[298] Die Zeit

1761.


Der der Schöpfung Gebot über den Abgrund sprach,
Und aus trächtigem Nichts staunende Wesen rief,
Sprach zur werdenden Zeit, als sie vor ihm erschien:
»Du nimm Flügel, und raste nie!«
Sie nahm Flügel, und flog, und der geschwinde Pfeil,
Und der streifende Nord, und der gestürzte Strom
Blieben müde zurück. Selbst der Gedanken Flug
Keichet arbeitsam hinter ihr.
Dennoch schilt sie der Thor, wenn er gesellschaftlos,
Ueberlassen sich selbst, lange Secunden zählt;
Dennoch schilt er sie träg', wenn ihm dann auf sich selbst
Mancher schaudernde Blick entfährt.
Wenn um's goldene Bett schwarze Phantomen stehn;
Wenn sein zagender Geist Dörner auf Schwanen fühlt,
Und der lautere Ruf seines Gewissens itzt
Durch die nächtliche Stille tönt.
[299]
O dann wünscht er den Tag, welcher den Musenfreund
Schon vom Abendroth' her, seiner uneingedenk,
Tief verloren ins Meer weiser Betrachtungen,
Bei der wachenden Lampe trifft. –
Aber schilt er auch dann, flüchtige Zeit! dich träg',
Wann im Thore des Tod's ihm die Verwesung winkt,
Und vom Staube sein Geist wartender Ewigkeit
Ahnungvoller entgegen bebt?
Wann das, was er verlebt, klein wie ein Atomus,
Sind's Jahrhunderte schon, dennoch ein Atomus,
Den im luftigen Raum' irrend ein Nord verhaucht,
Vor der schwitzenden Stirne schwebt?
O dann haßt er den Wahn, der ihn so lang betrog,
Der den flatternden Sinn Jahre vertändeln hieß;
Dann erst sieht er den Werth eilender Stunden ein,
Wünscht sein Leben zurück – und stirbt.
Zeit! unschätzbares Gut! Weise nur kennen dich;
Sie nur geizen nach dir. Jeglicher Augenblick
Fließet Weisen gebraucht. Weisen nur ist bewußt,
Was oft eine Minute lehrt.
[300]
Freund! die längere Zeit, die sich der Thor vertreibt,
Der ins fünfzigste Jahr buhlet und schwelgt und spielt,
Freund! o sage, warum gab sie der Himmel nicht
Schlegeln, Brawen und Cronegken?

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