530. Graf Hubert von Calw
Vor alten Zeiten lebte zu Calw ein Graf in Wonne und Reichtum, bis ihn zuletzt sein Gewissen antrieb und er zu seiner Gemahlin sprach: »Nun ist vonnöten, daß ich auch lerne, was Armut heißt, wo ich nicht ganz will zugrunde gehen.« Hierauf sagte er ihr Lebewohl, nahm die Kleidung eines armen Pilgrims an und wanderte in die Gegend nach der Schweiz zu. In einem Dorfe, genannt Deislingen, wurde er Kuhhirt und weidete die [508] ihm anvertraute Herde auf einem nahe gelegenen Berge mit allem Fleiß. Wiewohl nun das Vieh unter seiner Hut gedieh und fett ward, so verdroß es die Bauern, daß er sich immer auf dem nämlichen Berge hielt, und sie setzten ihn vom Amte ab. Da ging er wieder heim nach Calw und heischte das Almosen vor der Türe seiner Gemahlin, die eben ihre Hochzeit mit einem andern Mann feierte. Als ihm nun ein Stück Brot herausgebracht wurde, weigerte er es anzunehmen, es wäre denn, daß ihm auch der Gräfin Becher voll Wein dazu gespendet würde. Man brachte ihm den Becher, und indem er trank, ließ er seinen güldenen Mahlring dareinfallen und kehrte stillschweigend nach dem vorigen Dorfe zurück. Die Leute waren seiner Rückkunft froh, weil sie ihr Vieh unterdessen einem schlechten Hirten hatten untergeben müssen, und setzten den Grafen neuerdings in seine Stelle ein. So hütete er bis zu seinem Lebensende; als er sich dem Tode nah fühlte, offenbarte er den Leuten, wer und woher er wäre; auch verordnete er, daß sie seine Leiche von Rindern ausfahren lassen und da, wo diese stillstehen würden, beerdigen sollten, daselbst aber eine Kapelle bauen. Sein Wille ward genau vollzogen und über seinem Grabe ein Heiligtum errichtet, nach seinem Namen Hubert oder Oberk zu St. Huprecht geheißen. Viele Menschen wallfahreten dahin und ließen zu seiner Minne Messen lesen; jeder Bürger von Calw, der da vorübergeht, hat das Recht, an der Kapellentüre anzuklopfen.