Ein Korridor führt von hier geradeswegs in die Garderobe der Herren –
LA ROQUETTE.

Der Herren –? Bitte, eilen Sie und rufen Sie Fräulein Madeleine! Oder ist sie auf der Bühne beschäftigt ...?

LOUISON.
Ach, sie wartet noch immer auf ihr erstes Debüt im Tartüffe. Ich höre sie!

Ab.
LA ROQUETTE
für sich.

Das ganze Personal ist glücklicherweise auf der Bühne; so hoff' ich die Kleine allein sprechen zu können! Nach Matthieus Geständnissen, die man ihm in der Bastille abgezwungen hat, steht sie mit dem Sujet des Tartüffe in näherer Verbindung, als sie selbst zu ahnen scheint. Da ist sie.

2. Szene
Zweiter Auftritt
Madeleine. La Roquette.

MADELEINE
tritt von der Seite ein und trägt Kleider überm Arm.

Ein Herr – der mich zu sprechen wünscht –? Ach! Was seh' [206] ich? Der alte Freund des Herrn Chapelle! Kommen Sie zu Molière, um sich unter die königlichen Schauspieler aufnehmen zu lassen?

LA ROQUETTE.
Immer der sonderbare Irrtum, mein reizendes Kinde.
MADELEINE.

Oder was führt Sie anders des Abends so spät hierher? Wollen Sie Kollekte sammeln? Ach, wir befinden uns selbst in der schrecklichsten Verlegenheit. Das Publikum will nur noch Tartüffe sehen und besucht nicht mehr das Theater. Wenn ich morgen in einem andern Debüt aufträte, so wären vielleicht, sagte Molière, zwanzig Rezensenten im Theater und nicht fünf Menschen, die ein gesundes Urteil haben.

LA ROQUETTE.

Molière und Armande sind im Theater? Ich sah sie auf dem Zettel stehen und glaubte, daß um diese Zeit –

MADELEINE
hängt die Kleider fort, die sie trug.

Ja, sie spielen vor einundzwanzig Menschen; nicht die Beleuchtungskosten kommen heute heraus. Also, was wünschten Sie von uns?

LA ROQUETTE.

Liebenswürdige Madeleine, das Schicksal, das Ihren Vormund, das Sie selbst betroffen hat, geht mir tief zu Herzen.

MADELEINE.
Maitre Matthieus Papiere sind mit Beschlag belegt.
LA ROQUETTE
beiseite.
Was treffliche Dienste geleistet hat! Laut. Traurig!
MADELEINE.
Unser Haus ist geschlossen.
LA ROQUETTE
beiseite.
Wie die Bastille! Laut. Betrübend!
MADELEINE.
Hätt' ich nicht bei Armanden großmütigen Schutz gefunden –
LA ROQUETTE.

So hätt' ich meine Arme ausgebreitet und Sie in ein schöneres Los eingeführt, dessen Sie – Nähert sich ihr. so würdig sind.

MADELEINE
beiseite.
Es ist doch kein armer Schauspieler!
LA ROQUETTE
für sich.
Beherrschung! Laut. Madeleine, gestatten Sie mir eine Frage, ist der Name Béjart Ihr rechter Name?
MADELEINE.

Béjart? Solange ich denken kann, heiß' ich Madeleine Béjart; doch war dies allerdings – der Name einer Verwandten, die mich – als ihr eigenes Kind adoptierte.

LA ROQUETTE.
Ihre Eltern starben früh – Wie hieß Ihr Vater?
MADELEINE.
Mein Herr, das ist ein Geheimnis, das ich Ursache habe zu verschweigen.
LA ROQUETTE
beiseite.

Sie ist's! Ohne mich zu kennen, hat [207] sie mich an Molière verraten. Laut. Dein Vater starb keines natürlichen Todes –

MADELEINE.
Wie? Sie – wissen?
LA ROQUETTE.
Deine Mutter folgte ihm bald und dein Name ist Madeleine Duplessis!
MADELEINE.
Gerechter Gott, Sie kennen meinen Namen, Sie kannten meine Eltern, meine unglücklichen Eltern!
LA ROQUETTE.
Madeleine Duplessis, ja, ich kannte deinen Vater und – deine Mutter –
MADELEINE.

O warum sagten Sie mir das nicht gleich! Mein Vater liebte vor seiner Schwermut die Schauspieler über alles –

LA ROQUETTE
zornig.

Mit deinen Schauspielern! Doch Geschmeidig. fahre fort, fahre fort! Beiseite. Die Fährte ist richtig!

MADELEINE.

Mein Vater hatte der Freunde so viele. Ich und meine Schwester, wir waren noch Kinder, als er starb; aber man hat mir erzählt, er wäre geliebt und angebetet worden von der ganzen Welt. Er hatte wahre und falsche Freunde, denn er war reich, unermeßlich reich; aber nur einer von seinen Schmeichlern war der schlimmste, der böseste von allen – er kam in unser Haus, wohnte bei den Eltern – umstrickte sie mit seiner Heuchelei und Verstellung – raubte dem Vater Vermögen und Leben, ging dann, als er die Familie in Verzweiflung und Elend hinterlassen hatte, auf und davon und soll jetzt in Paris ein hoher, angesehener Mann sein.

LA ROQUETTE.
Und alles das hast du Molièren erzählt –
MADELEINE.
Ich? Molièren?
LA ROQUETTE.

Hast ihm dein Leben geschildert, als er dich in seine Gesellschaft aufnahm – oder Matthieu war es, der es ihm erzählte –?

MADELEINE.
Wie kommen Sie auf solche Vermutungen?
LA ROQUETTE.

Du hast ihm die Geschichte einer Familie erzählt, die er in seinem Tartüffe zum Sittenspiegel der Zeit machen wollte –

MADELEINE.

Ich die Veranlassung des Tartüffe? Ja! In der Tat! Bei der Schilderung Orgons hab' ich an die Erzählungen gedacht, die mir von meinem armen Vater hinterlassen wurden. Den Bösewicht, der einst meine Eltern arm und unglücklich machte, hab' ich mir ganz so vorgestellt, wie Molière den Tartüffe zeichnet, aber ich wäre – und Orgon – Elmire wäre –? Mein Gott, nein! Nie hat mich Molière nach meiner Herkunft befragt –

LA ROQUETTE.
Lügst du?
[208]
MADELEINE.
Lügen? Ha, welche Sprache?
LA ROQUETTE.

Madeleine, Tochter meines unvergeßlichen Freundes – ich, auch ich gehörte zu den treuesten Freunden deines liebenswürdigen Vaters! – Beiseite. des Dummkopfs! Laut. Wie oft hab' ich dich auf meinen Knien geschaukelt; wie oft dich geliebkost, wenn deine Mutter, deine schöne allerliebste Mutter – Beiseite. Sie ist ihr wie aus den Augen geschnitten –

MADELEINE.

Wie können Sie nur glauben, daß Tartüffe das Schicksal meiner Eltern beschreibt! Meine Mutter stand so rein da, sie ist unmöglich in allen Stücken mit Elmiren zu vergleichen.

LA ROQUETTE
beiseite.

Jeder Zug Elmirens ist dem Leben ihrer Mutter entnommen! Laut. Aber sage mir, Kind, entsinnst du dich des Namens, den der böse Feind deines Vaters trug?

MADELEINE.
Er hieß Jean Baptiste – La Roquette.
LA ROQUETTE
unterbricht sie.
St! –
MADELEINE.

Ja, schweigen Sie, sagen Sie ihn an niemand! Wir müssen ja zittern, von ihm entdeckt zu werden. Als die Eltern starben, hängte man dem falschen Freunde einen Prozeß an, aber er, er erhielt recht in allen Instanzen. Dann wandten sich einige gute Seelen für uns beide Schwestern an das Herz des bösen Mannes; aber auch da war alles vergebens! Statt für unsere Erziehung zu sorgen, ließ er uns trennen und verfolgen und gab uns einem elenden Schicksal preis. Von meiner Schwester hab' ich nie wieder gehört, und ich selbst säße noch jetzt in meiner Hütte zu Châlons, wenn mich nicht ein Bürger von Paris, der gute Maitre Matthieu, bei einem Besuch seiner Vaterstadt lieb gewonnen und mit hierher genommen hätte –

LA ROQUETTE.
So hat also Matthieu Molièren die Bekanntschaft mit einem Stoffe verraten –
MADELEINE.

Auch das ist nicht möglich. Matthieu nahm zwar einige meiner Papiere an sich, aber er kennt mich nur als Madeleine Béjart, als das Pflegekind meiner und seiner Verwandten –

LA ROQUETTE
beiseite.
Molière, Molière, mit wem stehst du im Bunde?
MADELEINE.
Ich höre kommen –
LA ROQUETTE.
Kommen?
MADELEINE.
Das erste Stück ist vorüber. Molière pflegt sich zuweilen hier in Armandens Zimmern auszuruhen –
LA ROQUETTE.
Doch nicht in diesem?
MADELEINE.
Er steigt soeben die Treppe herauf –
LA ROQUETTE.
Mein Gott –!
[209]
MADELEINE.
Was fürchten Sie denn?
LA ROQUETTE.

Molièren hier begegnen? Unmöglich! Ich habe Ursache, gerade Molièren, gerade heute ihn zu vermeiden – Himmel, verstecken Sie mich!

Zugleich.
MADELEINE.

Das ist doch sonderbar! Ich fange an, Sie zu fürchten. Wo soll ich nur? Dort hinter die Kleider! Es ist die Garderobe Armandens zu dem Tartüffe –

LA ROQUETTE
stark drohend.

Stillschweigen, oder – Sich besinnend. nein, nein, nein, mein süßer kleiner Schutzgeist! Für sich. Daß man auch von dem hintern Bau eines Theaters eine so unvollkommene Vorstellung hat! Er verbirgt sich hinter den Kleidern.

3. Szene
Dritter Auftritt
Molière im Kostüm eines italienischen Nobile. Die Vorigen. Dann Armande.

MOLIÈRE
tritt langsam und erschöpft herein.
Ah!Setzt sich. Wo ist Armande?
MADELEINE.
Sie wollte sich für das letzte Stück umkleiden – Hat das Zwischenballett schon begonnen? Da ist sie!
ARMANDE
als arkadische Schäferin.

Ah, Molière! Wie geht's heut abend? Meine Szenen waren zu kurz, um die Köpfe der Zuschauer zu zählen.

MOLIÈRE
stützt den Kopf.

Es tanzen eben mehr Beine auf der Bühne, als Personen im Theater sind. Ein trauriger Abend! Noch nie hab' ich ein so leeres Haus gesehen.

ARMANDE.
Es schien mir doch nicht zu schlecht besetzt –
MOLIÈRE.
Freibilletts. Nicht eines ist bezahlt. Ich kenne meine Einnahmen.
LA ROQUETTE
beiseite.
Auch ich habe ein Freibillet, aber ich muß es teuer bezahlen.
MADELEINE
fängt wieder an, an den Kleidern zu bessern.

Beiseite. Ich stehe auf Kohlen – Warum verbirgt er sich nur so? Bei alledem muß ich ihn schonen, weil er meinen richtigen Namen weiß –!

MOLIÈRE.

Die Nachteile eines verbotenen Stückes sind unberechenbar. Die Neugier des Publikums setzt sich auf einen einzigen Gegenstand fest und wird für alles andere interesselos.

LA ROQUETTE
beiseite.
Er sucht seine Gefühle durch Monologe zu betäuben.
MOLIÈRE.

Setzte dich zu mir, Armande! Ha, der Beruf des Dramatikers! Welch ein Gemisch von Freude und Schmerz, von Wonnen und namenlosen Verzweiflungen! Jedem soll man es [210] recht machen, und wie verschieden sind die Menschen! Die Gebildeten verlangen andere Kost als der große Haufe, und ohne die Massen gibt es keine Einnahmen, keine Ermunterungen. Der Neid der Theaterdichter untereinander ist schon an sich beschämend. Hunderte strecken ihre Produktionen in die Höhe und rufen: Ich, ich, mein Stück! Nein, mein Stück! Und von diesen Hunderten kann man des Jahres möglicherweise nur zwölf geben! Was tun die Abgewiesenen? Sie rächen sich! Sie gruppieren sich in den gelehrten Gesellschaften, in den Zeitschriften, in den Kaffeehäusern, in den Korridoren der Bühne, im Parterre, und wehe den Mängeln, die sie in dem Werk ihres glücklicher gewesenen Nebenbuhlers entdecken! Bah! Das ertrüge sich noch, weil uns oft des Publikums gesunder Sinn zu Hilfe kommt. Aber wie reizbar ist dies oft nicht selbst! Mit Riesenanstrengungen muß sich ein neues Stück seinen Weg bahnen. Akt für Akt, Szene für Szene muß es sich durchkämpfen, und ist es zu Ende, dann kann ein einziger Feind des Verfassers die mühevolle Arbeit eines ganzen Abends umstürzen.

ARMANDE
näht noch einiges mit Hilfe Madeleines an ihrem Kostüm.
Molière, du siehst zu schwarz –
LA ROQUETTE
beiseite.
Schreib du keine Tartüffes wieder!
MOLIÈRE
steht auf.

Ist es denn nicht wahr, daß ich Fälle erlebt habe, wo Leute meine Stücke auspfiffen, weil ich vergessen hatte, sie zu grüßen? Gibt es nicht Menschen, die sich ärgern daß ich einen andern Hut trage als sie, und denen meine Nase nicht an der rechten Stelle sitzt? Das Alltäglichste an mir hassen sie, meinen Gang, meine Kleider, meine Mienen, die sie für menschenfeindlich erklären. Und dann zu all dem Kummer kommt noch die plumpe Hand eines solchen Verbots! Die schönsten Ideen werden dir abgeknickt von einem gefühllosen, lächerlichen Vorurteil! Das Mittelmäßige, das lassen sie so hinschleichen über die Oberfläche eines Interesses, das nicht kalt, nicht warm ist; aber was zünden könnte, was wahrhaft gelungen ist, woran unsere Seele hängt, das vertilgen sie mit einem einzigen Strich und sagen: Bah, es soll nicht sein! Geht mir, wenn man unsere Nation eine geistreiche und edle nennt und unsere Literatur eine klassische schimpft, geht mir, wenn ihr nicht einmal den Mut habt, im Vorsprung eurer Reichtümer, eurer Würden und Schergen, eurer Hilfsmittel tausendfacher Art mit dem Dichter euch auf gleiche Rapierlänge zu stellen und mit dem einfachen, hilflosen Wort einen ehrlichen Kampf zu bestehen!

LA ROQUETTE
beiseite.
Wenn er mich in dieser Wut entdeckt, bin ich verloren.
[211]
MADELEINE.
Sie werden sich zu einer andern Arbeit sammeln und das Verbot des Tartüffe vergessen.
MOLIÈRE.
Mein gutes Kind, über Leichen hinweg kann man nicht fröhlich sein –
LA ROQUETTE
beiseite.
Leichen? Er wird mich noch umbringen.
MOLIÈRE
zu den Kleidern.
Was sind das für Kostüme? Ich besinne mich. Die Trauerkleider zu Tartüffes Leichenbegängnis!
MADELEINE
beiseite.
Er wird ihn entdecken. Mein Gott – jetzt – jetzt –
EIN THEATERDIENER
ruft durch die Tür schnell herein.
Eben ist Se. Majestät in die Loge getretenAb.
ALLE.
Der König?
MOLIÈRE.

Hahaha! bei dem leeren Hause! Nun, da mag er selbst sehen, was aus seinem Theater wird, wenn er sich den Einflüsterungen der Heuchler preisgibt. Oder Beiseite. Armande – –? Nein, nein, ich mag nicht daran denken – Lachen müssen bei Herzeleid, unter Tränen Späße machen, das gehört auch zu jenen Kunstleistungen, für welche man an der Kasse kein Entree bezahlt, und zu jenen Geheimnissen der Schauspielkunst, die noch kein Kritiker ergründet hat. Will ab. Es klopft. Klopft es nicht?

ARMANDE
bittend.
Molière!
LA ROQUETTE
beiseite.
Mein Himmel. Die Gesellschaft vergrößert sich – Es klopft wieder.
ARMANDE
beiseite.
Eine Ahnung! – Madeleine, sieh nach, wer es ist!
MADELEINE.
Es ist mir so – ängstlich – zumute ...

Es klopft.
MOLIÈRE.
Armande? Wer überrascht dich mit so geheimnisvollem Besuch –?
ARMANDE
beiseite.
Wenn es – Laut entschlossen. Molière! Ich wünschte, es wäre einer meiner früheren Bewunderer –
MOLIÈRE.
Armande!
ARMANDE.
Warum nicht? Lionne oder Lefêvre!
MOLIÈRE.
Oder – der König?!
LA ROQUETTE
beiseite.
Gerechter Gott!
ARMANDE.

Um dich für deine Eifersucht zu strafen, wünscht' ich, ja, der König! Ich würde dich hier hinter meine Kleider verstecken –

LA ROQUETTE
beiseite.
Ich krieche in einen dieser unheiligen Röcke –
MOLIÈRE.
Armande? Also immer noch! – immer noch –!
ARMANDE.

Madeleine, öffne, und verlaß uns! Deine nie [212] endende Eifersucht – Molière, ich muß dich endlich heilen –


Sie drängt Molière hinter die Kleider links.
MOLIÈRE
zögernd.
Nun wird mir alles klar!
ARMANDE.
Madeleine, öffne, und verlaß uns!
MADELEINE
geht zögernd und sich umblickend und öffnet.
Wenn jetzt die Kleider hier zu sprechen anfingen!
4. Szene
Vierter Auftritt
Ludwig. Die Vorigen.
Ludwig tritt ein. Madeleine geht tiefknixend und mit gesenkten Blick schnell an ihm vorüber.

Zugleich.

ARMANDE
beiseite.
Der König! Er ist's! Das hatt' ich gehofft.
LA ROQUETTE
beiseite.
Er selbst!
MOLIÈRE
beiseite.
Also doch! Ha, ha! Schlange!
LUDWIG
noch hinten.

Nun, was treibt man denn hier? Man läßt sich nach seiner Rückkehr einmal wieder auf der Bühne sehen, sucht Molière auf, ennuyiert sich über das leere Haus und wird nicht einmal empfangen. So muß man wohl selbst bei Ihnen anpochen, Armande, so unwillkommen es auch Madame Molière sein mag.

ARMANDE
die ihn wenig zu beachten scheint und sich mit ihrer Garderobe beschäftigt, beiseite.

Jetzt gilt es eine große Aufgabe! Laut. Majestät haben noch immer Ihren alten Ortsinn, wie jeder große Feldherr –

LUDWIG.
Sie erinnern mich an verlorene Schlachten – Madame Molière.
ARMANDE.
Ew. Majestät eilen wie immer Ihrer Zeit voran. Noch kommt die Anrede Madame Molière zu früh.
LUDWIG.

Ich setze mich, in denselben Stuhl, wo ich von Ihnen schon so manche Predigt habe anhören müssen. Es ist ein Sorgenstuhl –

MOLIÈRE
beiseite.
O gewiß –!
LA ROQUETTE
beiseite.
Sitzt denn die Gesellschaft drüben? Ich muß hier stehen.
LUDWIG.
Armande, nach meiner letzten Niederlage hätten Sie mich wohl schwerlich wieder hier erwartet?
ARMANDE.

In diesem Augenblick hätt' ich vermutet, Ew. Majestät wären mit der Lektüre des Tartüffe beschäftigt –

MOLIÈRE
beiseite.
Er hat ihn noch nicht angesehen!
LUDWIG.

Ich habe den Titel, das Personenverzeichnis und [213] die erste Szene hinter mir! – Das Lustspiel scheint mir nicht zu den besseren Ihres Herrn Gemahls zu gehören.

MOLIÈRE
beiseite.
Nicht? Wirklich schon eine Szene und bereits – ein Urteil!
ARMANDE.
In zwei Stunden würde Molière Ew. Majestät das ganze Stück vorgelesen haben.
LUDWIG.

Vorlesen! Ich kann nichts vorlesen hören – das ist eine Schwäche von mir. Mein Blut ist zu unruhig. Nein, nein, ich hoffe bei alledem, den Tartüffe eines Tags auf der Bühne zu sehen.

MOLIÈRE UND LA ROQUETTE
beiseite.
Am Jüngsten Tag!
LUDWIG.
Sind Sie nicht allein?
ARMANDE.

Nein, Majestät! Meine Kleider sind es, die um mich her klagen und seufzen – diese fünf wundervollen Kostüme da hatten gehofft, im Tartüffe glänzen zu können – Sind sie nicht allerliebst?

LA ROQUETTE
beiseite.
Wenn sie sich doch mehr an den Geist ihrer Rolle halten wollte und von den Kleidern schwiege –!
LUDWIG.

Sie würden sich vortrefflich in diesen Kleidern ausgenommen haben – aber verlassen Sie sich! Ich bin gerecht, ich lese den Tartüffe –

ARMANDE.
Ew. Majestät werden wenig darauf achten, ob ich gefalle oder nicht –
LUDWIG.
Wieso?
ARMANDE.
Das kleine Interesse, das ich früher für Ew. Majestät zu haben schien, ist – leider vorüber –
LUDWIG.
Die Gefühle der zärtlichsten Freundschaft und der Liebe – ein »kleines Interesse« – –!
ARMANDE.
Wann hätten Sie je ein Gefühl für mich empfunden, das solche Namen verdiente!
LA ROQUETTE UND MOLIÈRE
beide beiseite.
Welche Koketterie!
LUDWIG.

Wie, Armande? Sie haben mich stets mit einer Kälte behandelt, die mich endlich verletzen mußte. Vor zwei Jahren, nachdem Molière Ihr Talent in aller Stille gebildet hatte, traten Sie zum erstenmal auf. Sogleich entzückte mich Ihr Spiel, Ihre äußere Erscheinung! Ich suchte Ihre persönliche Bekanntschaft. Ihre Liebenswürdigkeit fesselte mein Herz – O zuweilen schien es dann auch, als wäre die Liebe eines Königs Ihnen nicht gleichgültig; zuweilen aber setzten Sie meinen Bewerbungen die schneidendste Kälte entgegen – dann wieder ließen Sie mich neue Hoffnung schöpfen und nun – nun werden Sie Madame Molière –!

ARMANDE.
Wer – sagt – denn das?
[214]
LUDWIG.
Armande, Sie sind noch nicht entschlossen? Ihr Herz hätte noch nicht entschieden –?
ARMANDE.

Molière hat mich als arme Waise kennen gelernt, er hat mich erzogen, liebt mich, aber er leidet an dem Fehler der Eifersucht in einem Grade –

LA ROQUETTE UND MOLIÈRE
beiseite.
Der sehr natürlich scheint.
LUDWIG.

Wie unruhig das hier im Theatergebäude ist! Molière wäre eifersüchtig, auf wen? Auf alle vielleicht, schwerlich doch – auf mich –!

ARMANDE.
Majestät, Sie kränken mich!
LUDWIG.
Kränken? Armande, es liegt heute etwas in Ihrem Wesen, was mich mehr denn je – ermutigt –
MOLIÈRE
beiseite.
Sie macht mich wahnsinnig!
LA ROQUETTE
beiseite.
Wär' ich nur geschützt – man kann hier etwas lernen!
LUDWIG.
Ich frage Sie, Armande, ich frage Sie feierlich: Ist es Ihr Ernst, Molières Gattin zu werden?
ARMANDE.

Mein Vormund ist er allerdings gewissermaßen – er wünscht es, er verfolgt mich – und ich stehe im Leben so allein da –

LUDWIG.

Armande, erhalten Sie sich denen, die Sie lieben! Wenn Sie mir das würden, was Sie mir schon tausendmal zu sein verweigerten! O wenn ich – hoffen könnte! Sie schweigen?

MOLIÈRE UND LA ROQUETTE
beiseite.
Sie schweigt.
LUDWIG.

Warum lächeln Sie, Armande? O reden Sie! Kann es einen mächtigern Schutz geben als den eines Königs? Sie zögern?

MOLIÈRE UND LA ROQUETTE
beiseite.
Sie zögert.
ARMANDE.
Sire – diese schnelle Überraschung – ein solcher – Wechsel der Verhältnisse –
LUDWIG.

Ich lasse Ihnen Zeit – Bedenken Sie, was ich wünsche – Versailles sollte zum Feenparadiese werden –! Ich höre Geräusch – Sind wir nicht sicher?

ARMANDE.
Der zweite Akt des Balletts beginnt – Jeden Augenblick kann Molière mich abrufen.
LUDWIG.

Ich gehe, aber mit den süßesten Hoffnungen. Geben Sie mir morgen ein Zeichen, daß ich nach der Vorstellung hier mit Ihnen reden darf!

ARMANDE.

Nach der Vorstellung? Wir können nur die heutige Vorstellung wiederholen – werden Sie eine so langweilige besuchen wollen, Sire?

LUDWIG.
Wenn Sie spielen, gewiß? Also nach der Vorstellung –? Hier?
[215]
ARMANDE.

Unmöglich! Da der Tartüffe nicht sein kann, müssen wir Neues lernen. Ich glaube, daß wir morgen bis um Mitternacht noch eine Leseprobe haben –

LUDWIG.
So stellen Sie sich krank –
ARMANDE.
Nennt Molière Theaterkrankheit und würde die Leseprobe dann hierher bestellen.
LUDWIG.
Aber wozu schon wieder ein neues Stück!
ARMANDE.
Sire, ich höre Geräusch – Morgen –
LUDWIG.
Morgen –?! Und hier? Wie erfahr' ich –?
ARMANDE.

Mitten im Spiel könnt' ich Ihnen ein Zeichen geben – ob Ew. Majestät wagen dürften, hierherzukommen –

LUDWIG.
Mitten im Spiel?
ARMANDE.

Das Publikum ahnt oft nicht, wie wir neben unserer Rolle noch mit irgendeinem einzelnen im Theater eine – kleine Nebenrolle spielen –

LUDWIG.
Himmlisch!
ARMANDE.

Ich empfange morgen nach der Vorstellung Ew. Majestät hier, wenn ich sicher bin, daß Molière nicht kommt und Molière kommt gewiß nicht, wenn ich einen Streit mit ihm gehabt habe. Ich müßte eine Szene mit ihm herbeiführen.

LUDWIG.
Vortrefflich!
ARMANDE.

Kurz vor der Vorstellung will ich einen Streit – richtig über das Kostüm beginnen – darin ist er zu, zu eigensinnig – wenn die List gelungen ist – dann könnt' ich ja –

LUDWIG.
In Ihrem Kostüm mir davon eine Andeutung geben.
ARMANDE.
Ja –! In meinem Kostüm – ganz recht –
LUDWIG.

Ein blaues Tuch für den Fall meines Glückes? Ein blaues Tuch, wenn ich nach der Vorstellung hierherkommen darf –? Meinen Sie nicht? –

ARMANDE.
Ein blaues Tuch – In der Rolle, die ich morgen zu spielen habe, kann ich kein Tuch anbringen –
LUDWIG.
Dann ein anderes Zeichen –
ARMANDE.
Ein Tuch wäre bequem und passend –
LUDWIG.
Hat man denn kein Stück, wo ein Tuch, ein blaues, anzubringen wäre –?
Zugleich.
MOLIÈRE.
LA ROQUETTE
sich streckend, in Verzweiflung und ahnend.
Ein Tuch?
ARMANDE.
Ich wüßte eines, wo ein gelbes Tuch –
LUDWIG.
Ein gelbes?
ARMANDE.
Für den Fall, daß ich den Streit nicht herbeiführen könnte –
[216]
LUDWIG.
Nein, nein, nur ein blaues! Also ein Stück, ein Stück mit einem Tuch –
ARMANDE.

Die »Schule der – Frauen«, die kann wegen einiger Lücken im Personal morgen nicht gegeben werden – Man kommt – mein Gott –

LUDWIG.

Aber so sagen Sie doch ein Stück, das so weit fertig ist, um morgen mit einem blauen Tuch hervorzutreten!

ARMANDE.
Sire, der Tartüffe!
MOLIÈRE UND LA ROQUETTE
beiseite.
Tartüffe?
ARMANDE.

Das ist das einzige, mir im Augenblicke erinnerliche Stück, in welchem ich mich eines Tuches bedienen darf, – Man hat schon geklingelt – ich habe keinen Augenblick Zeit, – Sie sehen, Sire, es kann nicht sein.

LUDWIG.

Was kann nicht sehen? Tartüffe kann nicht sein? Tartüffe? Tartüffe ist ja fertig – Tartüffe kann ja jede Stunde hervortreten –

ARMANDE.
Tartüffe, Sire? Bedenken Sie –
LUDWIG.

Tartüffe – freilich – freilich, Tartüffe – Molières verwünschte Anrede gestern an das Publikum – die Hindeutung auf La Roquette – aber als Türkin, als arkadische Schäferin legt man aller dings keine Tücher an – wegen des Tuches müßte es doch wohl Tartüffe sein –

Zugleich.
LA ROQUETTE
steht starr; beiseite.
Bloß wegen des Tuches –

Molière folgt dem Spiele Armandens mit der glückseligsten Spannung.
ARMANDE.
Aber bedenken Sie, Majestät, den Tartüffe?
LUDWIG.

Freilich, freilich, ich besinne mich – es hat Schwierigkeiten! Aber, werd' ich darum aufhören, König von Frankreich zu sein, wenn man den Tartüffe spielt?

ARMANDE.
Die Ärzte –
LUDWIG.
Bah, die Ärzte –
ARMANDE.
Die Advokaten –
LUDWIG.
Bah, die Advokaten –
ARMANDE.
Die unmoralischen Szenen mit dem Tuche –
LUDWIG.

Mit dem Tuch? Mit dem Tuch? Ha! Das hab' ich ja ganz vergessen! Das ist ja die beste Szene im Stück! Da haben Sie ja die schönste Gelegenheit, mir alles zu sagen, ohne sich den mindesten Zwang anzutun. Ist Ihr Tuch gelb, so komm' ich nicht! Ist es blau, so ist die List gelungen, Sie haben eine Szene mit Molière gehabt, er läßt Sie den Abend frei, ich bin hier und werde der Glücklichste aller Sterblichen! Jetzt lass' ich Sie! Engel, anbetungswürdige Armande! Ab.


Armande begleitet ihn zärtlich zur Tür. Wie er hinaus ist, klatscht sie lachend in die Hände.
[217]
MOLIÈRE
kommt mit Freude und Beschämung hervor.
Armande! Ist es möglich? Du hast den Tartüffe gerettet –
ARMANDE.
Nun, du Eifersüchtiger?
MOLIÈRE.

Ich halte mich nicht aufrecht – das Entzücken überwältigt mich – Armande! Himmlisches, herrliches Wesen! Zu dem versammelten Personal hinaus und die Jubelbotschaft verkündet: Tartüffe ist gerettet! Gerettet durch die Liebe!


Beide ab.
La Roquette wickelt sich aus den Kleidern hervor und sieht sich starr um.
LA ROQUETTE.

Was das Werk der klügsten Berechnung aller Umstände, was die gemeinschaftliche Arbeit der Geistlichkeit, der Gelehrten, der bevorrechteten Stände von ganz Frankreich war, ein Staatsereignis scheitert durch die Koketterie einer Schauspielerin an einem baumwollenen Tuch!

MADELEINE
öffnet schnell.

Ha! Da sind Sie ja! Na, um Sie hab' ich schöne Angst ausgestanden. Alles im Theater ist voll Jubel und Bewegung. Tartüffe ist freigegeben. Man murmelt drohend hinter der Szene. Hören Sie den Lärm?

LA ROQUETTE.
Was bedeutet das?
MADELEINE.

Die Arbeiter haben den Mann gesehen, der vor acht Tagen das Soufflierbuch des Tartüffe gestohlen hat – Er soll im Hause sein – sie suchen ihn überall –


Drohender Lärm.
LA ROQUETTE
beiseite.
Mein Bedienter! Auch das noch?
MADELEINE.

Himmel, was geht mir für eine Ahnung auf – Jetzt begreif' ich, warum Sie den Tartüffe so auswendig können – Unglücklicher! Sie sind doch wohl nicht gar –

LA ROQUETTE.
Bewunderung vor Molière – Achtung vor dem Genie – Quellenstudium – Ich bin ein Gelehrter –
MADELEINE.

Nein! Sie sind der Präsident La Roquette selbst! Der Mörder, der Verräter meiner Eltern! Aber Ihre Stunde hat erst morgen geschlagen! Her! Nimmt ihm seine Perücke ab. Diese Perücke kann morgen Molière für den Tartüffe brauchen! Den Mantel auch! Reißt ihn ab. La Roquette beschwört sie um Schonung. Heute will ich noch Mitleid mit Ihnen haben! Nehmen Sie den Talar dafür! Da den Turban! Sie bekleidet La Roquette mit beiden Gegenständen. Mag man heute noch einmal glauben, Sie Unglücklicher wären ein Schauspieler aus der alten Schule!

LA ROQUETTE
als Türke.

Ach, es ist weit gekommen! Das Christentum ist ausgerottet, und die Gerechten müssen ihren Glauben abschwören! Beide ab.


Der Vorhang fällt.
[218]

5. Akt

1. Szene
Erster Auftritt
Molière.

MOLIÈRE
schon für den Abend in täuschender Ähnlichkeit mit La Roquette als Tartüffe gekleidet, tritt auf und besieht sich im Spiegel.

Die Maske ist gut! Ich habe nicht vermeiden wollen, dem Präsidenten ähnlich zu sehen. Bin ich's? Ja, ich bin's! Wo Madeleine nur diese Perücke entdeckt hat! Sie ist für die Rolle des Tartüffe wie gewaschen. – So ist denn der Augenblick da, den ich so heiß ersehnte, der Augenblick nicht der Rache, nein, der Vergeltung! Seit drei Uhr drängt sich das Publikum in den Straßen. An der Kasse haben die Kommissäre Mühe, die Ordnung aufrechtzuerhalten – Mir ist so bekommen zumute, wie dem Krieger, eh' er in die Schlacht geht. – Wenn Armande wirklich ein blaues Tuch trüge – nein, nein, sie hilft mir den Sieg gewinnen in einem Feldzuge, den ich nur um ihretwillen begonnen habe. Sie! Sie, die Tochter des Duplessis, sie der Preis dieses Abends! Ihr, ihr selbst verdank' ich den Stoff, ihren Erinnerungen, ihren Tränen –! Dort ist die Loge der Prinzen, hier die des Königs. – Wenig Minuten noch und die Günstlinge versammeln sich in diesem Vorsaal.Lüftet den Vorhang. Von dort sieht der König auf Elmire Duplessis nieder, zittert wie ich, und wird sich getäuscht sehen, wenn es zu spät ist. – Ich will mich noch ein wenig ausruhen und sammeln – Wo wär' ich ungestörter als dort! So mancher Fürst hat in der Politik die Rolle eines Schauspielers übernommen; ruh' auch einmal ein Schauspieler aus auf dem Sessel eines Königs! Geht hinein in das Innere der Loge. Der Vorhang fällt hinter ihm wieder zu.

2. Szene
Zweiter Auftritt
Dubois. Lefêvre. Dann Chapelle. Zuletzt Lionne und Delarive.

DUBOIS.
Man muß in die Korridore fliehen ... um Atem zu schöpfen ...
LEFÊVRE.
Das Haus füllt sich bis zum Giebel –
[219]
DUBOIS.
Es sollen Quetschungen und Verwundungen aller Art an der Kasse vorgekommen sein –
LEFÊVRE.
Ein Beweis, daß die Ärzte nicht nötig hatten, sich über die Aufführung des Tartüffe zu beklagen –
DUBOIS.
Kommt die satirische Stelle auf die Advokaten, so werd' ich kein Auge von Ihnen verwenden –
LEFÊVRE.

Der König hat die Deputationen, die gegen den Tartüffe waren, in seine Lage nehmen wollen. Unser Unglück trägt uns wenigstens eine große Ehre ein: sehen Sie unsern würdigen Freund Chapelle!

DUBOIS.
Er scheint in tiefe Berechnungen versunken.

Chapelle tiefsinnig wieder an den Fingern zählend, tritt ein.
LEFÊVRE.
Berechnest du die Einnahme, würdiger Freund?
DUBOIS.
Oder die Kopfzahl – ich rechne etwas über zweitausend Menschen –
CHAPELLE.

Ich berechne, wenn das so fortgeht, wieviel Jahre der französische Geschmack brauchen wird, um gänzlich zugrunde zu gehen –

DUBOIS.

Solange noch Akademiker dichten, wird wenigstens Aussicht sein, daß es nicht immer so volle Häuser gibt.

LEFÊVRE.

Und denken Sie sich, Dubois, der Stoff des Tartüffe gehört eigentlich Chapelle, – er hat ihn selbst erfunden, er war der erste, der auf den Gedanken kam, einen Scheinheiligen auf die Bühne zu bringen.

CHAPELLE.
Es war mein Originalgedanke –!
DUBOIS.
Der Minister und der Kammerherr! –

Lionne und Delarive treten ein.
DELARIVE.
Se. Majestät werden nicht mehr lange ausbleiben –
LIONNE.

Er unterzeichnete soeben noch die Befreiung der Unruhestifter, die in der Bastille ihre Leidenschaft für ein Stück büßten, über dessen Zulassung ich mich in der Tat noch nicht sammeln kann.

CHAPELLE.

Der Gewürzkrämer Matthieu ist glücklicherweise auf Befehl des Präsidenten La Roquette davon ausgenommen. Es ist einer der kunstgefährlichsten Claqueure!

LEFÊVRE.

La Roquette? So ist es keine Frage, daß er seit Molières Anrede an das Publikum den Tartüffe ganz allein auf sich bezieht. Und noch mehr! In den Papieren Matthieus befindet sich ein Dokument, welches beweist, daß Madeleine ursprünglich den Namen Duplessis führt –

LIONNE UND DUBOIS.
Duplessis?
LEFÊVRE.

Erinnern Sie sich? Dies war der Name jener unglücklichen Familie, von welcher Molière damals in der Audienz [220] bei Ihnen, Herr Minister, so leidenschaftlich gesprochen hatte – darauf hab' ich in alten Akten die überraschende Entdeckung gemacht, daß Duplessis' Kinder vor zwölf bis vierzehn Jahren wirklich einen hartnäckigen Prozeß gegen La Roquette führten –

ALLE.
Gegen La Roquette?
DELARIVE
an dem Vorhang.
Wie unruhig das Publikum ist! Wie lärmend! Sollte man nicht glauben, es gäbe eine Hinrichtung –!
3. Szene
Dritter Auftritt
Molière tritt ihm aus der königlichen Lage entgegen. Die Vorigen.

ALLE.
Der Präsident!
LIONNE.
Er selbst! Ich erstaune, Sie im Theater zu sehen –
DELARIVE.

Noch nie hatten die Schauspieler des Königs die Ehre, selbst den Herrn Präsidenten La Roquette anzuziehen –

LEFÊVRE
beiseite.
Ohne Zweifel – er ist der Tartüffe!
MOLIÈRE.
Hab' ich die Ehre, von Ihnen erkannt zu sein?
DUBOIS
beiseite.
Ehre? Erkannt zu sein? Er scheint schon in der Irre zu sprechen –
LIONNE.
Er fühlt die Beziehung des Stückes auf –
CHAPELLE.

Herr Präsident, seien Sie versichert, daß ich alles aufbieten werde, diese Satire des Molière in allen Zeitschriften zu zergliedern, und Sie sollen sehen, daß es in Frankreich noch Federn gibt –

MOLIÈRE.
Die von Gänsen herkommen –
CHAPELLE UND LEFÊVRE.
Von Gänsen?
LIONNE
beiseite.

Er scheint in der Tat seiner Sinne nicht mehr mächtig – Laut. Herr Präsident, liegen Ihnen die Schicksale der Familie Duplessis so am Herzen?

LEFÊVRE.

Sie wissen doch ohne Zweifel, daß die heutige junge Debutantin, Madeleine, eine von den unglücklichen Töchtern des Duplessis ist?

MOLIÈRE
hocherstaunend.
Wie? Wer?
LEFÊVRE.

Die Papiere des Matthieu, den Sie verhaften ließen, beweisen, daß Sie, Sie es waren der eine Zeitlang im Hause der Eltern dieses Mädchens –

MOLIÈRE.

Wessen? Madeleines? Madeleine wäre – die Schwester Armandens? – Himmel! Ich höre die Klingel des Souffleurs – Das erste Zeichen – diese wunderbare Nachricht von Madeleinen – Im dritten Akt, meine Herren, sehen wir uns wieder.


Ab.
[221]
ALLE
lachend.
Es war Molière!
CHAPELLE.
Molière als Tartüffe!
LIONNE.
Bewunderungswürdig! Der leibhafte Präsident!
LEFÊVRE.

Es ist kein Zweifel, La Roquette ist der Tartüffe, La Roquette ist – Für sich. der falsche Freund des Duplessis?

DELARIVE.

Das wird die größte Rolle, die Molière je gespielt hat. Sehen Sie das unermeßlich gefüllte Haus! Kommen Sie! Einen Augenblick nur! Er lüftet den Vorhang.


Alle treten vorsichtig allmählich in die Loge hinein, gehen auch nicht ganz an die Brüstung, der Vorhang fällt hinter ihnen zu.
4. Szene
Vierter Auftritt
La Roquette tritt vorsichtig herein. Später die Vorigen.

LA ROQUETTE.

So ist es denn beschlossen, und ohne Wunder geht dieser Abend nicht mehr zurück. Ganz Paris ist in Bewegung. Alles will die Frommen auf der Bühne sehen. Die Stichwörter der Satire sind notiert; bei gewissen Stellen, die mit Händen zu greifen sind, wird ein unermeßlicher Jubel ausbrechen – Meine Freunde haben nach Rom geschrieben – Das Interdikt gegen alles, was auf diese Ausartungen der Komödie geht, kann nicht ausbleiben. Aber für den heutigen Abend kommt alles zu spät –! Um einen Betrug das, den man sich mit dem König erlauben will! Gewiß, schon hätt' ich ihm die Intrige verraten, wenn ich sie nicht an einem für meinen Ruf zu gefährlichen Ort entdeckt hätte – er muß hier vorüber – wenn ich es jetzt noch wagte –! Es zog mich unwiderstehlich hierher – hier, dacht' ich, wäre der einzig sichere Ort im Hause – denn das große Gefolge des Königs ist in der Mittelloge –


Die Vorigen treten hinter dem Vorhang heraus.
ALLE.
Ah, Molière!
LIONNE.
Lassen Sie sich noch Zeit?
DELARIVE.
Der Anblick eines so überfüllten Hauses hat etwas Bezauberndes, Molière.
DUBOIS.
Eine so erwartungsvolle Menge, Molière –
LEFÊVRE.
Sie scheinen so betroffen zu sein, daß Madeleine Béjart eigentlich Madeleine Duplessis ist –
LA ROQUETTE
beiseite.
Gott im Himmel! Sie halten mich schon für Molière!
CHAPELLE.

Freilich, Herr Molière, Sie haben sich Ihren Stoff nicht erfunden. Ich höre, es war eine wahre Geschichte, die Sie uns in Ihrem Tartüffe zum besten geben.

[222]
LA ROQUETTE.
Für wen halten Sie mich?
DELARIVE.

Für den größten Dichter, den Frankreich in der Komödie besitzt, für den treffendsten Sittenmaler Ihrer Zeit, für ein Muster spätester Jahrhunderte, falls Herr Chapelle nichts dagegen hat –

CHAPELLE.
Molière, wenn Sie die Akademiker schonten –
LIONNE.
Wenn Sie die Polizei schonten –
DUBOIS.
Wenn Sie die Ärzte schonten –
LEFÊVRE.
Wenn Sie die Notare schonten –
LA ROQUETTE.
Meine Herren, ich bin der Präsident La Roquette –
LIONNE.
In der Tat! Von einer täuschenden Ähnlichkeit –
DELARIVE.
Ganz auch der Ton! Unübertrefflich kopiert!
DUBOIS.
Sie werden mit einem Sturm von Beifall empfangen werden!
LEFÊVRE.

Sehen Sie nur! Die Angst, die Verlegenheit des Bösewichts – wie treffend stehen sie auf den Zügen seines Antlitzes gemalt! Molière, man glaubt, Sie stünden bei der kleinen Bäuerin und sprächen von der Baumwollenindustrie von Limoges –

LA ROQUETTE.
Wollen Sie mich toll machen?
DUBOIS.

Dieser Ausbruch der Wut wird Ihnen ausgezeichnet stehen, wenn Ihre Schandtaten, die Sie im Hause des armen Duplessis begingen, an den Tag kommen, wenn der Geist der betrogenen Adele, die Stimmen der hilflosen Kinder, die durch Sie gezwungen wurden, auf der Bühne sich Unterhalt zu suchen –


Die Ouvertüre beginnt hinter der Szene.
DELARIVE.
Die Ouvertüre beginnt –
ALLE
beiseite.
Der König!
5. Szene
Fünfter Auftritt
Ludwig. Die Vorigen die sich alle tief verneigen.

LUDWIG
geht armverschränkt und sehr aufgeregt auf und ab.

Guten Abend, meine Herren! Ah, La Roquette – guten Abend, La Roquette – Wie kommen Sie hierher? Man hat Sie seit Menschengedenken nicht im Theater gesehen.

LIONNE.
Sire, es ist Molière, in der Rolle des Tartüffe –
LA ROQUETTE
beiseite.
Ich vergehe –
DUBOIS.

Sire, alle fangen wir an, dem erhabenen Beispiel Ew. Majestät zu folgen und uns mit dem Tartüffe zu versöhnen, seitdem Molière eine so treffende Charaktermaske gewählt hat.

[223]
LA ROQUETTE.
Sire –
LUDWIG.

In der Tat, es ist Molière! Wie sollte auch der Präsident an einen so sündhaften Ort kommen! Die Täuschung ist wunderbar. Beiseite. Ich habe nicht den Mut, ihm ins Antlitz zu sehen – Laut. Meine Herren, kommen Sie alle in meine Loge!

CHAPELLE.
Sire, die Ehre!
LUDWIG.

Alle, alle, die früher die Gegner des Tartüffe waren! Molière, gehen Sie jetzt ans Werk! Sie scheinen verstimmt? Hatten Sie doch nicht eine – kleine Verdrießlichkeit hinter den Kulissen! Kommen Sie, meine Herren! Ihre Feinde, Molière, sollen von meinen Augen, von meinem eignen Beispiel gezwungen werden, zu applaudieren.


Er tritt nach hinten. Sowie er an die Brüstung kommt, bricht eine Beifallssalve aus. Die Ouvertüre löst sich in einen Tusch auf und schweigt.
DUBOIS.
Man applaudiert ihm, weil er das Verbot aufgehoben –

Folgt.
CHAPELLE.
Rasch, rasch, dann gilt der Empfang auch uns!

Die andern treten nach hinten näher. Der Vorhang bleibt offen.
LA ROQUETTE
vorn allein.

Verzweifelnd. Ha, ha, ha! Sie halten mich für Molière! Und Duplessis ist mitten unter ihnen, und die Schlösser meiner Truhen öffnen sich und zeugen wider mich – die Szene hat begonnen – schon hör' ich diese mordenden Verse – jetzt wird Elmire auftreten – wie der König über die Brüstung sich lehnt – die Szene mit dem Tuche kommt – Man applaudiert draußen. Klatscht nur! Klatscht! Ha, sie kosten schon Blut – der Appetit steigert sich – nur zu! Zu! Wie wollen sehen, wer bessere Zähne hat. Noch geb' ich die Hoffnung nicht auf. – Noch eine Sekunde und Elmire tritt ein – Man applaudiert noch stärker. Ha! Da ist sie! Der König beugt sich über – Das Tuch – das Tuch –


Ludwig erhebt sich hinten plötzlich und kommt langsam vor. Die Übrigen lassen ihn durch und gruppieren sich in bescheidener Entfernung.
LA ROQUETTE
zieht sich rasch zurück an die Seite.
Das Tuch – war gelb!
LIONNE
beiseite.
Hat den König eine Stelle verwundet?
DUBOIS
beiseite.
Vielleicht eine persönliche Beziehung –
CHAPELLE
beiseite.
Oder ein schlechter Vers –
LA ROQUETTE
für sich.
Das Tuch war gelb!
DELARIVE.
Majestät geruhen zu befehlen – Sire, dürft' ich –
LIONNE.
Die Sprache des Stücks schien Ew. Majestät doch wohl zu frei?
[224]
CHAPELLE.
Bis jetzt hab' ich schon sechs falsche Reime gezählt –
LIONNE.
Wünschen Ew. Majestät einen Protest?
LEFÊVRE.
Ein Mandat?
LUDWIG
setzt sich und stützt den Kopf auf.
Abscheulich –! Das Tuch war gelb! Wenn sie mich betrogen hätte!
LA ROQUETTE
beiseite.
Das Kostüm des Stücks ist nicht gut gewählt – – ha, ha! Das ist es allein –

Man applaudiert draußen.
LIONNE.
Wünschen Ew. Majestät, so erklär' ich augenblicklich, daß der Vorhang fällt –
CHAPELLE.
Ludwig XIV. ist doch Ludwig XIV.!
LUDWIG.

Chapelle, das ist der geistreichste Gedanke, den Sie je ausgesprochen haben! Was seh' ich dort? Noch immer Molière?


Alle blicken auf La Roquette.
LA ROQUETTE
sammelt sich, entschlossen.
Sire, wenn ich wagen dürfte Ihnen einen Mitteilung zu machen –
LUDWIG.
Worüber?
LA ROQUETTE.
Über einen Gegenstand der Garderobe. Über das Tuch Elmirens!
LUDWIG.
Wie – Sie wissen? – Meine Herren, Zeigt auf die Loge. treten Sie näher! Lassen Sie uns allein!

Alle verbeugen sich und gehen in den Hintergrund.
LA ROQUETTE.

Sire, erlösen Sie mich von diesem grausamen Mißverständnisse! Ich bin niemand anders als der Präsident La Roquette!

LUDWIG.
In der Tat! Sie sind La Roquette – was wissen Sie von Elmiren –
LA ROQUETTE.

Ludwigs hochherziger Sinn ist getäuscht worden von der Koketterie eines Weibes – Nur um die Aufführung des Tartüffe zu ermöglichen, hat man diese List erfunden und Ew. Majestät mit einem gewissen – Zeichen täuschen wollen –

LUDWIG.
Darum verlangte Armande –?
LA ROQUETTE.

Das Zeichen des blauen Tuches! Ein Stück mit einem auffallenden Tuche wurde gesucht, und Ew. Majestät in Ihrer Güte und Großmut erteilten deshalb –

LUDWIG.
Abscheulich, empörend! Aber woher wissen denn Sie das alles –?
LA ROQUETTE.

Der Zufall ließ mich die Bekanntschaft jener kleinen Debütantin machen, welche heute zum erstenmal die Bretter betritt –


Man applaudiert hinter der Szene.
[225]
LUDWIG.
Wem applaudiert man schon wieder?
DELARIVE
von hinten her.
Dem Auftreten der kleinen Béjart-Duplessis.
LA ROQUETTE.

Desselben jungen Mädchens, das mir von Chapelle zur Protektion empfohlen wurde – Sie besuchte mich, sie plauderte mit mir, sie hatte gestern eine gewisse Szene in Armandens Garderobe belauscht –

LUDWIG.
Protegieren Sie junge Debütantinnen? Und diese hat Ihnen Armandens Hinterlist verraten?
LA ROQUETTE
beiseite.

Sie spielt jetzt – ich bin sicher! Laut. Ja, Ew. Majestät – es ist nichts als ein Komplott, ein Komplott des Betrugs, einer sträflichen Hinterlist, eines Verrats an den zartesten Empfindungen Ihres Herzens –

LUDWIG.

Abscheulich! Ich sehe, Sie wissen alles! – Aber ich glaube, sie spricht – oder ist es die andere? Diese Kleine scheint ein hübsches Organ zu besitzen –

LA ROQUETTE.

Ew. Majestät wünschen doch, daß ohne weiteres diese hochverräterisch durchgesetzte Vorstellung geschlossen wird –

LUDWIG.

Getäuscht – verraten! Empörend! – – Aber sonderbar, daß mir diese Madeleine nicht erst vorgestellt worden ist – Wieder eine neue Pflichtvergessenheit Molières – Applaus. Sie scheint zu gefallen –

LA ROQUETTE.
Nicht wahr, das Stück soll nicht weiter gespielt werden –?
LUDWIG.
Delarive, hat die Kleine Talent?
DELARIVE.
Vortrefflich, hinreißend!
LA ROQUETTE.
Nicht wahr, Sire, das Stück ist zu Ende –?
LUDWIG.

Mit dem ersten Akte! Ganz gewiß oder – Es tut mir nur leid – um diese kleine Madeleine Béjart – wie kommt sie zu dem doppelten Namen –?

LA ROQUETTE.
Sire, der Vorhang soll fallen?
LUDWIG.
Noch nicht! Später. Und Sie sagen, sie ist eine Schwester Armandens?
LA ROQUETTE.

Es wird morgen in den Journalen heißen: Das Stück wurde zwar bis zu Ende des ersten Aktes gespielt, aber Se. Majestät verließen schon nach der ersten Szene ihre Loge?

LUDWIG.
Ohne Zweifel! Das ist der rechte Ausweg.

Applaus hinter der Szene.
LA ROQUETTE.
Diese teuflischen Hände!
LUDWIG.
Delarive, gefällt sie?
DELARIVE.
Die Szene? Allgemein, allgemein, Sire –
LUDWIG.
Ist sie gut kostümiert?
[226]
DELARIVE.
Die Szene?
LUDWIG.
Die neue Debütantin!
DELARIVE.
Sie trägt ein blaues Tuch –
LUDWIG
steht auf.

Nun trägt die ein blaues Tuch? Hm! Das könnte ja möglicherweise eine Andeutung Armandens sein – eine Art Bitte um Vergebung! – Diese Madeleine ist – gewiß sehr – reizend – jedenfalls neu und – noch nicht dagewesen –

LA ROQUETTE.
Sire, nicht wahr, Sie befehlen den Wagen?
LUDWIG.

Präsident, – ich beobachte gern die Entwickelung junger Talente – Beiseite. Daß ihr Armande ein blaues Tuch gestattete, damit hat sie jedenfalls etwas ausdrücken wollen – jüngere Schwestern sind zuweilen interessanter – – als ältere –Man applaudiert. Delarive, sie muß vortrefflich spielen. – Es wäre grausam, wenn ich sie kränken wollte und gehen! Nein, nein, Präsident, lassen Sie das doch noch mit dem Artikel in den Journalen!

LA ROQUETTE.
Sire, die Religion!
LUDWIG.

Delarive, Delarive kommt näher. ich denke, man ist einmal hier, man weiß nicht, was man noch den Abend über beginnen soll, man sieht das Stück zu Ende – Was?

DELARIVE.
Alle Blicke richten sich sehnsuchtsvoll nach diesem verlassenen Sessel.
LUDWIG.

In der Tat, nicht wegen des Stückes, nicht wegen dieser – boshaften Armande, nicht wegen Molières, sondern um eine junge Debütantin nicht zu kränken – Gehen wir? Was meinen Sie?

DELARIVE.
Madeleine wird Armande schlagen, scheint es, ich meine in ihrer Rolle –
LUDWIG.

Ich will in der Tat nur das Glück der ganzen Welt, selbst auf meine eignen Kosten! Madeleine muß ein bedeutendes Talent sein! Ich entschließe mich von nun an, nicht mehr die Künstlerinnen, sondern nur noch die Kunst zu protegieren. Meine Herren, kommen Sie, ich will das Stück zu Ende sehen! Ab in die Loge.


Alle folgen dem König. Der Vorhang der Loge fällt zu.
6. Szene
Letzter Auftritt
La Roquette. Später Molière. Dann Armande, Madeleine und Matthieu. Zuletzt Ludwig und die Übrigen.

LA ROQUETTE
allein.

Alles verloren! Alles hin! Ich bin verurteilt, rücklings auf die Nachwelt zu kommen und noch das [227] Zwerchfell der spätesten Jahrhunderte zu kitzeln – Flieh' ich? Bleib' ich? Soll ich mich selbst sehen?


Molière als Tartüffe tritt schnell herein.
LA ROQUETTE
sieht sich in Molière wieder.
Ha! Wer bist du, Mensch? Was willst du von mir? Hinweg, Gespenst! Laß mich!
MOLIÈRE.

Erkennst du mich? Fühlst du, wer ich bin? Dein Gewissen! Ja, dich und den Schatten eines durch dich geopferten Unglücklichen wollt' ich der Welt zeigen! Sieh hin, dort unten steht Duplessis als Orgon, Elmire ist das Weib deines Freundes, das zur schändlichsten Untreue du, du verleitetest; die Frauenstimmen, die an dein Ohr dringen, sind die beiden Kinder deines Freundes, die durch dich in die Nacht des Lebens geschleudert wurden und sich in dem Augenblick, wo deine Missetaten ans Tageslicht kommen, erkennen und als Schwestern wiederfinden müssen! Sieh, sieh, so wie ich hier stehe, dein Schatten, dein Ebenbild, werd' ich jetzt vor die Menge treten, und Jubel wird nicht Molière, nicht Tartüffe, nein, den Präsidenten La Roquette empfangen –


Matthieu hat rechts und links Madeleinen und Armanden am Arm. Armande trägt eine blonde Perücke in der Hand und sonstige Kleidungsstücke, die Molière später braucht.
MATTHIEU.
Gott sei Dank! Molière, ich komme noch zur rechten Zeit! Es hat mich 3000 Livres Kaution gekostet!
MADELEINE.

Da ist er! Der ist's! Dem verdanken wir diese Verbote, diese gestohlenen Soufflierbücher, diese Bastillen! Schlechter Mann, wenn Sie mir nicht eine Schwester geschenkt hätten –


Legt ihren Arm um Armande.
MOLIÈRE.

Hier stehen die beiden Erbinnen jener Summen, die du dem Opfer deiner Heuchelei und Tücke geraubt hast! Versprichst du, Madeleinen ein Vermögen von 30000 Livres auszuzahlen?

LA ROQUETTE.
30 Tau – Was hilfst mir das jetzt?
MOLIÈRE.

Versprichst du ferner, für den Anteil, der meiner Armande gebührt, und auf den sie verzichtet, weil ich, der Muse sei Dank! die Mittel besitze, sie zu ernähren, versprichst du mir für diesen Anteil, damit das Talent, das Laster zu entlarven, in Frankreich nicht aussterbe, 30000 Livres zu dem Zweck zu bestimmen, daß davon eine Theaterschule, eine Akademie für den Unterricht in der Schauspielkunst gestiftet wird?

LA ROQUETTE.
Blasphemie!
MOLIÈRE.

In diesem Falle siehe, was ich tue! Dankbar für die Idee, die du mir wider Willen zu einem Stück gegeben hast, will ich nicht, daß man sage, seht, das ist der Präsident La Roquette! [228] Molière – beweise dir, daß er ein edleres Herz hat! Hier ein Tuch, das du nicht zu tragen pflegst! Hier ein Kopf, der nicht der deine ist!


Setzt sich rasch die große blonde Perücke auf und bindet sich ein blaues Tuch als Leibbinde um.
LA ROQUETTE.
Ha! Man wird mich nicht erkennen?
MOLIÈRE.

Deine Taten, ja! Aber deine Person will ich schonen. Draußen stürmischer Applaus. Hörst du, wie sie dich schon erwarten? Die Ungeduld, dich in mir und mich in dir zu sehen, grenzt an Raserei. Schwöre zu erfüllen, was ich verlangt habe – und ich gehe hinaus, so wie ich jetzt hier stehe!

LA ROQUETTE.
Ich schwöre –
MADELEINE, ARMANDE. Nicht bei Gott, den du gelästert!
LA ROQUETTE.
Beim Lichte der – Wahrheit!
MOLIÈRE, MATTHIEU. Bravo Tartüffe!
LUDWIG
hat schon vorher den Vorhang gelüftet und tritt mit den Herren aus der Loge.

Nein, schwören Sie nicht, La Roquette! Schwören Sie bei der Nacht der Lüge! Molière, Sie haben Großmut gezeigt einem Manne, der sie nicht verdiente!

LA ROQUETTE
beiseite.
Das wird der letzte Tag meines Lebens!
LUDWIG.

Nichts entging mir von dem, was hier gesprochen wurde, und was ich nicht verstand, ergänzten diese Herren! La Roquette, das also sind die Frommen, die Frankreich und mich beherrschen wollten? Sie, das Urbild des Tartüffe, suchen Sie nie wieder die Nähe eines Fürsten auf, der für immer vom Ruder des Staates die Heuchler verbannt, Richter sind Sie, von diesem Amte kann ich Sie nicht entfernen, aber ohne Zweifel geben Sie selbst es auf, wenn ich Sie hiermit der übrigen Ämter, die Sie außerdem bekleiden, für immer enthebe –

LA ROQUETTE.
Sire, Gnade –
LUDWIG.

Legen Sie die Würde eines Anwalts meiner Krone nieder! Zu den andern. Also zwei Schwestern! Geht zu Madeleinen. Schöne Madeleine, ich wünsche, daß Sie eine ebenso große Künstlerin werden mögen, wie Armande, aber eine Künstlerin auf der Bühne, nicht Mit vorwurfsvollem Blick auf Armande. hinter den Kulissen!

ARMANDE
beschämt und bittend.
Sire –
LUDWIG.

Schon gut, schon gut! Ich werde meine Protektion Madeleinen zuwenden. Sie aber, Molière – meine Herren, ich mache mir ein Vergnügen daraus, jetzt aus der großen Hauptloge, wo ich die Prinzen des königlichen Hauses erblicke, Frankreich zu zeigen, daß ich in Molière die Kunst, in der Verbannung und Entlarvung seiner Auf La Roquette. Feinde die Freiheit der Gedanken und der Gewissen ehre. Folgen Sie mir! Ab nach innen.

[229]
CHAPELLE.

In die große Hauptloge? Molière! Ein Sitz in der Akademie ist erledigt! Macht sich Ihr Stück in der Vorstellung besser als in der Lektüre, so seien Sie überzeugt, daß ich Ihre Berechtigung anerkenne, ebenso unsterblich zu sein – wie wir!


Lionne, Dubois, Lefêvre, Delarive folgen dem König.
MATTHIEU.

Herr Expräsident! Ich gehe unter den Kronleuchter und räche mich für die Bastille als Claqueur aller der Stellen, die auf Sie Bezug haben.

MOLIÈRE.

Die Bedingungen! Oder morgen bei der ersten Wiederholung stell' ich den Wolf in seinen wahren Kleidern dar. Meine Freundinnen, meine Schwestern, jetzt an die Lampen!

MATTHIEU.
Und ich unter den Kronleuchter.

Alle vier nach einer Seite hin zugleich ab.
LA ROQUETTE
allein.

Geht nur, geht! Fürs Leben hab' ich verloren und auf der Bühne nur halb gewonnen – Aber verjagen kann man uns wie die Wölfe, und wie die Füchse kommen wir wieder. Rächt euch! Rächt euch! Wir werden es auch tun.Im Ton der Demut. Ich trete in den Orden der Jesuiten!


Der Vorhang fällt.

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