[103] Das Weib des Jägers
Nach einem indianischen Liede.
Auf dem Fluße Jukon
streift der Wind,
und mein Trauter jagt das Renntier
auf den Bergen Boojukon.
Chami, Chami, schlaf mein Kind!
schlaf, mein Kleiner, schlafe!
Der Herd ist kalt,
das Brennholz all verbrannt;
zerbrochen ist mein Beil,
mit meinem Trauten wandert
das andre durch den Wald.
Ach! und die Wärme der Sonne schläft
in der Höhle des Großen Bibers,
wo sie auf den Frühling wartet.
Chami, Chami, wach nicht auf!
schlaf, mein Kleiner, schlafe!
Suche keine Fische, Mutter!
lang' schon ist der Kasten leer;
selbst der Rabe kommt nicht mehr,
auf dem Fischgestell zu hocken.
In die Berge ging mein Trauter,
o wie lang' ist's her!
Wenn ich seine Pfade wüßte!
wenn ich bei ihm wär'! –
Chami, schlaf mein Kind! schlaf ruhig!
schlaf, mein Kleiner! schlaf, mein Kind!
Wo ist Der in diesem Augenblick,
den ich über Alles liebe?
[104]Schläft er wohl erschöpft am Bergeshange?
Warum bleibt er doch so lange?
warum kehrt er nicht zurück?!
Wenn er bald nicht kommt,
werd' ich selber gehen,
in die Berge gehen,
werd' ich gehen meinen Trauten suchen!
Chami, Chami, schlafe!
schlafe sanft, mein Kind!
Ha, da kommt der Rabe! –
Wie er lacht so hohl,
wie er krächzt so höhnend!
warum lacht er wohl?
Und sein Schnabel glänzt
naß und rot von Blut,
und sein böses Auge
funkelt Haß und Wut!
Warum lachst du, Rabe? –
Chami, Chami, schlafe!
Mich freut noch, Frau, der frische Fraß,
das saftige Fleisch, das prächtige Stück,
das deinem Gatten ich weggehackt.
Friedlich schlief er tief im Gras;
da kam der Rab',
da nahm der Rab'.
Ja, ganz still im Grase schläft er! –
Schlaf, mein Chami! schlaf, mein Kleiner!
schlafe ruhig! schlafe sanft!
Ja, zwanzig Renntierzungen
auf seiner Schulter trug er:
bloß Er hat keine Zunge mehr im Munde,
den Namen seiner jungen Frau zu rufen!
[105]Wölfe, Raben und Füchse
streiten um seine Beute, –
ja! ganz still im Grase schläft er,
stiller als das Kind, Frau,
das an deinem Busen schläft! –
Chami, Chami! ach, mein Kind!
Wölfe, Raben und Füchse
kämpfen um einen Fetzen
von dem Leichnam deines Gatten!
Ja – ganz still im Grase liegt er,
und so stark und zähe
waren seine Sehnen doch!
ja, viel stärker – ja, viel zäher
als des Kindes Sehnen, Frau,
das an deinem Busen liegt! –
Chami, Chami! schlafe, schlafe!
wach nicht auf! mein Kind, mein Kind!
Ach – –! Ha, dort! dort kommt er,
kommt mein Gatte, mein Trauter!
beuteschwerbeladen,
langsam steigt er den Berg herab! –
Eile, eile, Alte!
hole Holz zum Spalten!
sieh, mein Trauter lacht!
Sieh nur, wie der Rabe,
Dieser Lügner, fort sich macht! –
Chami, Chami, aufgewacht!
Chami, kleiner Schläfer!
wache auf, mein Kind!
rufe deinen Vater!
Sieh: er bringt uns Renntierfelle,
bringt geschmolznes süßes Markfett,
[106]bringt uns frisches Wildbret mit!
Und für Dich, mein Kleiner,
hat er gar geschnitzt ein Spielzeug
aus den glatten Renntierknochen,
als er müd und abgehetzt
und das Wild belauernd
lag am Bergeshange.
Wache du auf doch jetzt!
sieh nur, wie der Rabe bange
sich vor seinem Pfeil verbirgt!
Wache doch auf, du Schläfer!
lache und springe mit mir!
Chami, jauchze mein Kleiner!
Chami, dein Vater ist hier!