[697] [50]Franz Grillparzer
[Friedrich der Große und Lessing]
[Ein Gespräch im Elysium]
FRIEDRICH. Lessing, komm herab!
LESSING. Seid Ihr es, Sire?
FRIEDRICH. Ich ennuyiere mich und habe Lust zu plaudern.
LESSING. Und wenn ich meinesteils nun keine Lust dazu hätte?
FRIEDRICH. Du mußt dich eben fügen. Denk, ich war ein König.
LESSING. Und ich ein deutscher Gelehrter. Ich füge mich.
FRIEDRICH. Das währt lange! – Ah! – Willkommen! Was gilts, du hast geschrieben?
LESSING. Erraten, Sire.
[50] FRIEDRICH. Und was? Anmerkungen zu den Wolfenbüttler Fragmenten etwa?
LESSING. Es kam auf so etwas heraus.
FRIEDRICH. Gesteh nur, daß wir heute nicht viel mehr von derlei Dingen wissen als damals. Mit der Unsterblichkeit hats seine Richtigkeit. Man spricht auch von einem Himmel und einer Hölle, für die ganz Guten und ganz Bösen nämlich. Wir Leute vom Mittelschlag aber leben so ziemlich fort wie vorher, und wenn nicht die Gesellschaft und die Lektüre wäre, man wüßte, bei Gott, nicht, was anfangen. Denn ewig Schlachten liefern, auch hier noch, wie der kleine Napoleon Bonaparte, ist denn doch zu handwerksmäßig.
LESSING. Man setzt eben diesseits fort, was man jenseits geübt.
FRIEDRICH. So ganz denn doch nicht. Denn kennst du den Hauptgegenstand meiner hiesigen Lukubrationen?
LESSING. Erraten möcht ichs beinahe.
FRIEDRICH. Nun ja denn: deutsche Literatur, und die habe ich, mort de ma vie, im Leben nicht sehr geübt.
LESSING. Wir habens noch in Erinnerung.
FRIEDRICH. Ihr Deutschen wart aber auch langweilige Kerls damals. Der kryptogamische Klopstock. Gellert war noch der Beste. Du selbst, Lessing, bist ein ausgezeichneter, aber kein großer Schriftsteller.
LESSING. Ich weiß es, Sire.
FRIEDRICH. Ich sage das, wie ich gestehe, ein schlechter Dichter gewesen zu sein. Du hast nichts geschaffen und nichts erwiesen. Das kommt, weil es euch Deutschen an Fleiß fehlt.
LESSING. Der Vorwurf ist neu.
FRIEDRICH. Sitzfleisch habt ihr, und Fleiß beim Sammeln, aber keinen zum Reifwerdenlassen und Ausarbeiten. Drum kann eure Literatur auch keine Werke aufweisen, nur Bücher. Sein Leben an drei Bände setzen wie Montesquieu oder wenigstens an ein einziges Werk wie Gibbon, das kommt bei euch nicht vor. Höchstens Kant hat so getan; der war aber auch ein Philosoph, und jede Philosophie involviert eine fixe Idee. Also, daß ich auf dich zurückkomme: du hast deine Kräfte zu sehr zerstreut, deine Gegenstände sind unbedeutend, aber in der Art wie du sie behandelt, kommt dir niemand gleich. Aber flüchtig, [51] flüchtig, immer was Neues. Für einen Gelehrten warst du ein guter Dichter, aber für einen Dichter viel zu sehr Gelehrter. In deinem Nathan sind vortreffliche Charaktere, aber als Stück taugt es nichts.
LESSING. Das ist auch meine Meinung.
FRIEDRICH. Die Emilia Galotti gefällt mir besser.
LESSING. Mir nicht.
FRIEDRICH. Das Verdienst der Minna von Barnhelm liegt in den Nebensachen, die Hauptsache will nicht viel bedeuten.
LESSING. Die Hauptsache ist auch nicht von mir.
FRIEDRICH. Von wem sonst?
LESSING. Von Dir.
FRIEDRICH. Ja so, weil der Tellheim kein Geld kriegen konnte? War notwendig damals, war notwendig! – Aber lassen wir die Anwesenden! – Also die deutsche Literatur war schlecht zu meiner Zeit.
LESSING. Aber sie ist später gut geworden.
FRIEDRICH. Gut? Hm!
LESSING. Und wie schnell!
FRIEDRICH. Aber auch wie kurz! Oder hältst du die heutige auch für gut?
LESSING. Sie wirds wieder werden.
FRIEDRICH. Wird! Wird! Wir wollen nicht die Propheten machen, sondern die Beurteiler. – Erstens also leugne ich eure deutsche Literatur; in dem Sinne nämlich als es eine französische, italienische, englische, spanische gibt, die eure ist nur ein Resumé aller übrigen. Aus Nachahmung entsprungen und nicht aus Naturdrang; aus Büchern, nicht aus eigentümlicher Auffassung, hat sie sich sämtliche Literatur angeeignet, schon aus dem natürlichen Grunde, weil sie die letzte war, und kein Mensch da erfindet, wo er nur zu benützen braucht. Du fandest deine Landsleute über der Nachahmung der Franzosen und hast sie ihnen verleidet. Du tatest recht daran. Denn die Literatur der guten Zeit Frankreichs ist leer ohne die Urbanität und den Geschmack derselben Zeit; wo aber diese hernehmen im damaligen Deutschland oder im jetzigen? Du hast sie dafür auf die Engländer verwiesen, und tatst unrecht; denn die englische Derbheit wird nur durch die englische Tüchtigkeit wieder gut gemacht; der Deutsche aber ist nichts tüchtig als in der [52] Pflichterfüllung. Einige von euch haben zwar einen eigentümlichen Ton angeschlagen wie der Goethe, den ich übrigens nicht leiden mag; er nahm aber nur das aus der Natur, was die Kunst gar nicht brauchen kann, so wie das Gras in der Wirklichkeit recht gut, ja schön ist, der Blumenmaler es aber doch nicht nachbilden wird, sondern eben Blumen nehmen muß. Die Kunst beruht auf einer Steigerung des Wirklichen und unterscheidet sich eben dadurch von [der] Natur. Nun haben aber gerade jene kleinen, hausbackenen Empfindungen, deren Wert in der Wirklichkeit ich nicht leugnen will, das Besondere, daß sie zu nichts werden, wenn man ihnen nur das geringste nimmt oder zusetzt. Es muß daher auch die Darstellung, wenn sie sich an solche Zustände macht, aus einer künstlerischen zu einer bloß natürlichen werden, was das größte Unglück ist, das der Kunst irgend passieren kann. Solange das nun nur die ausgezeichneten Geister treiben, geht es noch an, denn Leute dieser Art fassen die Natur mit scharfen Sinnen auf, und das Wirkliche ist immer interessant, wenn auch nicht immer schön; die Nachtreter aber, deren blöde Augen nur allgemeine Umrisse empfangen, und nun das Schattenbild treulichst auf Löschpapier abklatschen, liefern ein Unding, das endlich selbst deutschen Geschmackswerkzeugen zu matt vorkommen muß.
LESSING. Deutschen Geschmackswerkzeugen!
FRIEDRICH. Ja, ja! Daß ihr keinen Geschmack habt, nämlich keine Empfindung, – Lächle nicht! Es ist so. Gefühl habt ihr, vielleicht mehr als andre, aber Empfindung? Gefühl ist nur der unartikulierte Aufschrei des Innern, der sich nichts bewußt ist, als seines Zustandes im Ganzen, die Empfindung erkennt aber auch die einzelnen Bestandteile des Eindrucks, daher sie vor allem dem Schriftsteller nötig ist, der seinen Zustand andern begreiflich machen, auf andere übertragen will. Auch die Tiere haben Gefühl, aber nur der Mensch hat Empfindung, weil nur er Verstand hat. Die Empfindung steht der Erkenntniskraft ebenso nah als der Gefühlsgabe. Verzeih, daß ich dir das vordemonstriere, der du es besser verstehst, als ich; ich bin aber einmal im Zuge.
LESSING. Man lernt immer, wenn man mit vernünftigen Leuten spricht. Und überdies: der Philosoph von Sanssouci!
[53] FRIEDRICH. Lassen wir das. Also eure schöne Literatur taugt nichts.
LESSING. Und doch wird sie gegenwärtig von ganz Europa bewundert.
FRIEDRICH. Weil die andern eben gar nichts haben. Zudem ist euere Literatur von gestern und befriedigt daher die Bedürfnisse von heute. Die Glanz- Epochen der übrigen Nationen fallen in eine so frühe Zeit, daß ihre Hervorbringungen auf viele Zustände der Gegenwart keine Anwendung leiden. Sie müssen mit Abstraktion genossen werden, indes die eure das Grobzeug recht im Kernschuß trifft. Auch verhalten sich die andern Nationen zur deutschen Literatur, wie man sonst von der Weisheit der Ägyptier sprach. Man lobt was man nicht kennt. Um wieder auf Goethe zu kommen: Seine frühern Werke sind zu natürlich und seine spätern zu künstlich. Am besten noch gefällt mir sein Wilhelm Meister. Er ist der deutsche Don Quixotte und steht an Wert dem spanischen nichts nach.
LESSING. Aber der Schluß!
FRIEDRICH. Er wollte eben aufhören. Schiller ist gut. Er ist der deutsche Racine.
LESSING. Das wäre mir nicht eingefallen.
FRIEDRICH. Lies seine Übersetzung der Phädra und du wirst glauben, Racine habe sich selbst übersetzt. Sie decken sich. Wenn Schiller weiter ist, so ist es die im Wissen vorgeschrittene Zeit. Versetze Schillern in die Zeit Ludwig des Vierzehnten und mache Racine zum deutschen Professor im 19ten Jahrhundert und jeder Unterschied hat aufgehört. Shakespeare hat einen übeln Einfluß auf deinen Landsmann ausgeübt, indem er seine Form erweiterte. Wäre der Wallenstein in fünf Akte zusammengedrängt, ich wüßte ihm nichts an die Seite zu setzen.
LESSING. Und doch, ohne Shakespeare als Vorgänger, was wäre Schiller?
FRIEDRICH. Du magst recht haben. Voltaire hat Shakespeare einen Wilden genannt. Er hätte nur dazu setzen sollen ein großer Wilder um die Wahrheit ganz zu treffen. Seine Form ist nämlich wild und taugt nichts oder vielmehr nur für eine halb rohe Zeit, die neue und starke Eindrücke wollte, ohne sich um ihre Herbeiführung und Rechtfertigung viel zu bekümmern.
LESSING. Und doch geht er immer den Weg der Natur.
[54] FRIEDRICH. Auf den Stationsplätzen trifft er allerdings fast immer mit ihr zusammen, aber auf dem Wege eilt er ihr so ziemlich voraus. Er gibt ein précis, ein abrégé der Natur aber nicht die Natur selbst. In der Kunst aber sind ihre Stufen ebenso wichtig als ihre Höhe.
LESSING. Du forderst die Natur bei Shakespeare und weisest sie bei Goethe zurück.
FRIEDRICH. Shakespeare hat eben die Natur genommen, wie der Dichter soll: in ihren großen Verhältnissen. Goethe stellt sie zwar mit Treue dar, bringt sie aber vorher auf sein eignes Maß herab. Hat er nicht aus Egmont einen Lebemenschen gemacht und aus dem Tyrannen Alba einen ganz plausibeln homme d'état? Ist in der Iphigenie eine Spur von dem heroischen Zeitalter in dem die Handlung spielt? Oder glaubst du, daß solche Gesinnungen und Charaktere möglich sind, wenn nicht lange vor Anfang der Handlung der Herr Onkel seine eignen Kinder gegessen und der Vater seine Tochter den Göttern zum Opfer gebracht hat. Nichts davon zu sagen, daß dieser König Thoas nicht darnach aussieht, daß ein neues Menschenopfer irgend von ihm zu befürchten stünde. Goethe hat nur den Winkelmann in Handlung gesetzt und auf lebende Menschen angewendet, was von toten Statuen allerdings seine Geltung haben mag.
LESSING. Ich war Goethes Freund nicht solang ich lebte, er war aber auch damals nicht, was er später geworden ist. Er ist denn doch der Glanzpunkt unserer Nation.
FRIEDRICH. Das ist ja was ich sage. Ich tadle nicht ihn, sondern euch. Daß ihr nichts Großartiges in eurer Natur habt und keine Energie. Hat sich nicht Goethe über sich selbst als Dichter lustig gemacht? Oder was anders wäre der Kern seines Wilhelm Meister, ja seines Tasso, wo zuletzt die Lumpe recht behalten? Goethe ist überdies ein unmoralischer Dichter. Die gefallenen Mädchen sind seine Lieblingsfiguren und die Wahlverwandtschaften sind abscheulicher als die französischen Schmutzromane. Die Sünde war da und wird da sein und im Leben mag sich der Mensch mit ihr abfinden wie er kann, aber für den Schriftsteller muß sie nicht bloß ein Unglück sein, sondern ein Verbrechen.
[55] LESSING. Laß uns nicht ungerecht sein, König, wir sind auf dem geraden Wege.
FRIEDRICH. Es hört uns niemand, da können wir schon ein wenig übertreiben. Dann hat er nicht nur die Blüte eurer Poesie herbeigeführt, sondern ist auch Ursache an ihrem Verfall.
LESSING. Ich weiß was du sagen willst und es ist etwas daran.
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