Dreizehntes Kapitel
Wie wir in die Schule gingen und lernten
Als wir Johanni 27 in dem Hause mit dem Riesendach und der hölzernen Dachrinne, darin mein Vater bequem seine Hand legen konnte, glücklich untergebracht waren, meldete sich alsbald auch die Frage: »Was wird nun aus den Kindern? In welche Schule schicken wir sie?« Ware meine Mutter schon mit zur Stelle gewesen, so hätte sich wahrscheinlich ein Ausweg gefunden, der, wenn nicht aufs Lernen, so doch auf das »Standesgemäße« die gebührende Rücksicht genommen hätte. Da meine Mama jedoch, wie schon erzählt, einer Nervenkur halber in Berlin zurückgeblieben war, so lag die Entscheidung bei meinem Vater, der schnell mit der Sache fertig war und sich in einem seiner Selbstgespräche mutmaßlich dahin resolvierte, »die Stadt hat nur eine Schule, die Stadtschule, und da diese Stadtschule die einzige ist, so ist sie auch die beste.« Gesagt, getan; und ehe eine Woche um war, war ich Schüler der Stadtschule. Nur wenig ist mir davon in Erinnerung geblieben: eine große Stube mit einer schwarzen Tafel, stickige Luft trotz immer offenstehender Fenster und zahllose Jungens in Fries- und [121] Leinwandjacken, ungekämmt und barfüßig oder aber in Holzpantoffeln, die einen furchtbaren Lärm machten. Es war sehr traurig. Ich verknüpfte jedoch damals, wie leider auch später noch, mit »in die Schule gehen« so wenig angenehme Vorstellungen, daß mir der vorgeschilderte Zustand, als ich seine Bekanntschaft machte, nicht als etwas besonders Schreckliches erschien. Ich ging eben davon aus, daß das so sein müsse. Als aber gegen den Herbst hin meine Mutter eintraf und mich mit den Holzpantoffeljungens aus der Schule kommen sah, war sie außer sich und warf einen ängstlichen Blick auf meine Locken, denen sie in dieser Gesellschaft nicht mehr recht trauen mochte. Sie hatte dann eines ihrer energischen Zwiegespräche mit meinem Vater, dem wahrscheinlich gesagt wurde, er habe mal wieder bloß an sich gedacht, und denselben Tag noch erfolgte meine Abmeldung bei dem uns schräg gegenüber wohnenden Rektor Beda. Dieser nahm die Abmeldung nicht übel, erklärte vielmehr meiner Mutter, er habe sich eigentlich gewundert ... All das war nun soweit ganz gut, berechtigte Kritik war geübt und ihr gemäß verfahren worden, aber als es nun galt, etwas Besseres an die Stelle zu setzen, wußte auch meine Mutter nicht aus noch ein. Lehrkräfte schienen zu fehlen oder fehlten wirklich, und da sich bei der Kürze der Zeit noch keine Beziehungen zu den guten Familien der Stadt ermöglicht hatten, so wurde beschlossen, mich vor läufig wild aufwachsen zu lassen und ruhig zu warten, bis sich etwas fände. Um mich aber vor Rückfall in dunkelste Nacht zu bewahren, sollte ich täglich eine Stunde bei meiner Mutter lesen und bei meinem Vater einige lateinische und französische Vokabeln lernen, dazu Geographie und Geschichte.
»Wirst du das auch können, Louis?« hatte meine Mutter gefragt.
»Können? Was heißt können! Natürlich kann ich es. Immer das alte Mißtrauen.«
»Es ist noch keine vierundzwanzig Stunden, daß du selber voller Zweifel warst.«
»Da werd ich wohl keine Lust gehabt haben. Aber, wenn es drauf ankommt, ich verstehe die Pharmacopoea Borussica so gut wie jeder andere, und in meiner Eltern Haus wurde französisch [122] gesprochen. Und das andre, davon zu sprechen, wäre lächerlich. Du weißt, daß ich da zehn Studierte in den Sack stecke.«
Und wirklich, es kam zu solchen Stunden, die sich, wie schon hier erwähnt werden mag, auch noch fortsetzten, als eine Benötigung dazu nicht mehr vorlag, und so sonderbar diese Stunden waren, so hab ich doch mehr dabei gelernt als bei manchem berühmten Lehrer. Mein Vater griff ganz willkürlich Dinge heraus, die er von lange her auswendig wußte oder vielleicht auch erst am selben Tage gelesen hatte, dabei das Geographische mit dem Historischen verquickend, natürlich immer so, daß seine bevorzugten Themata schließlich dabei zu ihrem Rechte kamen. Etwa so:
»Du kennst Ost- und Westpreußen?«
»Ja, Papa; das ist das Land, wonach Preußen Preußen heißt und wonach wir alle Preußen heißen.«
»Sehr gut, sehr gut; ein bißchen viel Preußen, aber das schadet nichts. Und du kennst auch die Hauptstädte beider Provinzen?«
»Ja, Papa; Königsberg und Danzig.«
»Sehr gut. In Danzig bin ich selber gewesen und beinahe auch in Königsberg – bloß es kam was dazwischen. Und hast du mal gehört, wer Danzig nach tapferer Verteidigung durch unsern General Kalckreuth doch schließlich eroberte?«
»Nein, Papa.«
»Nun, es ist auch nicht zu verlangen; es wissen es nur wenige, und die sogenannten höher Gebildeten wissen es nie. Das war nämlich der General Lefèvre, ein Mann von besonderer Bravour, den Napoleon dann auch zum Duc de Dantzic ernannte, mit einem c hinten. Darin unterscheiden sich die Sprachen. Das alles war im Jahre 1807.«
»Also nach der Schlacht bei Jena?«
»Ja, so kann man sagen; aber doch nur in dem Sinne, wie man sagen kann, es war nach dem Siebenjährigen Krieg.«
»Versteh ich nicht, Papa.«
»Tut auch nichts. Es soll heißen, Jena lag schon zu weit zurück; es würde sich aber sagen lassen, es war nach der Schlacht bei Preußisch-Eylau, eine furchtbar blutige Schlacht, wo die [123] russische Garde beinahe vernichtet wurde und wo Napoleon, ehe er sich niederlegte, zu seinem Liebling Duroc sagte: ›Duroc, heute habe ich die sechste europäische Großmacht kennengelernt: la boue.‹«
»Was heißt das?«
»La boue heißt der Schmutz. Aber man kann auch noch einen stärkeren deutschen Ausdruck nehmen, und ich glaube fast, daß Napoleon, der, wenn er wollte, etwas Zynisches hatte, diesen stärkeren Ausdruck eigentlich gemeint hat.«
»Was ist zynisch?«
»Zynisch ... ja, zynisch ..., es ist ein oft gebrauchtes Wort, und ich möchte sagen, zynisch ist soviel wie roh oder brutal. Es wird aber wohl noch genauer zu bestimmen sein. Wir wollen nachher im Konversationslexikon nachschlagen. Es ist gut, über dergleichen unterrichtet zu sein, aber man braucht nicht alles gleich auf der Stelle zu wissen.«
So verliefen die Geographiestunden, immer mit geschichtlichen Anekdoten abschließend. Am liebsten jedoch fing er gleich mit dem Historischen an oder doch mit dem, was ihm Historie schien. Ich muß dabei noch einmal, aber nun auch wirklich zum letzten Male, seiner ausgesprochenen Vorliebe für alle Ereignisse samt den dazugehörigen Personen, die zwischen der Belagerung von Toulon und der Gefangenschaft auf St. Helena lagen, Erwähnung tun. Auf diese Personen und Dinge griff er immer wieder zurück. Seine Lieblinge hab ich schon in einem früheren Kapitel genannt, obenan Ney und Lannes, aber einen, der seinem Herzen vielleicht noch näherstand, hab ich doch, bei jener ersten Aufzählung, zu nennen vergessen, und dieser eine war Latour d'Auvergne, von dem er mir schon in unseren Ruppiner Tagen allerlei Geschichten erzählt hatte. Das wiederholte sich jetzt. Latour d'Auvergne, so hieß es in diesen seinen Erzählungen, habe den Titel geführt: »Le premier grenadier de France oder Erster Grenadier von Frankreich«, als welcher er, trotzdem er Generalsrang gehabt, immer in Reih und Glied, und zwar unmittelbar neben dem rechten Flügelmann der alten Garde gestanden habe. Als er dann aber in dem Treffen bei Neuburg gefallen sei, habe Napoleon angeordnet, daß das Herz [124] des »Ersten Grenadiers« in eine Urne getan und bei der Truppe mitgeführt, sein Name Latour d'Auvergne aber bei jedem Appell immer aufs neu mit aufgerufen werde, wobei dann der jedesmalige Flügelmann Ordre gehabt habe, statt des »Ersten Grenadiers« zu antworten und Auskunft zu geben, wo er sei. Das war ungefähr das, was ich von meinem Vater her längst auswendig wußte; seine Vorliebe für diese Gestalt aber war so groß, daß er, wenn's irgend ging, immer wieder auf diese zurückkam und dieselben Fragen tat. Oder richtiger noch, immer wieder dieselbe Szene inszenierte. Denn es war eine Szene.
»Kennst du Latour d'Auvergne?« so begann er dann in der Regel.
»Gewiß. Er war le premier grenadier de France.«
»Gut. Und weißt du auch, wie man ihn ehrte, als er schon tot war?«
»Gewiß.«
»Dann sage mir, wie es war.«
»Ja, dann mußt du aber erst aufstehen, Papa, und Flügelmann sein; sonst geht es nicht.«
Und nun stand er auch wirklich von seinem Sofaplatz auf und stellte sich als Flügelmann der alten Garde militärisch vor mich hin, während ich selbst, Knirps der ich war, die Rolle des appellabnehmenden Offiziers spielte. Und nun, aufrufend, begann ich:
»Latour d'Auvergne!«
»Il n'est pas ici«, antwortete mein Vater in tiefstem Baß.
»Où est-il donc?«
»Il est mort sur le champ d'honneur.«
Es kam vor, daß meine Mutter diesen eigenartigen Unterrichtsstunden beiwohnte – nur das mit Latour d'Auvergne wagten wir nicht in ihrer Gegenwart – und bei der Gelegenheit durch ihr Mienenspiel zu verstehen gab, daß sie diese ganze Form des Unterrichts, die mein Vater mit einem unnachahmlichen Gesichtsausdruck seine »sokratische Methode« nannte, höchst zweifelhaft finde. Sie hatte aber in ihrer in diesem Stück und auch sonst noch ganz konventionellen Natur total unrecht, denn, um es noch einmal zu sagen, ich verdanke diesen Unterrichtsstunden wie den daran anknüpfenden gleichartigen Gesprächen [125] eigentlich alles Beste, jedenfalls alles Brauchbarste, was ich weiß. Von dem, was mir mein Vater beizubringen verstand, ist mir nichts verlorengegangen und auch nichts unnütz für mich gewesen. Nicht bloß gesellschaftlich sind mir in einem langen Leben diese Geschichten hundertfach zugute gekommen, auch bei meinen Schreibereien waren sie mir immer wie ein Schatzkästlein zur Hand, und wenn ich gefragt würde, welchem Lehrer ich mich so recht eigentlich zu Dank verpflichtet fühle, so würde ich antworten müssen: meinem Vater, meinem Vater, der sozusagen gar nichts wußte, mich aber mit dem aus Zeitungen und Journalen aufgepickten und über alle möglichen Themata sich verbreitenden Anekdotenreichtum unendlich viel mehr unterstützt hat als alle meine Gymnasial-und Realschullehrer zusammengenommen. Was die mir geboten, auch wenn es gut war, ist so ziemlich wieder von mir abgefallen, die Geschichten von Ney und Rapp aber sind mir bis diese Stunde geblieben.
Diese, so sehr ich mich ihr verpflichtet fühle, doch immerhin etwas sonderbare väterliche Lehrmethode, der alles Konsequente und Logische fehlte, würde, da meine Mutter nur eben die Schwächen und nicht die Vorzüge derselben erkannte, sehr wahrscheinlich zu heftigen Streitigkeiten zwischen den beiden Eltern geführt haben, wenn meine kritikübende Mama dem Ganzen überhaupt eine tiefere Bedeutung beigelegt hätte. Das war aber nicht der Fall. Sie fand nur, daß meines Vaters Lehrart etwas vom Üblichen völlig Abweichendes sei, wobei nicht viel Reelles, das heißt nicht viel Examenfähiges herauskommen würde, worin sie auch vollkommen recht hatte. Da ihr selber aber alles Wissen sehr wenig galt, so belächelte sie zwar die »sokratische Methode«, sah aber keinen Grund, sich ernsthaft darüber zu ereifern. Es kam ihrer aufrichtigsten Überzeugung nach im Leben auf ganz andere Dinge an als auf Wissen oder gar Gelehrsamkeit, und diese anderen Dinge hießen: gutes Aussehen und gute Manieren. Daß ihre Kinder sämtlich gut aussähen, war eine Art Glaubensartikel bei ihr, und daß sie gute Manieren entweder schon hätten oder sich aneignen würden, betrachtete sie als eine natürliche Folge des guten Aussehens. [126] Es kam also nur dar auf an, sich vorteilhaft zu präsentieren. Ernste Studien erschienen ihr nicht als Mittel, sondern umgekehrt als Hindernis zum Glück, zu wirklichem Glück, das sie von Besitz und Vermögen als unzertrennlich ansah. Ein Hunderttausendtalermann war etwas, und sie hatte Respekt und selbst Ehren für ihn, während ihr Gerichtspräsidenten und Konsistorialräte nur wenig imponierten und ihr noch weniger imponierend erschienen wären, wenn nicht im Hintergrunde das von ihr respektierte »Staatliche« gestanden hätte. Sie war unfähig, sich vor einer sogenannten geistigen Autorität in gutem Glauben zu beugen, nicht weil sie von sich selbst eine hohe Meinung gehabt hätte (sie war im Gegenteil völlig ohne Eitelkeit und Einbildungen), sondern nur weil sie, wie sie nun mal war, auf dem praktischen Gebiete des Lebens – und dienichtpraktischen Gebiete kamen für sie gar nicht in Betracht – eine Macht des Wissens oder gar der Gelehrsamkeit nicht anerkennen konnte. Ich erinnere mich noch der Zeit, wo seitens beider Eltern, etwa zwanzig Jahre nach dem hier Erzählten, eine Trennung, eventuell Ehescheidung geplant wurde. Die Trennung erfolgte dann auch wirklich, die Ehescheidung unterblieb. Aber diese letztere wurde doch vorübergehend ganz ernsthaft erwogen, und ein Freund unseres Hauses, der damalige bethanische Geistliche, Pastor Schultz, dessen Spezialität Ehescheidungsfragen waren (es war die Zeit unter Friedrich Wilhelm IV., wo man solche Dinge mit frisch auflebender dogmatischer Strenge behandelte), – Pastor Schultz, sag ich, lehnte sich, als er von dem Plane hörte, mit aller Kraft und Beredsamkeit dagegen auf. Meine Mutter hielt sehr viel auf ihn und kannte zudem das Ansehen, dessen er sich »bis hoch hinauf« erfreute, »bis hoch hinauf«, was für sie Bedeutung hatte; nichtsdestoweniger machten seine strengen Auseinandersetzungen nicht den geringsten Eindruck auf sie, so wenig, daß sie, als er schwieg, mit superiorer Seelenruhe sagte: »Lieber Schultz, Sie verstehen diese Frage gründlich; aber ob ich ein Recht darauf habe, mich scheiden zu lassen oder nicht, diese Frage kann in der ganzen Welt kein Mensch so gut beantworten wie ich selber.« Und damit brach sie ab. Ähnlich ungläubig stand sie jeder Autorität gegenüber. Sie war voll Mißtrauen in[127] die Leistungsfähigkeit aller drei Fakultäten und bezweifelte – patriarchalische Zustände waren ihr Ideal –, daß die Menschen beispielsweise was Reelles von der Juristerei hätten. Alles gehe, so meinte sie, nach Gunst oder Vorteil oder im besten Fall nach Schablone. Reich sein, Besitz (am liebsten Landbesitz), alles womöglich unterstützt von den Allüren eines Gesandtschaftsattachés – das war etwas, das schloß Welt und Herzen auf, das war eine wirkliche Macht; das andere war Komödie, Schein, eine Seifenblase, die jeden Augenblick platzen konnte. Und dann war nichts da. Man wird begreifen, daß bei dieser Anschauung meine Mutter zwar darauf hielt, mich aus der Barfüßlerschule herauszubringen, im übrigen aber in einem Interim ohne regelmäßigen Schulunterricht kein besonderes Unglück sah. Es war gegen die Ordnung, das war das Schlimme daran. Im übrigen, das bißchen Lernen, das war jeden Augenblick wieder einzubringen. Und wenn nicht, nicht.
Zu diesem Wiedereinbringen schien sich endlich Gelegenheit bieten zu sollen, als es Ende März 1828 hieß, Kommerzienrat Krause werde gleich nach Ostern einen Hauslehrer ins Haus nehmen und einige andere Honoratiorenkinder an dem seinen eigenen Kindern zu erteilellden Unterricht teilnehmen lassen. So war es denn auch. Es machte aber, außer meinen Eltern, keiner von dieser freundlichen Bereitwilligkeit Gebrauch, und als zwischen den beiden Familien alles verabredet und geordnet war, erschien ich bei Beginn des Unterrichts mit einer Seehundsfellmappe, drin drei Schreibebücher und ein Kinderfreund steckten, in der Schulstube des Krauseschen Hauses. Das Krausesche Haus, von dem ich in Kapitel 8 bereits ausführlicher gesprochen, war mir damals schon wohlbekannt, aber in den Teil des Hauses, der zunächst das Schulzimmer und rechts und links daneben zwei für den Hauslehrer eingerichtete Mansardenstuben enthielt, war ich noch nie gekommen. Ich empfing auch hier wieder sofort den freundlichsten Eindruck, indessen so freundlich derselbe war, so war doch keine Zeit, mich mußevoll umzutun, denn der Lehrer saß schon auf seinem kurulischen Stuhl, einem großen Sessel in Gartenstuhlformat, die zwei jüngeren Krauseschen Kinder neben sich, mein Freund Wilhelm [128] ihm gegenüber 6. Neben diesem war noch ein Stuhl frei; der war für mich. Ich ging aber, so war ich instruiert, zuvörderst auf den Lehrer zu, um diesem die Hand zu geben. Er rückte denn auch, war er doch ohnehin kurzsichtig, seinen Sessel ein wenig herum, um mich besser sehen zu können. »Nun, das ist recht, daß du da bist. Setze dich da drüben neben deinen Freund. Und nun wollen wir mit einer Leseprobe beginnen. Ihr habt alle den Kinderfreund, und der soll auch bleiben. Aber heute möcht ich doch, daß wir zuerst die Bibel nähmen; ihr habt doch die Bibel?« Wir bestätigten, und er seinerseits fuhr fort: »Ich denke, wir fangen mit dem Anfang an. ›Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.‹ Für die zwei Kleinen ist es noch zu schwer, aber ihr beiden Großen könnt euch darin teilen.«
Wir lasen denn auch das Kapitel so ziemlich zu seiner Zufriedenheit, und als wir durch waren, sagte er: »Nun will ich noch ein paar Fragen tun und mir allerlei von euch erzählen lassen, ob ihr schon in Stettin wart oder in Rügen und ob ihr schon schwimmen könnt und Schlittschuh laufen und ob ihr wißt, wo Vineta gelegen hat. Ihr kennt doch Vineta?«
Wir sagten ihm, was ihn erheiterte, daß wir zu Boot über die Stelle hingefahren wären. Und dann frug er, welche Spiele wir spielten und ob wir's verständen, einen Drachen steigen zu [129] lassen. Aber wir müßten ihn auch selber machen können. Es lag ihm offenbar daran, uns durch leicht zu beantwortende Fragen sowohl mit Vertrauen zu ihm wie zu uns selbst zu erfüllen. Es mochten so anderthalb Stunden vergangen sein, dann sagte er: »Nun ist es genug für heute, morgen wollen wir aber volle Zeit halten. Ich habe schon einen Stundenplan gemacht, und du mußt ihn dir abschreiben.« Diese Worte richteten sich an mich. Ich erhielt dann noch die Bestellung an meine Eltern, daß er am Nachmittage kommen würde, seinen Besuch zu machen, worauf ich nach Hause stürmte, um zu erzählen, wie mirs gegangen sei. Meine Mutter war etwas überrascht, während mein Vater sagte: »Gefällt mir alles sehr; nur nicht gleich scharf zufassen. Immer peu à peu. Nicht quälen, nicht einschüchtern. Vertrauen wecken und Liebe. Und daß er euch gleich freigegeben hat! Das ist das, was ich einen richtigen Pädagogen nenne. Ferien sind etwas Dummes, ich habe nie gewußt, was ich in den Ferien ma chen sollte; aber Freistunden, à la bonne heure. Und daß er euch immer gefragt hat und sich gleich hat von Drachensteigen erzählen lassen! Er hat offenbar die sokratische Methode.«
Die hatte er nun freilich nicht, aber in allem, was mein Vater sonst noch zum Lobe des Hauslehrers gesagt hatte, hatte er recht. Dr. Lau, so hieß der neue Hauslehrer, war ein vorzüglicher Pädagog, weil er ein vorzüglicher Mensch war, und wenn ich oben gesagt habe, daß ich eigentlich alles den Anekdoten meines Vaters zu verdanken hätte, so muß ich doch den guten Dr. Lau ausnehmen. Dieser verstand es auch, einem allerlei kleine Geschichten, woran eine Kinderseele hängt, zu vermitteln, aber weil er zugleich ein geschulter Mann war, so tat er das alles in Ordnung und Zusammenhang, und das bißchen Rückgrat, das mein Wissen hat, verdank ich ihm.
Dr. Lau war ein Priegnitzer. Er mochte damals, als er ins Krausesche Haus kam, gegen dreißig sein, sah aber älter aus, was wohl damit zusammenhing, daß er zu jenen disproportionierten Leuten gehörte, bei denen Linien und Maße nicht recht stimmen. Man suchte sofort nach einem Buckel, trotzdem dieser eigentlich nicht existierte oder doch nur ganz embryonisch. Dafür war aber etwas anderes da: der bekannte große Kopf mit [130] eindringlichem Gesicht und Leberteint, wozu sich dicht neben dem rechten Auge auch noch eine sogenannte »Himbeere« von apart dunklem Farbenton gesellte. Den Schluß machte eine große Brille mit Silberfassung, die er, wenn er etwas genau sehen wollte, jedesmal abnahm und putzte. Das Ganze von Schönheit weit entfernt. Dennoch darf man sagen, daß er auch äußerlich einen guten Eindruck machte, weil man ihm Wohlwollen, Humor und Idealismus von der Stirn herunter lesen konnte. Solche Menschen gibt es nicht mehr oder doch kaum noch. Sie waren das Produkt einer armen, aber zugleich geistig strebsamen Zeit. In kleinen Verhältnissen geboren, hatten sie sich mit Notgroschen und Stipendien durchgeschlagen und unter Bitternissen und Demütigungen aller Art doch keinen Augenblick den Mut verloren. Ich kann mir diesen ihren Zustand aus meiner eigenen Vergangenheit heraus sehr wohl konstruieren. Als ich zwischen sechzehn und zwanzig Lehrling in einer Berliner Apotheke war, noch dazu an der Ecke der Heidereutergasse, lag mir unter anderen Unliebsamkeiten auch die Verpflichtung ob, jeden Sonnabend einen in einem hölzernen dorischen Tempel aufgebauten Teil der Apotheke, der den lächerlichen Namen corpus chemicum führte, mit einem großen, nassen Handtuche wieder sauber putzen zu müssen. Eine vollkommene Waschfrauenarbeit. Aber es störte mich sehr wenig, weil es sich nicht selten so traf, daß gerad an diesen Sonnabenden irgendeine Ballade von mir, sagen wir »Pizarros Tod« oder »Simson im Tempel der Philister«, in dem damals in der Adlerstraße erscheinenden »Berliner Figaro« gestanden hatte. Und daß ich mir nun sagen durfte, dieser »Simson im Tempel der Philister« rührt von dir her, trägt deinen Namen, gab mir ein so kolossales Selbstbewußtsein, daß nicht bloß das corpus chemicum, sondern mit ihm auch die ganze Prinzipalität samt allen Provisoren und Gehilfen als etwas tief Inferiores unter mir verschwand. Ich nehme an, so stand es auch mit Dr. Lau, der in dem Bewußtsein: »Ich bin ein Schüler von Schleiermacher und besitze nicht nur den Westöstlichen Diwan, sondern kann ihn sogar auswendig«, über alle Misere des Lebens weggekommen war und allem Anscheine nach auch jetzt wieder nach seinem Eintreffen in Swinemünde – dessen »Konsuln« ihm als [131] einem guten Liviuskenner schwerlich imponierten – ein innerlich freies und glückliches Leben führte. Die Konsuln ihrerseits lachten natürlich auch über Dr. Lau und hielten ihn für eine komische Null.
So war seine Stellung zu den Stadtgrößen. Anders stand er in dem Krauseschen Hause, dem er jetzt angehörte. Da war er geliebt und geschätzt und antwortete darauf mit Hingebung und Treue. Wir liebten ihn außerordentlich und sahen in ihm etwas in jeder Hinsicht Ausgezeichnetes. Daß er uns, weil er seinem Herzen nicht Gewalt antun mochte, dann und wann Gedichte aus dem Westöstlichen Diwan, der seine Spezialität war, vorlas, war gewiß anfechtbar, aber daß er sich dadurch lächerlich gemacht hätte, davon konnte keine Rede sein. Im Gegenteil. Diese Vorlesungen, von denen wir natürlich kein Wort verstanden, waren uns nur die Besieglung alles dessen, was wir an diesem kleinen Manne mit dem buntkattunenen, immer die Brille putzenden Taschentuche bewunderten. Unter allem aber stand uns eines obenan: Er war nämlich auch Bräutigam. Das Bildnis seiner Braut, in Pastell, hing am Fußende seines Bettes, eine Pastorentochter von freundlichen, beinahe hübschen Gesichtszügen, mit einem schwarzen Samtband um den Hals, daran ein Medaillon hing. Das Gesicht war uns interessant genug, aber das Interesse, das es uns einflößte, verschwand doch neben dem Medaillon, weil wir von der Frage nicht los konnten: »Was steckt eigentlich darin? Ist es sein Bildnis oder ist es ein Schnitzelchen von seinem Haar?« Von Locke konnte nicht wohl gesprochen werden. Aber was es auch sein mochte, ein Liebeszeichen war es gewiß, und wenn wir dann wieder etwas von Suleika hörten, so folgten wir freudiger und geduldiger und suchten nach Ähnlichkeiten zwischen der Schönheit aus dem Osten und der Pastorentochter aus der Ost-Priegnitz. Übrigens wolle man aus dem Pastellbilde am Fußende des Bettes nicht schließen, daß Dr. Lau von einer gekünstelt heraufgeschraubten Gefühlsbeschaffenheit gewesen wäre, ganz im Gegenteil. Er war von durchaus gesundem Sinn, und wenn ich mich eines literarischen Vorgangs erinnere, darin ich mit neun oder zehn Jahren die Hauptrolle spielte, so muß ich meinen guten Dr. Lau sogar einen Realisten [132] nennen. Dies kam so. Meines Vaters Geburtstag stand bevor, und ich hatte die Pflicht, auf einem liniierten Briefbogen – schon die bloße Liniierung war ein Schrecknis – meine Glückwünsche niederzuschreiben. Ich durfte dies in einer Schulstunde tun, während welcher Lau Exerzitienhefte korrigierte. Mit einem Male sagte er: »Nun gib her.«
Ich hatte aber mit meinem Geburtstagsbriefe noch gar nicht angefangen, sondern mich bis dahin darauf beschränkt, allerlei Reime auf ein neben mir liegendes Blatt zu kritzeln, halber Unsinn, der nicht viel was andres war als der Ausdruck meiner Verzweiflung. Ich wußte nicht, was ich schreiben sollte, der berühmte Anfang wollte sich nicht finden lassen, und so schob ich denn mit Hilfe dieser Spielerei das, um was es sich eigentlich handelte, nur hinaus. Verlegen reichte ich das bekritzelte Blatt hinüber, und Lau, nachdem er seine Brille geputzt, begann zu lesen:
Lieber Vater,
Du bist kein Kater.
Du bist ein Mann,
Der nichts Fettes vertragen kann;
Doch von den Russen hörst Du gern,
Wie sie den Polen den Weg versperrn etc. ...
In solcher Reimerei, drin ich von Zeile zu Zeile sozusagen lapidar gegenüberstellte, was mein Vater sei und nicht sei, was er möge und nicht möge, ging es weiter zwei Seiten lang. Als Dr. Lau damit durch war, schlug er auf den Tisch und sagte: »Das ist gut, das wollen wir nehmen; darüber wird sich dein Vater freuen. Nur das mit dem Kater müssen wir fortlassen.« Und den Anfang durchstreichend, schrieb er statt dessen: »Lieber Vater, Du Stadtberater.« Denn mein Vater war kurz vorher Senator oder Mitglied des Magistrats geworden, dessen Sitzungen er, bei großer Abneigung gegen dergleichen, natürlich nie beiwohnte. Auch diesen Zug hab ich von ihm geerbt. Lau blieb zwei Jahre lang. Als sein Abgang nahe war, kam ich auf den unglücklichen Gedanken, ihm zu Ehren ein Stück auf zuführen, noch dazu ein Lustspiel. Es war ungebührlich lang, und kein Mensch hörte recht zu, was mich sehr traurig machte. [133] Das Schlimmere aber lag nach der Herzensseite hin. Ich liebte Dr. Lau ganz aufrichtig, mehr als irgendeinen anderen Lehrer, den ich später gehabt habe; trotzdem brachte mich die verdammte Komödianteneitelkeit um jedes richtige Gefühl für den Mann, dem ich doch soviel verdankte. Ja, noch ganz zuletzt, als er bewegt von uns Kindern Abschied nahm, dachte ich nicht an den lieben, braven Mann, sondern immer noch an das dumme Stück, mit dem wir so gar keinen Erfolg erzielt hatten. Eigentlich bleibt es zeitlebens so; immer wenn mit allem Fug und Recht die großen Gefühlregister gezogen werden sollen, denkt man als Kind an Kuchen und Traubenrosinen, zehn Jahre später an einen neuen Schlips, und wenn endlich wer gestorben ist, an den Boule-Schrank, und wer ihn wohl eigentlich kriegen wird.
Lau, soviel ich weiß, hat nie mehr von sich hören lassen. Vielleicht, daß er an Krauses schrieb, aber ich habe nichts davon vernommen. Viele Jahrzehnte später erfuhr ich, daß er Rektor in Wittstock geworden sei, und als solcher ist er mutmaßlich gestorben.
Lau verließ uns im Spätherbst 30, und Bemühungen, seine Stelle rechtzeitig zu besetzen, waren entweder versäumt worden oder hatten zu keinem Resultate geführt. Wir standen also wieder vor einem Interim, das aber diesmal, weil die Krauses mit in Verlegenheit waren, einen anderen Charakter annahm als vordem. Mit andern Worten, die »Methode« meines Vaters brauchte nicht wieder zu momentaner Aushilfe für mich herangezogen zu werden, denn nach einigem Umtun in der Stadt ergab sichs, daß ein in den Vorbereitungen zum Examen steckender Theologe vorhanden und desgleichen bereit sei, sich bis zum Eintreffen eines neuen Hauslehrers unserer anzunehmen. Freilich nur halb und auch das kaum. Es war dies der Predigtamtskandidat Knoop, Sohn des Lotsenkommandeurs, ein gewissenhafter junger Mann, gegen den nicht das geringste zu sagen gewesen wäre, wenn er uns und unsre Eltern nicht zu sehr hätte fühlen lassen, daß er alles nur aus Gefälligkeit tue, ja, daß er uns geradezu ein Opfer bringe. Vorwürfe waren ihm daraus freilich nicht zu machen, denn es lag wirklich so. [134] Die Sache fing gleich damit an, daß er in seinem väterlichen Hause verblieb und unsern Eltern gegenüber darauf bestand, daß wir zu wechselnden und jedesmal von ihm zu bestimmenden Tagesstunden in seiner meist in einer Tabakswolke steckenden Hinterstube mit kleinen Zitzgardinen erscheinen müßten. Er war nicht freundlich und nicht unfreundlich und sah, gleichviel ob er uns Interessantes oder Nichtinteressantes mitteilte, gleichmäßig gelangweilt drein. Im ganzen aber kam es seinerseits überhaupt nicht recht zu Mitteilungen, sondern nur zu Aufgaben, ein Verfahren, aus dem genugsam hervorging, daß er uns nicht eigentlich belehren, sondern nur beschäftigen wollte. Dazu gehörte denn vor allem, weil ihm das das Bequemste war (Exerzitien und Aufsätze hätten ja korrigiert werden müssen), das Auswendiglernen von Vers und Prosa, von Bibelkapiteln und Schillerschen Balladen. Er erschrak dabei vor keiner Länge. Ganz im Gegenteil, so daß ihm beispielsweise der »Kampf mit dem Drachen«, weil er länger vorhielt, um vieles lieber war als der »Handschuh«, der nur fünf Minuten dauerte. Wir hatten gegen diese neue Form des Unterrichts nicht viel einzuwenden, und nur einmal kam es mir hart an. Es ereignete sich das in den Weihnachtstagen 30 auf 31, kurz vor Tisch. Ich selber war, wie gewöhnlich zu dieser Festzeit, in jenem eigentümlich gastrischen Zustande, wo sich der schon geschädigte Magen unbegreiflicherweise nach neuer Schädigung sehnt. Ein wohliger Duft von gebratener Gans zog durch das ganze Haus und gab meinen Gedanken eine dem Höheren durchaus abgewandte Richtung. Ich hatte mich, der wieder in Gedichtauswendiglernen bestehenden Ferienaufgabe gedenkend, auf den ersten Boden zurückgezogen und mirs hier in einem Kinderschlitten mit Seegraskissen leidlich bequem gemacht, dabei einen alten vielkragigen Mantel meines Vaters über die Knie gebreitet, denn es war bitterkalt, und in der Sonne blinkten links neben mir ein paar Schneestreifen, die der Wind durch die Fensterritzen hineingepustet hatte. Fröstelnd und unzufrieden mit mir und meinem Schicksal saß ich da, Schillers Gedichte vor mir, und lernte »Das Eleusische Fest«. Unten klimperte wer auf dem Klavier. Als es endlich schwieg, hörte ich den von einem asthmatischen Pusten begleiteten [135] Schritt meines Vaters auf der Treppe, und nicht lange mehr, so stand er vor mir, übrigens zunächst weniger mit mir als mit den zwei Schneestreifen beschäftigt. Er schob denn auch, eh er sich zu mir wandte, den Schnee mit der Sohlenkante zusammen und sagte dann erst: »Ich begreife nicht, warum du hier sitzest.«
»Ich lerne.«
»Was?«
»Das Eleusische Fest.«
»Nun, das ist gut. Aber du siehst aus, als ob du keine rechte Freude daran hättest. Ohne Freude geht es nicht, ohne Freude geht nichts in der Welt. Von wem ist es denn?«
»Von Schiller.«
»Von Schiller. Nu, höre, dann bitt ich mir aus, daß du Ernst mit der Sache machst. Schiller ist der Erste. Wie lang is es denn?«
»Siebenundzwanzig Verse.«
»Hm. Aber wenn es von Schiller ist, ist es gleich, ob es lang oder kurz ist. Es muß runter.«
»Ach, Papa, die Länge, das is es ja nicht. Der Kampf mit dem Drachen ist noch länger, und ich habe es in der letzten Stunde, die wir hatten, doch hergesagt.«
»Nun, was ist es dann?«
»Es ist so schwer. Ich versteh es nicht.«
»Unsinn. Das ist bloß Faulheit. Gewiß, es gibt Dichter, die man nicht verstehen kann. Aber Schiller! Gang nach dem Eisenhammer, Bürgschaft, Kraniche des Ibykus, da kann man mit. ›Und in Poseidons Fichtenhain Tritt er mit frommem Schauder ein‹ – das kann jeder verstehn und war immer meine Lieblingsstelle. Natürlich muß man wissen, wer Poseidon ist.«
»Ja, das geht, und Poseidon kenn ich. Und die, die du da nennst, die hab ich auch alle gelernt. Aber das Eleusische Fest, das kann ich nicht. Ich weiß nicht, was es heißt, und weiß auch nicht, was es bedeutet, und ich weiß auch nicht, gleich zu Anfang, welche Königin einzieht.«
»Das ist auch nicht nötig. Du wirst doch verstehn, daß eine Königin einzieht. Welche er meint, ist am Ende gleichgültig. Es ist ein Ausdruck für etwas Hohes.«
[136] »Und in dem zweiten Verse heißt es dann: ›Und in des Gebirges Klüften barg der Troglodyte sich‹. Was ist ein Troglodyte?«
»Nun, das ist ein griechisches Wort und wird wohl Leute bezeichnen, die einen Kropf haben oder irgend so was. An solcher einzelnen Unklarheit kann das Ganze nicht scheitern. Also strenge dich an ...«
Er hätte mir wohl noch weitere Lehren gegeben, wenn nicht in diesem Augenblicke zu Tische gerufen wäre. »Nun komm nur. Es heißt zwar plenus venter ..., aber du wirst schon darüber hinkommen.«
Ich kam nicht darüber hin und habe das Eleusische Fest nicht auswendig gelernt, weder damals noch später. Aber so viel bin ich dem Lotsenkommandeurssohn doch schuldig, das Eleusische Fest bedeutete nur den Ausnahmefall und kann die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß ich ihm und nur ihm allein die Totalkenntnis der Schillerschen Balladen verdanke. General v. d. Marwitz erzählt einmal in seinen Memoiren, daß er einen Hauslehrer gehabt, der aus einem kleinen Buche von höchstens hundert Seiten Weltgeschichte vorgetragen habe; nach dem Vortrage ließ er dann seinen Zögling ein paar Seiten auswendig lernen, und wenn er mit dem Buche durch war, begann das Auswendiglernen von Seite 1 an von neuem. Marwitz setzt hinzu: »Dieser Lehrer war beschränkt und bequem, aber ich verdanke ihm in bezug auf historische Fakten und Zahlen eine Überlegenheit über alle Personen, auch die klügsten mit einbegriffen, mit denen ich in meinem langen Leben in Berührung gekommen bin. Keiner wußte so sicher wie ich, in welchem Jahre die Schlacht bei Crécy oder bei Granson oder bei Lepanto gewesen war.«
Ostern 31 war endlich ein neuer Hauslehrer da, so daß die Stunden im kommerzienrätlichen Hause wieder ihren Anfang nehmen konnten. Der Neuengagierte hieß Dr. Philippi und kam aus Hamburg. Er war aus einem großen Hause, sehr gebildet und von weltmännischen Manieren. Das war das Gute, das er mitbrachte; zugleich aber gab ihm sein Hamburgertum, sein Vertrautsein mit den Formen einer wirklich reichen und [137] vornehmen Kaufmannswelt, ein bis zu Dünkel und Unart sich steigerndes Selbst- und Überlegenheitsgefühl, das ihm von Anfang an seine Stellung verdarb. In der Stadt gewiß und fast auch in dem liebenswürdigen Hause, dem er als Mitglied angehörte. Dr. Lau, wie hervorgehoben, hatte auch etwas von diesem Selbst- und Überlegenheitsgefühl gehabt, aber in ganz andrer Art. Lau war nicht spitz und ironisch, sondern immer nur heiter und humoristisch gewesen und hatte seine vergnügliche Stimmung und mit ihr Licht und Behagen zunächst in seine Verkehrsformen und schließlich auch in seine Unterrichtsstunden mit herübergenommen; Philippi dagegen, der überaus eitel und, weil man ihm nicht Ehre genug erwies, auch immer sehr geärgert und verstimmt war, ließ durchweg jene freundliche Gesinnung vermissen, ohne die nichts recht gedeiht. Wir lernten dies und das, aber es hatte kein Leben, nicht einmal so viel, wie der morose Predigtamtskandidat seinen halb widerwillig gegebenen Stunden zu geben gewußt hatte. Nicht ein einziges Schulvorkommnis hat sich mir aus jenen Philippischen Tagen her eingeprägt. Ein wenig mochte dies allerdings auch daran liegen, daß die Zeit, wo ich das elterliche Haus zu verlassen hatte, näher und näher rückte und daß mich nur noch das interessierte, was kommen würde, nicht das, was da war.