Fünfzehntes Kapitel
Wie viel man an einem Tage gewinnen und wie viel man verlieren kann
Am Sonntag also mußte Vreneli zu Gevatter stehen, da gab es einen kleinen Streit. Uli sagte: »Nimm das Fuhrwerk, es ist weit und die Rosse haben nicht viel geschafft.« »Will nicht die vornehme Frau machen,« sagte Vreneli, »das würde sich übel schicken für uns.« »Bist noch immer böse?« sagte Uli, »das wäre dumm.« »Nein,« sagte Vreneli, »bin weder böse noch dumm, aber wo du recht hast, da gestehe ich es [246] gerne. Ich will nicht über meinen Stand hinaus und nie vergessen, daß wir nichts haben und nichts sind als Arbeitsleute. Wir haben wohl Rosse im Stall, aber sie sind nicht unser, das große Bauernwesen ist wohl da, aber wir sind nicht der Bauer, und den Schein, als wären wir es, will ich mir nicht geben. Fahren ist für vornehme Leute oder wenigstens für solche, welche es scheinen möchten.« Und was Uli auch sagte, Vreneli blieb auf seinem Sinn. Als am Morgen in aller Frühe Vreneli zum Gehen fertig stund und noch links und rechts befahl, wie es gehen solle den Tag über, da wollte Uli dem Vreneli wieder kanzeln. Vreneli war ganz einfach angezogen, hatte nicht etwa die Hochzeitkleider an, um im Glanze aufzutreten, hatte nicht einmal seine schweren silbernen Göllerkettelein eingehängt und gar nichts von Seide am Leibe und doch derlei Dinge im Schranke. »Wann willst dann dies brauchen?« frug Uli. »Das wäre ein Anlaß gewesen, die Kleider verderben dir, wenn du sie nicht brauchst.« »Habe deswegen nicht Kummer,« sagte Vreneli, »dafür laß mich sorgen, und wenn wir mal Bauer und Bäurin sind, dann sollst du Wunder erleben, wie ich aufziehen will. Bis dahin will ich lieber, die Leute sagen: Die kömmt doch gering da, her, sie werden es nicht besser vermögen, als: Die mag wohl, wird meinen, man wisse nicht, wer sie ist; der wird es noch anders kommen. Sieh, Mannli, vornehm täte ich gerne; im Guttätig-, nicht im Hoffärtigsein, da ist ein Unterschied, den mußt du noch lernen, er hat viel auf sich. Doch behüte dich Gott und lebe wohl, muß pressieren, es ist ohnehin wohl spät.« Als Uli dem Weibchen nachsah, mußte er sich gestehen, daß heute, trotz der einfachen Kleidung, wohl kaum ein schmuckeres Weibchen auf Berner Wegen gehen werde, als eins eben von seinem Hause ablief.
Es war das erstemal seit seiner Heirat, daß Vreneli so weit von Hause sich entfernte, mehr als drei Stunden weit. Es war [247] ein klarer, aber rauher Frühlingsmorgen, ein starker Reif lag auf den Feldern, Schnee bedeckte die niederen Höhen. Noch sah man bedeutendere Sterne am Himmel, die minderen hatte der beginnende Tag verschlungen, das heißt für Vrenelis Augen. Andere Augen, nur einige Stunden weiter, sahen es anders und Gottes Augen noch ganz anders. So geht es mit den Augen und der Sterne Bedeutung, und noch ganz anders mit den Menschen, welche man sinnbildlich Sterne nennt. Sterne hier könnte man zwanzig Stunden weiter nicht für Stallaternen brauchen, und noch zehn Stunden weiter wären sie nichts als schmutzige Öltöpfe oder winzige Talgstümpfchen.
So einmal aus dem Gesurre des täglichen Getriebes herauszukommen, ist äußerst wohltätig. Es ist, als ob die Sinne freier würden, als steige man auf ein Berglein und übersehe nun den Wald, den man sonst vor lauter Bäumen nicht gesehen. So ging es Vreneli. Ihre ganze Lage rollte sich vor ihm auf wie eine Landkarte. Es sah die schönen Punkte, die steilen Höhen, die gefährlichen Pässe, es sah, wie mit Gottes Hülfe keine Gefahr für sie wäre, wenn die gehörige Vorsicht gebraucht würde, eine weise Sparsamkeit am rechten und nicht am unrechten Orte, kein närrisches Vertrauen in unbewährte Menschen. Wenn schon das letzte Jahr nicht das beste gewesen, so war es mit ihnen doch vorwärtsgegangen, nur hatten sie leider das Geld nicht beisammen, das machte Vreneli seufzen. Hätten wir es doch nur, dachte es. Was hilft viel lösen, wenn man nichts kriegt? Viel versprechen kostet ja nichts, zahlen ist die Hauptsache. Mit Behagen dagegen überschlug es, wie sich ihr Hausrat gemehrt und ihre Vorräte, mehr als Uli dachte. Wenn es sein müßte, ein paar hundert Gulden ließen sich lösen aus Entbehrlichem, meinte es. Mit Behagen dachte es an seine Kindlein, deren es bereits drei hatte, die so lustig blühten, als wären sie drei Röselein im [248] Garten, zählte sich die kleinen Handbietungen auf, welche Vreneli bereits leistete. Es freute sich, wie sie mehren würden, fast Tag um Tag, und dachte an die Zeit, wo das Mädchen sein rechter Arm sein werde, seine wahre Meisterjungfrau. Wenn nur die Pässe nicht gewesen wären mit ihren Grün, den und Schlünden. Es hätte Vreneli keinen Kummer gemacht, sie zu durchfahren, wenn es die Peitsche geführt, das Fahren in seiner Hand gelegen wäre; es glaubte zu sehen, wo man mehr hüst und wo mehr hott fahren müsse, wenn man sicher durchkommen wolle. Aber das ist das Peinliche auf Fahrten und gar auf der Lebensfahrt, wenn man sich fuhr, werken lassen muß, sieht sich bald rechts am Abgrunde, bald links in den Lüften, kann nichts dran machen als höchstens hüst oder hott schreien. Der, welcher fährt, sieht Abgründe und Wände nicht, hört das Schreien nicht, fährt zu, immer blinder und toller, je mehr man wehrt und schreit, expreß hüst, wenn er hott fahren sollte, und hott, wenn hüst ihn retten könnte, er fährt, bis es aus ist mit dem Fuhrwerk, dann fängt er mörderlich zu brüllen an, wie man mit dem Wehren und Geschrei schuld sei am Unglück, hätte man ihn alleine machen lassen, es wäre ganz anders gegangen. Ach wie viele solche Fuhrwerke holpern wohl nicht auf dem Lebenswege, es wackeln die Räder, taumeln an den Rändern der Ab, gründe, Eins fährt, das Andere schreit, sie wackeln, sie taumeln, bis endlich das Fahren aus, das Fuhrwerk geborsten ist. Wie peinlich und angstvoll ein solches Fahren ist, ist so begreiflich, aber am wenigsten begreifts, wer die Zügel führt und die Peitsche; kann er, so haut er, wer schreit und Pein zeigt. Wenn Staatswagen so karren und taumeln, ists noch schauerlicher und graulicher als bei Familienwagen! Daran dachte Vreneli und wie das Ding wohl anzufangen sei, daß Uli so recht auf ihns höre, sich nicht umgarnen lasse von falschen Freunden, nicht umstricken von den Netzen des Geizes. [249] Es fehlte ja nirgends als da, aber das war doch so gefährlich, daß ihm angst und bange ward bei dem Sinnen und Denken, der Weg ihm unter den Füßen schwand, ohne daß es es merkte, es am Häuschen stand, wo das Patekind lag, ehe es daran dachte.
Im Häuschen sah es armütig aus und wehmütig das Hausgeräte und die Hausbewohner. Vreneli hätte seine Gespielin nicht wieder erkannt, hatte Mühe, sich zu überzeugen, daß sie es wirklich sei. Zu einem alten Weibe war das lustige Mädchen zusammengealtert, die blanke Haut war gelb geworden, und matt, sehr matt waren Gebärden, Schritte, ja selbst das Gangwerk ihrer Rede. Die Kinder glichen Zwetschgen, über welche ein früher Reif gegangen, der Kaffee war so dünn, die Milch so blau, daß sie, als beide zusammengegossen waren, aussahen akkurat wie der blaue Himmel, wenn ein leiser Nebel darüberliegt. Der Tisch wackelte, die Kaffeekanne machte ein weinerliches Gesicht, denn sie hatte Spalten, die Tassen waren zusammengeborgt, die Untertassen kamen hierher, die Obertassen dorther, sie sahen aus wie die Gevatterschaft selbst, welche aus einem kleinen, dummen Bauernsöhnchen und einer alten, grauen Frau und also Vreneli bestund. Die Kindbetterin war anfangs gegen Vreneli schüchtern und tat fremd, es schmerzte Vreneli fast. Zehn Jahre waren zwischen ihnen durchgeflossen, seit sie ein Herz und eine Seele gewesen; diese zehn Jahre, wie weit hatten sie sie auseinandergerissen! Jahre verknöchern sich gerne zu Bergen, stellen sich zwischen die Menschen, scheiden sie durchaus, höchstens sehen sie sich noch, kennen einander aber nicht. Wenn nun so nach zehn Jahren der Strom der Zeit Zwei zusammenschwemmt in ein Stübchen, daß sie bei einander sitzen, sich ansehen und Rede stehen müssen, so sehen sie einander an und lesen sich gegenseitig ein Blatt Weltgeschichte ab, und was sie sich gegenseitig ablesen, macht die [250] Einen neidisch, die Andern dankbar, Andere demütig, Andere hoffärtig, Andere giftig, Andere wehmütig. Als das arme Weiblein Vreneli vor sich hatte, war es eben demütig und wehmütig, denn der Grund seines Gemütes war gut und treu. Es sah mit Demut an Vreneli auf, dem seine einfache, nette Kleidung so vornehm stund, Respekt einflößte, denn wer eine so einfache Kleidung so zu ordnen und zu tragen wußte, der war von Jugend auf in guter Kleidung und hatte daheim noch bessere, als es am Leibe trug, während man oft scheinbar kostbarer, aber verschliffener Kleidung von weitem ansieht, daß unter derselben ein verlumpt Hemd stehet und daheim nicht drei ganze sich vorfinden würden. Dachte mit Demut, wenn es gewußt, wie es geworden, es hätte nicht an ihns sprechen dürfen, aber schön sei es von ihm, daß es doch gekommen und seiner sich nicht geschämt. Dachte aber auch mit Wehmut, wie die Zeit sie verschieden gestellt, an ihm gezimmert und genagt, Vreneli zu einer Frau gemacht, dachte mit Wehmut, wie es erst in zehn Jahren sein werde, wie da wohl es zusammengemagert und, ein verdorret Laub, von der Erde verschlungen sein werde, während Vreneli vollständig zu einer Bäuerin sich abgerundet habe. Je mehr Vrenelis Freundlichkeit auf blühte, desto weh – und demütiger ward das arme Frauchen; zwischenein kam die Freude, es zu sehen und zu gedenken der vergangenen Zeit ohne Gram und ohne Sorgen.
Die Armütigkeit trat erst so recht hervor, als man das Kindlein schmücken wollte zur Kirche. So rein und schön, als sie können, zieren die Eltern das Taufkind aus; es soll diese Sorgfalt so gleichsam ein Pfand sein, daß sie es schmücken und zieren wollen nicht bloß äußerlich zum Gang in den Tempel des Herrn, sondern von Stunde an auch innerlich und es auf, erbauen zu einem Tempel, darin der Herr wohnen mag. Da waren gelbgewaschene Windeln und keine ganze Käppchen, gar erbärmlich dünn das Decklein, in welches man es legte, [251] und verschossen und schlecht das Tuch, mit welchem man es deckte. Das arme Kind mußte sich früh gewöhnen, daß des Lebens rauhe Winde ihm hart an die Haut gingen. Die alte Gotte hatte das grausam ungern, konnte sich gar nicht darein schicken, mit einem so schlecht angekleideten Kinde zur Kirche zu gehen. Wenn sie das gewußt hätte, sagte sie, sie hätte die Magd gesandt, die hätte dieses auch verrichten können. Das arme Frauchen hatte die Tränen in den Augen, entschuldigte sich bestmöglichst. Sie hätte Besseres leihen wollen, aber, fremd hier, hätte man allenthalben Ausreden gehabt; da hätte sie gedacht, wegem lieben Gott hätten sie sich nicht zu schämen, den Leuten aber nicht mehr nachzufragen als sie ihnen. Da hätte sie es ja den Gevattersleuten können sagen lassen, die würden ihretwegen schon dafür gesorgt haben, zürnte die graue Alte, die eben auch nicht sehr appetitlich aussah.
Da trat Vreneli ins Mittel, durch dieses unwürdige Geträtsche sehr bemüht. Es wolle das Kind schon tragen, sagte es, es schäme sich seiner gar nicht; vielleicht sei das Kind welches Jesus unter die Jünger gestellt und gesagt: So ihr nicht werdet wie dieses Kindlein, werdet ihr nicht ins Reich Gottes kommen, nicht besser geschmückt gewesen als dieses, und allweg wollten sie Gott danken, wenn sie Beide Gott so wohl gefielen als dieses Kindlein, und ein Beispiel hätte man, daß ein Kind, welches nicht einmal ein Deckeli gehabt, sondern bloß in Windeln gewickelt gewesen sei, groß geworden sei und noch jetzt allen armen Sündern zum Heil. »Du wirst eine Stündlerin sein mit Schein,« grinste die Alte. »Nicht, daß ich wüßte,« antwortete Vreneli, »aber mich dünkt, man sollte sich in die Umstände schicken können, auf die Hauptsache sehen, an Nebensachen sich nicht stoßen, und dies um so mehr, je älter man ist.« »So,« sagte die Alte, »das wird sollen gestochen sein. Ja ja, es gibt Leute, sie meinen, sie hätten die [252] Weisheit mit dem Breilöffel gefressen, und sehen den Dreck auf der eignen Nase nicht. He nun so dann, so gehts! Bin alt, habe darum schon manchmal erfahren, daß unser Herrgott Solchen den Verstand mit der Muskelle anrichtet, und dann sagten ich und Andere: So recht, nur angerichtet, und je mehr, je besser. So sollte es allen gehen, welche besser sein wollen als andere Leute oder gar noch fromm.« »Ich sehe dich doch noch?« frug das Fraueli weichmütig Vreneli. »Gewiß,« sagte Vreneli, »aber jetzt ists Zeit! Gebt mir das Kind in Gottes Namen, und gehen wollen wir in Gottes Namen, und daß des Kindes Eingänge und Ausgänge sein ganz Leben lang alle geschehen in Gottes Namen, das wolle Gott.« Wie nötig das arme Würmlein das hätte, mußte Vreneli denken den ganzen Weg entlang, während die andere Gotte alle möglichen Manövers machte, damit die Leute nicht meinten, sie gehöre zum Kinde; sie dachte nicht daran, wie wenig ihr alle Künste hülfen, da sie in der Kirche vor aller Leute Augen doch zum Kinde stehen mußte.
Man kann allerdings nicht genug daran denken, wenn man ein arm Kind zur Kirche trägt, wie nötig dasselbe Gott habe, wenn das Elend der Sünde es nicht verschlingen soll.
Der Taufschmaus oder, wie man merkwürdigerweise sagt, die Kindbetti (wahrscheinlich, weil der Mann die Kosten dazu mit Weh und Schmerzen aufbringt) wurde im Wirtshause ausgerichtet. Die eigentliche Kindbetterin blieb zu Hause, wohin auch das Kind getragen wurde. Vreneli verarbeitete grausam viel Langeweile, ehe die Mahlzeit aufgetragen wurde. Mit seiner Mitgevatterin stund es auf gespanntem Fuße, mit den Andern war nicht viel zu reden, die Wirtin war nicht redselig und der Wirt handelte mit Juden um Kühe. Der Wirt gehörte nämlich unter die Wirte, welche weder Sonntag noch Sabbat kennen, um alles handeln und die eigne Seele verschachern würden, wenn man sie an einen vierkreuzerigen [253] Strick binden und weiterführen könnte. Wahrscheinlich um solcher Wirte willen wird der liebe Gott die Seele unsichtbar gemacht oder keinen Strick geschaffen haben, an dem man sie halftern kann. Der kleine Bauernsohn war ein Dorfrenommist. Ungeheure Heldentaten hatte er vollbracht, aber alle waren mit Schmutz angemacht oder nahmen ein schmutziges Ende. Vreneli kriegte großen Ekel darüber. Sobald es das Nötigste gegessen und getrunken hatte, verschwand es ganz in großem Stile. Der Wirtin trug es auf, später seine Entschuldigungen zu machen, nahm noch Wein und Fleisch mit sich, versteht sich für sein Geld, und machte dem verlassenen Fraueli sich zu.
Über den so frühen Besuch war dieses fast erschrocken, denn so früh verläßt sonst selten eine Gotte den Patenschmaus; es fürchtete, der Mann könnte es an ihm zürnen, daß Vreneli so frühe fortgelaufen. Indessen verlor sich dieser Schreck in der Freude, die alte Gespielin vor sich zu haben. Das Herz ging ihm auf, es erzählte Vreneli seine Geschichte. Diese war nicht viel anders als die Geschichte von Tausenden, aber sie ging Vreneli doch zu Herzen, als sei sie ihm neu von Anfang bis zu Ende. Leichtsinnig hatte sie sich mit einem Nebenknechtlein eingelassen, mußte ihn heiraten, hatten nichts erspart, bekamen ein Kind nach dem andern; sie konnte nichts verdienen, er war von den Mittelmäßigen einer, welche nur geringen Lohn erhalten. Er war wohl fleißig, aber er war kein Meister in irgend einer Arbeit, konnte nur taglöhnern oder als Nebenknecht in einem Dienste stehen, wo er keinen besondern Zweig der Landwirtschaft eigen zu beschaffen hatte; er war von denen einer, welche einen Tag nach dem andern hinnehmen, wie er kömmt, ohne Streben und Anspannung, durch Ausbildung seiner Kräfte oder tüchtigere Anwendung derselben seine Lage zu verbessern. So erzählte nun das Weib Vreneli so ganz ins Einzelne hinein, wie kümmerlich [254] sie sich durchbringen müßten, wie Kreuzer um Kreuzer abgezählt werden müßte, welche Angst und Sorgen es verursache, wenn unerwartet Schuhe geflickt werden müßten, und welche Freude, wenn unerwartet ein Stück Brot ins Haus käme oder ein altes Kleidungsstück.
Vreneli kannte diese Art von Haushaltungen im allgemeinen ganz gut, aber so ganz ins Kleinste hatte es sie nicht verfolgt, die ängstliche tägliche Pein nie so anschaulich vor Augen gehabt, als sie ihm jetzt durch seine Freundin dargestellt ward, so daß es ihm wurde, als sei es selbst mitten drin und müßte sie mitmachen Tag für Tag. Es hatte unsägliches Erbarmen mit dem armen Weibe, es fühlte, wie es in solchem Zustande, in welchem man zu wenig hat, um zu leben, und zu viel, um zu sterben, wo man keine Aussicht hat, ihn zu verbessern, die höchsten Hoffnungen nicht einmal mehr bis an eine Ziege reichen, höchstens bis an ein Huhn, namenlos unglücklich wäre, ihn nicht ertragen könnte. In einem solchen Zustande, gleichsam mit gebundenen Händen und Füßen, jahrelang bis ans Lebensende zu zappeln, in täglicher endloser Not zu verkümmern, die Brosamen zählen zu müssen und immer zu wenig zu haben, den eigenen und der Kinder Hunger zu stillen, das ist das Schrecklichste unter der Sonne. Es schauderte zusammen bei dem Gedanken, wenn es doch das erleben müßte, es konnte nicht begreifen, wie die arme Frau das so erzählen konnte ohne Jammer und Weinen. Es konnte nicht begreifen, wie sie fast noch mit einer Art von Behagen erzählen konnte, wie sie ihre Armütigkeit verwalte, es dachte nicht daran, wie der Mensch nach und nach an alles sich gewöhnt und auch daran, im engsten Raume sich zu bewegen und seine Tätigkeit in die kleinsten Schranken gebannt zu sehen. Wer an weite Aussichten gewohnt ist, an großen Geschäftsverkehr und weithin reichendes Wirken, dem scheint ein so eng beschränktes Dasein die schrecklichste [255] Pein auf Erden, und doch würde er sich im Laufe der Jahre vielleicht daran gewöhnen, es erfahren, daß die Bürden, welche alle Menschen tragen, wohl anders aussehen, aber nicht so verschieden sind, als sie scheinen, daß ihre Schwere oder ihre Leichtigkeit nicht vom eigenen Gewicht abhängt, sondern von der Gewohnheit und dem Gemüte, welches sie trägt. Schwer trägt ein Kind an einem Pfunde, leichter der starke Mann einen Zentner.
Vreneli fühlte das wahre Mitleid, fühlte, wie es ihm wäre im Mieder des armen Fraueli, gab ihm, was es bei sich hatte, und hieß es, ihns bald mit dem Kinde zu besuchen. Jetzt schossen dem armen Weibchen Tränen die Backen herunter, es stund vor Vreneli und konnte lange nicht reden. »Du bist immer das Beste, das gleiche Vreneli,« sagte sie, »bringst schon für das Kind schier mehr, als ich nehmen durfte, kömmst vom Wirtshaus, hockest da in meiner Armut, hörst einen ganzen halben Tag mein Gestürm an und gibst mir jetzt noch mehr, als ich dir abnehmen darf« Als Vreneli auf der Annahme bestund, dieweil es komme aus gutem Herzen und es nichts desto weniger es machen könne, sagte das Fraueli: »He nun so dann, so will ich es nehmen und alle Tage für dich beten, anders kann ich dir nicht vergelten. Du weißt nicht, aus welcher Not du mich ziehst und wie glücklich du mich machst, und ich kann es nicht sagen. Jetzt kann ich drei Batzen hier, sieben Batzen dort bezahlen, die ich geliehen hinter dem Rücken meines Mannes und die mich schon lange schlaflos gemacht. Ich brauchte sie nicht für mich, sondern für den Arzt; mein Mann hatte gemeint, es sei nicht nötig, es werde dem Kinde schon bessern, wenn es Gottes Wille sei. Ich habe mein Sonntagsmieder versetzen müssen, das kann ich auslösen und vielleicht einmal Schuhe machen lassen. Nein, du gutes Vreneli, du weißt nicht, was du an mir tust, ein rechter Engel vom Himmel bist du mir, und unser Herrgott [256] wolle es dir vergelten an dir und deinen Kindern. Gott Lob und Dank, jetzt werde ich wieder schlafen können, und wenn Gott uns gesund läßt, so wird es schon noch besser kommen, ich zweifle nicht.«
So glücklich hatte Vreneli lange niemand gesehen, kaum Uli, als es ihm endlich Ja sagte, glücklicher gemacht als dieses arme Fraueli. Kaum konnte es sich von ihm trennen, was doch endlich sein mußte.
Als Vreneli wieder allein war und seines Weges ging, da wogten die Gedanken stromsweise durch seine Seele. Das Glück des armen Weibes schwebte ihm vor den Augen. Das ist doch groß und schön, von Kleinem so glücklich werden zu können, das ist ein groß Gegengewicht gegen das tägliche Elend. Solch Glück wird denen nicht, welche man gewöhnlich die Glücklichen nennt, welche sich in einem Zustande befinden, welcher allen Wünschen zu genügen scheint, ein Glück, welches aber so langweilig und peinlich werden kann, daß schon mancher Engländer oder anderer Narr in Verzweiflung geriet und sich vor den Kopf schoß. Es überschlug, was es wohl noch alles hätte für das arme Weib, und erstaunte, wie reich es war an alten Schuhen, Strümpfen und andern Herrlichkeiten, welche es nicht mehr brauchen konnte und welche Schätze waren in diese Armut hinein. Es über, schlug, ob es sie nicht in seine Nähe ziehen, zu einem bessern Dasein ihnen verhelfen könnte; das wäre ihm reich vergolten durch eine treue Seele, welcher es vertrauen und die es gebrauchen könnte im Hause für Dinge, welche man nicht gerne allen anvertraut, und von welcher es sicher wäre, daß sie nicht Partie mit den Andern gegen sie machen würde.
Dann mußte es denken, in welcher ganz andern Lage es sei als seine Freundin, welche vor zehn Jahren, gleich berechtigt an das Glück der Welt, mit ihm auf einer Bank gesessen. Es hatte so oft Gott und der Base geklagt, hatte sich in gedrückter [257] Lage gefühlt, Angst gehabt um ihr Dasein, Kummer, Sorgen aller Art, gemeint, die Zukunft sei eben eine schwarze Wolke voll Blitz und Donner, hatte es sich nicht schwer damit versündigt? Es hatte gesehen nach denen, welche über ihm stunden, und nicht mit den Millionen sich verglichen, welche die untern Stufen der menschlichen Gesellschaft füllen, oder es hatte gar nichts verglichen, sondern bloß bitterlich geseufzt über seine Bürde, ohne zu bedenken, daß ohne diese kein Mensch sein darf auf Erden, so wenig als ohne Druck der Luft. Vreneli fühlte sich als eine reiche, vornehme Frau gegenüber der armen Freundin, es konnte schenken Schätze, konnte ihr Herz glücklich machen trotz einem Kaiser, hatte zu essen vollauf, Vorräte, brauchte mit dem Kreuzer nicht zu knausern, konnte seine Kinder kleiden lassen nach Bedürfnis und Verstand, hatte Hoffnung, es zu etwas zu bringen. Es stund vor ihnen eine weite Bahn, freilich vielen Wechselfällen ausgesetzt, auf welcher aber doch schon so Viele durch Fleiß und Nachhaltigkeit reich geworden. Da schämte sich Vreneli bitterlich und bis zum Weinen. So gehe es einem, wenn man nicht von Hause komme und bloß seine Sache sehe und seine Lage, warf es sich vor; da werde man ungeduldig, undankbar, wisse nicht, wie gut man es habe, und werde unverträglich. Man wisse nicht mehr, wie alle Menschen an einander zu tragen hätten, meine, nur die, mit welchen man lebe, hätten ihre Fehler, wollten sie aus Bosheit nicht ablegen, machten einen mit Fleiß unglücklich; sehe man sich aber um, so sei es anders, der alte Mensch sei überall und nur da am wenigsten drückend, wo man mit Geduld ihn trage, mit Sanftmut arbeite am neuen Menschen. Es kam ihns so eine rechte Wehmut an, wenn es dachte, wie viele Menschen sich versündigten mit Klagen und Undankbarkeit und so glücklich sein könnten im Vergleich gegen Andere, wenn sie nur den Verstand hätten, es zu begreifen.
[258] Wenn sie nur einen Augenblick sich in andere Strümpfe denken könnten, so käme sie eine unendliche Dankbarkeit an. Es schauderte ihns, wenn es dachte, es sollte an seiner Freundin Platz nur eine Woche lang und ihr Mann sollte sein Mann sein. Da war doch dann Uli ein ganz Anderer, und wenn es schon zuweilen Vreneli dünkte, Uli sollte auf festern Füßen stehen, so war er doch ein Mann und nicht so ein Züttel, ein Fösel und Höseler. Erst wenn man mit eigenen Augen so recht in andrer Menschen Verhältnisse hineinsehe, begreife man, wie gut man es habe, wie gütig Gott sei, wie grob man sich versündige mit Unzufriedenheit, sehne sich heim und fühle sich erst glücklich, wenn man alles so finde, wie man es verlassen und zwar in aller Unzufriedenheit.
Je mehr es so dachte, desto mehr trabte es vorwärts, es war ihm, als könnte ihm sein Heim gestohlen werden und wenn es hinkomme, sei nichts mehr da als eine Öde, das Haus verbrannt, die Kinder tot, Uli weg. Aber es ging Vreneli wie vielen Weibern, welche nicht viel vom Hause kommen, seine Schuhe fingen ihns an zu plagen. Die Hausgeschäfte werden in Holzschuhen oder sonst bequemen, großen Schuhen verrichtet, die bessern, eleganten Lederschuhe zieht man selten an; sie trocknen wohl aus, und wenn dann zur Seltenheit weiter gegangen werden soll, vertragen sich die bequem gewordenen Füße schlecht mit den knappen, spröden Schuhen. Es gibt viele unangenehme Verhältnisse in der Welt, aber das Verhältnis zwischen einem weichen Fuß und spröden Schuh wo der eine zu breit ist, der andere zu eng, ist doch eins der allerunangenehmsten, besonders wenn soll gelaufen werden und zwar stundenweit. Es gibt Leute, welche kein Verhältnis begreifen und namentlich dieses Verhältnis nicht. Köchinnen und selbst Kammerzofen, vorzüglich aber Stall, und andere Untermägde befinden sich in diesem Falle. Wenn der [259] Schuhherr kommt, das Maß zu nehmen, biegen sie die Zehen zusammen oder unter die Sohle, befehlen dazu: »Ganz klein, ganz klein, Sonntagsschuhe!«, wahrscheinlich Betmaschinen, um sie zum Seufzen und Beten zu zwingen. Nun, da gehts dann eben wie bei allen unnatürlichen Verhältnissen; solange man in denselben lebt, ist man sauübel, schrecklich unglücklich, man schreit nach Gott, und hat man genug geschrieen, platzen sie endlich. Ganz jämmerlich mußte Vreneli pilgern, wie wenn es Erbsen in den Schuhen hätte. Auf Wallfahrten büßt der Mensch halt seine Sünden. Ehedem wallfahrtete man nach heiligen Orten, Jerusalem, Loretto, Einsiedeln, mit Erbsen in den Schuhen oder gar rückwärts nach Rom. Heutzutage pilgern die Mädchen nach Tanzplätzen, stehen große Qualen aus dabei; barfuß trifft man sie oft an, an Orten, wo sie meinen, es sehe sie niemand, oder rückwärts gehend von Wirtshäusern, vorwärts Buben lockend, bis sie plumps liegen in schmutzigem Loche. Nun, Vreneli pilgerte auf guten Wegen, aber auf solchen muß man oft leiden, was auf schlechten Wegen und noch mehr, und nicht böse werden darüber. Das ward Vreneli auch nicht, seufzte bloß zuweilen, ward in seinen Gedanken unterbrochen und dachte endlich wenig mehr als, es wollte, es wäre daheim. Es schämte sich seines hinkenden Ganges, sah so wenig als möglich auf, in der Hoffnung, wenn es sich um die Begegnenden nicht kümmere, kümmerten sie sich auch nicht um ihns, was jedenfalls ein sehr einseitiger Schloß ist.
Da hielt neben ihm ein Wägelchen, von demselben herab kam eine Stimme: »Wieweit noch heute?« Da zuckte Vreneli zusammen, sah auf, und auf dem Wägelchen saß Uli. Der lachte über Vrenelis Studieren, ob welchem es nicht wisse, wer an ihm vorbeikomme, und Vreneli war es eine höchst angenehme Überraschung, erstlich wegen den Füßen und zweitens wegen Uli. Wer einmal schlimme Füße in engen[260] Schuhen gehabt hat und noch zwei lange Stunden wenigstens vor sich, der weiß, wie hell es plötzlich vor den Augen wird und wie eine Stimme von einem Fuhrwerke herab, welche aufsteigen heißt, ungefähr tönet wie eine Stimme aus dem Himmel. Wenn es dann noch gar die Stimme des Mannes ist, welcher seiner Frau ungeheißen und unerwartet entgegengefahren aus bloßer Liebe und Zärtlichkeit, ja dann fehlen alle Vergleichungen, um auszudrücken, wie die Stimme tönet im Herzen der angerufenen Frau. Vreneli konnte nicht satt werden, Uli Dank und Freude auszusprechen für seine Güte und daß er ihm seine Höllenqualen abgekürzt, Uli dagegen entschuldigte sich, daß er nicht weiter gekommen: Erstlich sei er aufgehalten worden, und zweitens habe er nicht gedacht, daß Vreneli so früh sich heimmachen werde, das Heimgehen falle manchmal Gotten erst ein, wenn es zu spät sei. Nun erzählte Vreneli, wie es ihm ergangen, wie es die Gesellschaft verlassen, ehe der Braten gekommen, und wie es den Rest des Nachmittags zugebracht. Es konnte sich nicht innig genug ausdrucken, wie zufrieden es geworden mit seinem Schicksal, Uli nicht sattsam genug zu Gemüte führen, wie sie Ursache hätten, Gott zu loben und zu preisen für seine Güte an ihnen. Wenn sie nur genügsam wären, so hätten sie mehr als genug, brauchten sich nicht so zu kümmern ums – tägliche Brot und hätten doch immer noch was übrig, dem Dürftigen zu helfen in seiner Not.
Uli hatte die Not nicht selbst angesehen, hatte überhaupt nicht die Fertigkeit, sich in eine fremde Lage hineinzudenken, als ob es die eigene wäre, er nahm daher die Sache kaltblütiger und widerredete; er war fast anzuhören wie ein alter Bauernaristokrat oder Dorfmagnat und stund doch so nahe in jeglicher Beziehung der Grenze, innerhalb welcher die Menschen wohnen, von denen er so über die Achsel hin sprach. Man müsse das nicht so nehmen, sagte er, das komme ihnen nicht [261] halb so streng vor als andern Leuten, sie seien daran gewöhnt und kennten es nicht besser. Sei der Verdienst auch nicht groß, so hülfen sie mit Bettelei nach und Stehlen, und je mehr Kinder sie hätten, desto mehr trügen sie ein, wie die Bienenstöcke auch den meisten Honig hätten, in welchen die größten Schwärme wohnten. Übrigens müsse man sich hüten, ihnen alles zu glauben, zumeist sei es schon an der Hälfte zu viel. Betteln sei halt ihr Handwerk, je nötlicher sie zu tun wüßten, desto mehr trüge es ihnen ab, und je mehr sie gewahreten, daß man ihnen höre und glaube, desto dicker lögen sie, das sei halt nicht anders. Es gebe Leute, sie wüßten einem nicht bloß das Geld aus der Tasche, sondern fast die Augen aus dem Kopfe zu schwatzen; wahrscheinlich gehöre das Mensch, bei welchem Vreneli so viel Mitleid und Rührung aufgelesen hatte, auch zu dieser Sorte. »Und was nicht zu vergessen, diese Leute haben gar viele Sorgen und Plagen nicht, welche wir haben. Haben sie gegessen, so sind sie fertig, legen sich schlafen, und wenn es wieder Zeit zum Essen ist, stehen sie auf, verlassen sich darauf, daß wieder was auf dem Tische sei. Unsereiner muß für alles sorgen, sorgen, wo er den Zins nehme, woher er Speise schaffe, am Ende noch großen Lohn, und tut er obendrein nicht jedem alles, woran er sonst noch denkt, muß er ein wüster Hund sein. Hat man endlich dieses alles überstanden und gemeint, man sei mit jedem fertig, so kömmt einem unerwartet was zwischendrein, ob welchem man aus der Haut fahren möchte.«
»Mein Gott, was ist, hat es einem Kinde was gegeben?« frug Vreneli erschreckt. »Das nicht,« sagte Uli, »sie sind alle wohl, haben nur nicht viel nach dir geweint (ein schlechter Beruhigungsgrund), aber da kam einer wegen der Kuh, welche ich letzthin verkauft, sagt mir wüst, droht mir mit einem Prozeß, oder ich soll die Kuh zurücknehmen, Kosten zahlen und der Teufel weiß was alles. Ich habe ihn unsauber vom[262] Hause weggejagt, aber die Sache ist mir doch nicht am rechten Ort. Geht er zu einem Agenten, so habe ich einen Handel am Halse, und wie recht ich auch habe, so weiß man wohl, wie es geht, wenn mal die Hagle die Finger darin haben.« »Was klagt er, was ist ?« frug Vreneli. Nun trug Uli die Geschichte vor, so viel er aus des Mannlis Gestürm hätte klug werden können, wie er sagte. Er selbst trug aber auch nicht zu der Verdeutlichung der Geschichte bei, denn es war einer von den zahllosen Händeln, welche sittlich und christlich schlecht sind, wo bloß das formelle Recht in Frage gestellt werden konnte, welches in der Schweiz nach Ordnung verzwickt werden kann, da bei den engen Grenzen der Kantone, wo täglich hinüber und herüber gehandelt wird, gezankt werden kann, nach welchen Gesetzen der Handel geschlossen worden oder nach welchen er entschieden werden solle. Vreneli begriff die Sachlage alsbald und sagte: »Aber Uli, wie kannst du so handeln! Wie oft habe ich dir doch angehalten, du möchtest ehrlich sein und niemand anführen (betrügen soll man ja nicht sagen), auch den fremdesten Menschen nicht! Das bringt nicht Segen, macht einen schlechten Namen, und wie wenig oder nichts trägt es dir ab!«
»Oh,« sagte Uli, »es machte mir wenigstens zehn Taler Unterschied, und zehn Taler sind nicht zu verachten, besonders wenn man sie so nötig hat wie ich, zehn Taler findet man nicht auf der Gasse.« »Aber Uli, was sind zehn Taler, wenn du nun allgemeinverbrüllet wirst, wie du einen angeschmiert!« »He,« sagte Uli, »es macht jeder, was er kann. Warum ist er ein Narr und glaubt mir? Ich bin nicht der Erste und werde nicht der Letzte sein, der zu lösen sucht, so viel er kann, da, gegen wird wohl kein vernünftiger Mensch viel haben können.«
»He ja,« sagte Vreneli, »das ist so; rühmst du den Handel in einem Wirtshause, so wird dir jedermann beipflichten, [263] sagen, gerade so müsse man es machen, und jeder wird zu er, zählen wissen, wie er diesen oder jenen noch zehnmal ärger angeschmiert, und der sei froh gewesen, sich stillzuhalten und zu schweigen, denn machen hätte er nichts können und das Auslachen gefürchtet. Kömmt dann der Handel vor Gericht und verlierst du ihn, so wird es allgemein heißen, es geschehe dir ganz recht, man hätte dir das vorher sagen können. Man hätte aber nicht geglaubt, daß du so schlecht seiest, vor so einem müsse man sich in acht nehmen; werdest aber das Geld nötig haben, es hätte ihnen schon lange geschienen, es gehe nicht am besten. So werden sie reden, Uli, darum mach aus, ich bitte dich um Gottswillen; leide Schaden, er wird nicht groß sein, und wie groß er ist, weißt du. Wie groß er aber werden kann, wenn du prozedierst, das weißt du nicht und davor graut mir.«
»Ho,« sagte Uli, »gesagt ist nicht, daß es einen Handel gebe, er wird sich wohl bedenken, ehe er angreift. Dumm wäre es ja von mir, wenn ich gleich nachsagen wollte, was man mir vorsagt, dafür bin ich doch endlich nicht auf der Welt. Aber das Gescheuteste wäre, man würde von solchen Dingen den Weibern nichts sagen, sie verstehen nichts davon, meinen es doch und haken es gewöhnlich mit allen andern Menschen, nur nicht mit dem Manne.«
»Rede doch nicht so!« sagte Vreneli, »es tut mir sonst weh, und ich verdiene es gewißlich nicht. Mit wem wollte ich es halten als mit dir, denn wen habe ich auf der Welt als dich Wenn es dir gut geht, geht es mir gut, und geht es dir übel, wer muß zuerst aushalten als ich? Aber ich bitte dich, sei doch nicht wie die andern Menschen mit ihrem Gestürm von Mit, halten und nicht Mithalten, das hat mich schon oft fast die Wände aufgetrieben. Der hält es mit mir und der hält es nicht mit mir, hört man alle Tage, und wenn ich es höre, möchte ich allemal beten: Vater, vergib ihnen, sie wissen nicht, was [264] sie tun. Wer einem Menschen, der über Vater und Mutter schimpft, über die Meisterleute flucht, die Obrigkeit lästert, schimpfen, fluchen, lästern hilft, ihm den Zorn noch heißer anbläst, den Kopf noch größer macht, von dem heißt es: Das ist ein braver Mensch, hat Verstand, der hält mit mir; oh, wenn die Leute alle so wären, dann wäre es noch zu leben in der Welt! Wenn ich aber einem verirrten Kinde, einer erbosten Magd, einem Taugenichts zuspreche in wahren Treu, en, weil ich Erbarmen mit ihnen habe und mit unverblendeten Augen den Ungrund ihres Geschreis sehe und den Ausgang, wenn sie so fortfahren, so schreien sie, ich sei wider sie, halte es mit den Andern, begehren schrecklich auf gegen mich, und großen Verdruß habe ich von meinem Zuspruch. So haben es die Menschen mit dem Mithalten. Wer akkurat ins gleiche Horn bläst, in welches sie blasen, und akkurat in der gleichen Tonart, in welcher sie blasen, von dem sagen sie der sei ein Guter, halte es mit ihnen, und wer das nicht tut, sondern redet der Sache gemäß, über den erzürnen sie sich, schimpfen; nach einigen Tagen und einigen Jahren sehen sie, wer es eigentlich gut mit ihnen gemeint, das heißt es mit ihnen gehalten. Denn mit einem halten, meine ich, heiße nicht mit einem dumm tun, ihn noch dümmer machen, sondern seinen Vorteil im Auge haben, oder wie es heißt im Eid: Schaden wenden, Nutzen fördern. Nun, lieber Uli, halte ich es fort und fort, in Freud und Leid, in gesunden und kranken Tagen mit dir, wie ich es dir verheißen habe, des sollst du überzeugt sein, aber ich möchte eben auch Schaden wenden und Nutzen fördern, und wo meine Augen anders sehen als deine, da sage ich es dir, und das nimm mir ja nicht übel, vier Augen sehen ja, wie das Sprüchwort sagt, mehr als zwei, und deswegen auch wird der liebe Gott den Ehestand eingesetzt haben.«
»Oh,« meinte Uli, »wegen selbem wird es ihm wohl nicht [265] gewesen sein. Ich weiß eigentlich wohl, daß du es gut meinst, aber gut Meinen und Verstehen sind zwei, und nebendem regieren die Weiber gerne; jedes will den bessern Daumen haben von wegen der Ehre, und die größte Kunst ist das, Meister sein und alles zwängen und doch die Gute sein und vor den Leuten als eine Demutsvolle gelten.«
»Sei nicht böse,« sagte Vreneli, »laß deinen Verdruß mich nicht entgelten, ich meine es so gut. Es ist schlimm, wo über die Meisterschaft geredet wird, denn da ist Streit. Ich meine, das Beste solle immer geschehen, da solle man nicht fragen, welche von den vier Augen, welche Gott zusammengefügt, es gesehen, sondern eben alles prüfen und das Beste erwählen. Und mit dem Verstehen ists so, wie unser Heiland sagt: oft begreift ein Unmündiger, was den Weisen der Welt verborgen bleibt. So weiß sicher oft ein dumm Weib besser, was schlicht und recht ist, als so ein Kabinettskopf und Rechtsfresser in all seiner gestudierten Weisheit.«
»Ho,« sagte Uli, »das kann zuweilen der Fall sein zur Seltenheit, daß eine Frau noch schlauer ist als der schlimmste Rechtsagent, welcher dem Teufel von dem Karren gefallen ist, aber für so eine wirst du dich nicht ausgeben wollen?«
»Nein, das nicht,« sagte Vreneli, »aber du willst nicht verstehen, was ich meine, und das geht mir zu Herzen. Ich will nichts mehr sagen als: prozediere nicht, das ist des Teufels ärgster Lockvogel, wer mal anbeißt, den faßt er beim Ohr.« »Und lieb wäre es mir auch,« sagte Uli, »du würdest mir keine Stündelerin, sonst gut Nacht Friede und Hausen. Uha, Kohli! Sollte was füttern, unterdessen können wir eine Flasche trinken, dir wirds auch recht sein, da du so frühe vom Mahl gegangen,« sagte Uli. »Wie du willst,« sagte Vreneli, um nicht zu widersprechen. Es verlangte ihns nach seinen Kindern, schon mehr als zwölf Stunden hatte es sie nicht gesehen und dies noch nie erlebt.
[266] Es war sogenannter Tanzsonntag, das heißt ein Sonntag, wo so gleichsam von Obrigkeits wegen getanzt werden muß. Es besteht nämlich im Kanton Bern ein Gesetz, welches im Jahr sechs Sonntage bestimmt, an welchen allenthalben getanzt werden darf. Das junge Volk legt dies nun oft so aus, als ob wirklich getanzt werden müsse. Diese Auslegung haben schon viele Wirte und noch mehr Väter erfahren. Die Auslegungskunst ist eine ganz eigentümliche. Nun gibt es viele Jungens und Mädchen, welche in Kritik und Auslegungskunst noch viel stärker sind als Strauß und es noch weiter treiben, so daß selbst die Allerstraußigsten (um einen allgemein gewordenen Ausdruck zu brauchen) in ihrer Schule noch entschiedene Fortschritte machen könnten.
Das Wirtshaus war sehr angefüllt, das stampfte und trampelte, als ob da eine Trittmühle für viele hundert Personen angelegt sei. Es war das Wirtshaus, in welchem Ulis Freund wirtschaftete; dies war Vreneli noch unangenehmer als das Stampfen und Trampeln, welches alle Augenblicke das Zusammenbrechen des hölzernen Hauses befürchten ließ. Sie konnten sich kaum durchdrängen, doch sobald der Wirt sie bemerkte, machte er ihnen mit seinem kolossalen Buckel stattlich Raum und verhalf ihnen zu gutem Platz. Es war schade, daß er nicht ein päpslicher Schweizer geworden, er hätte zu nichts besser getaugt, als an großen Kirchenfesten in Rom Platz zu machen für die rotgestrümpften Herrn Kardinäle. Vreneli war lange nie an einem solchen Sonntage in einem Wirtshause gewesen, um so schärfer ließ es in dem ihm neu gewordenen Gewimmel seine Augen schweifen. Es kam ihm erst vor, als sei es entweder selbst verrückt oder es sei in ein Tollhaus geraten. Es sah da halbbatzige Knechtlein, noch wohlfeilere Mägde, Lehrbuben, sogenannte Bauernsöhne, deren Väter mehr schuldig waren, als der Hofwert war, die seit Jahren unbezahlten Zinse nicht gerechnet, Handwerksbursche, [267] an denen es durch die Woche keinen ganzen Schuh gesehen, ja Bettelpack, welches es oft vor seiner Türe gehabt, durcheinanderwimmeln, in glitzerndem Staate, aufgeschwollen von Hochmut, Trotz und tierischer Lust, vollgefressen und -gesoffen zum Verspritzen, tun, als wäre nicht bloß die ganze Welt die ihre, sondern als hätten sie, wenn sie diese Welt verklopft oder verkegelt hätten, noch sieben siebenmal größere Welten zum Verklopfen und Verkegeln. Es war ihm wie einem, der einen Trupp Flöhe betrachtet durch ein Vergrößerungsglas und sie ihm vorkommen wie langhärige Elefanten. Es waren ganz ungeheuer andere Leute, als es in der Woche gesehen, ein einzig Stück schien die Stube zu füllen. Es duckte und drückte sich bestmöglichst in einer Ecke, und doch fürchtete es, gequetscht und erdrückt, ja durch den Luftzug der aufgerissenen Mäuler durch einen der aufgesperrten Schlünde in einen unterirdischen Schlauch gewirbelt zu wer, den, so trampelten und himmelsappermenteten sie im ganzen Hause herum. Als es sich ein bißchen gefaßt, da rief es das Bild, welches es heute ins Gemüt gefaßt, hervor, und es war ihm, als hätte es eines Rätsels Lösung, als stelle das Bild sich in den Hintergrund dieser Herrlichkeit, und was im Vordergrund so groß und himmelsappermenterlich sei, werde nach und nach dem Hintergrunde zugedrängt, werde kleiner, dürftiger, erbärmlicher, jämmerlicher, zu einem Stübchen voll halbnackter, gramselnder, hungriger Kinder, zu einem Stübchen voll Elend und Not, ohne Kleider, ohne Brot.
Diese Wandlung der Gegenwart in die Zukunft, dieses Zusammenschrumpfen einiger Jahre in einen Augenblick, diese Art von Vision oder Gesicht, lebendig in der Phantasie, hatte Vreneli selbst der Gegenwart entrückt, so daß ihm entging, wie Uli mit dem Wirte, welcher der vielen Leute ungeachtet Zeit machte, um neben Uli abzusitzen, in ein Gespräch geriet und ihm den Kuhhandel vortrug. Erst als der [268] Wirt mit seiner mächtigen Stimme sagte: »Sei nur ruhig, laß den anlaufen, zeige ihm den Meister, du kannst nicht verlieren; du hast recht, ja, wenn dies nicht erlaubt wäre, wer wollte handeln, das käme mir sauber heraus« usw. Vreneli erschrak sehr, es hätte, weiß kein Mensch was, gegeben, sie wären nicht hier eingekehrt. Es sagte: »Ich habe immer gehört, ein magerer Vergleich sei besser als ein fetter Prozeß, die Sache wirft nicht viel ab, und was ein Prozeß kosten kann, weiß man nicht. Mich dünkt, wenn du es gut mit Uli meintest, so würdest du zu Uli sagen: Vergleicht euch, wenn du auch viel oder wenig leiden mußt, so ists doch besser als prozessieren.« »Das verstehst du nicht, Fraueli,« sagte der Wirt, »das ist Männersache; darin habt ihr gar nicht zu reden, am besten ists, man sage euch nichts davon. Schweine mästen und kochen, Kaffee trinken und alle Jahre ein Kind haben, das ist eure Sache und damit punktum. Du mußt das machen wie ich,« sagte er zu Uli, »meine Frau ist mir lieb und wert, warum nicht; was man nicht ändern kann, darin muß man sich schicken, aber was über die Haushaltung aus geht, von meinem Geschäft, gebe ich nicht Bericht. Warum? Darum: sie versteht es nicht und würde doch meinen, sie müsse das Maul in alles hängen, und was trüg das ab?« Vreneli wurde böse und spitzig. »Es meine«, sagte es, »wenn man hülfe das Geld verdienen, so habe man auch das Recht, ein Wort dazu zu sagen, wie es solle gebraucht werden. Es liefe mancher Lump weniger in der Welt herum, wenn er zu rechter Zeit auf seine Frau gehört hätte. Auf den Männern, welche ihren Weibern nicht alles sagen dürften, halte es nicht viel, gewöhnlich stecke was Verdächtiges dahinter, etwas, was besser wäre, sie täten es nicht.« »Ist das gestichelt oder sonst getrümpft?« frug der Wirt. »Nimm es, wie du willst,« antwortete Vreneli, »so viel kann ich dir bloß sagen, es ist mir Ernst damit!« »Du hast eine handliche Frau, Uli, die wäre mir nur zu böse,« sagte der Wirt, [269] »die mußt du nicht Meister werden lassen, sonst bleibt die Kirche nicht mitten im Dorfe. Ein wenig böse schadet nicht, gerade so wie ein Haushund; wenn der nicht bellen kann und im Notfall beißen, so ist nichts mit ihm, aber Bettlerpack und Fremde muß er anbellen und beißen, nicht den Meister, da muß er wedeln mit dem Schwanze und kusch machen.« Da wurde der Wirt abgerufen, sonst hätte er wahrscheinlich er, fahren, daß Vreneli wirklich zu den Haushunden gehöre, welche bellen und beißen können.
Auf dem Heimwege versuchte Vreneli noch einige Male, den Kuhhandel zur Sprache zu bringen, aber Uli gab uneinläßlichen Bescheid, sagte endlich: »Hast nicht gehört, was der Wirt gesagt hat? Man solle den Weibern über solche Sachen nicht Bericht geben, sie verstünden sich nicht darauf.« »Verstehst du dich denn darauf?« fragte Vreneli; »du weißt von den Gesetzen und dem Prozedieren gerade so viel als das Kind, welches wir heute getauft, und darum dünkt mich, du solltest dich nicht damit abgeben wollen.« »Darum, weil ich und du davon gleich viel verstehen,« antwortete Uli böse, »kann ich nicht bei dir zu Rate gehen, sondern muß zu jemand gehen, der mehr von der Sache weiß als ich und du, und damit punktum, wie der Wirt sagte.«
Dieser Schluß des Tages jammerte Vreneli sehr. Es hatte an diesem Tage so viel erlebt, erfahren, gedacht, es war gleichsam von den allezeit strömenden göttlichen Offenbarungen umflossen gewesen; wie ein schöner Abendstern hatte ihm Ulis Entgegenkommen geleuchtet, und nun zum Ende Ulis Erkalten, Abwenden zu Andern, Zuwenden einer Klippe, an welcher schon das Dasein von Millionen zerschellte. Es weinte bitterlich, weil Uli den Glauben an es ganz verloren hatte und öffentlich ihm gleichsam abschwur. Jedermann hat einen Glauben, es kömmt eben nur darauf an, was, und hauptsächlich, an wen er glaubt. Der Glaube ist abhängig [270] von der Richtung des Gemütes; ein Sprichwort sagt, man glaube, was man gern habe oder was einem in den Kram diene. Man glaubt den Personen, welche reden, was einem in den Kram dient oder was man sonst gerne hört. Wer hat nicht schon Katzen gesehen, wie gerne sie am Kopfe sich krauen lassen, wie behaglich es ihnen wird, wenn jemand ihnen mit Manier den Balg streicht, wie sie sich auf die Seite legen, alle Viere von sich strecken, jetzt das Bein, jetzt ein anderes aufheben, daß man ihnen auch da krauen solle, daß es auch hier dem Balg wohltäte, wenn er gestrichen würde mit Manier. Wer hat nun nicht auch schon erfahren, daß es so viele Menschen akkurat haben wie die Katzen, manierlich Krauen und Streichen lieben und nicht zufrieden werden, bis man ihnen den Balg an allen vier Beinen gestrichen. Wer nun dieses Streichen und Krauen, welches sich begreiflich nach dem Balge richten muß (ein Winterbalg mag mehr er, tragen als ein Sommerbalg, so wie auch Stubenkatzen und Feldkatzen anders zu traktieren sind), wohl versteht, der findet Glauben. Tausende erheben sich nicht über diesen Glauben; an alles und an alle dagegen glauben sie nicht, wer oder was ihnen nicht wohl macht, nicht ihre Behaglichkeit vermehrt, was sie beißt oder juckt. Mit Abscheu und Hohn wenden sie sich davon ab, werfen gewaltig, wie Buben mit Steinen, mit Aberglauben, Pfaffen, Jesuiten und altväterischem Gedampe usw. um sich.
Dieser Glaube wurde durch den Teufel schon im Paradiese eingeführt, als er der Eva den Balg strich. Er verträgt aber keine gewisse Erkenntnis, das hat Eva alsbald erfahren; aber bis auf den heutigen Tag sind Millionen nicht klug geworden, haben die Erfahrung von der Eva nicht geerbt, sondern bloß den Balg, der sich gerne streicheln läßt, und die Lust an allem, was wohl macht und behaglich sein läßt. Zum rechten Glauben bedarf es schon rechter Leute, daß heißt ganz [271] anderer als solcher, welchen es nur um das Behagen des Balges zu tun ist. Der rechte Glaube geht vom Unbehagen aus, nicht vom Behagen, nicht vom Gefühle des Wohlseins, sondern vom Gefühl der Armut und des Wehs, will nicht behaglich den Leib pflegen, sondern gesund machen die kranke Seele, erkennt es, der Mensch sei keine Sau, für den Schlamm geboren, sondern ein Wesen, das gereinigt werden müsse, um zum Leben in höhern, reinern Regionen zu gelangen. Dieses Gefühl ist kein angebornes, entstammt nicht dem Fleische. Wie eine Taube aus den Himmelshöhen mag es sich zuweilen niederlassen auf erwählte Himmelskinder, sonst ist es ein Kind der Zucht, der Zucht von Gott, der Zucht von denen, durch deren Hand Gott die Menschen erziehen will. Wen der Herr lieb hat, den züchtigt er und läßt ihn züchtigen, und diese Zucht wirket die friedsame Frucht der Gerechtigkeit. Die Zucht wirket das Gefühl der Armut und des Krankseins, ist die wahre Augensalbe, welche den Blinden das Gesicht gibt, sie schauen läßt des Übels wahren Sitz, welche die Erfahrung gibt, aus welchem Samen das Gute wächst, aus welchem das Böse, welche eben den Glauben gibt, daß lieb der Herr die hat, welche er züchtigt, weil es nach den Züchtigungen dem Menschen leichter, wohler wird, seine Kräfte sich gestählt, seine Freudigkeit zugenommen hat. Diese Zucht wirkt ganz was anderes als die Unzucht der heutigen großen Pädagogen und anderer Schulmeister. Diese Unzucht führt die Schüler nicht weiter als dazu, Gott und Menschen zu hassen und unter allen Menschen die großen Pädagogen und sonstigen Schulmeister am allermeisten. Man frage nach dem Respekte der Schüler gegen die Lehrer, man frage nach Liebe und Anhänglichkeit, nach Gehorsam und lebendigem Fleiße, nach gläubigem Vertrauen, man suche Trauben auf Dornenbüschen! Unter der Zucht bildet sich der zarte Keim der Erkenntnis dessen aus, was gut und heilsam [272] ist den Menschen, bildet sich die Kenntnis der Menschen aus. Man lernt unterscheiden, wer es gut meint oder gut zu meinen scheint, wer bloß der Katze den Balg zu streichen oder den Menschen an der Seele zu doktern weiß, da bildet sich der Glaube an Gott und seine väterliche Liebe, der Glaube an die Erlösung durch Christum, der gekommen, zu suchen das Verlorne, der durch Leiden gegangen, am Kreuze gestorben, um zu erquicken die Mühseligen, Ruhe zu schaffen für ihre Seelen, der Glaube an den engen Weg mit Dornen besäet, der zum Himmel führt.
Es bildet sich überhaupt der Sinn für die Wahrheit aus, sei sie bitter oder süß, komme sie vom Freund oder Feind, und der Hunger nach der Wahrheit, der in ehrlicher Treue nach Befriedigung strebt, um ein immer erleuchteterer Christ zu werden. Dieser Hunger ist, beiläufig gesagt, was ganz anderes als das Jagen nach was Neuem, bloß um Professor zu werden und nichts weiter! Vom Vater der Lügen und all seinen Propheten wendet man sich mit Abscheu ab und kriegt einen förmlichen Ekel ob allem Balgstreichen und sonstigem Kitzeln des Fleisches. Diese verschiedenen Richtungen treten auf das Klarste ins Leben hinaus, in allen Verhältnissen, in allen Ständen, in allen Altern. Es gibt auch Menschen, welche an jeder Wahrheit zweifeln, Mißtrauen haben gegen jeden ehrlichen Menschen, welche immer sagen: »Weiß nicht, kann sein, wird sein, ist möglich, weiß aber doch nicht«; so bei den klarsten Wahrheiten, welche man mit Pelzhandschuhen greifen könnte. Die gleichen Leute glauben den schlechtesten Leuten, freilich keine tausendjährige Wahrheit, sondern am liebsten die allerneusten und widersinnigsten Lügen, und lügen sie hundertmal im Tage, so glauben sie es hundertmal; waren sie hundertmal in einem Tage schon angeführt, sie ließen zum hundertundersten Male sich noch anführen, natürlich bei gehöriger Bearbeitung des Balges von einem dieser [273] kunstfertigen Gerber. Je mehr das Fleisch im Preise steigt, desto mehr und häufiger tritt diese schauerliche Verkehrtheit zu Tage. Ein ehrlicher Mensch muß des Tages, es kann kein Mensch zählen wie oft, nach dem Kopfe greifen, um zu erfahren, ob er ihn noch habe, und stundenlang grübeln, ob er bei Verstand sei oder nicht, wenn er unter Menschenkindern sich befindet, welche auf dieser Kulturstufe sind: Musterreiter, Posthalter oder gar Schulmeister, Maurer- oder andere Gesellen.
Jetzt kann man sich denken, wie es einer ehrlichen Frau zumute werden muß, wenn sie diese Glaubensrichtung in ihrem Manne sich entwickeln sieht, wenn er ihren wohlgemeintesten Räten, seit tausend und tausend Jahren bewährt (beiläufig gesagt, erschlugen die alten Deutschen in den Hermannsschlachten mit besonderer Vorliebe Schreiber und Rechtsmenschen; werden einen natürlichen Grund gehabt haben!), die Ohren verschließt und den Balgstreichern sich zuwendet; wenn sie sieht, wie er umgarnt wird und eingesponnen gleich einer Fliege im Spinnennetz; wenn sie erfahren muß, wie ihm ein Dünkel eingepflanzt wird absichtlich, um denselben ihr zu entfremden, seine Ohren gleichsam verpicht werden grundsätzlich, ungefähr wie man denen, welche man erschießen will, die Augen verbindet; wenn sie wohl weiß, der Mann liebt sie, aber der Esel, der Mann, läßt sich aufweisen; weiß ferner, wie man sie lächerlich macht, ihm Mißtrauen einflößt, ihre Einsicht verdächtigt, ihr Recht, etwas zur Sache zu sagen, in Abrede stellt. Und doch geht es um ihre Sache, geht um der Kinder Sache, und sie soll, stumm wie ein Fisch, den Esel fuhrwerken lassen je nach der Lust und der Bosheit einiger Spottbuben, welche die Sache bloß so weit angeht wie einbrechende Diebe eine Geldkiste. Das ist wirklich ein hart Ding und besonders für eine Frau, welche glaubt, einen gescheuten Mann geheiratet zu haben, einen Ausbund; der wird [274] auf einmal rappelköpfig, sturm am Hirn, viel ärger, als wenn ein Roß den Koller hat. Wenn sie wirklich aus der Haut fahren täte, es könnte ihr es niemand verübeln; aber was ist erst erlaubt, wenn diese Richtung des Mannes in einem bestimmten Fall klar hervortritt, wenn er an den äußern Rändern des Wirbels schwebt?
Uli verstand von Recht und Gesetz, Formen, Terminen, Kosten usw. gar nichts; er war in diesem Gebiete einem Wanderer gleich, der in stockfinsterer Nacht in einem Urwalde tappet. Wer das erfahren hat, weiß, wie man da dran ist. Wenn nun so ein stockdummer Mensch noch einen stockblinden Glauben hat zu irgend einem der Propheten, welche Lügen predigen, welche der Teufel angestellt hat, die Leute ins Unglück zu reiten, wie ein Stallmeister Stalljungen hat, um die Pferde in die Schwemme zu reiten, so kann man sich etwas davon denken, wie es geht; aber um es so recht zu wissen, muß man solche Leute selbst reden gehört haben, so aus bloßer Phantasie, en théorie, kann man sich dies doch nicht vorstellen. Sie sind akkurat wie Kinder, welchen man die Buchstaben A B C zeigt. Das Lernen des A B C beruht auf dem Glauben, denn daß die wunderlichen Striche diesen und jenen Laut repräsentieren, müssen die Kinder glauben, und wenn sie einmal durch Zucht dazu gebracht sind, daß sie wissen, welches Zeichen den großen A bedeutet, so drücken sie mit ungeheurem Nachdruck den Zeigefinger oder Daumen auf den großen A und schreien gewaltiglich »A« und dünken sich groß absonderlich. Mit Zeit und Weile lernen sie auch B und C kennen, daran glauben, kommen vielleicht noch weiter, dünken sich alle Tage größer und schreien alle Zeichen gewaltiger; aber den Zusammenhang der Zeichen kennen sie noch nicht, und wenn man ihnen denselben schon zeigt, so begreifen sie ihn nicht. Deswegen dünken sie sich nicht minder groß, sondern eben desto größer. Von einem [275] Zusammenhang der Buchstaben wissen sie nichts, dar, um scheint es ihnen lächerlich; sie wissen, was sie können, und können, was sie wissen, darum scheinen sie sich so wichtig, und wer was mehr weiß, scheint ihnen dumm oder schlecht.
Nun, so ein Uli, der einen Prozeß anfängt und sein Lebtag kein Gesetzbuch gesehen hat, geschweige gelesen, der ist akkurat so ein ABC-Bub, der eine neue Fibel oder Namenbuch, wie wir hier sagen, unter dem Arme hat und zur Mutter läuft mit großem Geschrei: »Mutter, Mutter, das große A, wo ist es, wo das große A?« Zeigt ihm die Mutter das große A, so schreit er wochenlang »A, A,« tut wie ein Elefant in den ersten Hosen. Kriegt der Uli einen Prozeß unter den Arm, so läuft er damit zu den Gelehrten, diese sagen: »A heißt A, und auf das A folgt das B, das kann nicht fehlen, punktum, hier steht es geschrieben, siehst? Der Prozeß ist gewonnen, ich nähme es nicht zum voraus, wenn man mir es schon geben wollte.« Das glaubt nun der Uli steif und fest und bildet sich ein, ein Rechtsgelehrter zu sein, weil er das A auswendig weiß und etwas vom B kennt; wer ihm Zweifel äußert, der hält es nicht mit ihm, mag ihm sein Glück nicht gönnen, ist ein Lumpenhund und meint es mit dem Gegner gut. Es ist ein förmlicher Fanatismus in diesem Glauben, und je blinder und beschränkter er ist, desto leidenschaftlicher, unduldsamer äußert er sich. Wenn so ein Uli könnte, er würde jeden köpfen oder gar hängen lassen, welcher den geringsten Zweifel schimmern lassen würde, als hätte er den besten Handel von der Welt. So ein Uli würde immer so stark verfahren als ehemals der Großinquisitor von Spanien oder die ehemaligen Ketzerriecher und Ketzerrichter in Deutschland. Die Eintönigkeit, wo kein anderer Ton mehr anklingt, die Wut, wenn doch ein anderer zu den Ohren tönet, werden nie aussterben im Menschengeschlechte und zutage [276] treten allemal, wenn man der Katze lange genug den Balg gestrichen hat. Die Erfahrung machte nicht bloß Vreneli, die Erfahrung macht man dato im ganzen Schweizerlande. Was dabei noch sehr merkwürdig ist, ist die Festigkeit des Glaubens, wenn er sich einmal gehörig an eine Person geheftet hat. Wie der Tiroler zum Beispiel an seine Amulette glaubte, welche hieb- und schußfest machen sollten, und daran glaubte, so oft er auch verwundet wurde, indem er allemal einer besondern Ursache oder eigener Schuld die Zulassung der Wunde zuschrieb, wie man einen Schatzgräbertoren siebenmal prellen konnte und zum achtenmal doch noch Glauben fand, gerade so hat es so ein zum Prozeß angedrehter Uli. Es gibt Leute, welche durch rechtskundige Spitzbuben um ihr ganzes Vermögen gekommen sind und dennoch an die Spitzbuben glauben, und wenn sie wieder zum Vermögen kämen, wieder durch sie sich darum bringen ließen. Man möchte manchmal vor Zorn die Wände auf springen oder vor Wehmut sich die Augen aus dem Kopfe weinen, wenn man die altertümliche und volkstümliche Balgstreicherei und ihre Folgen sieht: blinden Glauben, narrochtiges Treiben und endliches Verderben.
Wenn man das Obige begriffen hat, so wird man auch begreifen, wie es Vreneli war, daß Uli in diesen Wirbel gezogen wurde. Der gute Uli begriff nicht, was Menschen zu reden und zu tun imstande sind, wenn in ihren Bereich eine Kuh läuft, welche sie hoffen mit Streicheln und Sanfttun dahin zu bringen, daß sie sich melken läßt. Vreneli versuchte mehr als einmal noch, ihn vom Prozesse abzubringen, denn das Mannli ließ die Sache nicht liegen, wie man Uli, um ihn trotzig zu machen, vorgespiegelt hatte. Aber das half alles nicht, er hatte einmal jetzt den Glauben nicht zu ihm, sondern zu Andern. Vergebens stellte Vreneli ihm vor, es sei bei dem Prozeß nichts zu gewinnen, nur einen kleinen Schaden zu leiden, [277] wenn man den Prozeß unterlasse; verliere man denselben aber, so könne der Schaden leicht zehnmal größer werden, Verdruß und versäuerte Zeit nicht gerechnet. Aber da half alles nichts. »Das verstehst du nicht,« hieß es. »Ja, wenn ich reich wäre und vermöchte zu schenken; aber ich muß zum Kreuzer sehen, es sieht mir sonst niemand dazu.« Wenn dann Vreneli frug: »Aber magst du solche Kreuzer? Hast du nie gehört, daß ein ungerechter Kreuzer zehn gerechte frißt? Und recht hat das Mannli, du magst es mir glauben oder nicht!« »Das verstehst du aber nicht,« sagte Uli, »das eben wird sich zeigen, wer recht hat, darum prozediert man ja. Wenn man es vorher wüßte, so prozedierte man ja nicht. So ists, und weiser als alle Leute wirst doch nicht sein wollen.« Vreneli mußte sich darein ergeben, aber es hielt ihns hart. »Es wird in Gottes Namen sein müssen. Uli wird eins von den Kindern sein, welche sich brennen müssen, um das Feuer fürchten zu lernen; Gott wird sorgen, daß mit der Zeit die Erfahrung kömmt und mit der Erfahrung die Weisheit. Wenn das ist, in Gottes Namen, so prozediere er, und wenn alles drauf muß; wenn nur am Ende die Hauptsache gewonnen wird, so ist alles gut, denn was kann der Mensch geben zum Werte seiner Seele!« So faßte sich Vreneli bestmöglichst, aber schwer; zu diesem Verdruß kam ein Bangen, welches den Verdruß verschlang.