[164] Achtes Kapitel
Endlich war sie da, die berühmte Jahresversammlung der Landwirte! Vom frühen Morgen an standen alle Einwohner von Yonville an ihren Haustüren und sprachen von den Dingen, die da kommen sollten. Die Stirnseite des Rathauses war mit Efeugirlanden geschmückt. Drüben auf einer Wiese war ein großes Zelt für das Festmahl aufgeschlagen worden, und mitten auf dem Markte vor der Kirche stand ein Böller, der die Ankunft des Landrats und die Preiskrönung donnernd verkünden sollte. Die Bürgergarde von Buchy – in Yonville gab es keine – war anmarschiert und hatte sich mit der heimischen Feuerwehr, deren Hauptmann Herr Binet war, zu einem Korps vereinigt. Jener trug an diesem Tage einen noch höheren Kragen als gewöhnlich. In die Litewka eingezwängt, war sein Oberkörper so steif und starr, daß es aussah, als sei alles Leben in ihm in seine beiden Beine gerutscht, die sich parademarschmäßig bewegten. Da der Oberst der Bürgergarde und der Hauptmann der Feuerwehr eifersüchtig aufeinander waren, wollte jeder den anderen ausstechen, und so exerzierten beide ihre Mannschaft für sich. Abwechselnd sah man die roten Epauletten und die schwarzen Schutzleder vorbeimarschieren und wieder abschwenken. Das ging immer wieder von neuem an und nahm schier kein Ende!
Noch nie hatte man in Yonville derartige Pracht und Herrlichkeit gesehen. Verschiedene Bürger hatten tags zuvor ihre Häuser abwaschen lassen. Weißrotblaue Fahnen hingen aus den halb offenen Fenstern herab, alle Kneipen waren voll; und da schönes Wetter war, sahen die gestärkten Häubchen weißer als Schnee aus, die Orden und Medaillen blitzten in der Sonne wie eitel Gold, und die bunten Tücher leuchteten buntscheckig aus dem tristen Einerlei der schwarzen Röcke und blauen Blusen hervor. Die Pächtersfrauen kamen aus den umliegenden Dörfern geritten; beim Absitzen zogen sie die langen Nadeln heraus, mit denen [165] sie ihre Röcke hochgesteckt hatten, damit sie unterwegs nicht schmutzig werden sollten. Die Männer andererseits hatten zum Schutze ihrer Hüte die Sacktücher darüber gezogen, deren Zipfel sie mit den Zähnen festhielten.
Die Menge strömte von beiden Enden des Ortes auf der Landstraße heran und ergoß sich in alle Gassen, Alleen und Häuser. Überall klingelten die Türen, um die Bürgerinnen herauszulassen, die in Zwirnhandschuhen nach dem Festplatze wallten.
Zwei mit Lampions behängte hohe Taxusbäume zu beiden Seiten der vor dem Rathause errichteten Estrade für die Ehrengäste erregten ganz besonders die allgemeine Bewunderung. Übrigens hatte man an den vier Säulen am Rathause so etwas wie vier Standen aufgepflanzt; jede trug eine Art Standarte aus grüner Leinwand. Auf der einen las man: HANDEL, auf der zweiten: ACKERBAU, der dritten: INDUSTRIE, der vierten: KUNST UND WISSENSCHAFT.
Die Freudensonne, die auf allen Gesichtern zu leuchten begann, warf auch ihren Schatten, und zwar auf das Antlitz der Frau Franz, der Löwenwirtin. Auf der kleinen Vortreppe ihres Gasthofes stehend, räsonierte sie vor sich hin:
»So eine Torheit! So eine Eselei, eine Leinwandbude aufzubauen! Glaubt diese Bagage wirklich, daß der Herr Landrat besonders ergötzt sein wird, wenn er unter einem Zeltdache dinieren soll wie ein Seiltänzer? Dabei soll der ganze Rummel der hiesigen Gegend zugute kommen! War es wirklich der Mühe wert, extra einen Koch aus Neuschâtel herkommen zu lassen? Für wen übrigens? Für Kuhjungen und Lumpenpack!«
Der Apotheker ging vorüber in schwarzem Rock, gelben Buxen, Lackschuhen und – ausnahmsweise (statt des gewohnten Käppchens) – einem Hut von niedriger Form.
»Ihr Diener!« sagte er. »Ich habs eilig!«
Als die dicke Witwe ihn fragte, wohin er ginge, erwiderte er:
»Es kommt Ihnen komisch vor, nicht wahr? Ich, der ich sonst [166] den ganzen Tag in meinem Laboratorium stecke wie eine Made im Käse ...«
»In was für Käse?« unterbrach ihn die Wirtin.
»Nein, nein! Das ist nur bildlich gemeint«, entgegnete Homais. »Ich wollte damit nur sagen, Frau Franz, daß es im allgemeinen meine Gewohnheit ist, zu Hause zu hocken. Heute freilich muß in Anbetracht ...«
»Ah! Sie gehen auch hin?« fragte sie in geringschätzigem Tone.
»Gewiß gehe ich hin!« sagte der Apotheker erstaunt. »Ich gehöre ja zu den Preisrichtern!«
Die Löwenwirtin sah ihn ein paar Sekunden an, schließlich meinte sie lächelnd:
»Das ist was anderes! Aber was geht Sie eigentlich die Landwirtschaft an? Verstehen Sie denn was davon?«
»Selbstverständlich verstehe ich etwas davon! Ich bin doch Pharmazeut, also Chemiker. Und die Chemie, Frau Franz, beschäftigt sich mit den Wechselwirkungen und den Molekularverhältnissen aller Körper, die in der Natur vorkommen. Folglich gehört auch die Landwirtschaft in das Gebiet meiner Wissenschaft. In der Tat, die Zusammensetzung der Düngemittel, die Gärungen der Säfte, die Analyse der Gase und die Wirkung der Miasmen ..., ich bitte Sie, was ist das weiter als pure bare Chemie?«
Die Löwenwirtin erwiderte nichts, und Homais fuhr fort:
»Glauben Sie denn, um Agronom zu sein, müsse man selber in der Erde gebuddelt oder Gänse genudelt haben? Keine Spur! Aber die Beschaffenheit der Substanzen, mit denen der Landwirt zu tun hat, die muß man unbedingt studiert haben, die geologischen Gruppierungen, die atmosphärischen Vorkommnisse, die Beschaffenheit des Erdbodens, des Gesteins, des Wassers, die Dichtigkeit der verschiedenen Körper und ihre Kapillarität! Und tausend andere Dinge! Dazu muß man mit den Grundsätzen der Hygiene völlig vertraut sein, um den Bau von Gebäuden, die Unterhaltung der Haus- und Arbeitstiere und die Ernährung der [167] Dienstboten leiten und kontrollieren zu können. Fernerhin, Frau Franz, muß man die Botanikintus haben. Man muß die Pflanzen unterscheiden können, verstehen Sie, die nützlichen von den schädlichen, die nutzlosen und die nahrhaften, welche Arten man vertilgen und welche man pflegen, welche man hier wegnehmen und dort anpflanzen muß. Kurz und gut, man muß sich in der Wissenschaft auf dem laufenden halten, indem man die Broschüren und die öffentlichen Bekanntmachungen liest, und immer auf dem Damme sein, um mit dem Fortschritte zu gehen ...«
Die Wirtin ließ unterdessen den Eingang des Café Français nicht aus den Augen. Der Apotheker redete weiter:
»Wollte Gott, unsere Agrarier wären zugleich Chemiker oder sie hörten wenigstens besser auf die Ratschläge der Wissenschaft! Da habe ich kürzlich selbst eine große Abhandlung verfaßt, eine Denkschrift von mehr als zweiundsiebzig Seiten, betitelt: ›Der Apfelwein. Seine Herstellung und seine Wirkung. Nebst einigen neuen Betrachtungen darüber.‹ Ich habe sie der ›Rouener Agronomischen Gesellschaft‹ übersandt, die mich daraufhin unter ihre Ehrenmitglieder (Sektion Landwirtschaft, Abteilung für Pomologie) aufgenommen hat. Ja, wenn so ein Werk gedruckt erschiene ...«
Der Apotheker hielt inne. Er merkte, daß Frau Franz von etwas ganz anderem in Anspruch genommen war.
»Sehr richtig!« unterbrach er sich selber. »Eine unglaubliche Spelunke!«
Die Löwenwirtin zuckte so heftig die Achseln, daß sich die Maschen ihrer Trikottaille weit auseinander zogen. Mit beiden Händen deutete sie auf das Konkurrenzlokal, aus dem wüster Gesang herüberhallte.
»Na, lange wird die Herrlichkeit da drüben nicht mehr dauern!« bemerkte sie. »In acht Tagen ist der Rummel aus!«
Homais trat erschrocken einen Schritt zurück. Die Wirtin kam die drei Stufen herunter und flüsterte ihm ins Ohr:
»Was? Das wissen Sie nicht? Noch in dieser Woche wird er [168] ausgepfändet und festgesetzt. Lheureux hat ihm den Hals abgeschnitten. Mit Wechseln!«
»Eine fürchterliche Katastrophe!« rief der Apotheker aus, der für alle möglichen Ereignisse immer das passende Begleitwort zur Hand hatte.
Die Löwenwirtin begann ihm nun die ganze Geschichte zu erzählen. Sie wußte sie von Theodor, dem Diener des Notars. Obgleich sie Tellier, den Besitzer des Café Français, nicht ausstehen konnte, mißbilligte sie doch das Vorgehen von Lheureux. Sie nannte ihn einen Gauner, einen Halsabschneider.
»Da! Sehen Sie!« fügte sie hinzu. »Da geht er! Unter den Hallen! Jetzt begrüßt er Frau Bovary. Sie hat einen grünen Hut auf und geht am Arm von Herrn Boulanger.«
»Frau Bovary!« echote Homais. »Ich muß ihr schnell Guten Tag sagen. Vielleicht ist ihr ein reservierter Platz auf der Tribüne vor dem Rathause erwünscht.«
Ohne auf die Löwenwirtin zu hören, die ihm ihre lange Geschichte weitererzählen wollte, stolzierte der Apotheker davon. Mit lächelnder Miene grüßte er nach links und rechts, wobei ihn die langen Schöße seines schwarzen Rockes im Winde umflatterten, daß er wer weiß wieviel Raum einnahm.
Rudolf hatte ihn längst bemerkt. Er beschleunigte seine Schritte. Da aber Emma außer Atem kam, ging er wieder langsamer. Lachend und in brutalem Tone sagte er zu ihr:
»Ich wollte nur dem Dicken entgehen, wissen Sie, dem Apotheker!«
Sie versetzte ihm eines mit dem Ellenbogen.
»Was soll das heißen?« fragte er sie. Dabei blinzele er sie im Weitergehen von der Seite an.
Ihr Gesicht blieb unbeweglich, nichts darin verriet ihre Gedanken. Die Linie ihres Profils schnitt sich scharf in die lichte Luft, unter der Rundung ihres Kapotthutes, dessen blaßfarbene Bindebänder wie Schilfblätter aussahen. Ihre Augen blickten geradeaus unter ihren etwas nach oben gebogenen langen Wimpern. [169] Obgleich sie völlig geöffnet waren, erschienen sie doch ein wenig zugedrückt durch den oberen Teil der Wangen, weil das Blut die feine Haut straffte. Durch die Nasenwand schimmerte Rosenrot, und zwischen den Lippen glänzte das Perlmutter ihrer spitzen Zähne. Den Kopf neigte sie zur einen Schulter.
›Mokiert sie sich über mich?‹ fragte sich Rudolf.
In Wirklichkeit hatte der Ruck, den ihm Emma versetzt hatte, nur ein Zeichen sein sollen, daß Lheureux neben ihnen herlief. Von Zeit zu Zeit redete der Händler die beiden an, um mit ihnen ins Gespräch zu kom men.
»Ein herrlicher Tag heute! – Alle Welt ist auf den Beinen! – Wir haben Ostwind!«
Frau Bovary wie Rudolf gaben kaum eine Antwort, während Lheureux bei der geringsten Bewegung, die eines der beiden machte, mit einem ewigen »Wie meinen?« dazwischenfuhr, wobei er jedesmal den Hut lüftete.
Vor der Schmiede bog Rudolf mit einem Male von der Hauptstraße ab in einen Fußweg ein. Er zog Fau Bovary mit sich und rief laut:
»Leben Sie wohl, Herr Lheureux! Viel Vergnügen!«
»Den haben Sie aber fein abgeschüttelt!« lachte Emma.
»Warum sollen wir uns von fremden Leuten belästigen lassen?« meinte Rudolf. »Noch dazu heute, wo ich das Glück habe, mit Ihnen ...«
Sie wurde rot. Er vollendete seine Phrase nicht und sprach vom schönen Wetter und wie hübsch es sei, so durch die Fluren spazieren zu gehen.
Ein paar Gänseblümchen standen am Raine.
»Die niedlichen Dinger da!« sagte er. »Und so viele! Genug Orakel für die verliebten Mädel des ganzen Landes!« Ein paar Augenblicke später setzte er hinzu: »Soll ich welche pflücken? Was denken Sie darüber?«
»Sind Sie denn verliebt?« fragte Emma und hustete ein wenig.
»Wer weiß?« meinte Rudolf.
[170] Sie kamen auf die Festwiese, auf der das Gedränge immer mehr zunahm. Bauersfrauen mit Riesenregenschirmen, einen Korb am einen und einen Säugling im anderen Arme, rempelten sie an. Häufig mußten sie Platz machen, wenn eine lange Reihe nach Milch riechender Dorfschönen in blauen Strümpfen, derben Schuhen und silbernen Ohrringen vorbeizog, alle Hand in Hand.
Die Preisverteilung fand statt. Die Züchter traten, einer nach dem anderen, in eine Art Arena, die durch ein langes Seil an Pfählen gebildet wurde. Innerhalb des so abgegrenzten Raumes standen die Tiere, mit den Schnauzen nach außen, die ungleich hohen Kruppen in einer unordentlichen Richtungslinie. Schläfrige Schweine wühlten mit ihren Rüsseln in der Erde. Kälber brüllten, Schafe blökten. Kühe lagen hingestreckt, die Bäuche im Grase, die Beine eingezogen, kauten gemächlich wieder und zuckten mit ihren schwerfälligen Lidern, wenn die sie umschwärmenden Bremsen stachen. Pferdeknechte, die Arme entblößt, hielten an Trensenzügeln steigende Zuchthengste, die mit geblähten Nüstern nach der Seite hin wieherten, wo die Stuten standen. Diese verhielten sich friedlich und ließen die Köpfe und Mähnen hängen, während ihre Füllen in ihrem Schatten ruhten und ab und zu an ihnen saugten. Über der wogenden Masse aller dieser Leiber sah man von weitem hier und da das Weiß einer Mähne wie eine Springflut im Winde aufwehen oder ein spitzes Horn hervorspringen, und überall dazwischen die Häupter wimmelnder Menschen. Außerhalb der Umseilung, etwa hundert Schritte davon entfernt, stand, unbeweglich, wie aus Bronze gegossen, ein großer schwarzer Stier mit verbundenen Augen und einem Eisenring durch die Nase. Ein zerlumptes Kind hielt ihn an einem Stricke.
Ein paar Herren schritten langsam zwischen den beiden Reihen hin, besichtigten jedes Tier einzeln und eingehend und berieten sich jedesmal hinterher in flüsternder Weise. Einer von ihnen, offenbar der Einflußreichste, schrieb im Gehen Bemerkungen in ein Buch. Das war der Vorsitzende der Preisrichter, Herr Derozerays, Besitzer des Rittergutes La Panville. Als er Rudolf bemerkte, [171] ging er lebhaft auf ihn zu und sagte verbindlich-freundlich zu ihm:
»Herr Boulanger, Sie lassen uns ja im Stich?«
Rudolf versicherte, er werde gleich zur Stelle sein. Als er jedoch außer Hörweite des Vorsitzenden war, meinte er:
»Der Fuchs soll mich holen, wenn ich hinginge! Ich bleibe lieber bei Ihnen!«
Er machte seine Witze über das Preisrichterkollegium, was ihn aber nicht abhielt, seinen eigenen Ausweis als Mitglied des Festausschusses mit Grandezza zu zeigen, wenn er irgendwo durchwollte, wo ein Schutzmann stand. Mehrfach blieb er auch vor dem oder jenem ›Prachtstück‹ stehen. Frau Bovary bewunderte nichts mit. Das beobachtete er, und nun begann er spöttische Bemerkungen über die Toiletten der Damen von Yonville loszulassen. Dabei entschuldigte er sich, daß er selber auch nicht elegant gehe. Seine Kleidung war ein Nebeneinander von Alltäglichkeit und Ausgesuchtheit. Der oberflächliche Menschenkenner hält derlei meist für das äußere Kennzeichen einer exzentrischen Natur, die bizarr in ihrem Gefühlsleben, künstlerisch veranlagt und allem Herkömmlichen abhold ist, und empfindet Ärgernis oder Bewunderung davor. Rudolfs weißes Batisthemd mit gefältelten Manschetten bauschte sich im Ausschnitt seiner grauen Flanellweste, wie es dem Winde gerade gefiel; seine breit gestreiften Hosen reichten nur bis an die Knöchel und ließen die gelben Halbschuhe ganz frei, auf deren spiegelblanke Lackspitzen das Gras Reflexe warf. Er trat unbekümmert in die Pferdeäpfel. Eine Hand hatte er in der Rocktasche, und der Hut saß ihm schief auf dem Kopfe.
»Ein Bauer wie ich ...« meinte er.
»Bei dem ist Hopfen und Malz verloren«, scherzte Emma.
»Sehr richtig! Übrigens ist kein einziger von all diesen Biedermännern imstande, den Schnitt eines Rockes zu beurteilen.«
Dann sprachen sie von dem Leben in der Provinz, wo die Eigenart des einzelnen erstickt und das Leben keinen Schwung hat.
[172] »Darum verfalle ich der Melancholie ...« sagte er.
»Sie?« erwiderte Emma erstaunt. »Ich halte Sie gerade für sehr lebenslustig.«
»Ach, das sieht nur so aus! Weil ich vor den Leuten die Maske des Spötters trage. Aber wie oft habe ich mich beim Anblick eines Friedhofes im Mondenscheine gefragt, ob einem nicht am wohlsten wäre, wenn man schliefe, wo die Toten schlafen ...«
»Sie haben doch Freunde. Vergessen Sie die nicht!«
»Ich, Freunde? Welche denn? Ich habe keine. Um mich kümmert sich niemand.«
Dabei gab er einen pfeifenden Ton von sich.
Sie mußten sich einen Augenblick voneinander trennen, weil sich ein Mann zwischen sie drängte, der einen Turm von Stühlen schleppte. Er war derartig überladen, daß man nichts von ihm sah als seine Holzpantoffeln und seine Ellenbogen. Es war Lestiboudois, der Totengräber, der ein Dutzend Kirchenstühle herbeischaffte. Findig, wie er immer war, wo es etwas zu verdienen gab, war er auf den Einfall ge kommen, aus dem Bundestage seinen Vorteil zu schlagen. Und damit hatte er sich nicht verrechnet; er wußte gar nicht, wen er zuerst befriedigen sollte. Die Bauern, denen es heiß war, rissen sich förmlich um diese Stühle, deren Strohsitze nach Weihrauch dufteten. Sie lehnten sich mit wahrer Kirchenstimmung gegen die hohen, wachsbeklecksten Stuhlrücken.
Frau Bovary nahm Rudolfs Arm von neuem. Er fuhr fort, als spräche er mit sich selbst.
»Ja, ja! Ich habe vieles entbehren müssen! Immer einsam! Ach, wenn mein Dasein einen Zweck gehabt hätte, wenn ich einer großen Leidenschaft begegnet wäre, wenn ich ein Herz gefunden hätte ... O, alle meine Lebenskraft hätte ich daran gesetzt, ich wäre über alle Hindernisse hinweggestürmt, hätte alles überwunden ...«
»Mich dünkt, Sie seien gar nicht besonders beklagenswert«, wandte Emma ein.
[173] »So, finden Sie?«
»Zum mindesten sind Sie frei –« sie zögerte, »und reich!«
»Spotten Sie doch nicht über mich!« bat er.
Sie beteuerte, es sei ihr Ernst. Da donnerte ein Böllerschuß. Alsbald wälzte und drängte sich alles der Ortschaft zu. Aber es war ein falscher Alarm gewesen. Der Landrat war noch gar nicht da. Der Festausschuß war nun in der größten Verlegenheit. Sollte der feierliche Akt beginnen, oder sollte man noch warten?
Endlich tauchte an der Ecke des Marktes eine riesige Mietkutsche auf, von zwei mageren Gäulen gezogen, auf die ein Kutscher im Zylinderhut aus Leibeskräften mit der Peitsche loshieb.
Binet, der Feuerwehrhauptmann, kommandierte in aller Hast:
»An die Gewehre!«
Und der Oberst der Bürgergarde brüllte das Echo dazu.
Hals über Kopf stürzte man an die Gewehrpyramiden. Etliche der Bürgergardisten vergaßen in der Eile, sich den Kragen zuzuknöpfen. Aber der Landauer des Herrn Landrats schien die Verwirrung zum Glück zu ahnen. Die beiden Pferde kamen im langsamsten Zotteltrabe gerade in dem Moment vor der Vorhalle des Rathauses an, als sich Feuerwehr und Bürgergarde in Reih und Glied unter Trommelschlag davor aufgestellt hatten.
»Stillgestanden! Präsentiert das Gewehr!« kommandierte Binet.
»Stillgestanden! Präsentiert das Gewehr!« rief der Oberst auf der anderen Seite.
Die Trageringe rasselten in den Reihen, als ob ein Kupferkessel eine Treppe hinunterkollerte. Die Gewehre flogen nur so.
Nun sah man einen Herrn aus der Karosse steigen, in einer silberbestickten Hofuniform. Er hatte eine große Glatze, ein Toupet auf dem Hinterhaupte, sah blaß im Gesicht aus und war offenbar sehr leutselig. Um die Menschenmenge besser zu sehen, kniff er seine Augen, die zwischen dicken Lidern hervorquollen, halb zusammen, wobei er gleichzeitig seine spitzige Nase hob und seinen eingefallenen Mund zum Lächeln verschob. Er erkannte den [174] Bürgermeister an seiner Schärpe und teilte ihm mit, daß der Landrat verhindert sei, persönlich zu kommen. Er selber sei Regierungsrat. Es folgten noch ein paar verbindliche Redensarten.
Tuvache, der Bürgermeister, begrüßte ihn ehrerbietig. Der Rat erklärte, er fühle sich beschämt. Die beiden standen sich dicht gegenüber, Angesicht zu Angesicht; um sie herum der Festausschuß, der Gemeinderat, die Honoratioren, die Bürgergarde und das Publikum. Der Regierungsrat schwenkte seinen kleinen schwarzen Dreimaster gegen die Brust und sagte ein paar Begrüßungsworte. Währenddem klappte Tuvache in einem fort wie ein Taschenmesser zusammen, lächelnd, stotternd, nach Worten suchend. Darauf beteuerte er die Königstreue der Yonviller und dankte für die ihnen widerfahrene große Ehre.
Hippolyt, der Hausknecht aus dem Goldenen Löwen, nahm die Pferde der Kutsche an den Kandaren und zog das Gefährt humpelnd nach dem Gasthofe, an dessen Hoftor ein Schwarm von gaffenden Landleuten stand. Die Trommeln wirbelten, der Böller krachte.
Die Herren vom Festausschuß begaben sich nun auf die vor dem Rathause errichtete Estrade und setzten sich in die roten Plüschsessel, die von der Frau Bürgermeisterin zur Verfügung gestellt worden waren.
Alle die Männer glichen einander. Alle hatten sie ausdruckslose blonde, apfelweinfarbene Gesichter, die von der Sonne etwas gebräunt waren, buschige Backenbärte, die sich unter hohen, steifen Halskragen verloren, und weiße, sorglich gebundene Krawatten. Die Samtweste fehlte keinem, ebensowenig an den Uhrketten das ovale Petschaft aus Karneol. Alle stemmten sie die Arme auf die Schenkel, nachdem sie die Falten des Beinkleides sorgsam zurechtgestrichen hatten. Das nicht dekatierte Hosentuch glänzte mehr als das Leder ihrer derben Stiefel.
Die Damen der Gesellschaft hielten sich hinter der Estrade auf, unter der Vorhalle zwischen den Säulen, während die große Menge dem Rathause gegenüber stand oder teilweise auf Stühlen [175] saß. Der Kirchendiener hatte die erst nach der Wiese getragenen Stühle rasch wieder hierher geschleppt und brachte immer noch mehr aus der Kirche herzu. Durch seinen Handel entstand ein derartiges Gedränge, daß man nur mit Mühe und Not zu der kleinen Treppe der Estrade dringen konnte.
»Ich finde,« sagte Lheureux zu dem Apotheker, der sich nach der Estrade durchdrängelte und gerade an ihm vorüberkam, »man hätte zwei venezianische Maste aufpflanzen und sie mit irgendeinem schweren, kostbaren Stoff drapieren sollen, mit einer Nouveauté. Das würde sehr hübsch ausgesehen haben!«
»Gewiß!« meinte Homais. »Aber Sie wissen ja, der Bürgermeister macht alles bloß nach seinem eigenen Kopfe. Er hat nicht viel Geschmack, der gute Tuvache, und künstlerischen Sinn nun gleich gar nicht!«
Mittlerweile waren Rudolf und Emma in den ersten Stock des Rathauses gestiegen, in den Sitzungssaal. Da dieser leer war, erklärte Boulanger, das wäre so recht der Ort, das Schauspiel bequem zu genießen. Er nahm zwei Stühle von dem ovalen Tisch, der unter der Büste von Majestät stand, und trug sie an eines der Fenster.
Die beiden setzten sich nebeneinander hin.
Unten auf der Estrade ging es lebhaft her. Alles plauderte und tuschelte. Da erhob sich der Regierungsrat von seinem Sitze. Man hatte inzwischen erfahren, daß er Lieuvain hieß, und nun lief sein Name von Mund zu Mund durch die Menge. Nachdem er ein paar Zettel geordnet und sich dicht vor die Augen gehalten hatte, begann er:
»Meine Herren!
Ehe ich auf den eigentlichen Zweck der heutigen Versammlung eingehe, sei es mir zunächst gestattet – und ich bin überzeugt, Sie sind insgesamt damit einverstanden –, sei es mir gestattet, sage ich, der Behörden und der Regierung zu gedenken, vor allem, meine Herren, Seiner Majestät, unseres allergnädigsten und allverehrten Landesherrn, dem jedes Gebiet der öffentlichen und [176] privaten Wohlfahrt am Herzen liegt, der mit sicherer und kluger Hand das Staatsschiff durch die unaufhörlichen Gefahren eines stürmischen Ozeans lenkt und dabei jedem sein Recht läßt, dem Frieden wie dem Kriege, der Industrie, dem Handel, der Landwirtschaft, den Künsten und Wissenschaften ...«
»Vielleicht setze ich mich ein wenig weiter zurück«, sagte Rudolf.
»Warum?« fragte Emma.
In diesem Augenblicke bekam die Stimme des Regierungsrates besonderen Schwung. Er deklamierte:
»Die Zeiten sind vorüber, meine Herren, wo die Zwietracht der Bürger unsere öffentlichen Plätze mit Blut besudelte, wo der Grundbesitzer, der Kaufmann, ja selbst der Arbeiter, wenn er abends friedlich schlafen ging, befürchten mußte, durch das Stürmen der Brandglocken jäh wieder aufgeschreckt zu werden, wo Umsturzideen frech an den Grundfesten rüttelten ...«
»Nur weil man mich von unten bemerken könnte«, gab Rudolf zur Antwort. »Dann müßte ich mich vierzehn Tage lang entschuldigen. Und bei meinem schlechten Rufe ...«
»Sie verleumden sich«, warf Emma ein.
»I wo! Der ist unter aller Kritik. Das schwör ich Ihnen.«
»Meine Herren!« fuhr der Redner fort. »Wenn wir unsere Blicke von diesen düsteren Bildern der Vergangenheit abwenden und auf den gegenwärtigen Zustand unseres schönen Vaterlandes richten, was sehen wir da? Überall stehen Handel, Wissenschaften und Künste in Blüte, überall erwachsen neue Verkehrswege und -mittel, gleichsam wie neue Adern im Leibe des Staates, und schaffen neue Beziehungen, neues Leben. Unsere großen Industriezentren sind von neuem in vollster Tätigkeit. Die Religion ist gekräftigt und wärmt wieder aller Herzen. Unsere Häfen strotzen, der Staatskredit ist fest. Frankreich atmet endlich wieder auf ...«
»Das heißt,« sagte Rudolf, »vom gesellschaftlichen Standpunkt hat man vielleicht recht.«
»Wie meinen Sie das?« fragte sie.
»Wissen Sie denn nicht,« erläuterte er, »daß es problematische [177] Naturen gibt? Halb Träumer, halb Tatenmenschn? Heute leben sie den hehrsten Idealen und morgen den wildesten Genüssen. Nichts ist ihnen zu toll, zu phantastisch.«
Sie blickte ihn an, wie man einen Polarforscher anschaut. Dann sagte sie:
»Uns armen Frauen dagegen, uns sind die Freuden solcher Kontraste verboten!«
»Schöne Freuden!« entgegnete er bitter. »Das Glück liegt wo ganz anders!«
»Ach, so findet mans nirgends?«
»Doch, eines Tages begegnet man dem Glück!« flüsterte er.
»Und das wissen Sie alle gerade am besten,« fuhr der Regierungsrat fort, »Sie, die Sie Landwirte und Landarbeiter sind, friedliche Vorkämpfer eines Kulturideals, Männer des Fortschrittes und der Ordnung! Sie wissen das, sage ich, daß politische Stürme weit furchtbarer sind denn Stürme in der Natur ...«
»Ja, eines Tages begegnet man ihm,« wiederholte Rudolf, »ganz unerwartet, gerade wenn man alle Hoffnung verloren hat! Dann öffnet sich der Himmel, und es ist einem, als riefe eine Stimme: ›Hier ist das Glück!‹ Und dem Menschen, den Sie da gefunden haben, dem müssen Sie aus innerem Drange heraus ihr Leben anvertrauen, ihm alles geben, alles opfern! Es werden keine Worte gewechselt. Alles ist nur Ah nung, Gefühl! Man hat sich ja längst im Traumland gesehen ...«
Er blickte Emma an.
»Endlich ist er da, der Schatz, den man so lange gesucht hat, leibhaftig da! Er glänzt und strahlt! Noch immer hält man ihn für ein Traumbild. Man wagt nicht, an ihn zu glauben. Man ist geblendet, als käme man plötzlich aus der Nacht in die Sonne ...«
Rudolf begleitete seine Worte mit Gebärden. Er preßte die Rechte auf sein Gesicht wie jemand, den es schwindelt. Dann ließ er sie auf Emmas Hand sinken. Sie zog sie weg.
[178] Der Rat sprach immer weiter:
»Wen könnte das auch verwundern, meine Herren? Höchstens Leute, die so blind wären, so verbohrt (ich scheue mich nicht, dieses Wort zu gebrauchen!), so verbohrt in die Vorurteile abgetaner Zeiten, daß sie die Gesinnung der Landwirte noch immer verkennen. Wo findet man, frage ich, mehr Patriotismus als auf dem Lande? Wo mehr Opferfreudigkeit in Dingen des Gemeinwohls? Mit einem Worte: wo mehr Intelligenz? Meine Herren, ich meine natürlich nicht jene oberflächliche Intelligenz, mit der sich müßige Geister brüsten, nein, ich meine die gründliche und maßvolle Intelligenz, die sich nur mit ersprießlichen Absichten betätigt und damit dem Vorteile des einzelnen wie der Förderung der Allgemeinheit dient und eine Stütze des Staates ist, durchdrungen von der Achtung vor den Gesetzen und dem Gefühle der Pflichterfüllung ...«
»Pflichterfüllung!« wiederholte Rudolf. »Immer und überall die Pflicht! Wie mich dieses Wort anwidert! Ein Chor von alten Schafsköpfen in Schlafröcken und von Betschwestern mit Wärmpullen und Gesangbüchern krächzt uns ewig die alte Litanei vor: ›Die Pflicht, die Pflicht!‹ Der Teufel soll sie holen! Unsere Pflicht ist es, alles Große in der Welt mitzufühlen, das Schöne anzubeten und sich nicht immer gleich unter alle möglichen gesellschaftlichen Konvenienzen zu ducken, sich nicht zu Sklaven herabwürdigen zu lassen ...«
»Indessen ... indessen ...« wandte Emma ein.
»Nein, nein! Warum immer gegen die Leidenschaften kämpfen? Sind sie nicht vielmehr das Allerschönste, was es auf Erden gibt, der Quell des Heldensinns, der Begeisterung, der Dichtung, der Musik, aller Künste, alles Lebens im wahren Sinne?«
»Aber man muß sich doch ein wenig nach den Leuten richten und sich ihrer Moral fügen«, meinte Emma.
»So! Das ist dann eben die doppelte Moral«, eiferte er. »Die eine: die kleinliche, herkömmliche, die der Leute, die in einem fort ein anderes Gesicht zieht, immer Ach und Weh schreit, im Trüben [179] fischt und auf dem Erdboden kriecht. Das ist die all der versammelten Troddel da unten. Und die andere: die göttliche, die um uns ist und über uns wie die Landschaft, die uns umprangt, und der blaue Himmel, der über uns leuchtet ...«
Lieuvain wischte sich den Mund mit dem Taschentuche, dann sprach er weiter:
»Soll ich Ihnen, meine Herren, den Nutzen der Landwirtschaft hier noch im einzelnen darlegen? Wer sorgt für unser täglich Brot? Wer schafft uns die Unterhaltsmittel? Tut es nicht der Landmann? Er und kein anderer! Meine Herren, dem Landmann, der mit seiner schwieligen Hand das Saatkorn in die fruchtbringenden Furchen sät, verdanken wir das Getreide, das dann, von sinnreichen Maschinen zu Mehl gemahlen, in die Städte zu den Bäckern kommt, die Brot daraus backen für arm und reich! Ist es nicht der Landmann, der auf den Weiden die Schafherden hütet, damit wir Kleider haben? Wie sollten wir uns anziehen, wie uns nähren ohne die Landwirtschaft? Aber, meine Herren, wir brauchen gar nicht so weit zu gehen. Hat nicht jeder von uns schon manchmal über die Bedeutung jenes bescheidenen Tierchens nachgedacht, das die Zierde unserer Bauernhöfe ist und uns gleichzeitig ein weiches Kopfkissen, einen saftigen Braten für unseren Tisch und die Eier schenkt? Ich käme nicht zu Ende, wenn ich alle die anderen verschiedenen Erzeugnisse lückenlos aufzählen müßte, mit denen die wohlbebaute Erde wie eine großmütige Mutter ihre Kinder überschüttet. Ich nenne nur den Weinstock, den Baum, der uns den Apfelwein spendet, und den Raps. Dann haben wir den Käse und den Flachs. Meine Herren, vergessen wir den Flachs nicht! Der Flachsbau hat in den letzten Jahren einen bedeutenden Aufschwung genommen, auf den ich Ihre Aufmerksamkeit ganz besonders hinlenken möchte ...«
Dieser Appell war eigentlich unnötig, denn die Menge lauschte offenen Mundes und ließ sich kein Wörtchen entgehen. Der Bürgermeister, der zur Seite des Redners saß, horchte mit aufgerissenen Augen. Derozerays schloß die seinen hin und wieder voller[180] Andacht. Und der Apotheker, der seinen Platz etwas weiter weg hatte, hielt sich eine Hand ans Ohr, um Silbe für Silbe ordentlich zu verstehen. Die übrigen Preisrichter nickten bedächtig mit den gesenkten Häuptern, um ihre Zustimmung zu erkennen zu geben. Die Feuerwehr stützte sich auf ihre Gewehre, und Binet stand immer noch stramm da im Stillgestanden und mit vorschriftsmäßiger Säbelhaltung. Hören konnte er vielleicht, aber sehen nicht, weil ihm die Blende seines Helms bis über die Nase reichte. Sein Leutnant, der jüngste Sohn des Bürgermeisters, hatte einen noch größeren auf. Dieses Ungetüm wackelte ihm fortwährend auf dem Kopfe hin und her. Überdies sah der Zipfel eines seidenen Tuches hervor, das er untergestopft hatte. Er lächelte wie ein artiges Kind unter dem Helme hervor, und sein schmales blasses Gesicht, über das Schweißtropfen rannen, verriet zugleich helle Freude und müde Abspannung.
Der Marktplatz war bis an die Häuser heran voller Menschen. In allen Fenstern erblickte man Leute, ebenso auf allen Türschwellen. Vor dem Schaufenster der Apotheke stand Justin, ganz versunken in das Schauspiel vor seinen Augen. Obwohl um den Redner herum Stille herrschte, verlor sich seine Stimme doch bereits in einiger Entfernung im Winde. Nur einzelne abgerissene Worte drangen weiter, von denen das Geräusch hin und her gerückter Stühle auch noch einen Teil verschlang. Noch weiter weg vernahm man dicht hinter sich langgedehntes Rindergebrüll oder das Blöken der Schafe, die sich einander antworteten. Die Kuhjungen und Hirten hatten nämlich ihre Tiere inzwischen bis auf den Markt getrieben, wo sie sich nun von Zeit zu Zeit laut bemerkbar machten.
Rudolf war dicht an Emma herangerückt und flüsterte ihr hastig zu:
»Muß einen diese Tyrannei der Gesellschaft denn nicht zum Rebellen machen? Gibt es ein einziges Gefühl, das sie nicht verdammt? Die edelsten Triebe, die reinsten Neigungen werden von ihr verfolgt und verleumdet, und wenn sich zwei arme Herzen [181] trotz alledem finden, so verbündet sich alles, damit sie einander nicht gehören können. Aber sie werden es dennoch versuchen, sie regen ihre Flügel, und sie rufen sich. Früher oder später, in sieben Monaten oder in sieben Jahren, sind sie doch vereint in ihrer Liebe, weil es das Schicksal so will und weil sie füreinander geschaffen sind ...«
Er hatte die Arme verschränkt und stützte sie auf seine Kniee, und so schaute er Emma an, ganz aus der Nähe, mit starrem Blicke. Sie konnte in seinen Augen die kleinen goldenen Kreislinien sehen, um die schwarzen Pupillen herum, und sie roch sogar das leise Parfüm in seinem Haar. Wollüstige Müdigkeit überfiel sie. Der Vicomte, mit dem sie im Schlosse Vaubyessard getanzt hatte, kam ihr in den Sinn. Sein Bart hatte genau so geduftet wie dieses Haar, nach Vanille und Zitronen. Unwillkürlich schloß sie die Augenlider, um den Geruch stärker zu spüren. Aber als sie sich in ihren Stuhl zurücklehnte, fiel ihr Blick gerade auf die alte Postkutsche fern am Horizonte, die langsam die Höhe von Leux herabfuhr und eine lange Staubwolke nach sich zog. In derselben gelben Kutsche war Leo so oft zu ihr zurückgekommen, und auf dieser Straße, da war er von ihr weggefahren auf immerdar! Sie glaubte sein Antlitz zu sehen, im Rahmen seines Fensters. Dann verschwamm alles, und Nebel zogen vorüber. Es kam ihr vor, als wirble sie wie damals im Walzer, in der Lichtflut des Ballsaales, im Arme des Vicomte, und Leo wäre nicht weit weg, sondern käme wieder ... Dabei spürte sie in einem fort Rudolfs Haar dicht neben sich. Die süße Empfindung seiner Nähe vermählte sich mit den alten Gelüsten; und wie Staubkörner, die der Wind aufjagt, umtanzten sie diese Gefühle zusammen mit dem leisen Dufte und betäubten ihr die Seele. Ein paarmal öffnete sie weit die Nasenflügel, um, stoßweise, den frischen Geruch der Girlanden einzuatmen, die um die Säulen geschlungen waren.
Sie streifte sich die Handschuhe ab und trocknete sich die feucht gewordenen Hände; dann fächelte sie ihren Wangen mit dem [182] Taschentuche Kühlung zu, wobei sie mitten durch das Hämmern des Blutes in ihren Schläfen das Gesumme der Menge und die immer noch Phrasen dreschende Stimme des Regierungsrates verworren vernahm.
Er predigte:
»Fahren Sie fort! Bleiben Sie auf Ihrem Wege! Lassen Sie sich nicht beirren, weder durch Hängenbleiben an veralteten Überlieferungen noch durch allzu hastige Annahme von kühnen Neuerungen! Richten Sie Ihren Eifer vor allem auf die Verbesserung des Bodens, auf eine gute Düngung, auf die Veredelung der Pferde-, Rinder-, Schaf- und Schweinezucht! Möge diese Versammlung für Sie eine Art friedlicher Kampfplatz sein, auf dem der Sieger beim Verlassen der Arena dem Besiegten die Hand drückt wie einem Bruder und ihm den gleichen Erfolg für die Zukunft wünscht! Und ihr, ihr würdigen Dienstboten, bescheidenes Hofgesinde, um deren mühevolle Arbeit sich bisher noch keine Regierung gekümmert hat, kommt her und empfangt den Lohn für euere stille Tüchtigkeit und seid überzeugt, daß die Fürsorge des Staates fortan auch euch gelten wird, daß er euch ermutigt und beschützt, daß er euch auf begründete Beschwerden hin recht geben wird und euch, soweit es in seiner Macht steht, die Bürde euerer opferfreudigen Arbeit erleichtern wird!«
Danach setzte sich der Regierungsrat. Jetzt erhob sich Herr Derozerays und begann eine zweite Rede. Sie war nicht so schwungvoll wie die Lieuvains, dafür war sie sachlicher, das heißt: sie verriet Fachkenntnisse und gab tiefergehenden Betrachtungen Raum. Das Lob auf die Regierung war kürzer gefaßt; die Rede beschäftigte sich mehr mit der Landwirtschaft und der Religion. Die Wechselbeziehungen zwischen beiden wurden beleuchtet. Beide hätten zu allen Zeiten die Zivilisation gefördert. Rudolf plauderte mit Frau Bovary über Träume, Vorahnungen und Suggestion. Der Redner ging auf die Anfänge der menschlichen Gesellschaft zurück und schilderte die barbarischen Zeiten, da sich der Mensch im Urwalde von Eicheln genährt hatte. Später hätte [183] man die Tierfelle abgelegt und sich mit Tuch bekleidet, hätte Feldwirtschaft und Weinbau begonnen. War dies nun ein Vorteil, oder brachten nicht die neuen Beschäftigungen ungleich mehr Mühen denn Nutzen? Über dieses Problem stellte Derozerays allerhand Betrachtungen an.
Von der Suggestion war Rudolf unterdessen allmählich auf die Wahlverwandtschaft gekommen, und während der Redner unten vom Pfluge des Cincinnatus sprach, von Diokletian und seinen Kohlplantagen und von den chinesischen Kaisern, die zu Neujahr eigenhändig säen, setzte der junge Mann der jungen Frau auseinander, daß die Ursache einer solchen unwiderstehlichen gegenseitigen Anziehung in einer früheren Existenz zu suchen sei.
»Nehmen Sie beispielsweise uns beide!« sagte er. »Warum haben wir uns kennen gelernt? Hat dies allein der Zufall gefügt? War es nicht vielmehr in beiden ein geheimer Drang, der uns gegenseitig einander zuführte, wie zwei Ströme ineinander fließen, jeder von weiter Ferne her?«
Er ergriff wiederum ihre Hand. Sie entzog sie ihm nicht.
»Preis für gute Bewirtschaftung ...« rief unten der Redner.
»Denken Sie doch daran, wie ich zum ersten Male in Ihr Haus kam ...«
»Herrn Bizet aus Quincampoix!«
»Wußte ich damals, daß wir so bald gute Freunde werden sollten?«
»Siebzig Franken ...«
»Hundertmal habe ich reisen wollen, aber ich bin immer wieder zu Ihnen gekommen und hier geblieben ...«
»Für Erfolge im Düngen.«
»... heute und morgen, alle Tage, mein ganzes Leben ...«
»Herrn Caron aus Argueil eine goldene Medaille!«
»... denn noch keines Menschen Gesellschaft hat mich so völlig bezaubert ...«
»Herrn Bain aus Givry-Saint-Martin ...«
»... und so werde ich Ihr Bild in mir tragen ...«
[184] »... für einen Merino-Schafbock ...«
»Sie aber werden mich vergessen! Ich bin an Ihnen vorübergewandelt wie ein Schatten!«
»Herrn Belot aus Notre-Dame ...«
»Aber nein, nicht wahr? Manchmal werden Sie sich doch meiner erinnern?«
»Für Schweinezucht ein Preis geteilt, je achtzig Franken, den Herren Lehérissé und Eulembourg!«
Rudolf drückte Emmas Hand. Sie fühlte sich ganz heiß an und zitterte wie eine gefangene Taube, die fortfliegen möchte. Sei es nun, daß Emma versuchte, ihre Hand zu befreien, oder daß sie Rudolfs Druck wirklich erwidern wollte: sie machte mit ihren Fingern eine Bewegung. Da rief er aus:
»Ach, ich danke Ihnen! Sie stoßen mich nicht zurück! Sie sind so gut! Sie fühlen, daß ich Ihnen gehöre! Ich will Sie ja nur sehen, nur anschauen!«
Ein Windstoß, der durch die Fenster fuhr, bauschte die Tischdecke des Tisches im Saal, und unten auf dem Markte flatterten die mächtigen Haubenschleifen der Bäuerinnen wie weiße Schmetterlingsflügel auf.
»Für die Herstellung von Ölkuchen ...«
Der Vorsitzende fing an, sich zu beeilen.
»Für Mastversuche nach flandrischer Art ... Weinbau ... Feldbewässerung ... langjährige Pacht ... treue Dienste ...«
Rudolf sprach nicht mehr. Sie sahen sich beide an. Emmas trockene Lippen bebten in heißestem Begehren. Weich und ganz von selbst verschlangen sich ihre Hände.
»Katharine Nikasia Elisabeth Leroux aus Sassetot-la-Guerrière für vierundfünfzigjährigen Dienst auf ein und demselben Gute eine silberne Medaille im Werte von fünfundzwanzig Franken!«
Nach einer Weile hörte man: »Wo ist Katharine Leroux?«
Sie erschien nicht, aber man vernahm flüsternde Stimmen:
»Geh doch!«
[185] »Ach nein!«
»Brauchst keine Angst zu haben!«
»Nee, ist die dumm!«
»Hier! Hier steckt sie!«
»So mag sie doch vorkommen!« rief der Bürgermeister dazwischen.
Da begann eine kleine alte Frau mit ängstlicher Gebärde zur Estrade hinzulaufen. In ihren Lumpen sah sie selber wie zerfallen aus. Sie hatte die Füße in derben Holzschuhen und um die Hüften eine große blaue Schürze. Ihr mageres Gesicht, von einer schlichten Haube umrahmt, war runzeliger als ein verschrumpfter Apfel, und aus den Ärmeln ihrer roten Jacke langten zwei dürre Hände mit knochigen Gelenken heraus. Vom Staub der Scheunen, der Lauge der Wäsche und dem Fett der Schafwolle waren sie so hornig, hart und rissig, daß sie wie schmutzig aussahen, und doch waren sie in reinem Wasser tüchtig gewaschen worden. Daß sie unzählige Strapazen hinter sich hatten, das verrieten sie von selbst an ihrer demütigen Haltung: sie standen halb offen, wie bereit, ewig Dienste zu empfangen. Etwas wie klösterliche Strenge sprach aus den Zügen der alten Frau und verlieh ihnen eine Spur von Vornehmheit. Es lebte nichts Weiches in ihrem bleichen Gesicht, nichts Trauriges oder Rührseliges. Im steten Umgang mit Tieren war ihr stumme Geduld zur Natur geworden. Heute befand sie sich zum ersten Male inmitten einer solchen Masse von Menschen. Die Fahnen, der Trommelwirbel, die vielen Herren in schwarzen Röcken, das Kreuz der Ehrenlegion auf der Brust des Rates, alles das erschütterte sie bis ins Herz. Sie stand ganz erstarrt da, sie wußte nicht, ob sie zur Estrade vorlaufen oder enteilen sollte, und sie begriff nicht, warum man sie nach vorn drängte und warum ihr die Preisrichter freundlich zulächelten. Sie stand vor diesen behäbigen Bürgern als ein verkörpertes halbes Säkulum der Knechtschaft.
»Treten Sie näher, verehrungswürdige Katharine Nikasia Elisabeth Leroux!« sagte der Regierungsrat, der die Liste der Preisgekrönten [186] aus den Händen des Vorsitzenden entgegengenommen hatte. Indem er abwechselnd auf den Bogen und auf die Greisin blickte, wiederholte er in väterlichem Tone:
»Näher, immer näher!«
»Sind Sie denn taub?« rief Tuvache heftig und sprang von seinem Sitze auf.
»Für vierundfünfzigjährige Dienstzeit eine silberne Medaille im Werte von fünfundzwanzig Franken! Die ist für Sie!« wurde ihr laut gesagt.
Die alte Frau nahm sie und sah sie sich lange an, und ein Lächeln des Glückes besonnte ihr Gesicht. Als sie wegging, hörte man sie vor sich hinmurmeln:
»Ich werde sie dem Herrn Pfarrer bei uns zu Hause geben, damit er mir dermaleinst eine Messe liest.«
»Selig die Geistesarmen!« meinte der Apotheker, zum Notar gewandt.
Der feierliche Akt war zu Ende. Die Menge verlief sich. Und nachdem nun die Preisverteilung vorüber war, nahm jeder wieder seinen Rang ein, und alles lief im alten Gleise. Die Herren schnauzten ihre Knechte an, und die Knechte prügelten das Vieh, das mit grünen Kränzen um die Hörner in seine Ställe zurücktrottete. Ahnungslose Triumphatoren.
Die Bürgergarde und die Feuerwehr traten weg und begaben sich in den ersten Stock des Rathauses. Der Bataillonstambour schleppte einen Korb Weinflaschen, und die Mannschaft spießte sich die spendierten Butterbrote auf die Bajonette.
Frau Bovary ging an Rudolfs Arm nach Hause. An der Tür nahmen sie Abschied. Sodann ging er bis zur Stunde des Festmahles allein durch die Wiesen spazieren.
Der Schmaus dauerte lange. Es war lärmig, die Bedienung schlecht. Man saß so eng aneinander, daß man für die Ellenbogen gar keine Freiheit hatte, und die schmalen Bretter, die als Bänke dienten, drohten unter der Last der Gäste zusammenzubrechen. Man aß unmenschlich viel. Jeder wollte auf seine Kosten[187] kommen. Allen perlte der Schweiß von der Stirn. Zwischen der Tafel und den Hängelampen schwebte weißlicher Dunst, wie der Nebel über dem Flusse an einem Herbstmorgen.
Rudolf, der seinen Platz an der Zeltwand hatte, verlor sich völlig in Träumereien an Emma, so daß er nichts sah und hörte. Hinter ihm, draußen auf dem Rasen, schichteten die Kellner die gebrauchten Teller. Wenn ihn einer seiner Nachbarn anredete, gab er ihm keine Antwort. Man füllte ihm das Glas, ohne daß er es wahrnahm. Trotz dem allgemeinen, immer stärker werdenden Lärm war es in ihm ganz still. Er sann über das nach, was Emma gesagt hatte, und über die Linien ihrer Lippen dabei. Ihr Bild schimmerte ihm wie aus Zauberspiegeln aus allem entgegen, was glänzte, sogar aus dem Messingbeschlag der Feuerwehrhelme. Die Zeltwand hatte Falten, die ihn an die ihres Kleides erinnerten. Und vor ihm, in der Ferne der Zukunft, winkte eine endlos lange Reihe verliebter Tage.
Am Abend sah er Emma wieder, beim Feuerwerk. Aber sie war in der Gesellschaft ihres Mannes, der Frau Homais und des Apothekers. Dieser beunruhigte sich sehr über die Möglichkeit, daß einmal eine Rakete versehentlich in das Publikum gehen könnte. Alle Augenblicke verließ er seine Freunde, um Binet zur größten Vorsicht zu ermahnen. Die Feuerwerkskörper waren vorher aus übertriebener Ängstlichkeit im Hause des Bürgermeisters aufbewahrt worden, in dessen Keller. Das feucht gewordene Pulver entzündete sich nun schwer, und das Hauptstück, eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt, versagte vollständig. Ab und zu zischte ein dürftiges Feuerrad. Dann schrie die gaffende Menge vor Vergnügen laut auf, und in dieses Geschrei mischte sich das Kreischen der Weiber, die im Dunkeln von dreisten Händen angefaßt wurden.
Emma schmiegte sich schweigsam an Karls Arm. Den Kopf gehoben, verfolgte sie die Feuerlinien der Raketen an dem schwarzen Himmel. Rudolf betrachtete sie im Scheine der Lampions. Nach und nach erloschen diese, und nun leuchteten nur die Gestirne.[188] Ein paar Regentropfen fielen. Frau Bovary legte sich ihr Tuch über das unbedeckte Haar.
In diesem Augenblicke fuhr der Landauer des Regierungsrates vom Gasthofe weg. Der Kutscher war bezecht und hockte verschlafen auf seinem Bocke. Man sah von weitem, wie die schwere Masse seines Körpers zwischen den Wagenlichtern hin und her pendelte, je nach den Bewegungen des Wagens auf dem holperigen Pflaster.
»Man sollte wirklich strenger gegen die Trunksucht vorgehen«, bemerkte der Apotheker. »Mein Vorschlag geht dahin, allwöchentlich am Rathause die Namen derer auszuhängen, die sich in der Woche vor her sinnlos betrunken haben. Das ergäbe nebenbei eine Statistik, die man in gewissen Fällen ... Aber entschuldigen Sie!«
Er eilte wiederum zum Feuerwehrhauptmann, der sich gerade anschickte, nach Hause zu gehen. Ihn trieb die Sehnsucht nach seiner Drehbank.
»Vielleicht täten Sie gut,« mahnte ihn Homais, »wenn Sie einen von Ihren Leuten schickten, oder noch besser, wenn Sie selber gingen ...«
»Lassen Sie mich doch in Ruhe!« murrte der Steuereinnehmer.
»Das hätte ja gar keinen Sinn!«
Der Apotheker gesellte sich wieder zu seinen Freunden.
»Wir können völlig beruhigt sein«, sagte er zu ihnen. »Herr Binet hat mir soeben versichert, daß alle Vorsichtsmaßregeln getroffen sind. Es ist keine Feuersgefahr mehr vorhanden. Und die Spritzen stehen voller Wasser bereit. Gehen wir schlafen!«
»Ach ja! Ich habs sehr nötig!« erwiderte Frau Homais, die schon immer tüchtig gegähnt hatte. »Aber schön wars doch!«
Rudolf wiederholte leise mit einem zärtlichen Blicke:
»Wunderschön!«
Dann verabschiedete man sich und ging voneinander.
Zwei Tage darauf stand im ›Leuchtturm von Rouen‹ ein langer [189] Bericht über die Landwirtschaftliche Versammlung. Der Apotheker hatte ihn am Morgen darauf schwungvoll verfaßt.
›Was künden diese Girlanden, diese Blumen und Kränze? Wohin wälzt sich die Menge gleich wie die Wogen des stürmischen Weltmeeres unter den Strahlenbüscheln der tropischen Sonne, die unsere Fluren sengt?‹
Sodann sprach er von der Lage der Landbevölkerung. ›Gewiß, die Regierung hat hier viel getan, aber noch nicht genug. Mut! Tausend Reformen sind unerläßlich. Man gehe an sie heran!‹ Bei der Schilderung der Ankunft des Regierungsvertreters feierte er ›das martialische Aussehen unserer Miliz‹, die ›behenden Dorfschönen‹, die ›kahlköpfigen Greise, diese Patriarchen, die Letzten der unsterblichen Legionen, deren Soldatenherzen beim Wirbeln der Trommeln höher schlagen‹. Seinen eigenen Namen zählte er unter den Preisrichtern als ersten auf und erwähnte in einer Anmerkung sogar, daß Herr Homais, der Apotheker von Yonville, unlängst eine Denkschrift über den Apfelwein an die Rouener Agronomische Gesellschaft eingereicht habe. Bei der Preisverteilung angelangt, schilderte er die Freude der Ausgezeichneten mit dithyrambischer Begeisterung. ›Väter fielen ihren Söhnen um den Hals, Brüder ihren Brüdern, Gatten ihren Gattinnen. Mehr denn einer zeigte voll Stolz seine schlichte Medaille, und heimgekehrt in sein stilles Kämmerlein, mag sie so mancher, Tränen in den Augen, an die Wand gehängt haben ... Gegen sechs Uhr abends vereinigte ein Festmahl in dem auf der Herrn Liegeard gehörenden Wiese errichteten großen Zelte die hervorragendsten Festteilnehmer. Von Anfang bis Ende herrschte die größte Gemütlichkeit. Mehrere Toaste wurden ausgebracht. Herr Regierungsrat Lieuvain trank auf Seine Majestät, Herr Bürgermeister Tuvache auf den Herrn Landrat, sodann Herr Rittergutsbesitzer Derozerays auf das Gedeihen der Landwirtschaft, Herr Apotheker Homais auf die Industrie und ihre Schwestern, die Künste und Wissenschaften, so zuletzt Herr Leplichey auf den Fortschritt. Am Abend erleuchtete ein prächtiges Feuerwerk plötzlich [190] aller Gesichter. Man kann wohl sagen, es war ein wahres Kaleidoskop, eine herrliche Operndekoration, und im Moment durfte sich unser kleiner Ort in die Wunderwelt von Tausendundeiner Nacht entrückt wähnen. Zum Schlusse stellen wir mit Freuden fest, daß auch nicht ein einziger unliebsamer Vorfall das Volksfest gestört hat. Zu bemerken wäre nur noch das Fernbleiben der Geistlichkeit. Offenbar hat man unter ihr andere Ansichten von Allgemeinwohl und Fortschritt. Haltet es, wie ihr wollt, ihr Jünger Loyolas!‹