[169] 3.
Der Kommerzienrat irrte sich: Leo hatte wohl etwas von seiner langen Duselei gemerkt. Zweiwal war sie auf der Schwelle erschienen, sich nach ihm umzusehen. Sie war so voll Unruhe heute, noch mehr als gestern, wenn sie sich auch abquälte, es nicht merken zu lassen.
»Erzählen Sie mir noch einmal, Herr Schlichting, wie es beim Preßbanditen gegangen ... Nein, ich weiß ja ... Es ist schon gut. Gehen Sie nur wieder zu den Kindern. Ich lasse jetzt allem seinen Lauf.« Nach einem unstäten Blick nach der Thür, als müsse der Ersehnte plötzlich hereintreten: »Ja, allem seinen Lauf.« Aber zu den Worten des Mundes fügte das Herz seinen Nachsatz:. »Er muß wiederkehren, es kann nicht anders sein.« Und dennoch widersprach aufs neue der Mund: »Mag werden, was da will! Ich danke Ihnen, Herr Schlichting. Auch bei Dr. Trostberg, bitte, keine weitere Bemühung ...«
[170] Die Kleidermacherin Frau Schmid wurde gemeldet; sie sei auf heute bestellt wegen des neuen Frühjahrskostüms für Frau Kommerzienrat. Sie wurde abgewiesen. Morgen oder übermorgen könne sie wieder nachfragen, die gnädige Frau befinde sich heute nicht wohl.
Frau Schmid zog grollend ab. »So rücksichtslos sind die reichen Leute; ihrer Launen wegen darf man sich die Beine aus dem Leibe laufen und schließlich finden sie jede Rechnung zu hoch, überall wollen sie abzwacken, die reine Lauserei.«
Raßler war einigemal im Salon auf- und abgegangen. Dann klingelte er und befahl, in einer Stunde den Wagen bereit zu halten – »Der Fuchs ist hoffentlich wieder gut zu Fuß?«
»Zu dienen, Herr Kommerzienrat!«
»Also nach Haidhausen in die Fabrik wird gefahren.«
»Zu dienen, Herr Kommerzienrat.«
»Es wäre vielleicht doch besser, den Fuchs noch zu schonen. Das feurige Roß übernimmt sich leicht.«
»Zu dienen, Herr Kommerzienrat. Also lassen wir den Rappen einspannen.«
Der Diener empfahl sich mit einem Bückling.[171] »Alter Schöps,« dachte er, »dir wär' das Laufen auch gesünder, dich trifft doch der Schlag noch, da kannst Gift drauf nehmen. Daß sich deine Rösser nicht überfressen wie du, dafür lass' nur mich mit dem Jean sorgen – uns bekommt der Hafer auch nicht schlecht.« Im Vorzimmer stieß er auf die Gusti. Flink versetzte er ihr einen zärtlichen Klaps auf den Hintern.
»Gehen wäre nützlicher, aber es ist zu mühsam in dieser erschlaffenden Frühlingsluft.« Nachdem er laut gegähnt, nahm er den Pack Briefe vom Serviertischchen und ließ sich nahe dem Fenster auf die Ottomane kugeln. Zunächst entfaltete er einige auswärtige Blätter, Berliner und Frankfurter Zeitungen, den Fränkischen Kurier und die Augsburger Abendzeitung, dann Flugschriften und Preislisten unter Streifband. Die Briefe ließ er noch unberührt; das Lesen von Handschriften ist so anstrengend. Für die geschäftlichen Korrespondenzen hat er sich deshalb die Erleichterung geschaffen, sie erst von einem besonderen Kontorbeamten lesen und mit recht deutlicher und großer Schrift auf einem beigelegten Blatt auszugsweise erklären zu lassen. Der Biswanger war ja der treueste Mensch, der [172] sich denken läßt; noch einer von der alten Generation. Er hat von der Pike auf im Raßlerschen Geschäfte gedient, jahrelang um einen Hungerlohn, aber jetzt stellte er sich ganz gut. Seit einigen Jahren klagte er wenigstens nicht mehr. Seine Kinder sind ihm weggestorben, und mit dem Alter ist er immer bedürfnisloser geworden. Für ihn und sein taubes Weibchen, das zudem viel älter, als er, langt's, und da ihm eine ruhige Stellung, in der er sich in einem langen, arbeitsamen Leben eingelebt, über alles geht, so erhebt er keine Ansprüche mehr. Die jungen Leute sehen ihn freilich oft mit Ingrimm an, daß er sich um ein solches Spottgeld an das reiche Geschäft verkauft und mit einer wahren Hundetreue aushält und dazu noch allen die Zähne zeigt, die nicht mit gleicher Gewissenhaftigkeit ihren Schweiß opfern wollen.
Biswanger hat es dem Kommerzienrat selbst vorgeschlagen, ihm die wichtigsten Postsachen regelmäßig in die Privatwohnung zu schicken, damit er sie bequem nach Tisch durchsehen könne.
»Ach ja, es ist eine schöne Sache um ein geordnetes, bequemes Leben; der Biswanger ist ein braver Kerl,« dachte Raßler heute wieder; »ich muß ihm nächstens doch das Vergnügen [173] einer kleinen Gehaltserhöhung machen, oder die Überraschung einer Gratifikation – vielleicht schenke ich ihm ein Jahresabonnement auf die Pferdebahn – die Aktien gehen ja ganz brillant in die Höhe; hätte, ich nur mehr davon genommen. Biswanger hätte mir mehr zureden sollen. Aber für solche ganz moderne Dinge hat der gute Alte nicht immer den rechten Blick. Eigentlich ist er doch nicht ganz frei von Weißwurstphilisterei. Ich will ihn in seinen alten Tagen nicht, mehr verwöhnen. Er ist noch so rüstig und läuft gern. Die Freikarte wäre wirklich ein Luxus. Lassen wir's lieber. Die Generosität hat auch andere Unzukömmlichkeiten im Gefolge. Jede Bevorzugung erregt nur bei den Anderen neue Unzufriedenheit. Die jungen Leute haben ohnehin den sozialdemokratischen Teufel im Leib. Biswanger ist ja so auch glücklich. Er braucht wirklich nichts, der brave Kerl. Ja, um zwanzig Jahre wenn ich ihn jünger machen könnte, wäre uns beiden geholfen. Der wird einst schwer zu ersetzen sein ...«
Frau Leopoldine spähte wieder durch die Portiere. Sollte sie ihn lieber doch nicht darauf vorbereiten, daß der Preßbandit einen Gaunerstreich gegen ihn plant?
[174] Unschlüssig stand sie eine Weile. »Nein, ich mag ihm nicht wieder mit Drillinger kommen. Er hat doch nur eine rohe Rede für mich ... Ich lasse den Ereignissen den Lauf.«
Im Umwenden begegnete sie dem lauernden Blicke der Gusti, die sich heute auffällig in ihrer Nähe zu schaffen machte. »Na, was denn, Gusti?«
»O, ich meinte nur, gnädige Frau, man könnte sich manche Sorge vom Halse schaffen. Die Männer kann man doch um den Finger wickeln, wenn man's richtig anfaßt. Es giebt nichts Dümmeres auf der Welt, als die Männer, besonders die verliebten. Verzeihung, gnädige Frau, ich spreche nur aus meiner Erfahrung ...«
Die Frau Kommerzienrat schnitt ihr jede weitere Äußerung mit dem Wort ab: »Ich kaufe keine fremden Erfahrungen. Jeder muß schließlich mit sich selbst fertig werden.«
Gusti dachte: »So werde durch eigenen Schaden klug; du kommst doch noch zu mir,« und entfernte sich schweigend, als wäre nichts geschehen.
Ob es wohl nicht klüger gewesen wäre, den Schlichting nicht zum Vertrauten zu machen? [175] Die Aufdringlichkeit Gustis brachte jetzt erst Frau Leopoldine auf diesen Gedanken. Ein zwar guter, aber doch so unreifer Mensch! Und sein jämmerlicher Mißerfolg bei dem Preßbanditen, wird er nicht die Situation verschlimmern? O dieser unselige Rätselmensch, Max v. Drillinger, in welche Lage hatte er sie gebracht! Was war aus ihrem Verstande, aus ihrer Selbstbeherrschung geworden, seit diese rasende Leidenschaft für den Undankbaren von ihrem Wesen Besitz genommen! Und ihre Seele schreit nach ihm, ihr Leib brennt nach ihm – – und ihn kümmert's nicht ... Welcher Dämon war in ihn gefahren, daß er ihr so namenloses Leid bereiten konnte? Was hatte sie ihm gethan, was einen solchen plötzlichen Bruch zu rechtfertigen vermöchte? Denn daß sein jetziges Verhalten einen Bruch bedeute, oder wenigstens die Absicht eines Bruches, daran durfte sie hinfort nicht mehr zweifeln. Schon auf ihrer letzten nächtlichen Spazierfahrt nach dem Gärtnertheater hatte sie unter seinem frivolen Kaltsinn zu leiden. In welch' beleidigender Form stellte er so ganz summarisch die Treue der liebenden Frauen in Frage und sein brutales »Vielleicht auch Du!« ging ihr wie ein Schwert durch die Seele. Und [176] wie stürmisch hatte er um sie geworben – er, der einzige Mann, dem zu widerstehen ihr die schrecklichste Pein schuf, bis sie endlich seiner Leidenschaft und dem unbesiegbaren Zuge ihres Herzens alles opferte, alles, alles ... Wo war ein Traum, in den sie nicht ihn hineingeträumt, wo eine Empfindung, in deren Mittelpunkt sie nicht ihn erhoben, wo eine Freude, eine Hoffnung, eine Erhebung der Seele, die sie im Geiste nicht mit ihm geteilt? Er ihr Abgott, ihr Alles – wie konnte er sich von ihr wenden? ... Sie breitete ihre Arme aus, ihn zu umfassen, an die Brust zu drücken – und sie griff ins Leere. Und wenn sich's bestätigt, was sie seit vier Wochen halb mit Schreck, halb mit Wonne vermutet, wenn die Zeichen nicht trügen? Noch hatte sie ihm keine Andeutung gemacht ...
Die Stunde war wohl vorüber. Schlichting war verstört und müde. Seine Glieder fühlten sich schwer wie Blei. Es war ihm, als müßte er sich zu Bett legen wie ein Kranker. Wer weiß! Aber umsomehr wollte er den Kindern die versprochene Freude machen und ihnen die Briefe an die ehemalige Hauslehrerin Fräulein Flora Kuglmeier anfertigen helfen. Es war [177] ihm jetzt so eigen, wenn er an Flora dachte, so unheimlich, so fröstelnd, wie wenn es in die Blüten schneit und ein rauher Winterswind durch den Frühling fährt, alles so kläglich unzeitgemäß und freudlos.
Die Kinder sahen den Herrn Kandidaten mit verwundert fragenden Blicken von der Seite an. Er war heute ganz anders wie sonst. Das Gefühl seiner Bedrückung hatte sich ihnen mitgeteilt.
»Ja, die Briefe, ach, die Briefe!« riefen sie aufatmend.
»Aber lustig müssen sie werden, sonst mag ich gleich gar nicht,« ergänzte Hermann. »Die Stunde war recht langweilig. Fehlt Ihnen etwas, Herr Schlichting? Hat Ihnen Mama etwas Schlimmes gesagt?«
»O nein, wie kannst Du glauben, die Mama!« begütigte Franz und machte sein drollig altkluges Gesicht, ohne den älteren Bruder anzublicken.
»Nun, mein Gott, es gibt allerhand ›Unzukömmlichkeiten‹, wie Papa zu sagen pflegt. Aber das macht der Liebe – –«
»Willst Du den Mund halten, Hermann!« verwies ihn Schlichting streng. »Du sollst Vater [178] und Mutter ehren, lautet das Gebot – und Du äffst die Redensarten der Eltern nach! Wahrhaftig, ich würde mich schämen.«
»Sie verstehen heute aber auch gar keinen Spaß, Herr Schlichting!« suchte sich der Zurechtgewiesene zu entschuldigen.
»Nein, zum Spaßmachen sind wir nicht da.«
»Wir wollen recht schöne Briefe schreiben,« bemerkte Franz geschäftig einlenkend.
Der kleine Eugen hockte in der Ecke am Tischchen bei seinem Spielkameraden Werner, dem jüngsten Söhnchen des Postoffizials vom vierten Stock. Als er vom Briefschreiben hörte und von Fräulein Flora, legte er das Bilderbuch weg.
»Auch schreiben, auch schreiben!«
Bald saßen die Raßlerschen Sprößlinge über ihre Hefte und Tafeln gebeugt, mit wahrem Feuereifer die Entwürfe ihrer Briefe bearbeitend. Eugen war am ungeschicktesten und darum am aufgeregtesten. Er wischte immer wieder aus und bestürmte Franz mit Fragen.
»Wie machst Du's? Laß sehen, laß sehen!«
Franz wies ihn mit erhobenem Ellbogen und ungeduldiger Geberde ab; er zog die Schultern [179] hoch und legte den Kopf schief und so nahe auf das Heft, daß Eugen nichts mehr sehen konnte. Eugen wurde ganz rot im Gesicht, seine Bäckchen glühten; plötzlich ließ er die Arme mutlos sinken und brach in Schluchzen aus. »Herr Schlichting, kein Mensch hilft mir ...«
Schlichtung fuhr aus seinen Gedanken auf. »Komm' her, armer Kerl; wart' wir wollen zusammenhelfen; unser Brief – na, die Andern werden gucken.«
»O je, das wird was Rechtes werden,« spottete Hermann, ohne böse Absicht, »wenn Eugen dem Herrn Schlichtung an Fräulein Flora schreiben hilft.« Und er tunkte gravitätisch eine frische Feder ein, blickte dabei dem Franz über die Schultern – und als er unachtsam mit der Feder zurückfuhr, fiel ein schwerer Tintentropfen auf das Papier.
»Nun hab' ich gar einen Batzen gemacht.«
»Eine schwarze San,« vergröberte Franz den Ausdruck; »Sündenschuld; warum läßt Du uns nicht in Ruh.« Dabei schrieb er wie wütend und rutschte halb vom Stuhl.
»Meinetwegen, so schick ich halt auch die Sau an Fräulein Flora.«
»Und sagst, es wär' Deine Photographie,« [180] spottete Franz schlagfertig. »Du thust Dich leicht. Ach Gott, ist das Briefschreiben schwer. Ich bin totmüde.«
»Faulpelz!« gab ihm Hermann zurück.
»Ich bin weiter, als Du, gib acht!«
Der kleine Werner saß während dessen mit seinem tiefsinnigen blonden Köpfchen und seinem grauen Wollenwämschen mutterseelenallein in der halbdunkeln Ecke, die Händchen auf die Kniee gelegt, ein Bild der Insichversunkenheit. Das schwarze Mitzikätzchen schlich sich heran und rieb sich an seinen Beinen. Ein leises Lächeln ging über sein Gesicht; dann ergriff er mit der einen Hand das Tier mit der andern das Buch und wollte dem Mitzikätzchen die Bilder zeigen. »Hu, der Bär, Mitzi, der Bär ...«
Franz legte die Feder weg und ging zu dem kleinen Werner. »Du hast es gut, Werni, Du brauchst keine Briefe zu schreiben. Magst Du geigen? Ja, wir wollen geigen, gelt? Musizieren ist viel gemütlicher, als schreiben.«
Er trällerte leise.
»Die droße Deige!« sagte Werner, ließ die Katze los und seine Augen leuchteten vor Vergnügen. Das Geigen war seine Passion. Beim [181] Einschlafen und Aufwachen sprach er von der »droßen Deige« und bat die Mutter, ihn morgen wieder zu Eugen hinabgehen zu lassen, damit er auf der schönen »droßen Deige« spiele. Die Frau Postoffizial stimmte dem Wunsche ihres Lieblings zu: »Ei gewiß, morgen darf Werni wieder geigen und wenn er brav ist, bringt ihm das Christkind selbst noch eine Geige.« Morgen wahrte oft freilich eine ganze Woche, denn sie wußte, daß der Herr Kommerzienrat ihrem Kindersegen gram war und die Güte der Frau Kommerzienrat, von der sie schon so viele Beweise erhalten hatte, mochte sie nicht mißbrauchen. Raßlers Kinder, besonders Eugen und Franz, hatten den kleinen Werni oft heimlich, herabgeholt und ihn auf sein Leibplätzchen in der Ecke postiert. Da gab's Bilderbücher und Spielzeug in Hülle und Fülle, aber, seit er die »droße Deige« in die Hand bekommen, freute ihn die mehr, als alles übrige.
»Nein, jetzt wird nicht gegeigt, das stört uns!« rief Hermann vom Tisch herüber.
»Nur ganz leise,« meinte Franz und nahm die Geige aus dem Kasten. Werner wagte es nicht, das Instrument zu berühren; sein Herzchen pochte. Nun drückte ihm Franz den Bogen [182] in die Hand und blinzelte ihm ermutigend zu. Ganz sachte, mit zitterndem Bogen strich er über die Saiten der vor ihm auf dem Tische liegenden Geige. Bei dem kaum erklingenden, bebenden Ton seufzte der kleine Werner auf vor unfaßlicher Wonne. Sein bleiches Gesichtchen strahlte. Wie anbetend hingen seine Blicke an dem Instrument ...
»Mama, hör' nur, wie die uns wieder stören, Franz thut heute gar nicht gut,« beschwerte sich Hermann, als Frau Leopoldine unter der Thür erschien.
»Sie sind noch beschäftigt, Herr Schlichting?«
»Wir wollen nur einen Brief fertig machen, gnädige Frau.«
»Mama, schau was ich geschrieben habe!« fuhr Eugen auf und schwang stolz seine Schiefertafel. »Das schreib' ich dann auf einen schönen Briefbogen!«
»Wenn nur die mit dem dummen Gegeig' aufhörten, ich wäre schon fertig,« klagte Hermann wieder.
Franz machte mit der Hand eine unmutige Bewegung gegen Hermann. »Was nicht gar! Wir musizieren so anständig, Mama, daß man's [183] beinahe nicht hört – und das nennt der ein dummes Gegeig' – –!«
Ängstlich legte Werner den Fidelbogen weg und stützte seine Händchen aufs Knie. Sein Gesichtchen nahm wieder den scheuen, nachdenklichen Ausdruck an, das Grübchen im kleinen, runden Kinn zitterte.
Die Frau Kommerzienrat hob den kleinen Musikanten auf den Arm. Wie ein verschüchtertes Vögelein huschelte er sich an ihre Brust. Sie nahm die Geige dazu: »So, mein Kind, Du unschuldiger Störenfried, jetzt gehst Du mit der Geige heim und musizierst so viel Du willst. Morgen kommst Du wieder, ja?«
Mit offenem Munde sah Hermann seiner hinausschreitenden Mama nach. »Nein, ist das komisch,« bemerkte er kopfschüttelnd und schob Herrn Schlichting sein Schreibheft hin.
»Nimm wieder Platz, Franz, wir wollen nun hören, was jeder geschrieben hat. Hermann, wird uns zuerst vorlesen! Wozu ich bemerke, daß es niemals komisch ist, was immer eine Mutter thun oder sagen möge – verstanden, Hermann?«
Franz protestierte dagegen, daß Hermann zuerst vorlesen sollte. Wer zuerst fertig gewesen, [184] der habe auch das Recht zuerst gehört zu werden – und das sei er! Das Alter mache gar nichts aus, wenngleich Hermann immer so gewaltig thue, weil er fingerslang älter sei. Hermann möchte überhaupt schon den großen Herrn spielen und im Haus kommandieren!
»Der Klügere gibt nach,« maulte Hermann, fügte aber gleich herausfordernd hinzu: »Herr Schlichting, so befehlen Sie dem Franz, seine Schmiererei zuerst vorzulesen.«
»Oho, Schmiererei, da muß ich bitten!« rief dieser und stellte sich mit seinem Blatt in Positur, nachdem ihm Schlichtung mit stummem Nicken das Zeichen zum Anfang gegeben.
»Liebes Fräulein Flora! Ich will Ihnen ein paar Zeilen schreiben, weil heute Nachmittag Gottlob keine Schule und Herr Schlichting sehr gut ist. Ich thue den ganzen Tag nichts als in die Schule gehen, lernen, schreiben, essen, schlittenfahren. Schlittenfahren hat jetzt aufgehört, weil der Frühling angefangen hat. Geigen hat jetzt auch aufgehört, weil mein Lehrer Herr Kellermann einen bösen Arm bekommen hat. Das kann noch lange dauern. Ich mache mir nichts daraus. Neulich ist ein sehr schöner und lustiger Tag gewesen. Wir durften auf [185] den Maierhof gehen. Bis an die Eisengießerei sind wir gefahren. Wir hatten ein ländliches Mahl bei der Hofbäuerin, da gab es Bier, Brot, Käse und Butter, auch Milch, süße und saure, das schmeckte uns vortrefflich. Von der Hofbäuerin bekamen wir Haselnüsse mit nach Haus, und weil Eugen gar zu gern gelbe Rüben wollte, bekamen nur auch diese – –«
Hier unterbrach Eugen: »Weiße Rüben habe ich haben wollen, keine gelben.«
Franz: »Freilich, aber die gelben schmecken besser und Fräulein Flora mag auch die gelben lieber, als die weißen, darum habe ich gelbe Rüben geschrieben.«
Schlichting: »Das ist sehr liebenswürdig von Dir, daß Du auf den Geschmack von Fräulein Flora Rücksicht nimmst, allein Wahrhaftigkeit steht höher als Liebenswürdigkeit, mithin hat es bei den weißen Rüben zu verbleiben.«
Franz besann sich einen Augenblick, dann machte er einen dicken Strich durch den Satz. »Wenn es keine gelben Rüben sein sollen, lasse ich die Rüben überhaupt ganz weg.«
Schlichting: »Diese Wahl steht Dir frei. Weiter!«
[186] »Der Hermann ist halt wie zuvor, doch nicht mehr ganz so böse – –«
Hermann: »Da fehlt der Übergang von den Rüben zu mir. Was Du von mir sagst, ist mir gleichgültig.«
»Ich weiß keinen Übergang. Ich will nicht verraten, daß Du einige Rüben stibitzt hast und sie dem hochwürdigen Herrn Beichtvater in den Rock gesteckt.«
»Weiter!« mahnte Schlichting.
»Eugen ist recht brav. Er hat einen Schulsack von schwarzem Leder aus den Rücken bekommen. Der Herr Baron hat gesagt, er trägt ihn so stramm wie ein Soldat den Tornister –«
Schlichting: »Ich bitte, den Herrn Baron zu streichen; Fräulein Flora interessiert sich nicht für ihn und für das, was er gesagt hat.«
»Woher wissen Sie das?« fragte Hermann und blickte den Hauslehrer scharf an.
»Woher ich das weiß? Was kümmert Dich das? Ich rate, den Herrn Baron aus dem Spiele zu lassen; er gehört nicht in den Brief.«
»Dann muß ich ihn gleichfalls streichen? In meinem Brief steht er auch.«
[187] »Du thust mir einen Gefallen. Weiter, Franz!«
»Von Postoffizials Fanni habe ich ein schönes Einmerkerl bekommen, worauf steht: ›Aus Liebe‹ und mein Name. Es ist sehr fein gestickt, rosa und grün.«
Eugen, der mit gespanntester Aufmerksamkeit zuhörte, bemerkte hier: »O, die Fanni ist gut, sie hat mir zwei Kartennetze und einen Bilderbogen geschenkt. Soll ich das dem Fräulein nicht auch schreiben?«
»Natürlich schreiben wir das dem Fräulein auch.«
Worauf Hermann: »Damit sie sich ein Beispiel daran nimmt und Dir aus Italien auch etwas schickt. Eigentlich ist es sonderbar, daß sie uns erst zweimal geschrieben und noch gar nichts geschickt hat, außer ein bischen Lavasand vom Vesuv neulich. Neujahr wäre doch eine schöne Gelegenheit gewesen, nicht wahr, Herr Schlichting?«
»O, die bringt es selber mit. In Italien wird das Schicken recht schwer sein,« beruhigte Franz. »Wartet nur, bis sie wieder kommt. Fräulein Flora kommt gewiß nicht mit leeren Händen; ich wette, sie bringt etwas mit.«
[188] »Das wollen wir hoffen,« schnitt Schlichting weitere Abschweife ab. »Und nun komm' rasch zu Ende, Franz.«
»Unsere Gusti hat von Mama zu ihrem Namenstage eine Kapuze bekommen, wie die Ihrige, aber anders, Mutter und Vater sind wie sonst, nur der Vater ist noch dicker geworden – –«
»Unsinn!« rief Hermann dazwischen.
– – »dicker geworden und die Mama ist manchmal traurig.«
»Das läßt Du besser weg, Franz,« bemerkte Schlichting.
Franz schüttelte den Kopf: »Die Rüben bleiben weg, Vater und Mutter bleiben auch weg, da bleibt nicht mehr viel übrig.«
»Was hast Du sonst noch geschrieben?« fragte Schlichting den nachdenklich gewordenen Knaben.
»Ich habe geschrieben, daß wir Zeitlang nach dem Fräulein haben und daß wir uns freuen, wenn wir sie bald wieder sehen –«
»Das ist brav, Franz. Nun schreibst Du noch dazu: Auch Herr Schlichting wird sich von Herzen freuen, Fräulein Flora einmal zu sehen, am liebsten würde er zu ihr nach dem schönen [189] Italien reisen, aber er hat jetzt keine Zeit und kein Geld, eine so weite Reise zu machen. Und dann viele Grüße von ihm und von uns allen. So, mach' das noch. Der Brief ist ganz nett und wird sie freuen.«
»Warum schreiben Sie nicht selbst an Fräulein Flora, Herr Schlichting?« fragte Hermann.
»Das heb' ich mir für später auf. Jetzt genügt es, daß Ihr schreibt. Sie hat ja auch nur an Euch geschrieben, nicht an mich.«
»Also, nun komm' ich an die Reihe!«
Die Frau Kommerzienrat öffnete die Thür: »Auf ein Wort, bester Herr Schlichting, verzeihen Sie die vielfache Störung!«
Das war wieder der tiefe Seelenlaut, der ihm zu Herzen ging wie der Notschrei am unvergeßlichen Abend; wieder begleitet von einem Blick und einer Bewegung, welche die schmerzlichste Überraschung erwarten ließen.
»Tat-twam asi!« Warum kam ihm das so plötzlich wieder in den Sinn wie ein Ton, der unvermutet im Ohr anklingend, ein ganzes schluchzendes Miserere weckt?
»Legt die Briefe in die Mappe, Kinder, bis zur nächsten Stunde. Adieu!«
[190] Schlichting folgte der erregten Frau ins Vorzimmer.
»Aller Selbstbeherrschung zum Trotz, ich kann nicht mehr zur Ruhe kommen, Herr Schlichtung. Es ist wie ein schrecklicher Wirbeltanz, in den ich immer wieder hineingerissen werde. Soeben erzählte mir die Frau Postoffizial, sie habe von einer Bekannten gehört, im Hause des Preßbanditen habe es einen großen Skandal gegeben, der Preßbandit sei in seiner Stube überfallen und fürchterlich zugerichtet worden. Zu gleicher Zeit habe man Sie aus dem Hause gehen sehen. Man bringe mich und Sie mit dem Überfall in Zusammenhang; Sie hätten in meinem Auftrag den Menschen halb todtgeschlagen.«
»Ja, hätte ich das nur!« lächelte Schlichting bitter. »Es wäre gewiß uns beiden wohler. Leider ist mir das nicht geglückt. Beruhigen Sie sich, gnädige Frau. Hat es ein Anderer besorgt, Gott segne ihn! Ich weiß von nichts.«
»Wer könnte dieser Andere sein? Der Herr Baron? Ich wag' es nicht zu denken. Wenn ich es auch seinem leidenschaftlichen Ungestüm zutraute, so wäre es doch noch mehr zu beklagen, denn es verschlimmerte die Sache heillos, [191] würde ich mit ihm im Zusammenhange des Attentates genannt. Hat er sich vielleicht gerade darum zurückgezogen, um diesen Plan auszuführen und mich an den Banditen zu rächen? Rätsel über Rätsel! Wie kann ich da Ruhe finden?«
»Was auch geschehen sein möge, gnädige Frau, direkt haben wir beide nichts damit zu schaffen. Ich erinnere Sie an Ihr Wort von vorhin: Mag werden, was da will ... Beruhigen Sie sich, wir sind ohne Schuld. Ich denke, wir können den Dingen ihren Lauf lassen und abwarten.«
Gusti kam herein: »Gnädige Frau, die Dame mit dem Tituskopf ist wieder in München; sie ließ vorhin ihre Karte abgeben.«
»Sie haben Recht, Herr Schlichting,« sprach Frau Raßler lauter und mit Betonung: »Wie immer haben Sie Recht; ich danke Ihnen.« Indem sie ihm die Hand reichte: »Also bis zur nächsten Stunde! Leben Sie wohl!«
Sich an die im Hintergrunde wartende und beobachtende Gusti wendend: »Für die Dame mit dem Tituskopf bin ich niemals zu Hause.«
Bertha Hohenauer war gemeint.
[192] Gusti stutzte. »Jawohl, gnädige Frau.« Und für sich: »Das heißt Fraktur gesprochen. Was nur da wieder dahinter stecken mag!«
Vor wenigen Tagen erst war Bertha von einem längeren romantischen Aufenthalt in Berlin zurückgekehrt. Sie wollte sich ganz stille in München wieder einrichten. Wie sie die Stille verstand, zeigte das Inserat, das sie am zweiten Tag in die Neuesten Nachrichten einrücken ließ: »Amusement. Feine Dame sucht Herrn zum Vierhändigspielen u.s.w. Exp. Nr. 169015.«
Schlichtung ging nach Haidhausen hinüber, wo er mit dem Bildhauer Achthuber im Hofbräuhans-Keller zum Abendbrod zusammentreffen wollte. Der Gedanke gewährte ihm einige Befriedigung, daß der Auswürfling von einem Preßbanditen den Rechten gefunden habe. So rächt sich früher oder später jede Schuld. Doch gelüstete ihm jetzt nicht, Näheres zu erfahren. Achthuber erschien nicht. Nach einem appetitlos verzehrten Imbiß ging er in die Gasteig-Anlagen. Sein Kopf schmerzte ihn. Er ließ sich auf einer einsamen Bank unter einer Gruppe, von jungen Eichen nieder. War er eingeschlummert in der Stille der Dämmerung? Als er sich erhob, war es später Abend geworden. [193] Millionen Lichter funkelten vom Himmel hernieder. Aus dem Thal rauschte die Isar herauf. Fröstelnd trat er den Heimweg an.
Als er hinter der Grütznervilla den Hügel hinab wollte, rief ihn eine Gestalt an, die auf der dortigen Bank kauerte. Er trat näher. Es war ein altes, zerlumptes Weib, mit einer weißen Binde mitten im Gesicht und einem Korb auf dem Schoß.
»Was wollt Ihr von mir?«
»Hihihi, schöner Herr, ein Bettelweib, das läßt man hocken, da geht man vorüber. Wär' ich noch jung und sauber, ging zu dieser Stunde kein Mannsbild gleichgültig an mir vorbei. Ich hab's erfahren. Da gab's Blicke und Worte und Anträge, nicht wahr, schöner Herr? Eine alte Hexe freilich, hihihi, da drückt man sich. Die kann der Teufel holen.«
»Was fehlt Euch, Frau?«
»Hihihi, die Nase fehlt mir. Oder sie fehlt mir auch nicht. Ich hab' sie nur am unrechten Platz. Ich hab' sie hier im Korb.«
Sie nahm ein Papierpäckchen heraus, wickelte es auseinander und hielt Schlichting ein unförmliches, blutiges Stückchen Fleisch hin.
[194] »Sehen Sie nur her, schöner Herr, das ist eine Nase, war eine Nase, eine feine Nase, aber sie hatte den Krebs, und heute hat man sie mir im Haidhauser Spital aus dem Gesicht geschnitten. Hihihi!«
Entsetzt wandte sich Schlichting ab. Das war zu grauenhaft ... Er lief den Weg zurück ... Immer mehr Sterne beschienen den nächtigen Pfad – und der nasenlose Mond ...
Sollte er den leuchtenden Welten da droben einen Gruß hinaufsenden, er, der Einsame, der Leidende, der Zeuge so vieler Scheußlichkeiten? Was wußten sie von Menschenleid! An dieser Stelle war es, wo er neulich von der Brücke aus das glänzende Meteor gesehen, einen Boten himmlischen Lichtes in tiefdunkler Nacht. Wie anders würde er's heute deuten! Ein kurzes Aufflackern. Glühen und Leuchten, ein Freuden-oder Weheschrei ist alles Dasein. Dann wieder Nacht und Schweigen und ewiges Vergessen. Das ist die Deutung unseres Loses. Tat-twam asi. Es ist nichts. Und wie er milden Fußes über dir Maximiliansbrücke ging, klangen ihm zum Rauschen der Isar die Worte des persischen Dichters in die traurige Seele:
[195]Ist einer Welt Besitz für dich zerronnen,
Sei nicht in Leid darüber: es ist nichts!
Und hast du einer Welt Besitz gewonnen,
Sei nicht erfreut darüber: es ist nichts!
Vorüber geh'n die Schmerzen wie die Wonnen,
Geh' an der Zeit vorüber: es ist nichts!
Ein unsagbares Grauen vor allem Menschlichen, wie er's nie gefühlt, hatte ihn erfaßt. Die abgeschnittene Nase der verrückten Vettel ... Ja, es ist ein elend, jämmerlich Ding um alles Lebendige ... Er bog rechts in die Mühlgasse ein. Wie die wie wahnsinnig arbeitende Hofsägemühle mit ihrem kreischenden, schneidenden Pschßpschß ihm die Ohren zerriß und durch Mark und Bein ging! Früher hatte er dieses höllische Sägen und Schneiden kaum wahrgenommen. Alles bereitete ihm jetzt Schmerz. Er eilte heimzukommen in seine stille, dunkle Kammer ...
Kommerzienrat Raßler hatte heute länger als gewöhnlich sich in die Lektüre der Zeitungen vertieft. Die Artikel »Zur Sanierung der königlichen Kabinetskasse«, die sich nun schon seit Wochen bandwurmartig durch die Neuesten Nachrichten wanden, hatte er seither kaum beachtet. »Das ist Kurpfuscherei,« sagte er; »auch ist die [196] Kassa gar nicht krank, ganz wo anders sitzt das Übel und zwar an einer Stelle, wo überhaupt kein Arzt hinkommen kann. Die Kasse hat ein böses Loch, das ist wahr, aber das verstopft man nicht mit Zeitungspapier. Das geht bloß das königliche Haus an und da hat sich kein Unberufener einzudrängen. Das sind Familienangelegenheiten, die nicht in die Öffentlichkeit gehören; die Prinzen werden schon wissen, was sie zu thun haben. Sie sollen's nur machen, wie ich's mit meinem Neffen gemacht habe. Aber freilich, Unzukömmlichkeiten sind da nicht zu vermeiden. Man muß keck zugreifen.«
Nachdem jedoch auch die Berliner und Frankfurter Blätter Betrachtungen über die bayerische, Kabinetskasse anstellten und lange Auszuge mit allerhand Glossen aus den Sanierungsartikeln brachten, faßte der Kommerzienrat die Sache schärfer ins Auge; heute zum erstenmal hat er einen solchen Artikel ganz gelesen und sich bemüht, seinen Inhalt zu durchdringen. Er glaubte das seiner Stellung als Münchener Finanzgröße schuldig zu sein.
»Eine verwickelte Geschichte. Der König baute eben, wie er aus Geschäft kam, meinen alten Biswanger haben sollen. So ein junger [197] Monarch ohne volkswirtschaftliche Erfahrungen und Kenntnisse und den Kopf voll Wagelaweia ... ein kompletter Phantasiemensch ...«
Er griff nach einem anderen Blatt.
»Nein, jetzt wächst mir die Volkswirtschaft selber zum Hals heraus. Wie diese armen Schlucker von Zeitungsschreibern mit ihrer Finanz-Gescheidigkeit sich aufspielen, übersteigt alle Begriffe. Das ist heute nun schon der dritte Artikel über das Thema ›mobiles Kapital und Grundbesitz‹ ... Ich wette, daß der Schreiber weder Kapitalist noch Grundbesitzer ist, also gar keinen Dunst von der Sache hat. Wer etwas hat, der hält's zusammen und macht keine Redensarten, und wer nichts hat, der schaue, daß er etwas bekomme, inzwischen kann er mir mit seiner Weisheit gewogen bleiben. Übrigens lese ich da doch einen guten Satz: ›Einstweilen ist die übliche Schimpferei auf die Kuponsabschneider und die Rentenbesitzer, welche angeblich vom Schweiße der ehrlichen Arbeit leben, geradezu eine Lächerlichkeit.‹ Natürlich ist sie das. Das habe ich meinen Leuten immer gesagt, wenn sie mir mit ihren sozialdemokratischen Flausen gekommen sind. Der Eine muß im Schweiße seines Angesichtes seine Renten erarbeiten, der Andere [198] muß im Schweiße seines Angesichts seine Renten verzehren. Ich sehe da keinen so großen Unterschied ... Hier schon wieder ein Wischiwaschi-Artikel: ›Die volkswirtschaftliche Mitleidenschaft des Rentenkapitals.‹ Das ist der Zeitungsgenuß in einer Kunststadt! Als ob sich die Kerls das Wort gegeben hätten, von nichts anderem zu schreiben, damit ja diese Dinge dem unzufriedenen Volk immer im Kopf herumgehen, bis sie an gar nichts anderes mehr denken und die rote Drehkrankheit kriegen und ihr bischen Verstand vollends verlieren. Alle besseren Empfindungen sterben ab, wenn die Menschen immer an den Geldsack denken. Wo will denn das noch hinaus? Wer keine Kinder hat, dem kann, schließlich die ganze Lumpenkomödie Wurst sein, wenn doch einer den andern auffrißt – wer aber Kinder hat, der besinnt sich, solche brennende Fragen ins Volk zu schlendern, die niemals gelöst werden können, so lange der Menschheit Besitz und Eigentum noch heilig sind. Wer an das Gut meiner Kinder tastet, Kapital, Fabrik, Grundbesitz, den schlag' ich nieder: das ist meine Sozialpolitik ... Hier ein Artikel über ›Das Wohnungselend der arbeitenden Klassen‹. Den les' ich nicht. Schade für die Druckerschwärze. [199] Jeder wohnt halt so gut oder schlecht als es seine Verhältnisse erlauben. Daran ändert keine Salbaderei etwas. Nach der Bibel hatte Jesus Christus nichts, wo er sein Haupt hinlegte. Und er war Gottes Sohn! Wir sind nur armselige, Menschen. Gottes Sohn war eigentlich obdachlos und wenn er heutzutage und in Bayern lebte, wäre er in schöner Verlegenheit, wenn ihn ein Gendarm nach seinem Unterstand und seinen Existenzmitteln fragte. Dagegen bewohnt sein dermaliger Stellvertreter auf Erden, der Papst in Rom, einen Palast, der elftausend Wohngemächer enthält, und erfreut sich einer Jahreseinnahme von mehreren Millionen. Man spricht jetzt wieder so viel von praktischem Christentum. Ich sehe aber nicht, daß es die Wortführer desselben anders als wir treiben. Also möge man uns in Ruhe lassen.«
In einem andern Blatte fand er einen Aufsatz »Volkswirtschaft und Schule.« Der kam ihm über alle Maßen lächerlich vor. »Also die Schulkinder möchten's auch schon mit ihren Theorieen verhetzen. Großartiger Fortschritt! Wenn jetzt zum Beispiel der Schlichting da hinten, ein gutmütiger und gelehrter Bursch, der [200] keinen roten Heller von Haus aus hat, meinen drei Söhnen seine Volkswirtschaft auskramen wollte! Das wär' ja so dumm, daß eine alte Kuh den Lachkrampf kriegen mußte. Solchen Schulmeistern wollt' ich aber heimleuchten. Ei, da kommt ja eine Musterlektion, die muß ich des Spaßes halber doch lesen. Hören wir!«
Raßler pflegte Geschriebenes oder Gedrucktes, das er rasch seinem Verständnis näher bringen wollte, sich halblaut vorzulesen, um mittelst des Ohres sich die Auffassung zu erleichtern. In eintönig singender Weise las er folgendes:
»Für wenige hundert Mark erwirbt jemand eine Bodenfläche, abseits gelegen und wenig fruchtbar, ohne sonderlichen Wert für irgend einen Zweck. Einige Zeit später wird durch Neuanlage einer Straße, einer Eisenbahn, eines Kanals jene Gegend dem Verkehr erschlossen. Die Stadt dehnt sich nach jener Richtung hin aus und der Wert des Grundstücks wächst mit jedem Jahre. Bald ist die jüngst noch wertlose Fläche ein vielbegehrter Baugrund und der Eigentümer erhält für eine Quadratrute einen höheren Preis als ihn einst der ganze Morgen gekostet. Der Grundwert ist hier in wenigen Jahren verzehnfacht, vielleicht verhundertfacht. [201] Und was hat der Eigentümer für ein Verdienst um diese beträchtliche Erhöhung seines Kapitals? Gar keins. Er hat nicht durch Arbeit oder sonst welche Aufwendung den Wert seines Eigentums erhöht; ohne sein Zuthun ist dies geschehen. Durch wessen Verdienst? Durch das Verdienst der Gesamtheit – des Staates, der Gemeinde. Nur durch die gemeinsame Unternehmung, durch die Schaffung von Verkehrswegen und Verbesserung der Verkehrsmittel auf gemeinsame Kosten, durch Erhöhung des Kulturzustandes unter allgemeiner Mitwirkung, kommt die Werterhöhung des Grundbesitzes zu stande. Es wäre nun recht und billig, wenn der erhöhte Wert auch von der Gesamtheit in Anspruch genommen würde. Jetzt macht thatsächlich die Gesamtheit in solchen Fällen dem Einzelnen ein Geschenk, das er nicht verdient; ja sie macht sich sogar noch zum Schuldner des Beschenkten, denn dieser fordert für den erhöhten Wert seines Eigentums einen erhöhten Zins. Die Mieter auf dem im Werte gesteigerten Grundstück müssen dem Eigentümer das hohe Kapital verzinsen, das ihm dieGesamtheit erst geschenkt hat ...«
Nachdem er tief Atem geholt, ein Glas Kognak getrunken und sich eine feine Havanna [202] angesteckt, sagte er, sich spöttisch die Glatze reibend: »Mein lieber Herr Kommerzienrat, folglich bist du ein Gauner, wenn du in Isarufergründen spekulierst und das miserable Erdreich draußen an der Auenstraße und am Scheyernplatz aufkaufst, um es eines Tages wieder mit Profit als Bauplatz loszuschlagen oder selbst zu bebauen! Solchen Unsinn muß man sich in unserer aufgeklärten Zeit bieten lassen. Die Unternehmungslust wird zum Verbrechen gestempelt, die kapitalistische Entwickelung wird gebrandmarkt! Da muß ich schließlich noch den Konsul Schmerold aus Moralität zum Haus hinauswerfen, wenn er mich zu größerer Rührigkeit in der Ausnützung meiner kapitalistischen Stellung freundnachbarlich antreibt ... Wär' ich noch um zwanzig Jahre jünger, ich wollte ganz anders ausgreifen. Mit dem Schmerold zusammen würde ich das ganze Isargebiet aufkaufen, ohne erst die Zeitungsschreiber zu fragen. Und was wäre erst mit der Kunst zu machen, die ohnehin auf Privatunternehmungsgeist angewiesen ist: den ganzen Münchener Kunstbetrieb könnte man auf Aktien gründen wie die Vierbrauerei ... Ach was, fort mit diesen blödsinnigen Blättern!«
[203] Er nahm jetzt die Briefe zur Hand. »Schöner Zufall, da ist gleich eine Zuschrift von Schmerold. Was sagt Biswanger dazu? ›Schmerold hat Recht, das Kapital der Münchener Lokalbahn-Aktiengesellschaft muß um die vorgeschlagene Summe erhöht werden, nur durch Vermehrung der Mittel kann so gearbeitet werden, wie es für das Unternehmen von Vorteil ist.‹ Brav, Biswanger, du wirst in deinen alten Tagen doch noch ein schneidiger Spekulant. Hätt' ich mir nicht gedacht. Weiter: ›Wegen der Isarthalbahn Unterredung mit dem Minister gepflogen; sehr günstige Stimmung für Privatausführung mit eventuellem Staatszuschuß. Aber keine Zeit zu verlieren, da der Bankier Weiler die größten Anstrengungen macht, eine Gruppe von Finanzleuten für das Projekt zu interessieren, sich an die Spitze zu stellen und alles was mit der baulichen und verkehrsmäßigen Umgestaltung des Isarthals zusammenhängt, an sich zu reißen. Besagter Weiler ist überhaupt in Beobachtung zu nehmen: auch auf dem Gebiete der Bräuerei-Spekulation trägt er sich mit Plänen, welche im Interesse des Münchener Vierexports schleunigst durchkreuzt werden müssen.‹ Nur durchkreuzt? Dieser Schuft muß endlich am hiesigen [204] Platze vollständig unmöglich gemacht werden. Ich könnte mir ja alle Haare ausraufen, daß ich früher dieser Filzlaus geholfen habe, sich immer tiefer hier einzufressen mit Filialen in allen Spelunkengassen. Wenn ich denke, wie bescheiden der alte Weiler angetreten ist ... die kleine Wechselstube am Dracheneck des Marienplatzes, bei der alten Hauptwache ... Aber an der Offiziers- und Beamtenkundschaft hat er sich frech gemästet ... Ganze Offiziersheiratsgüter hat er verschluckt ... Weiter: ›Die bayerische Brauindustrie hat zweifellos ihren Höhepunkt erreicht; es liegt im Interesse der Aktionäre – –‹«
»Verzeihung, Herr Kommerzienrat, ich habe zweimal vergeblich angeklopft; der Wagen ist vorgefahren,« meldete der Diener.
»Ich fahre nicht. Ich habe noch zu viel zu thun. Fragen Sie in einer halben Stunde nach meinen Befehlen.«
»Zu dienen, Herr Kommerzienrat.«
Dieser für sich: »Ich habe schon lange nicht mehr mit so viel Vergnügen gearbeitet. Wenn mich jetzt Leo sähe, wie ich in meinem Element bin! Das wäre mein Ehrgeiz: sie müßte mich noch in das Gesicht ihres Barons hinein bewundern. [205] Was der alles mit Redensarten zusammenwurstelt – und wo man ihn anfaßt, da hat er nichts, und wo er hingreift, da findet er nichts. Es scheint, Leo hat ihn selber satt. Seit dem Karneval kommt er seltner ins Haus. Ich mein' fast, er weicht mir aus. Auf dem Faschingsball wollten mich die Esel mit ihm auf ziehen, dann schickten sie mir anonyme Briefe. Jawohl, der Kommerzienrat Raßler wird so dumm sein, auf euere Sticheleien und Angebereien 'reinzufallen! Daß ihn Leo gern gesehen hat, daß seine Suada ihr Ohr kitzelte, das macht mich noch lange nicht bedenklich. Ich kenne Leo; ich kenne auch diese Sorte von Süßholzrasplern. Der Rasp, die ser lächerliche Börsianer, und der Parklas, diese hölzerne Zählmaschine, und zum Schluß dieser Drillinger, der alle Vierteljahr einen andern Beruf verfehlte! Ja, diese eleganten Kurmacher – die sind akkurat wie die Zeitungsschreiber: ihre Hauptstärke ist das große Maul. Damit wollen sie Berge versetzen. Herrgott, beinah' möcht' ich einen Witz machen. Aber das Geschäft ruft. Wo bin ich stehen geblieben? Ah so, da: ›es liegt im Interesse der Aktionäre, nicht nur die Produktionssteigerung nicht höher zu treiben, sondern auch der Finanziierung [206] auswärtiger Brauereigeschäfte auf dem hiesigen Markte entgegenzuarbeiten. Nach letzter Richtung müssen dem Weiler die Hände gebunden werden. Er will uns mit einer österreichischen Brauerei auf den Buckel steigen und sucht überall nach kapitalkräftigen Dummköpfen, die ihm die Leiter halten sollen. Details nächstens. Übrigens soll er sich tief mit der Diskonto-Gesellschaft eingelassen haben, deren Wirtschaften mit den gewagtesten, ja, zweifellos unerlaubten Mitteln im finanziellen Verkehr einen baldigen Zusammenbruch wahrscheinlich macht.‹ Gott gebe, daß er dabei den Hals bricht. Wie unsinnig hat mich der Kerl damals mit seinen faulen Aktien beschwindelt! ... Lieber Nachbar Schmerold, du kannst auf mich rechnen ... Jetzt wär' mir aber eine kleine Erholung doch willkommen ...«
Gähnend öffnete er einen anderen Brief.
»Aus der ›Hölle!‹ Ja, das ist noch eine lustige altmünchnerische Gesellschaft und eine vornehme obendrein. Das verdank' ich meinem Kunstmäzenatentum, daß die Herren bei feierlichen Veranlassungen mich niemals übersehen. Was ist's diesmal? Eine Einladung zum Frühlings Diner, oder wie sie es nennen: zum [207] ›Höllenfraß‹! Nun ja, da hab' ich ja gleich meine Erholung – leider nur in Gedanken einstweilen. Hier das Menn in ihrer Geheimsprache:
Höllenfraß.
Teufelsbrühe.
Kleine Drachen mit Nachtschatten-Knollen
Hexenlenden mit Zubehör.
Pech und Schwefel.
Mephistoschweif mit feurigen Kohlen
Lasciate ogni Speranza-Pudding.
Großmutterkäse.
Früh-Obst aus Sodom und Gomorrah.
Gesöffe:
Satansblut M. 2. –
Grüneberger Auslese M. 2. –
Fünfmalhundertausend Teufel-Wein M. 5. –
Ditto M. 10.50.
Das verspricht einen höllisch fidelen Abend. Schade, daß man keine Satansweiber einführen darf. Da würde mein Leo Augen machen, wenn ich sie mit mir in diese Unterwelt schleppte ... Aber so gut geht mir's auf keinen Fall mehr in diesem Leben – Leo's Sinn ist nicht mehr umzustimmen; alles Gesellschaftliche ist ihr verhaßt. Wie einsiedlerisch hat sie mich gemacht! Oft kenn' ich mich selbst nicht mehr ... Das lustige Vereinsleben in meiner Jugend ...«
[208] Er saß einen Augenblick nachdenklich und seufzte. Der rot und schwarz gedrückte, mit allerlei Teufeleien zeichnerisch verschnörkelte Höllenspeisezettel zitterte in seiner Hand.
»Und nun rasch den Rest der Korrespondenz erledigt, damit ich endlich an die Luft komme,« fuhr er ärgerlich auf ... »Eine umfangreiche Denkschrift über die Bebauung der Isarufer, Ausbau der Quaistraße vom Lehel bis zu den Isarauen u.s.w. von einem gewissen Joseph Zwerger, begutachtet vom Architekten-und Ingenieurverein. Das soll ich doch nicht lesen? Nein, lieber Schmerold, das hättest du behalten können. Und was sagt mein Biswanger dazu? ›Verfrüht, kann erst in Erwägung gezogen werden, wenn der geschäftliche Teil erledigt ist; überdies scheinen Zwergers Pläne für Münchener Verhältnisse viel zu großartig und zu spezifisch künstlerisch. Wir müssen erst Praktiker von bewährtem Rufe hören, bevor wir mit Künstlern und Theoretikern ohne Namen uns einlassen.‹ Ich begreife den Schmerold nicht, daß er mir so etwas schickt ... Wir wollen doch nicht bauen, um den Künstlern einen Spaß zu machen? Was architektonische Phantasieen losten, das zeigt uns das Beispiel des Königs. [209] Das kleine Stückchen Quaistraße, das wir jetzt haben, ist doch wahrhaftig nicht übel. Wenn wir so fort bauen, wird die neue Isarstadt schön genug und wir kommen auf unsere Rente ...« Ein anderes Schreiben überfliegend: »Hab' ich's nicht gesagt, die Zeitungsschreiberei ist nur Wasser auf die Mühle der Sozialdemokraten? Jetzt marschiert das Lehel bereits gegen die Quaistraße an und verlangt Paläste für die Arbeiter! Dieses Schriftstück sollte ich eigentlich dem Xaver Schwarz, dem ewigen Vorstande des Hausbesitzervereins, vorlegen, der während der Gemeinde-und Landtagswahlzeit nicht müde geworden ist, als frommer Ultramontaner ein sozialistisches Mäntelchen umzuhängen, und den Noten um den Bart zu gehen. Jetzt sitzt er in der Kammer und im Reichstag und dünkt sich wunder was. Schwarz heißt er und schwarz ist er wie ein Schlotfeger – und er segt und scharrt auch fleißig, für seinen Sack wenigstens. Warum wenden sich die roten Lehelbrüder nicht an dieses Volksvertretungsmuster? Was wollen sie von mir, der ich weder Stadtvater noch Land- und Reichsbote bin, sondern einfacher Geschäftsmann? Meinen diese roten Lehelbrüder, in meinen [210] Geschaftsbüchern hätte ich eine Rubrik für ihre Wünsche und Hirngespinnste? Warum belästigen sie mich, da ich niemals etwas mit ihnen zu schaffen hatte? Und dieses Zeug soll ich lesen?«
Er wog den dicken Brief, aus dem er flüchtig einige Stichproben gelesen, in der Hand.
»Wie unverschämt diese Leute gleich ins Zeug gehen! ›Unser Volksverein hat vernommen, daß nächstens der Ausbau der Quaistraße, d.h. die vollständige Umgestaltung und Neubebauung des linken Isarufers in München, in großem Stile durchgeführt werden soll; das halbe Lehel, die Ländstraße, die Wasser-und Auenstraße werden diesem Plane zum Opfer fallen. Hunderte von armen Familien, die seit undenklichen Zeiten still und zufrieden da gewohnt, werden von den, Isarufern vertrieben oder in ungesunde Kellerwohnungen oder in entlegenere Pesthöhlen des Proletariats gedrängt werden. Der Grund und Boden, an den uns so viele Familienerinnerungen knüpfen, der uns gewissermaßen heilig ist, wird uns von der Bauspekulation entrissen, um ihn mit glänzenden Straßen, mit Villen und Zinspalästen zu bedecken. Uns einen Ersatz dafür zu bieten durch die Anlage von gesunden und billigen Arbeiterwohnungen in nicht zu großer[211] Entfernung von dem Weichbilde der Stadt und dem uns liebgewordenen Flusse, daran scheint keiner der Herren Spekulanten, die doch auch unsere Mitbürger sind, zu denken. Dabei wäre ja wenig oder nichts zu verdienen! Das Gesindel mag zusehen, wo es in Zukunft Obdach findet! Es kann ja in irgend einer Arbeiterkaserne Unterschlupf suchen! Luxuriöse Herrschaftswohnungen herzustellen, das verspricht diesen Herren vom Raubbauwesen ein besseres Geschäft, als das Erbauen von zweckmäßigen Wohnungen für Arbeiter, kleine Beamte und andere Angehörige unserer Weißen Kultursklaverei. Was brauchen diese armen Schlucker überhaupt zu wohnen und Familienwohnungsbedürfnisse zu entwickeln? Es ist auch weit sicherer und angenehmer, eine Wohnung um 1200 Mark zu vermieten an eine sogenannte seine Partei, als drei Wohnungen zu 400 Mark an Leute, die es trotz aller Anstrengung nicht weiter bringen, als von der Hand in den Mund zu leben. Dies ist der Standpunkt des Münchener Hausbesitzervereins, der natürlich nicht müde werden wird, die Bebauung der Isarufer so zu beeinflussen, wie es in seinen Interessenkram paßt. Die Vertreter von Gemeinde und [212] Staat kümmern sich ja nicht um die soziale Seite der Bausachen. Daß bei dieser Wohnungsfrage hohe sittliche Güter des Volkes auf dem Spiele stehen, kommt keinem dieser Herren in den Sinn. Die Macht des Kapitals rechnet nicht mit sittlichen Werten. Trotzdem wagen wir's unsere Stimme zu erheben ...‹ Wagt es immerhin, ihr Krakehler vom Volksverein im Lehel ... Was geht denn mich diese ganze Geschichte an? Sehe ich denn aus wie einer, der die Rolle eines Wortführers für die sozialdemokratischen Wühlhuber spielen und ihre umstürzlerischen Bestrebungen bei der Münchener Finanzwelt vertreten möchte? Oder soll ich Baugesellschaften für Arbeiterpaläste gründen, wo sich die armen Teufel einnisten und ihren Mietzins schuldig bleiben können? Es ist unglaublich, was sich diese Leute für freche Abgeschmacktheiten in den Kopf setzen. Sind das Zustände: auf der einen Seite wird man von den Künstlern und Architekten mit der Forderung belästigt, möglichst großartig und kostspielig zu bauen und die Millionen nur so auszustreuen, auf der andern Seite wird man von den roten Arbeitern ermahnt, in erster Linie auf ihre Bequemlichkeit [213] zu denken ...! Da soll man nicht wild werden.«
Eben wollte Raßler dem Diener klingeln, als dieser schon hereinkam und meldete, daß ein Herr Pfaffenzeller den Herrn Kommerzienrat zu sprechen wünsche.
»Nichts da, jetzt wird ausgefahren. Pfaffenzeller? Den kenn' ich gar nicht. Er soll in die Fabrik kommen, wenn er Geschäftliches vorzutragen hat.«
»Der Mann kommt von der Fabrik. Er bittet dringend. Er will sich nicht abweisen lassen.«
»Er will nicht? Den Menschen möcht' ich mir doch ansehen, der nicht will, wenn ich will. Ich bin nicht da, verstanden?«
»Doch, Sie sind da, Herr Kommerzienrat,« sprach mit wohlklingender Stimme ein junger Mann, dessen intelligentes Gesicht schmerzliche Entschlossenheit ausdrückte. Sein Anzug wie sein Auftreten verrieten den gebildeten, selbstbewußten Arbeiter. »Ich muß Sie sprechen, denn mir ist Unrecht geschehen.«
»Hier ist kein Gerichtshof!«
»Verzeihung, Herr Kommerzienrat, in meinem Falle doch. Mein Name ist Pfaffenzeller. Auf [214] die Empfehlung des Herrn Baron v. Drillinger habe ich vor kurzem Stellung in Ihrer Fabrik gefunden – und heute Vormittag hat mich Ihr Verwalter Nordhäuser kurzer Hand entlassen, ohne daß ich mir etwas im Geschäft hätte zu Schulden kommen lassen.«
»So? Davon weiß ich nichts. Es geht mich auch eigentlich nichts an. Aber wenn Sie von Drillinger empfohlen worden sind, so kann ich einmal eine Ausnahme machen und Ihre Geschichte anhören. Erzählen Sie!«
Während sich der Kommerzienrat in seinem Amerikaner wiegte, erzählte der junge Mann: »Infolge eines Antrittes mit dem Direktor des Kohlenwerks in Penzberg und weil ich dort schon lange gern weggegangen wäre, kündigte ich und ging nach München. Hier hatte ich das Glück, durch die Empfehlung des Herrn Baron v. Drillinger einen passenden Posten in Ihrem Geschäfte zu finden. Am ersten dieses Monats trat ich ein, Bezahlung und Arbeit gefiel mir, nur mußte ich eine Erklärung unterschreiben, von der mir vorher nichts gesagt worden war, nach welcher ich bis zur weiteren Regelung des Verhältnisses sofort entlassen werden konnte ... [215] Ich habe die Handelsschule und das Polytechnikum besucht, Herr Kommerzienrat ...«
»Das geht mich nichts an, bleiben Sie bei der Sache! Der Arbeiter ist für mich nur Arbeiter, so lange er mein Brot ißt, und nicht Privatmann, studiert oder unstudiert.«
»Wie es Ihnen beliebt, Herr Kommerzienrat. Also ich unterschrieb die Erklärung, weil ich sah, daß andere Neueintretende sie gleichfalls unterschreiben mußten. Heute Vormittag nun kam Ihr Herr Verwalter auf mich zu und zeigte mir an, daß ich sofort entlassen sei. Als ich ihn um den Grund fragte, wollte er mit der Sprache nicht herausrücken, zuckte mit den Achseln und sagte endlich, weil ich Handschuhe bei der Arbeit angehabt hätte. Als ich ihm bemerkte, daß dieses der wahre Grund nicht sein könne, wurde er hochfahrend und äußerte, mehr könne und wolle er nicht sagen, ich sei entlassen und damit wäre die Sache abgethan.«
Der Kommerzienrat: »Wie, war denn das mit den Handschuhen?«
»Mit dem Handschuhanhaben verhält sich's so: Ich arbeitete im Gußwarenmagazin selber mit, um alles genau kennen zu lernen. Das hätte ich ja nicht nötig gehabt, aber ich bin der [216] Meinung, daß man überall mit handanlegen und so viel als möglich alles praktisch lernen müsse zur Ergänzung der theoretischen Studien ...«
Raßler fuhr in seinem Stuhle herum und betrachtete den Kopf des Sprechers. Das Benehmen des jungen Mannes überraschte ihn, es lag etwas im Klang und Tonfall seiner Stimme, was ihm sogar imponierte. Die Stimme hatte metallischen Klang und zugleich etwas Kommandomäßiges, Herrisches, ohne Überhebung; der Kopf hatte scharfes Relief, wie aus Eisen gegossen.
Unbeirrt durch den prüfenden Blick Raßlers fuhr Pfaffenzeller fort – so ruhig und bestimmt, als verfechte, er die Sache eines Dritten: »Ich habe bemerkt, daß auch die anderen Leute mit schwieligen Händen bei ihren Arbeiten im Gußwarenmagazin sich der Putzwolle oder gewöhnlicher Lumpen bedientest, um ihre Haut zu schützen. Da meine Hände doch noch etwas mehr empfindlich sind, weil ich jahrelang vorwiegend in Büreaus thätig gewesen, und ich mit Lumpen nicht ordentlich zugreifen konnte, so zog ich ein Paar alte Handschuhe an. Das war's.«
[217] »Und Sie glauben nicht, wenn Ihnen Nordhäuser sagte, der Handschuhe wegen hätte man Sie entlassen? Warum glauben Sie nicht?«
»Weil der Grund ein kleinlicher wäre, ein so kleinlicher, daß ein richtiger Geschäftsmann sich schämen müßte, ihn ihm Ernste vorzubringen. Meine Vermutung, was der wirkliche Grund meiner Entlassung sei, wurde bald bestätigt. Ein Kollege teilte mir heute Mittag mit, Herr Nordhäuser habe schon vor einigen Tagen die Bemerkung fallen lassen, ich wäre vom Polizeikommissär und noch von anderer Seite – sehr wahrscheinlich vom Direktor in Penzberg – als Sozialdemokrat bezeichnet worden und in der Arbeiterliste auf der Polizei stände schon längst hinter meinem Namen das böse Zeichen SD, womit ich der besonderen Ausspionierung angelegentlichst empfohlen sei.«
»Und das sagen Sie so ruhig, junger Mann?«
»Gewiß, denn es ist eine elende Verleumdung. Wäre ich je Anhänger der heutigen Sozialdemokratie gewesen, meine Beobachtungen hätten mich davon geheilt.«
»Also verkehrten Sie mit Sozialdemokraten?«
[218] »Ich habe über die Sozialdemokraten und ihre Lehren die maßgebenden Schriften gelesen und zur Ergänzung meiner Studien habe ich an einigen sozialdemokratischen Versammlungen teilgenommen als stiller Beobachter. Neulich im Lehel in der Sankt Annabrauerei, wo sie über die Arbeiterwohnungsfrage debattierten, bin ich zum letztenmal dabei gewesen; man hat mich als verdächtiges Subjekt gemustert und beinahe hinausgeworfen. Ich bin von selbst gegangen. Die Leute konnten mir nichts mehr neues bieten. Es ist wie der Hund, der, wenn ihn die Flöhe beißen, nach seinem Schwanz schnappt und wie toll im Kreise herumfährt; der Grund dieser Bewegung ist einleuchtend, aber bei der Art der Bewegung kommt nichts heraus. Die Flöhe beißen- sich nur um so tiefer ins Fleisch. Ich bitte um Entschuldigung, Herr Kommerzienrat, wegen des drastischen Vergleichs.«
»So, so, bei den Sozialdemokraten im Lehel haben Sie Ihre Abende zugebracht ...«
»Verzeihung, nur wenige Abende und bloß studierenswegen.«
»Das ist gleich. Die Thatsache genügt, daß man Schlimmes von Ihnen denkt.«
»Mir genügt sie auch, jedoch in einem andern[219] Sinne. Traurig genug, daß man sich bei den herrschenden Klassen in besseren Geruch bringen kann, wenn man die Abende, statt sie mit sozialen Studien und Beobachtungen auszufüllen, in den Kneipen totschlägt oder mit Vereinssimpeleien und lüderlichen Frauenzimmern verbringt. Das gilt nicht für staatsgefährlich, denn es ist in den besten Kreisen Sitte. Hätte ich Geld dazu, wurde ich am Abend die besseren Abführungen im Theater besuchen und gute Vorträge hören. Allein das Gute ist zugleich das Teuere und das Teuere können sich nur die wohlhabenden Leute leisten. Ich bin leider noch nicht wohlhabend.«
»Nein, Sie sind jetzt der freie Mann mit dem leeren Portemonnaie und dem Kopf voll sozialdemokratischer Studien und ihre Stellung ist futsch.«
»Sehr gütig, Herr Kommerzienrat. Zunächst liegt mir nicht an der Stellung, sondern den wahren Grund zu erfahren, warum ich sie verloren habe. Daß ein fleißiger Mensch davongejagt werden kann wie ein Hund, ist schon stark genug von einer Geschäftsverwaltung, die sich selbst respektiert, daß man aber auch noch [220] mit Lügen, Verleumdungen und Ausreden davongejagt wird, ist beleidigend.«
»Was wollen Sie also, kurzgesagt?«
»Ich will, daß Sie Ihren Verwalter Nordhäuser veranlassen, den wahren Grund und die Quelle zu nennen ...«
»Dazu kann in meinem Geschäfte niemand gezwungen werden.«
»Gut. Der Herr Kommerzienrat ist also als Chef gegen seine eigene Beamtenmaschinerie machtlos oder hat nicht einmal den Willen zur Macht, was auf das Gleiche hinausläuft. Ich bedauere, meine Zeit mißbraucht zu haben.«
»Was haben Sie vor?«
»Ich werde nun den Baron v. Drillinger aufsuchen und ihm die Sache vortragen, vielleicht kann er für mich erreichen, was Sie ablehnen, vielleicht mir auch zur Wiedererlangung einer Stellung behilflich sein. Vorläufig druckt mich keine Not als das mir widerfahrene Unrecht.«
»Unrecht! Unrecht!« rief Raßler phlegmatisch. »In einem großen Geschäfte mit hunderten von Arbeitern muß auf Disziplin gehalten werden. Das verstehen Sie nicht.«
»Im Gegenteil, das verstehe ich sehr wohl. [221] Aber ich gebe nicht zu, daß man sich auf Disziplin hinausredet, wo man ein handgreifliches Unrecht begeht. Die Soldatenschinder kennen ja auch den Kniff.«
»Sind Sie mit dem Baron verwandt?«
»Nein.«
»Sie kennen ihn schon länger?«
»Ja und nein, je nach dem, was man unter kennen versteht.«
»Was halten Sie, von ihm?«
»Was ich von ihm halte? Das kann wohl für Sie gleichgültig sein, für meine Sache ist es gleichgültig.«
»Ihr Urteil interessiert mich. Ich lege sogar Gewicht darauf.« Dein Kommerzienrat kam es jetzt komisch vor, den Baron v. Drillinger in diese Sache, gezogen zu sehen. Aber er fühlte ein seltsames Bedürfnis, gerade die Meinung dieses Mannes über ihn zu hören.
»Er ist ein guter Mensch – alles in allem.«
»Weiter nichts?«
»Mir genügt er so.«
»Mir auch ... Wie sind Sie mit ihm bekannt geworden?«
»Ein Verwandter von nur, der Architekt und frühere Genie-Offizier Joseph Zwerger, zur Zeit [222] in Italien, ist als Studiengenosse mit dem Baron altbefreundet, daher datieren unsere Beziehungen. Ich bin in Franken geboren, ein Maingrüuder aus der Würzburger Gegend ...«
»Architekt Zwerger, so so, das interessiert mich. Und aus der Würzburger Gegend – na, das macht der Liebe kein Kind. Von dort stammt die Familie meiner zweiten Frau her. Bitte, wollen Sie nicht ein wenig Platz nehmen, Herr Pfaffenzeller, Sie sind so lange gestanden, wir können ja noch ...«
Sich unterbrechend, gegen den eintretenden Diener gewendet, der mit der Mahngrimasse eines unverschämten Bücklingmachers zur Ausfahrt drängte: »Ich weih schon. Lassen Sie wieder ausspannen; ich gehe zu Fuß.«
»Herr Kommerzienrat, ich habe in der That keinen Grund, Ihnen länger lästig zu fallen. Sie können und wollen mir nicht zu meinem Rechte verhelfen, damit ist meine Angelegenheit an dieser Stelle vorerst erledigt. Das Weitere wird sich finden. Ich habe die Ehre, Herr ...«
Diese Klarheit und Entschiedenheit, verbunden mit höflicher Form und Frische des Ausdrucks, berührten den Kommerzienrat immer sympathischer. Das war vielleicht eine Gelegenheit, [223] seinen Verwaltern und Aufsehern einmal zu zeigen, daß er ihnen auch als Menschenkenner überlegen sei ... Der Biswanger steht hoch in den Sechzigern ... Wenn dieser Pfaffenzeller sich an dessen Seite zu seinem einstigen Nachfolger ausbilden ließe! Der scheint ja ganz das Zeug zu haben, einen solchen wichtigen Vertrauensposten auszufüllen zum Vorteile des Geschäftes. Den Nordhäuser würde es freilich entsetzlich wurmen. Das schadet aber nichts. Nordhäuser kehrt neuerdings immer eine gewisse Überlegenheit heraus, spielt den Unfehlbaren, zieht fremde, besonders preußische Elemente mit Vorliebe ins Geschäft – in München haben ohnehin die alten Münchener bald nichts mehr zu sagen, wo eine einflußreiche Stelle offen ist, wird ein Ausländer untergebracht, alles wird verpreußt, überall werden Nordlichter auf die bayerischen Leuchter gesteckt, das hat ja dem König sein Land und seine Hauptstadt so entfremdet, in den Bergen hat er doch noch echte, treue Bayern um sich – –, jawohl, mein lieber preußischer Nordhäuser, der bayerische Pfaffenzeller wird dir sehr gut bekommen ...
»Herr Kommerzienrat, ich muß gestehen ... warum halten Sie mich denn auf?«
[224] Raßler hielt ihn am Ärmel und betrachtete ihn gedankenvoll mit seinen wässerig schimmernden Bulldoggenangen. Jetzt lächelte er ihn an, klopfte ihm auf die Schultern und quakte gemütlich: »Also die Bezahlung und die Arbeit hat Ihnen in meinem Geschäft gefallen? Wissen Sie was? Sie gefallen nur auch in meinem Geschäft. Ihre Entlassung scheint mir jetzt selbst eine Unzukömmlichkeit. Auf der einen Seite sind Sie entlassen, dabei bleibt's, der Disziplin wegen; auf der andern Seite stelle ich Sie wieder an, weil ich Sie für einen brauchbaren Menschen halte. So befriedigen wir beide Teile. Sagen Sie mir, wo haben Sie schon gearbeitet? In Penzberg und wo noch?«
»Nach kürzerem Aufenthalt in Belgien und im Elsaß, wo ich mich noch einmal als Architekt ohne genügende Erfolge erprobte, schlug ich mich in die Schweiz, wo ich zwei Jahre in Genf, zuletzt in der Girardschen Eisengießerei, Rue du Petit-Salève, thätig war. Damit glaubte ich meine Auslandsstudien vorerst abschließen zu können und ich kehrte wieder nach Bayern zurück.«
»Sie verstehen fremde Sprachen?«
»Des Französischen bin ich, soweit wir's im [225] Geschäft brauchen, vollkommen mächtig, mit dem Englischen bin ich gleichfalls genügend vertraut.«
»Sehr gut. Das wird dem alten Biswanger recht sein.«
Pfaffenzeller lächelte: »Warum dem alten Biswanger?«
»Das sollen Sie gleich erfahren: Biswanger braucht einen Adlatus sozusagen, und dazu werde ich Sie ernennen, sobald Sie eine gewisse Probezeit in meinem Privatbüreau bestanden haben.«
»Ich stelle nur eine Bedingung: meine Sache mit Herrn Nordhäuser muß vorher ins Reine gebracht werden. Ich bin nicht der Mann, der sich zur Thür hinauswerfen und zum Fenster wieder hereinziehen läßt.«
»Selbstverständlich, wenn Sie darauf bestehen. Darüber wie über alles übrige werden wir morgen in meinem Büreau einig werden. Jetzt sagen Sie mir nur noch eins: wissen Sie etwas von den Plänen Ihres Vetters Zwerger? Es sind mir da durch zweite und dritte Hand ein ganzer Stoß Denkschriften, Zeichnungen, Risse, Kostenvoranschläge und so weiter von ihm zugestellt worden. Haben Sie von seinen Absichten [226] oder Unternehmungen schon etwas gehört?«
»Sie meinen seine Pläne zur baulichen Umgestaltung Männchens an der Isar, am Marienplatz und auf der Theresienwiese?«
»An der Isar, bloß an der Isar. Das ist das nächste Projekt, das uns interessiert.«
»Gewiß, Herr Kommerzienrat. Seit Jahren beschäftigt ihn eigentlich nichts anderes. Diese Pläne sind sein Lebenswerk sozusagen. Bei seiner großen künstlerischen Begabung fehlt ihm nur die Geduld und Leidenschaftslosigkeit des praktischen Geschäftsmannes, um endlich im rechten Zeitpunkt an den rechten Platz zu kömmen. Seine Isarpläne, so unausführbar großartig sie auch auf den ersten Blick scheinen – ich war noch ein grüner Polytechniker, als er mir die ersten Aufschlüsse gab, aus denen ich damals allerdings nichts zu machen wußte – haben – unzweifelhaft eine Zukunft, vorausgesetzt, daß die bauliche Entwickelung Münchens nicht von der Spekulation verdorben oder von architektonischen Stümpern verpfuscht wird.«
»Wie meinen Sie das, Herr Pfaffenzeller?«
»Wenn man weit in der Welt herumgekommen ist, gewöhnt man sich, auch die Heimat [227] mit kritischen Blicken zu betrachten. Man lernt vergleichen und verlernt blind bewundern. Ludwig I., der Schöpfer der Kunststadt München, hat eine Reihe von klassischen und mittelalterlichen Bauwerken in Griechenland und Italien kopieren und den Münchenern als Musterbauten aufrichten lassen. Nach der Ludwigschen kam die Maximilianische Bauperiode für München; da verlegte man sich auf eigene Witzes- und Erfindungskraft. Damit ging es schon bedeutend abwärts. München ist aber durch beide königliche Bauherren wenigstens eine interessante architektonische Mustersammlung geworden und hat neue Straßen und Plätze für das gesteigerte Großstadtleben gewonnen.«
»Sehr richtig. Die Maximiliansstraße ist doch eine Pracht, dazu die Maximiliansbrücke und das Maximilianeum und ...«
»Nun, das ist sehr Geschmackssache, Herr Kommerzienrat. Die Maximiliansbrücke zum Beispiel ist die einzige von den drei oder vier Isarbrücken, die noch einigermaßen Stil hat und gut aussieht. Aber sie entbehrt doch wie die andern jedes bildnerischen Schmuckes, sie hat gar keinen monumentalen, skulpturalen Zierat, kein Bildwerk, sie ist in dieser Beziehung so [228] kahl als möglich. Für eine wirkliche Kunststadt sind sämtliche hiesige Brücken viel zu schmucklose Nutzbauten.«
»Sie wollen doch keine Heiligenfiguren auf der Maximiliansbrücke aufstellen, wie es neulich der fromme Xaver Schwarz zur Verschönerung der Isar im Gemeindekollegium vorgeschlagen hat? Etwa die zwölf Apostel, sechs links und sechs rechts, jeder mit seinem Marterwerkzeug, damit die Münchener ihr christkatholisches Bewußtsein stärken, wenn sie zum Hofbräuhauskeller hinüberwandeln?«
»Nein, für diese ultramontane Kapellen-Zucker bäcker-Plastik danke ich. Die fehlte gerade noch in der Kunststadt München! Da wäre es stilgemäßer, gleich die wirklichen Ortsheiligen Münchens, die Apostel der Bierbrauerkunst, geschart um Seine Majestät vom Spundloch, den heiligen Gambrinus, auf der Maximiliansbrücke aufzustellen ...«
»Der Gedanke ist gar nicht dumm,« meinte der Kommerzienrat; »der alte Schleibinger, der Sternecker, der Pschorr, der Sedlmeyer und so weiter würden sich ganz gut dort ausnehmen; sie haben für den Ruhm Münchens mehr gethan, als sich die Frommen träumen lassen.«
[229] »Einverstanden, Herr Kommerzienrat.«
»Ich sehe auch gar nicht ein, warum man München nur den Fürsten und Feldherrn, den Dichtern und Philosophen, wie dem Schelling, oder den Optikern, wie dem Frauenhofer, oder den Lithographen und Stenographen und dem Liebigschen Fleischextrakt-Erfinder Denkmäler setzt und nicht auch den großen Industriellen und Bräuern. Hätten Sie etwas dagegen?«
»Nein, Herr Kommerzienrat. Aber wir kommen von der Sache ab. Wir sprachen davon, was sich an den neuen Straßen aussetzen läßt ...«
»Haben Sie etwas an meiner Quaistraße auszusetzen?«
»Mit Ihrer Erlaubnis allerdings, Herr Kommerzienrat. In dieser von der Natur so bevorzugten Stadtgegend wäre mir keine Architektur lieber, als diejenige, welche Ihre Münchener Baumeister an dieser Stelle produziert haben.«
»Da muß ich Ihnen sagen: das verstehen Sie nicht. Die Quaistraße ist ein kleines Weltwunder. Fragen Sie nur einmal meine Engländer im zweiten Stock!«
»Dann sind diese Engländer sehr viel weniger [230] anspruchsvoll als ich. Das gebe ich zu. Diese aneinandergeklebten acht oder neun Häuser von gleicher Höhe, gleicher Schablonenhaftigkeit, gleicher Eintönigkeit der Verhältnisse, gleicher Schäbigkeit im Schmuck der klotzigen Stukornamentik mit den angeleimten Schwalbennester-Balkonen – ein kleines Weltwunder? Ihr Haus, Herr Kommerzienrat, macht allerdings eine Ausnahme.«
»Gut, dann soll Ihnen die Kritik der anderen geschenkt werden. Also Sie verlangen von den Neubauten mehr Schönheit und – – und –«
»Überhaupt mehr originelle Großartigkeit, jetzt wo die historischen Stilarten glücklich abgewirtschaftet haben. München ist darin noch sehr weit zurück.«
»Da kann später nachgeholfen werden.«
»Später! Das ist der Haken. Seit über zwanzig Jahren, das heißt während der ganzen Regierungszeit des jungen Königs Ludwig II. ist meines Wissens von staatswegen zur baulichen Verschönerung Münchens so gut wie nichts geschehen, wenigstens nichts, was sich mit dem messen ließe, was in dieser langen Zeit in anderen deutschen Großstädten gebaut worden ist.[231] Nun hat inzwischen eine radikale Umwandlung der geistigen Richtungen und des Verkehrs platzgegriffen – wovon sich natürlich unser Landesvater in seinen Märchenschlössern in den Bergen nichts träumen läßt. Auch in München ist die Industriestadt über die Kunststadt hinausgewachsen. Die Zahl der Einwohner und ihre Betriebsamkeit hat eine ungeheuere Steigerung erfahren. Nach allen Seiten dehnt sich der Nahmen der Stadt. Auch die landschaftlich reizvollsten Partien, wie die oberen Isarufer, die seither vollständig vernachlässigt blieben, lenken jetzt die Augen der Baulustigen auf sich. Alles spricht dafür, daß wir am Anfang einer neuen Bauperiode stehen, die an Umfang und Bedeutung alle ihre Vorgängerinnen weit übertreffen wird.«
»Sehr richtig.«
»Aber gerade hier liegt eine große Gefahr. Während der langen Stockungspause sind die großen Baukunsttraditionen verkümmert, dafür die industrielle und kapitalistische Spekulation und der dem Idealen abgewandte Sinn mächtig erstarkt. Welches wird also das Gepräge der neuen Periode sein? Welcher Geist wird sie beherrschen? Der kunstwidrige Geist der Spekulation, [232] der Geldmacherei. Und er wird die Architekten in seine Dienste zwingen und die Stadtverwaltung wird Ja und Amen dazu sagen, wenn nur die sicherheitspolizeilichen und gesundheitlichen Vorschriften nicht gar zu auffällig umgangen werden. Diese neue Bauperiode und die ihr anhaftenden eigentümlichen Gefahren hat Joseph Zwerger in seinem vorausschauenden Künstlergeist erkannt – und eine Frucht dieser Erkenntnis und des reinen Willens, sie der Entwickellung Münchens in segensvollster Weise dienstbar zu machen, sind die Zwergerschen Isarpläne. Die kleinen Rechen- und Baumeister werden zwar die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, aber sie werden nichts an der Thatsache ändern, daß Zwerger sich als einer der kühnsten Baukünstler des neuen Münchens in seinen Entwürfen ausgewiesen hat.«
»Wissen Sie das so gewiß, Herr Pfaffenzeller?«
»Ich begreife, Herr Kommerzienrat, daß Sie geneigt sind, mich der Übertreibung, vielleicht gar der Schwärmerei zu zeihen; Sie kennen mich noch zu wenig. Es genügt mir, wenn Sie daraus wenigstens den Antrieb schöpfen, die Zwergerschen Pläne eingehend von Sachverständigen [233] prüfen zu lassen und sie nicht unbeachtet von der Hand zu weisen. Ich habe schon in der Fabrik gehört, daß Sie mit bedeutenden Kapitalien sich an einer Baugesellschaft beteiligen, wollen ...«
»Ja, das will ich ... Die Überproduktion im Fabrikbetrieb treibt das Geld notwendig auf andere Wege. Da sucht man den besten, und als Kunstmäzen und Münchener Patriot – verstehen Sie –«
»Glaubt man ihn in der baukünstlerischen Spekulation erblickt zu haben, was ich vollkommen richtig finde.«
»Ihre freie Aussprache gefällt mir. Schade, daß wir Herrn Zwerger nicht persönlich hier haben. Auf schriftlichem Wege kommt man nicht ans Ziel.«
»Das Nämliche habe ich meinem Vetter längst gesagt. Ich werde ihn auskundschaften und herzitieren. Man muß zur Stelle sein und für sich selbst und seine Sache persönlich eintreten.«
»Wie Sie, Herr Pfaffenzeller! Sie haben mir schön zugesetzt! Glauben Sie mir, ein solches Auftreten hätte sich der Kommerzienrat Raßler sonst nicht leicht von einem andern bieten [234] lassen. Sie haben ein ganz verwünschtes Glück, mich heute gerade in so guter Laune getroffen zu haben. Na, ich werde Ihnen später noch einmal ordentlich Grobheiten dafür machen, daß Sie mich so erwischt haben ...« Und der Kommerzienrat schwappelte mit seinem dicken Bauche und lachte, aber plötzlich wurde sein Gesicht ganz blaurot und er sank, mit den Armen um sich schlagend, in den Stuhl. Pfaffenzeller ergriff die Wasserflasche auf dem Serviertischchen und bespritzte ihm die Stirn ... Alle Wetter! Das hat man von der Fettleibigkeit. Und von dem da: Pfaffenzeller schob eine halbgeleerte Kognakflasche auf die Seite und die Kaffeetasse und die Havannaschachtel ...
Als sich Raßler wieder erholt hatte, reichte er dem jungen Manne mit dem eisernen, glattgeschorenen Kopf, dem festen und klugen Blick und dem nervigen Arm seine dicke, feuchtkalte Hand: »Sie haben mir geholfen, ich danke Ihnen. Das kommt davon, wenn man seinem Arzt nicht folgt und sich überarbeitet. Morgen im Büreau wollen wir weiter verhandeln.«
Pfaffenzeller wollte sich eben verabschieden, als die drei Knaben hereinstürmten.
»Papa, wir machen jetzt mit der Mama den [235] Abendspaziergang. Gehst Du heute nicht mehr aus?« rief Franz.
»Wo ist die Mama?« fragte Raßler, ohne sich aus dem Sessel zu erheben.
»Sie erwartet uns unten im Garten,« antwortete Hermann.
Raßler seufzte: »Sie geht fort, ohne mich zu grüßen ...« Zu Pfaffenzeller: »Meine Söhne! Drei schlimme Buben, aber tüchtig. Die werden mich einmal im Geschäft übertrumpfen ... So, geht jetzt. Hermann, gib auf die Brüder acht und macht keine dummen Streiche. Begrüßt den Mann hier, das ist Herr Pfaffenzeller. Adieu jetzt, adieu.«
Nachdem sich auch Pfaffenzeller entfernt hatte, blieb der Kommerzienrat noch lange in trüben Gedan ken sitzen. Dem fragenden Diener sagte er bloß: »Schließen Sie die Fenster. Ich will heute weiter nichts. Ich bleibe daheim.«
Die Sonne war im Untergänge. Aus dem Feuermeere ihres Verscheidens zuckten die letzten goldenen Strahlen am Abendhimmel auf, der in mattem Blau schimmernd, sich allmählich mit braunen und grün-grauen Wolken streifte, bis der Dunst der Großstadt nach einem ungewöhnlich schwülen Nachmittag alle Farbenpracht in [236] einen trüben Dämmer hüllte. Ein letzter Sonnenstrahl hatte über Raßlers Wohnung hinweg die hohen Bogenfenster im Mittelbau des Maximilianeums getroffen und auf dem Spiegelgrunde blutig lodernde Glut entfacht. Raßler starrte gedankenvoll in das gleißende Gefunkel, bis ihm die geblendeten Augen schmerzten; im Wegsehen noch verfolgte ihn der Feuerzauber, glühende Scheiben rollten vor seinen geschlossenen Lidern. Als er nach einer Weile die Augen wieder aufschlug, war alle Beleuchtungsherrlichkeit verschwunden. In bleichem Dämmerlicht ragte der kalte Bau mit seinen stolzen Säulen und Loggien. Die Dunkelheit kroch gespenstisch durch die hohen Bogengänge der Seitenflügel und füllte sie mählich mit tiefstem Schwarz, die Formen und Farben der pompejanisch bemalten Hintergründe verschlingend.
Raßler hatte seinen Stuhl an das Balkonfenster gerückt. Das Maximilianeum dünkte ihm jetzt eine grandiose Theaterdekoration, eine Riesenkulisse, und in seinen schweifenden Gedanken tauchte plötzlich die Erinnerung auf an die letzte Vorstellung der »Götterdämmerung«, der er vor einem Jahr im Hoftheater mit Leopoldine beigewohnt. An ihrer Seite saß Drillinger. »Das [237] ist erhaben,« sagte der Baron und drückte Leo die Hand, als Brünhilde auf ihrem treuen Roß dem Flammentod entgegensprengte; »das möchte ich von Ihnen sehen« ... »Meine Frau soll für Sie durchs Feuer springen, Herr Baron?« hatte er dem begeisterten Kurmacher hingeworfen; »weiter haben Sie keine Schmerzen?« Was der Herr Baron oder Leopoldine darauf geantwortet, dessen entsann er sich nicht mehr, nur die schmerzliche Empfindung war ihm jetzt wieder gegenwärtig, die ihm jenes letzte gemeinschaftliche Theatervergnügen verbitterte: das Brennen in der Magengrube, der Druck im Genick, der gallige Geschmack auf der Zunge. Was er aber in jener Nacht in der Verschwiegenheit des ehelichen Schlafgemachs über sich ergehen lassen mußte, das überstieg alles Maß der Erinnerungsfähigkeit ... Leopoldine hatte sich seitdem verbessert; sie trieb die Unart nicht mehr so weit, ihm seinen Bettschweiß und schlechten Geruch ins Gesicht vorzuwerfen und damit ihren Ekel vor seinen zärtlichen Annäherungen zu rechtfertigen; sie begründete ihre Kälte und ihren Widerstand mit der Rücksicht auf seinen gesundheitlichen Zustand und auf das ärztliche Gebot, sich ja aller tieferen Aufregungen zu enthalten. [238] Das ließ sich eher hören und erleichterte eine Verständigung. Zuweilen hatte ihm ihr Widerstand sogar Spaß gemacht, besonders in der letzten Zeit, wo sie wieder mit ihrer angebornen Verschämtheit kokettierte und steif behauptete, daß sie gar keine sinnliche Natur sei und kein Bedürfnis nach männlichem Umgang habe ... Daß ihr auch das Glück der Mutterschaft versagt sein mußte! ...
Das Isarwehr war aufgezogen, so daß der Schwall des Wassers mit vermindertem Geräusch thalwärts abströmte. Auch von der Straße her kündigte sich die abendliche Stille an. Die von acht zu acht Minuten verkehrende Pferdebahn klirrte heller auf den Eisenschienen und das Schellengebimmel war in der Einsamkeit klarer, als im Lärmkonzert des Tages. Die hohen Schornsteine der Bräuereien und weiter zurück der Ziegeleien von Haidhausen wälzten ungeheure schwarze Rauchschwaden durch die Abendluft; getrieben von einem leichten Südost, nahm das kohlendunstige Gewölke seine Richtung über das Isarthal in die innere Stadt. Raßler pochte an den Fensterrahmen, ob er auch gut geschlossen; er fühlte sich so beengt auf der Brust, es war ihm, als müsse er selbst in dieser [239] erstickenden Rauchatmosphäre atmen ... Von den Schlöten seiner eigenen Fabrik konnte Raßler vom Fenster aus nichts gewahren. Wenn er heute doch hinausgefahren wäre! Vielleicht befände er sich wohler. Mußte ihm dieser Pfaffenzeller in die Quere kommen ... Ein merkwürdiger Mensch, eine Kraft – und für das Geschäft jedenfalls einmal von großem Wert. Was der alle Biswanger zu diesem Mitarbeiter sagen wird? Wo jetzt Leo mit den Kindern herumspazieren mag? Ach, Leo ...
So wirbelte dem Kommerzienrat alles bunt durch den Kopf. Es duldete ihn nicht mehr im Zimmer. Wenn er zum Nachbar Schmerold hinüberginge und sich erkundigte, ob der Herr Konsul schon von der Reise zurück sei? Die Angelegenheiten der Isarbaugesellschaft, die Vorlagen des Architekten Zwerger und die Wühlereien des Bankiers Weiler machen eine mündliche Unterredung dringend notwendig. Schmerolds sind nur so förmlich, die ungewöhnliche Besuchsstunde wird ihnen auffallen. Und Raßler mochte heute keinem kritischen Blick, keinem kritischen Wort mehr begegnen. Ja, die Schmerolds, die haben noch ein strenges Familienleben, das Respekt einflößt ...
[240] Er trat aus Balkonfenster und öffnete es leise, um die Abendlust zu prüfen. Der Wind wehte das Abendgebetläuten vom Giesinger Berg in die Stadt; jetzt ertönten die Glocken von der Mariahilferkirche in der An dazu, es war ein feierlicher Zusammenklang, und nach und nach sielen die ehernen Stimmen der näheren Kirchen ein, vom Gasteig, von Haidhausen, vom Lehel, von Bogellhausen – die Lust des ganzen Isarthals schien sich in Glockenklang anfzulösen, über den rauschenden Wassern und frühlingsgrünen Wipfeln wogten die feierlichen Harmonieen dahin, bald wie ein heller Psalm, bald wie klagende Geisterchöre ...
Raßler lauschte. Er unterschied zuerst die hohen und die tiefen Klänge der einzelnen Glocken, ihre Einsätze, ihren kürzeren oder breiteren Rhythmus, dann ihr Aussetzen und Verstummen. Am mächtigsten summte es vom Haidhauser Thurm. Schließlich war er selbst so bewegt von der ergreifenden Schönheit des Gebetläutens, daß er noch lange lauschend stand, als die letzten tönenden Schwingungen verhallt waren. Hob er nicht langsam die Hand zu den Augen, eine Thräne auszuwischen? Zitterte es nicht wie ein Nachhall frommer Empfindung [241] durch seine Seele, wie ein verwehtes Gebet aus seiner Jugendzeit?
Liebster Mensch, was mag's bedeuten
Dieses Abendglockenläuten?
Es bedeutet abermal
Deines Lebens Ziel und Zahl.
Dieser Tag hat abgenommen,
Bald wird auch der Tod herkommen ...
Wie ging's weiter? Er erinnerte sich der übrigen Verse nicht mehr. War's nicht unheimlich, daß sie ihm überhaupt heute in den Sinn gekommen? Sein Vater hatte sie ihm einst gelehrt; sein Vater hatte sie auch in den letzten Zügen gesprochen, als er unter dem Geläute der Abendglocken seinen Geist aushauchte – nach fürchterlicher Krankheit, nach fürchterlichem Todeskampfe. Er hatte ein böses Wüstlingsleben auf langem Schmerzenslager abzubüßen ... Der Geistliche hatte traurig den Kopf geschüttelt, als er seine letzte Beichte gehört. Dienstboten, junge Mädchen und Frauen, nichts war vor seiner Gewaltthätigkeit sicher gewesen. Das wußten die Kinder – und schämten sich des eigenen Vaters. Ein besudeltes Familienleben! Weg mit den Erinnerungen!
Nein, er mochte heute nichts mehr von Geschäften[242] wissen ... Zu Schmerold konnte er morgen hinübergehen. Er wollte seine Kinder und seine Frau erwarten.
Unter den alten Kastanienbäumen vor dem Raßlerschen Hause wandelte seit einer Viertelstunde Max von Drillinger unschlüssig auf und ab. Die tiefhängenden Äste mit den halbentfalteten Blätterknospen verbargen ihn dem Auge der Frau, die mit den Kindern vorübergegangen war. Ihr Anblick hatte ihn nicht gerührt. Eine völlig Fremde hätte er nicht gleichgültiger betrachten können. Er hat die Probe bestanden. Es war aus. Diese Episode, seines Lebens hatte ferner keine Macht mehr über seine Entschlüsse ... Seiner Unterredung mit dem Bankier Weiler waren noch schlimme Wahrnehmungen im Café Paul gefolgt. Er hatte dort den Baron Polly getroffen, den unleidlichen Schwätzer, der ihm allerlei Dinge zurannte, die seine Beziehungen zu Frau Raßler nach der Meinung allwissender Leute als katastrophenreif erscheinen ließen. Gerade jetzt ein Skandal, wo er mit sich einig geworden, seinem Leben eine andere Richtung zu geben? Er trug die letzten Zuschriften der Frau Kommerzienrat in der Tasche, uneröffnet, wie er sie empfangen. Was ließ sie [243] ihn nicht in Ruhe? Was drang sie sich ihm noch auf, da sie längst wahrnehmen konnte, daß das Abenteuer für ihn den Reiz verloren, daß er nur noch aus Gutmütigkeit ihr zu Willen gewesen? Früher hatte sie ihm von Schuld und Sühne vorphilosophiert und ihm manchen Genuß mit ihren kalten moralischen Sprüchen verdorben – und jetzt, wo er sie wieder in die alte Ordnung und in die Arme ihres unerschütterlich verliebten Gatten sanft zurückgleiten lassen wollte, jetzt – ach, es ist ja zu abgeschmackt. Was die Weiber ihre Leidenschaft und Treue nennen, ist oft nur ihre Eitelkeit und Trotzköpfigkeit. Daß der Streber Parklas, der sich nun bis zum Regierungsrat hinaufgeschleimt, ein Schurkenstücklein gegen ihn und Frau Raßler im Schilde führen solle, wie Polly auszuplaudern wußte, daß man den Preßbanditen gegen ihn Hetzen und dem Kommerzienrat öffentlich eine Schimpf- und Schandsuppe ein brocken wolle, das wäre doch zu infam. Welchen Vorteil könnten sich diese Menschen denn davon versprechen, sich in eine Abrechnung zu mischen, die nur ihn, den Kommerzienrat und seine Frau anginge? Abrechnung, ja, das sollte sein. Wenn er jetzt zu Raßler hinaufginge und ihm die [244] ganze Unterredung mit Weiler berichtete und zugleich auf etwaige Schurkenstreiche, die gegen seinen Geldbeutel und seine Reputation im Anschlage, diplomatisch vorbereitete? Und dann dankbare Verabschiedung und in den nächsten Tagen einen Ausflug, von dem kein Mensch wüßte, wozu und wohin? Als Geburtstagsgeschenk, das er sich selbst macht, dem vollen Frühling entgegen, nach diesem langen Winter des Mißvergnügens? Hinaus in die freie Ferne und die Stadt mit ihren Fesseln und Quälereien weit hinter sich? Wahrhaftig, der Bosheit der lieben Mitbürger zu entkommen, muß man ihnen den Rücken kehren, sich vergessen machen, untertauchen, verschwinden. Und weil die Bosheit immer irgendwen und irgendwas haben muß, sich daran gütlich zu thun, wie der räudige Hund an einem Knochen, den er sich in der Gosse erschnüffelt, so wird sie für das entwischte Opfer sich flugs ein neues suchen. Die verfolgende Meute der menschlichen Bluthunde muß die Spur verlieren ... Ja, er wird sich der Hetze durch eine Frühlingsfahrt entziehen ... Brigitta hat sich ja wieder erholt und die Einsamkeit wird auch ihr doppelt gut thun, wenn sie von seinen Nervositäten nicht mehr zu leiden [245] hat ... Und dem Weiler einen geharnischten Schreibebrief zum letzten Gruß, der Zähne und Hörner haben soll, damit er sich sputet, den verfahrenen Finanzkarren wieder auf glatte Bahn zu bringen ... Vielleicht wäre es auch empfehlenswerter, mit dem Raßler die Sache schriftlich abzumachen; da weicht man unangenehmen Gegenreden aus und hat die eigene Rede vollkommen in der Gewalt; zudem ist es nicht klug, noch einmal das Haus zu betreten, das so störende Erinnerungen weckt ... Im übrigen soll der dicke Kommerzienrat sich selber seiner Haut wehren ...
»Aber dem Tristaniden Doktor Trostberg, dem könnte ich den erbetenen Besuch abstatten. Wenn ich nur nicht seine Redseligkeit fürchtete, heute, wo mir ohnehin der Kopf summt. Ich werde ihm ein willkommenes Studienobjekt sein. Eine abstrakte Natur, wird er sich wenigstens nicht in meine persönlichsten Angelegenheiten eindrängen. Er sieht im Einzelnen nur das Allgemeine. Er ist ein kühler ein frostiger Schematisierungsfanatiker. Seine Art, das Leben zu betrachten, wird mir gerade jetzt wohl thun, wie ein kaltes Sturzbad einem – erhitzten Kopf. Ich geh' zu ihm ... Na, er [246] wird Augen machen ... Mit meinem optimistischen Widerpart wird's freilich nicht weit her sein ...«
Als Drillinger aus dem Schattenkreise der Kastanien treten wollte, kam eine lebhaft plaudernde Gruppe über den Steg am Wehr geschritten. Es waren drei Männer mit Cylinderhüten und hellfarbigen, kurzen Frühjahrsüberröcken. Drillinger trat rasch ein par Schritte zurück und lehnte sich an einen Stamm. In der Mitte des Steges blieben die Cylinderhüte stehen, vor der altertümlich aus Stein gehauenen Statue des heiligen Nepomuk mit dem, dürren Mooskranz, der im Scheine der nahen Gasflamme den Hals der grauen Bildsäule wie ein braungoldener Wulsttragen umschloß.
»Teufel noch einmal,« sprach Drillinger für sich, »die stehen genau so da, wie das Cylinderkleeblatt, das ich einigemale an der Ecke des Gärtnertheaters bemerkt habe. Die reißen Witze über den armen Brückenheiligen, wie man an der Bewegung der Cylinder und an dem Lachen merken kann. Die Worte verschlingt das tosende Wasser. Ich stehe selbst so da wie ein Marterl ...« Daß ihm das dumme Bild von damals wieder in den Sinn kommen mußte. [247] Er ärgerte sich über sich selbst und die Andern.
Jetzt kamen sie näher. Er verstand zuerst nicht jedes Wort, aber immerhin mehr, als ihm lieb war.
»Die vornehme G'weih-Straße ...«
»Wenn ich Raßler wäre, beantragte ich die Umtaufe ...« Es war eine meckernde Baßstimme. Der Sprecher trug einen semmelgelben Überrock.
»Raßler ... Laus der Gute ... Laus der Gute ...«
»Menelaus-Straße! Das machte sich verflucht klassisch ...«
»Das Spotten ist umsonst. Wenn die Quaistraße je einmal umgetauft wird ...«
»Das wird sie sicher, denn in München wird alles umgetauft – nicht bloß die Straßen –«
»Auch die großen Politiker: die Schwarzen in Patrioten, die Patrioten in Zentrumsmänner ...«
»Zentrümmer klingt schöner und kürzer ...« Dabei schwang der Sprecher einen Rohrstock mit silbernem Knauf, der im Gaslicht schimmerte.
»Dann wird aus Quaistraße Raßler-Straße, [248] da schwör' ich drauf, denn in der sogenannten Kunststadt siegt die Industrie über Geist und Witz und Verstand und wer den straffen Geldbeutel hat und zur rechten Zeit mit Geräusch zu öffnen versteht, der zieht ein in die Ruhmeshalle des Münchener Spießbürgertums und bekommt Statuen und Straßennamen, er mag ein Hornvieh sein in Folio ...«
»Ach, Schnürle, hören Sie doch auf mit Ihrem Künstlerneid ...«
»Bei Raßler ist noch kein Licht ...«
»Im Dunkeln ist gut munkeln. Drillinger, wißt Ihr, liebt das stimmungsvolle Dunkel für seine Schäferstunden.«
»Na, dem werden wir jetzt in der ›Kloake‹ für öffentliche Beleuchtung sorgen.«
»Wenn ihm diesmal das Schäfern nicht verleidet wird, dem stolzen Wiedehopf ...«
»Dann will ich dem Preßbanditen als einem dreckigen Stümper eigenhändig den Kragen umdrehen ...«
»Seien Sie ohne Sorge, die Abbildung allein genügt, daß den alten Hahnrei Raßler der Schlag trifft.«
»Das wär' des Guten zu viel. Da hatte ja der schöne Max gewonnenes Spiel!«
[249] Sie waren auf die Quaistraße hinübergeschritten. Die Stimmen erstarben in der Ferne.
»O ihr infamen Schweinehunde!« knirschte Drillinger. »Also ihr! Dieser Schnürle, dieser Fabian Pemsl ... der wie oft meine Kasse und meine Arbeit in Anspruch genommen ...«
Den Dritten hatte er nicht erkannt.
Er hätte sie erwürgen mögen, die Haut über die Ohren ziehen, in eine Pfütze treten, in die Isar schmeißen, – allein er konnte nicht von der Stelle, es war ihm, als wäre er knietief in den Erdboden gesunken, sein Oberleib schwankte, er mußte sich am Stamm festhalten. »Diese infamen ...« Die Wut preßte ihm die Zähne aufeinander, daß er kein Wort mehr hervorbrachte. Er starrte in der Richtung der Quaistraße den Cylindern nach und obwohl sie um die Ecke der Maximilianstraße verschwunden waren, schien es ihm doch, als wackelten sie noch unter der letztem Gaslaterne gleich schwarzen Gespenstern neben Raßlers Gartenthor. Nach einer Weile brach er in ein nervöses Lachen aus. »Zu Trostberg!«
Die Frau Kommerzienrat war mit den Kindern nun wohl schon eine starke Stunde unterwegs. [250] Zuerst hatte sie keinen festen Plan. Nur an die Luft und möglichst fern von jedem menschlichen Antlitz! Hermann und Franz gingen voraus – Hermann trug einen hellen Überrock und ein steifes schwarzes Hütchen mit geschwungener Krämpe, wie ein junger Herr; Franz dagegen war in seinem Matrosenanzug von leichtem dunkelblauen Tuch und Eugen in seinem braunen Jägertrikot.
»Wohin zu, Mama?«
Sie zeigte mit der Hand über den Steg. Eugen blieb an ihrer Seite; das Zischen, Broddeln und Tosen der Isar-Wasserfälle an der Feuerwerksinsel erfüllte ihn mit freudigem Grausen, mit süßer Angst. Er kam sich in seiner Furchtsamkeit doch so kühn vor, über die alten, morschen Balkenlagen, die jüngst erst mit frischen Stämmen ausgeflickt worden waren, dahinzuschreiten, unter sich die ungeheuren Strudel, deren Gewoge in weißem Schaum aufspritzend, donnernd von Absatz zu Absatz hinab springend, auf der anderen Seite der Insel das tiefer liegende, ruhige Bett erreichte. An der wildesten Stelle, wo der Wasserschwall am unheimlichsten tobte, daß vor lauter schaumigem Gischt und glitzernden: Sprühnebel das grüne Isarwasser [251] nicht mehr zu erkennen war, hielt sich Eugen auf der einen Seite an der Hand der Mutter, auf der andern an der dünnen, grauen Holzstange, welche das Geländer vorstellte, denn die Stadtväter, hatten sich aller Unglücksgefahr zum Trotz noch nicht entschließen können, diese Ufer- und Wegstellen des doppelarmigen, reißenden Flusses mit zuverlässiger schützenden Eisengeländern zu umgeben.
»Mama, sieh, hier ist die grüne Isar ganz weiß.«
»Ja, mein Kind.«
»Wie Milch.«
»Ja.«
»Es gibt ein Land, Mama, wo Milch und Honig fließt, sagte Herr Schlichting. Das muß schön sein. Da möchte ich hin. Du auch, Mama?«
»Ja, mein Kind.«
Hermann und Franz blieben bisweilen im Gespräche stehen, lehnten sich über die Geländerstange, riefen den Nachkommenden Bemerkungen oder humoristische Warnungen zu, ließen sich aber von Mama und Eugen nicht mehr einholen; sie fühlten sich als freie Spaziergänger, die nach eigenem Geschmack dahin und dorthin [252] schlendern konnten. Ein rückwärts gewandter Blick genügte ihnen, immer den geziemenden Abstand wieder herzustellen, wenn sie etwas zu weit vorangeeilt waren. Die Richtung, die fortan einzuschlagen war, konnte ja nur die eine sein: zwischen den Wassern, auf den Stegen und Landzungen der zwei Isarläufe bis hinauf an die Reichenbachbrücke. Frau Raßler ging gleichmäßigen Schrittes, die großen, ernsten Augen gesenkt, ihr feines, bleiches Gesicht von dem schwarzen, mit Schmelzperlen besetzten Hut umrahmt, die stolzen Lippen ein wenig schlaff geöffnet, manchmal in den Winkeln krampfhaft bebend. Sie hielt einen Augenblick die Schritte inne und atmete kräftig.
»Mama, bist Du müde?«
»Nein, mein Kind.«
»Mama, was ist unter dem Wasser, daß es immer so aufstrudelt?«
»Es wird über Löcher und Steine und Felsen gejagt und da überschlägt sich's.«
»Wer jagt's denn?«
»Es jagt sich selber, weil's abwärts will.«
»Warum will's denn abwärts?«
»Weil's muß, es kann nicht anders. Sein Lauf ist so.«
[253] Nach einigem Besinnen fing Eugen wieder an: »Ist es wahr, sind Hexen unter dem Strudel? Die Gusti sagt, es sind Hexen darunter und die machen das Wasser so wild, daß es strudelt.«
»Das sind Dummheiten.«
»Gusti sagt oft Dummheiten, Du hast Recht, Mama.«
Die Abendsonne warf helle, warme Flecke aus die gelblichgrünen Wipfel der Uferweiden am Gasteigabhang, während die städtische Baumschule unten am Flußrand schon im Schatten lag. Frau Raßler schloß ihren weiß und schwarz gestreiften Entontcas.
»Sieh, Mama, wie das goldene Kreuz auf dem Auer Kirchturm funkelt.«
Der durchbrochene Helm des gotischen Turmes der Mariahilfkirche aus rotem Sandstein stand wie verklärt in seinem lichtrosigen Scheine und erhob sich in majestätischer Ruhe aus der geräuschvollen Flußlandschaft; etwas weiter rechts schwang sich der schlankere Giesinger Kirchturm in dunklerer Färbung und anmutigen Lullen in den grausilbernen Duft des von gelben Schleierwölkchen durchwobenen Himmels.
Jetzt waren Hermann und Franz an der [254] Reichenbachbrücke angelangt; sie blickten rückwärts: »Gehen wir da hinüber?«
Die Mama war so in Gedanken, daß sie nicht auf die Frage achtete.
Im Wirtshaus an der Ecke der Frühlingsstraße spielte eine fidele Musikbande »Ach ich hab' sie ja nur auf die Schulter geküßt.« Hermann pfiff die Melodie mit und blieb bei der zerlumpten Händlerin stehen, die unter einem grauleinenen Schirmdach am Brückeneingang auf einem schmutzigen wackeligen Tisch ihre Waren feilbot: gebratene Fische und Schmalznudeln, schichtweise aufgehäuft, von schöner dunkelbraunroter Farbe mit gelblichen Tupfen.
»Einkäuft, junger Herr, einkauft!«
Hermann hätte gerne in seiner Laune irgend eine scherzhafte Ansprache an die Handelsfrau halten oder sonst einen Possen mit ihr anfangen mögen, – allein die Mama! Und es waren auch zu viele Leute da; das war auf der alten Holzbrücke ein Gewühl von Arbeitsvolk, das in die Stadt zurückkehrte oder nach der Vorstadt hinaus ging, die meisten mit spaßlosen, vergrämten Gesichtern und schlechten Kleidern, daß dem vornehmen Kommerzienratssohn die Lust verging. Franz hatte sich auf den hohen [255] Wurzelast eines alten riesigen Weidenbaumes, der mit seinem weitausladenden Astwerk hart am Ufer stand, voll turnerischer Behendigkeit aufzuschwingen bemüht und rief jetzt dem herbeieilenden Eugen zu: »Hilf ein wenig, da oben ist's lustig zu sitzen!«
Eugen faßte den Kletterer unter dem rechten Knie, dann unter dem linken Knöchel und machte hup, hup. Richtig war Franz mit brüderlicher Nachhilfe hinaufgelangt. Er that noch ein übriges und stellte sich hoch auf – auf dem originellen Wurzelsitz.
»Jetzt mußt Du eine Predigt halten, wenn Mama vorüberkommt!« rief Eugen voll freudiger Selbstbewunderung seiner Stärke und seines Einfalls. »Gelt, Franz?«
»Ja, wenn mir etwas einfällt.«
»O nur so etwas – wie das Einmaleins oder das Vaterunser, das wird Dir schon einfallen,« meinte der kleine Eugen in seiner drolligen Klugheit, während er sich bückte, um ein zart gedrechseltes Schneckenhäuschen aus, dem frisch sprossenden Gras aufzuheben.
Frau Leopoldine fühlte sich ermüdet; ihr Gang war schleppend geworden. Hier in diesen jungen Anlagen war sie einst mit Max von [256] Drillinger spazieren gegangen – war's wirklich erst vor einem Jahr? Ja, wirklich – und es dünkt ihr doch so weit, so weit zurück. Und auch zur Frühlingszeit war's. Und auch eine böse Szene war vorausgegangen. Allein die Umstände waren damals ganz anders. Der Baron schien wirklich in seiner Liebe neue Läuterung und in seiner Treue neue Kraft gewonnen zu haben, sein ganzes Leben ernster zu erfassen. Auch die Beziehungen zu Raßler hatten vieles Entwürdigende abgestreift. Freilich wagte man noch nicht an die Zukunft zu rühren: wie denn aus diesem Gesetzlosen ein Gesetzliches, aus dem Unerlaubten ein Erlaubtes werden könne ...? Aber es gab eine Versöhnung, eine Verständigung ... Wie viel blendende Wunder bot damals die verjüngte Welt, der neu erblauende Himmel ihrem Auge! Es war, als rauschte die Isar ihr das Echo all' der bezaubernden Reden und Schwüre Drillingers ins Ohr ... Ach, wo ist sie hin, die Poesie jener Abende am Isarufer, wo sie und er, ein verbrecherisches, aber überseliges Liebespaar, im grinsen Blätterschatten ihre Wonnen bargen ... Nein, nicht mehr daran denken, nie mehr! ... Unselige Welt! ... Wie verfliegt aller Zauber, [257] sobald sich die Sonne der Liebe verdunkelt, wie kalt und häßlich wandelt sich alles Leben ... Einst hatte sich Leopoldine das Wort aufgeschrieben: »Wem nie von Liebe Leid geschah, geschah von Lieb auch Liebe nie.« Das war mehr als Leid, was ihr Max v. Drillinger jetzt zugefügt, das war Beleidigung, Infamie! Und Zorn und Ekel wollten sie erfassen ...
»Eugen? Wo bist Du?« rief sie ängstlich und ärgerlich zugleich, als sie sich plötzlich allein, sah.
»Hier, Mama! Such mich!« antwortete der Schelm mit verstellter Stimme hinter dem Weidenbaum hervor.
Und als sie sich nun näherte und Franz seine Predigt beginnen wollte, fiel ihm wahrhaftig nichts ein als das Einmaleins, das Vaterunser und ein Bibelspruch. Und er deklamierte mit naivem Pathos den Spruch: »Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott in ihm.«
Klang's ihr nicht wie Hohn aus Kindesmund?
»Gelt, Mama, der Franz predigt gut? Ich schenke ihm ein Hans zur Belohnung.« Er warf ihm das Schneckenhäuschen hinauf. Franz fing [258] es geschickt auf – und da fiel ihm plötzlich etwas wunderbar Poetisches ein: »Raum ist in der kleinsten Hütte für ein glücklich liebend Paar!« Er wußte nicht mehr, wo und von wem er das gehört hatte, vielleicht von der Gusti oder vom Jean, wenn sie abends an den Hoffenstern ihre Gefühle austauschten und die Buben mit brennenden Wangen lauschten, – aber famos war es gewiß. Den Zeigefinger auf das emporgehaltene Schneckenhäuschen richtend – »Raum ist in der kleinsten Hütte für ein glücklich liebend –« Was war das? »Ach Gott, Mama, warum schlägst Du mich?« Und mit einem Satz war er auf dem Boden und stand totenbleich vor ihr. »Mama, was hast Du gethan?«
Hatte sie wirklich mit dem Schirm nach dem deklamierenden Kind geschlagen? Sie konnte sich im Augenblick nicht deutlich Rechenschaft geben vor Erregung. Ein furchtbarer Vorwurf drohte ihr aus dem entsetzten Gesichte des Knaben. So waren sich Stiefmutter und Stiefkind noch nie gegenüber gestanden.
Hermann kam herbei. Er hatte den Vorgang nur halb gesehen. »Was gibt's denn?«
Um sich Fassung zu geben in dieser seltsamen [259] Ratlosigkeit, herrschte sie ihn an: »Geh mit dem Franz heim, er war unartig. Eugen bleibt bei mir.«
Hermann betrachtete bald die Stiefmutter, bald den Bruder. Dann schüttelte er den Kopf, faßte Franz am Arm und sagte: »Gut, gehen wir heim. Komm!«
»Darf ich nicht auch mit heim?« fragte Eugen schüchtern, mit einem fragenden Blick auf die Hand in Hand davongehenden Brüder.
Was wollte sie eigentlich nun selbst?
Sie reichte Eugen schweigend die Hand und ging mit ihm der Brücke zu. Kaum war sie in der Mitte derselben angelangt, stieß sie in einer Lichtung des Gewühls auf den Professor Hirneis. Seine Freunde hatten immer behauptet, daß er zwei linke Beine habe, denen schwer auszuweichen. Diesmal schien die Unmöglichkeit des Ausweichens auf beiden Seiten gewesen zu sein. Sie waren sich fast schon auf die Füße getreten, als sie sich erst erkannten.
»Ah, Frau Kommerzienrat, sieht man Sie auch wieder einmal; welch' angenehme Überraschung!«
»Die hätten Sie sich früher verschaffen [260] können, Herr Professor, wenn Ihnen daran gelegen wäre ...«
»Gnädige Frau, das Leben stellt Ansprüche ... Wollen Sie sich gütigst erinnern, daß ich einmal fünf Einladungen ausgeschlagen habe, nur um einen Abend in Ihrer Gesellschaft zubringen zu können.«
»Das muß sehr lange her sein, Herr Professor?«
»Ja, nach den vielen Veränderungen, die wir seitdem erlebt, gewiß einigermaßen lange ... Wie geht es dem Herrn Gemahl?«
»Danke ...«
»Was führt Sie zu so später Stunde in diese Vorstadtgegend? Darf man so indiskret fragen als alter Freund?«
»Das Bedürfnis eines längeren Spaziergangs, Herr Professor,« antwortete sie nicht ohne Verlegenheit und Überraschung. Was berechtigte ihn zu dieser Aushorcherei? War ihr Privatleben etwa wie ein Buch, in dem jeder blättern und nach Belieben Fragezeichen und Randglossen anbringen durfte? Hat nicht jeder genug zu thun, sein eigenes Lebensbuch zu studieren und in Ordnung zu halten? Oder erwirbt [261] mit der Berufung auf alte Bekanntschaft jede Rücksichtslosigkeit einen Freischein?
»Wohnt nicht auch der Herr Baron von Drillinger hier in der Nähe? In der Auenstraße?«
Er konnte sich diese unverschämte Anspielung nicht schenken.
»Sie können versichert sein, daß mir das sehr gleichgültig ist. Mein Besuch in der Auenstraße gilt einer ganz anderen Person – einer – einer Kindspflegerin.«
Das war ihr wie eine Eingednug gekommen. Vor einer Minute hatte sie selbst noch nicht daran gedacht. Aber jetzt war's doppelt gut, daß ihr diese Absicht nachträglich zu ihrem Spaziergang eingefallen. Die Kindspflegerin! Der Gedanke an Elisa v. Hutzler war ihr durch den Kopf geblitzt. Aber warum Kindspflegerin? Richtig, Eugens Amme wohnte mit ihr im nämlichen Häuschen. Und beiden Frauen stand sie als Wohlthäterin schon lange nahe. Jetzt, wo alles im tollen Wechsel kreist, wird es auch da eine Veränderung geben. Es ist gut, darauf vorzubereiten.
Der Professor aber dachte: »Natürlich rückt sie ihm auf die Bude und schleift den armen [262] Jungen als Aushängeschild der Harmlosigkeit mit.« Er stellte sich jedoch möglichst befriedigt von dieser Antwort: »Freilich, ja, ja, ich kann mir's denken; ein Werk der Barmherzigkeit, so en passanr, wie es unsere im Wohlthun nie ermüdenden Frauen zu üben pflegen. Ich will Sie nicht länger aufhalten. Es ist mir eine große Freude gewesen. Habe die Ehre, Frau Kommerzienrat, habe die Ehre!«
Die, Ehre! Ja, ja.
Das war der berühmte Gelehrte und Schriftsteller, um den sich die, schöngeistigen Damen rissen, ihre Gesellschaftsabende mit ihm zu schmücken – und in seinem Gemüte doch nur ein roher Egoist und rüpelhafter Geck. Wie so viele andere hatte er auf den ersten kommerzienrätlichen Soireen Frau Leopoldine umschmeichelt und manch ein glühendes Gedicht in professorlichem Zopfstil gewidmet, sogar ein komisches Epos »das bräunliche Schinkenbein« hatte er sich's kosten lassen, sie wenigstens zur Bewunderung seiner universellen Begabung zu entflammen und ein dankbares Lächeln von ihr zu erhaschen; denn ihr Lächeln, behauptete er damals, sei noch schöner, als ihr wunderschöner Mund, ihr Blick noch schöner, als ihr wunderschönes [263] Auge ... Als sich jedoch sein von Frau Raßler nicht genügend gewürdigtes Genie zu innigerem Bunde mit der holden Psyche der Thusnelda Wechsler vereinigt hatte – »ich schwärme für das Abnorme,« rechtfertigte Thusnelda ihre neue Neigung – zog sich der Vielbegehrte zurück. Seine Besuche wurden seltener, dann hörten sie ganz auf. Und jetzt haderte – Frau Leopoldine mit sich selbst, daß sie ihm bei dieser zufälligen Begegnung noch Rede gestanden, statt sich auf eine förmliche und flüchtige Erwiderung seines Grußes zu beschränken. Ja, sie hatte ihn nunmehr im Verdacht, daß er vielleicht dem in Hexametern verfaßten anonymen Spottgedicht nicht ganz ferne stehe, das sie vor wenigen Tagen erhalten und worin in ziemlich schmutziger Geistreichelei auf das angebliche Verhältnis Drillingers mit einer kleinen Gesangskünstlerin angespielt war: nachdem er sich lange gemüht, mit markigem Strich der hochgereckten Baßgeige wonniges Getön zu entlocken, presse ein zierliches Violoncell er jetzt zwischen die ermüdeten Kniee – Leopoldine erinnerte sich der gekünstelten Wortfolge nur noch ganz lückenhaft und undeutlich, denn sie hatte das boshafte Pasquill im er sten Zorn sofort verbrannt.
[264] »Mama, gehst Du noch weit? Du gehst so schnell!« stieß der kleine Eugen hervor mit Thränen in der Stimme.
»Armer Kerl, Dir geht's heute auch schlimm. Nein, wir gehen nicht mehr weiter. Nur noch ein paar Schritte. Wir fahren dann ein großes Stück mit der Trambahn zurück.«
Sie beugte sich zu ihm nieder und streichelte ihm tröstend die Wangen und küßte ihn.
Am äußersten Ende der Auenstraße lag hinter dem großen, eingeplankten Platze, der im Sommer als Nennplatz für die Radfahrer, im Winter als Eisbahn für die Schlittschuhläufer diente, eine Reihe von uralten, einstöckigen Hänschen, umgeben von Gärten, Gemüsefeldern und Schuttablagerungen. Die Bauart war die denkbar einfachste, ländlichste. Die Wände waren wettergrau, die Thüren und Fenster ohne Symmetrie, die Ziegeldächer saßen windschief. Aber es sprach etwas Trauliches, Anheimelndes aus diesen anspruchslosen Gebäuden. Das eins hatte eine gedeckte Treppe gegen den Garten, mit wildem Wein oder Epheu umrankt, das andere eine Art von Veranda, wo Rosmarin, Goldlack und rote Nelken in Töpfen blühten, das dritte eine Holzaltane, – wo seit Generationen die [265] treue Hausschwalbe ihr Sommernest bezog – kurz, jedes hatte etwas, was die Freude seiner Bewohner an dieser stillen ländlichen Natureinsiedelei im Rücken der Stadt und fünfzig Schritte von der Isar, die zwischen hohen Bäumen und Büschen eilig dahinrauschte, zur Lust am Romantischen im stimmungsvollen Kleinleben der Armut erhöhen konnte.
Meist wohnten hier Leute, die eine lange, billige Miete genießend, ein Stückchen Feld dazu gepachtet hatten und eine bescheidene Gemüsegärtnerei trieben, oder Schiffbrüchige des kleinen Gewerbestandes, die sich hieher wie auf ein Wrak gerettet hatten, oder solche, die in der Zurückgezogenheit ihr Leben fristen und die Wunden vernarben lassen wollten, welche ihnen der Kampf um ein eigenwillig, von der gewöhnlichen Ordnung abweichend gestaltetes Dasein geschlagen hatte.
Zur letzten Gattung gehörten die Bewohner des abseits vom Landwege liegenden, nur auf einem schmalen, holperigen Pfade zu erreichenden Gartenhäuschens, über dessen vermorschte, ausgetretene Holzschwelle jetzt die Frau Kommerzienrat Raßler mit ihrem Söhnchen schritt.
»Elisa v. Hutzler singt,« sagte sie und blieb [266] einen Augenblick im dunklen Flur stehen, tief Atem holend und den seufzerartig anschwellenden und verwehenden Tönen der Sängerin lauschend. Es war eine kranke, müde Stimme, die sich an einem wenig bekannten pietistischen Liede aus dem vorigen Jahrhundert abmühte. Auf einem ausgespielten Harmonium wurden weinerliche Akkorde dazu angeschlagen. Der Text, soweit ihn Frau Raßler verstehen konnte, war sonderbar genug, rührte sie aber in seiner frommen Naivetät fast zu Thränen. Sie ließ sich auf die Treppe nieder und zog das Kind auf ihren Schoß. Draußen waren die Lichter des Sonnenuntergangs verglommen. Die Nacht sank dunkelnd hernieder ... Der seufzerartige Gesang, klang wie aus einer andern Welt ... An einzelnen Stellen fiel eine tiefe, zitterige Männerstimme mit ein, ganz geisterhaft ...
Wo ist mein Schäflein, das ich liebe,
Das sich so weit von mir verirrt,
Und selbst aus eigener Schuld verwirrt,
Darum ich mich so sehr betrübe?
Wißt ihr's, ihr Auen und ihr Hecken,
So sagt mir's, eurem Schöpfer an:
Ich will seh'n, ob ich's kann erwecken
Und retten von der Irrebahn.
[267] »Mama, wer singt so? Mama, Du weinst?« Und ängstlich umschlang das Kind den Hals seiner Stiefmutter. »Mama, müssen wir lange da bleiben? Erwartest Du jemand, Mama?«
Sie preßte den kleinen, scheuen Frager an die leidenschaftlich wogende Brust. Von oben klang der Gesang fort:
Ich will dir keine Ruhe lassen,
Ich will dich locken bis du hörst
Und dich von Herzen zu mir kehrst;
Ach, wie will ich dich dann erfassen
Und an mein Herz ganz sanfte drücken,
An Liebesseilen sollst du gehn,
Dann wird kein Feind dich mehr berücken,
In meinen Hürden sollst du stehn.
»Mama, ist eine Kirche da droben? Das klingt wie eine Orgel.«
»Das ist mehr als Kirche und Orgel, mein Kind. Das ist ein frommes Herz in einem frommen Haus ... Komm jetzt!«
Das Stübchen lag im Dunkeln. Der Abendgruß Leopoldinens wurde zunächst mit dem Anzünden einer Stearinkerze beantwortet. Elisa v. Hutzler leuchtete dem späten Gaste ins Gesicht. »Ach Sie!«
»Ja, ich und hier mein Eugen.«
[268] Von der Ecke hinterm Ofen her eine zitterige Stimme: »Danken Sie Gott für Ihr Kind. Wo ist das meinige? Räuber und Mörder ... Ich werde es nie wieder sehen ...«
»Wenn es Gottes Wille ist, Knöbelseder, ja!« unterbrach ihn beschwichtigend Elisa von Hutzler. Und sich zu Frau Raßler wendend, flüsternd: »Ach, es ist noch schlimmer mit ihm geworden, seit Sie zuletzt hier waren, edle Wohlthäterin. Er ist ganz erblindet und der Wohnungswechsel damals hat seinen Verfolgungswahn neu genährt. Und auch hier ist kein Bleibens. Es wurde uns fürs nächste Ziel gekündigt. Wie uns das bekümmert. Wir müssen fort und wissen nicht wohin.«
»Ja, wir sind heimatlos auf heimischer Erde,« hob die zitterige Stimme hinter dem Ofen wieder an. »Wo man sich unter einem Dache glaubt, wird's abgerissen. Wir sind obdachlos. All' die schönen, alten Häuschen ringsum an der Isar werden abgerissen – ist's wahr? Zuletzt müssen wir armen Leute in den Steinbruch, wie der Maler Essenbach, wenn wir nicht vorher ins Grab sinken. Die Geldmenschen kennen kein Erbarmen. Warum verfolgt Gott die Armut so?«
[269] »Lästere nicht, Gregor. Die Frau Kommerzienrat hat uns viel Gutes gethan, sie wird auch ferner ihre Hand nicht von uns abziehen. Wie dankbar müssen wir ihr sein ...«
»Ich bin ja selbst bettelarm, und was ich Ihnen gegeben habe, war nicht von meinem Eigenen; mir haben Sie nichts zu danken, außer der Vermittlung, denn nicht die Gabe war mein, nur die Hand, die sie dargereicht hat.«
»Und das Herz! Ihr großes, gutes, edles Herz!« rief das alte, verrunzelte Fräulein mit einer Gewalt, der Empfindung, der ihre Stimme nicht gewachsen war, so daß sie überschlug und quicksend und weinerlich klang wie die eines Kindes. »Gott wird es tausendfach an Ihren Kindern lohnen, Frau Kommerzienrat!« Und sie legte, ihre welke Hand segnend auf den Scheitel Eugens, der sein Köpfchen ängstlich senkte. »Wie ist der Junge gewachsen und schön geworden, seit wir ihn nicht mehr gesehen ...«
»Ja, das Kind, das Kind, wie ist es schön geworden ... Wißt ihr's, ihr Auen und ihr Hecken? O mein Schäflein ... Räuber, Mörder ... Mitmenschen ...«
Frau Raßler kannte diese Jammerausbrüche [270] des alten Mannes, aber nie waren sie ihr so zu Herzen gegangen wie heute. Eugen hing krampfhaft an ihrem Arm. Ja, sie mußte den Besuch abkürzen und gehen. Es war auch schon so spät. Nur noch die Frage nach der Barbara und ihren Pfleglingen – aber ob sie es über die Lippen bringen wird, eine mögliche Verkürzung der seither gewährten Unterstützung anzudeuten?
»Und Eugens Amme, die Barbara?«
»Das Mädchen von der Tochter des Barons in der untern Isarstraße hat sie aufs Land gegeben, nach Thalkirchen. Sie nimmt ein Geringeres an. Heut Abend ist sie fortgegangen, es abzuholen. Sie wollte der gnädigen Frau schon Mitteilung machen. Wenn wir umziehen müssen, o gnädige Frau, das vermehrt auch für die Kinder die Kosten; wir haben wenig genug für uns übrig.«
»Wie viele Pfleglinge hat jetzt die Barbara?«
»Drei mit dem, das sie heut Abend abholt; sie wird Ihnen die Adresse der Wöchnerin schreiben.«
»Nein, nicht schreiben, Fräulein Elisa; es könnte doch einmal ein Brief in die Hände [271] meines Mannes geraten, und wir stehen nicht so, daß ich ihm ohne Hader und Vorwürfe Aufklärungen geben könnte. Er hat jetzt noch weniger Verständnis für arme Kinder und Mütter als früher. Das muß alles heimlich bleiben, wie bisher, verstehen Sie? Kein Mensch auf der Welt braucht, zu wissen, was ich für die Andern thue.«
»Heimlichthun ist Unglück,« murmelte der Greis in der Ecke.
»Ja, Frau Kommerzienrat, wie es in der Bibel heißt: die Rechte soll nicht wissen, was die Linke thut. Ach, wenn Sie nur noch zwanzig Mark zulegen wollten im Monat ... Die Not ist groß ...« brachte Elisa zaghaft heraus, aber man merkte doch, daß sie, zu fordern gewohnt war.
Frau Raßler schüttelte traurig den Kopf: »Wüßten Sie, wie viele Verpflichtungen ich habe und wie schwer es mir oft wird, die Almosengelder zusammenzubringen ...«
Nein, sie konnte heute nicht davon anfangen.
»So sind die reichen Leute,« dachte Elisa v. Hutzler, denn sie hatte wirklich keine Ahnung, daß sie seit Jahren für sich, für Barbara und [272] deren Pfleglinge nicht nur reiche Spenden, sondern schwere Überwindungen und Opfer von Frau Raßler geheischt und in unerschöpflicher Güte empfangen hatte.
»Überlegen Sie sich's, gnädige Frau, nur zwanzig Mark ...« hob die Bittende wieder an. »Um der armen Kinder willen ...«
»Wir wollen sehen. Gute Nacht. Einen Gruß an Barbara.«
– – – –
Gleichzeitig mit Hermann und Franz, die ohne Säumen heimgegangen waren, schritt ein modisch aufgeputzter, höchst eleganter und selbstbewußter Herr – in seinem Äußern eine Mischung von Künstler und Stutzer mit hochmütiger Bravour zur Schau tragend – die Treppe zu Raßlers Wohnung hinauf: der Neffe des Kommerzienrats, der berühmte Modephotograph. Er nickte den beiden Knaben nur flüchtig zu und im Vorzimmer angekommen, ging er sofort zur Thür, dem Diener von der Seite die Frage zuwerfend: »Der Herr Kommerzienrat ist allein zu Hause, wie ich unten hörte?«
»Zu dienen, aber ...«
Der Neffe hatte die Thür bereits hinter sich geschlossen.
[273] Die Knaben legten ihre Hüte ab und sahen sich fragend an: sollten sie zu Papa hinein, oder sich still auf ihr Zimmer zurückziehen?
»Ich will Papa begrüßen,« entschied Hermann; »Du kannst hintergehn.«
»Bitte, einen Augenblick, mein lieber Neffe,« sagte der Kommerzienrat weich, denn die sentimentale Stimmung hatte den ganzen Abend vorgehalten, »Du brauchst keine Entschuldigungen für Deinen Besuch und keine Vorreden, ich bin ganz allein und stehe Dir zu Diensten ... Guten Abend, Hermann! Habt Ihr einen guten Spaziergang gemacht. Wo ist die Mama?«
»Ich bin allein gekommen mit Franz. Mama hat uns unterwegs plötzlich heimgeschickt. Sie ist mit Eugen weiter gegangen, wohin, weiß ich nicht.«
»Heimgeschickt? Allein weitergegangen? Erzähl'!«
»Sonst ist nichts zu erzählen. Ich weiß nur, daß Mama den Franz geschlagen hat; er sei unartig gewesen, sagte sie, und dann hieß sie uns sofort heimgehen.«
»Geschlagen?« fragte der Kommerzienrat gedehnt und mit eurem Gesicht, als habe er falsch [274] verstanden. »Geschlagen sagst Du? Wirklich geschlagen?«
Der Neffe hatte voll angenehmster Überraschung diese Meldung gehört, sich dann geräuspert und in die Unterredung gemischt: »Erzähl' nur, Hermann, verschweige nichts!«
»Ich weiß weiter nichts. Übrigens geht das nur Papa und uns an.«
»Recht, mein Sohn. Franz soll nachher, hereinkommen!«
»Gewiß,« sagte der Modephotograph, »ich will mich in diese Kindergeschichten auch gar nicht eindrängen, aber sie können die Sache bestens beleuchten helfen, die ich Dir vortragen muß, verehrter Onkel. Ich werde mich kurz fassen. Ich habe nur wenig Zeit ...«
Hermann war hinausgegangen mit der festen Miene eines Zeugen, der seine Schuldigkeit gethan.
»Geschlagen?« quackte der Kommerzienrat wiederholt und behielt den Mund offen. »Begreifst Du das, Neffe? Ich kenne meine Frau nicht mehr.«
»Das stimmt. Ich kenne sie um so besser und will sie Dich mit zwei Worten kennen lehren, denn es ist allerhöchste Zeit, daß Du erfährst, [275] Onkel, was die ganze Stadt schon längst weiß und was jetzt die Spatzen von den Dächern der Quaistraße pfeifen.«
»Schweig'! Keine Verleumdungen, keine Skandalgeschichten ... Davon will ich nichts hören ...«
»Skandalgeschichten wohl, aber keine Verleumdungen, nur die pure Wahrheit, Onkel, hab' ich Dir zu melden.«
»Die Wahrheit der Kloake. Wer kennt die nicht? Dort ist der Spucknapf, wenn Du ein Bedürfnis hast. Ich verstehe vieles nicht an meinem Weibe, aber das ist kein Grund, daß ich sie vom ersten besten begeifern lasse. Das mit dem Franz wird sich aufklären. Hast Du sonst noch Schmerzen?«
Etwas pikiert fuhr der Neffe fort: »Ich hab' Dich seither für einen Mann von Ehre gehalten – – o, bitte, ich halte Dich noch dafür!« Die Männer fixierten sich ...
Unangemeldet war Gusti hereingetreten, eine Lampe in der Hand.
»Was willst Du?« schrie sie der Kommerzienrat an.
»Verzeihung, gnädiger Herr, jene Lampe [276] hat nicht genug Öl, ich will diese dafür hinstellen.«
»Scher' Dich zum Teufel, Du kluge Jungfer! Ist Dir das Schlüsselloch zum Horchen nicht groß genug? Hol' mir den Franz herein!«
Franz erschien. Er strich verlegen mit der Hand durch sein Kraushaar.
»Also, wie war's?«
Der Knabe wurde bald bleich, bald rot. Daß auch der unbeliebte Vetter da sein mußte!
»Ich, habe zum Spaß deklamiert, auf einem Baum, da hat die Mama zornig nach mir geschlagen mit dem Sonnenschirm ... Dann hat sie mich fortgejagt ...«
»Und sie ist mit Eugen weitergegangen?«
»Ja. Hermann hat sie noch mit einem Herrn auf der Brücke stehen sehen.«
»Mit was für einem Herrn?«
»Das weiß ich nicht. Hermann hat ihn auch nicht erkannt. Es war zu weit und schon dunkel.«
»Geh'!«
Franz ging. Er fühlte sich erleichtert, daß das Verhör so gut abgelaufen war.
Der Neffe: »Arme Kinder!«
»Was soll das heißen?«
[277] »Du wirst mir erlauben, Onkel Kommerzienrat, daß ich mir ein Bild von dem Vorgang mache. Deine Frau hatte, gleichgültig, ob zufällig oder verabredet, in der Dämmerung wieder einmal eine Zusammenkunft mit einem Herrn. Ohne Zweifel mit Drillinger. Um keine verständigen Zeugen zu haben, entledigte sie sich der älteren Knaben, selbst um den Preis einer Mißhandlung. Eine Stiefmutter – und eine Kurtisane! Es ist dunkle Nacht – und sie ist noch nicht daheim.«
Der Kommerzienrat schrie auf und drohte dem Sprecher mit der geballten Faust.
Mit kaltem Hohn, unbekümmert um die Drohung, fuhr der Neffe fort: »Ich bin leider nicht so naiv, von der Geliebten eines Drillinger etwas anderes zu erwarten. Du freilich, eine so glückliche Natur! Es würde Dir nur eine lustige Viertelstunde bereiten, wenn Du sie einmal zusammen im Bett überraschtest, so à la Venus und Mars. Du würdest Dir die pikante Szene vielleicht von Kropfhey oder Schnürle noch malen lassen und in Deiner Gallerie aufhängen ... Andere Leute haben nicht so viel Kunstsinn, dafür etwas mehr Sittlichkeit. Und diese andern Leute scheinen jetzt entschlossen zu [278] sein, ihren Standpunkt dem Deinigen öffentlich gegenüber zu setzen. Einige Deiner Konkurrenten, sagt man, sollen sich der Sache schon bemächtigt haben, um Dich in der öffentlichen Meinung tot zu machen. In die nächste Ausstellungs-Jury wirst Du nicht mehr gewählt werden. Numero eins. Numero zwei: – – –«
»Schweig, schweig!«
Raßler sank in den Polsterstuhl und hielt sich die Ohren zu.
»Numero zwei: man wird allen städtischen Unternehmungen, wo Dein Name mit an der Spitze steht, Schwierigkeiten über Schwierigkeiten bereiten. Numero drei: man wird zur Durchführung der Isarthal-Pläne ein neues Konsortium bilden, in welchem Du nicht vertreten bist, man wird den Bankier Weiler gegen Dich ausspielen – –«
»Blödsinn, Tollhäuslerei!« röchelte Raßler und fuchtelte mit den Händen in der Luft.
»Nein, mein verehrter Onkel,« fuhr der Neffe fort, die Einbläsereien des Bierbarons Polly zum Teil wörtlich wiederholend, »man wird sich auch in den neuen Brauerei-Aktiengründungen ohne Dein Kapital recht gut zu helfen wissen, nachdem es auf der Börse ruchbar [279] geworden, daß Du mit Hilfe einiger Winkelspekulanten Fühlung mit böhmischen und mährischen Gesellschaften gesucht hast, um mit ihren Papieren den hiesigen Markt zu verderben – –«
Der Modephotograph hielt inne. Raßler lag mit geschlossenen Augen im Polsterstuhl, die dicken Lippen einwärts gekniffen.
Der Neffe trat hinten an den Stuhl heran und setzte leiser ein: »Damit Du alles weißt: man hat mir den königlichen Hoftitel, um den ich eingekommen, verweigert, und als ich nach dem Grunde forschte, Hindeutungen auf Dich gemacht und auf die Entwürdigungen, welche Dein Familienleben Deinem Kommerzienratstitel bereite. Deine Schande fällt auf die ganze Verwandtschaft. Dein Weib hat den Fluch der Lächerlichkeit über alles gebracht, was Raßler heißt. Man scheut sich, persönlich mit Dir zu verkehren. Ich weiß, daß Konsul Schmerold, obwohl er nur zwei Schritte zu Dir hat, den schriftlichen Weg vorzieht. Das alles dankst Du der blinden Vergötterung eines Weibes, das keine Frau, keine Mutter, keine Wirtschafterin, kurzum, das nichts ist als eine stolze Kokette, die sich in Deinem Reichtum walzt und in den Armen ihres Buhlen. Ich habe gesprochen [280] – nun ist es an Dir zu handeln. Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Gute Nacht.«
Über dem Lampencylinder zündete sich der Modephotograph eine Havanna an und schritt hinaus wie ein Held, der eine große That vollbracht hat und sich nun ein Vergnügen gönnen darf.
Raßler lag wie betäubt, er hörte die Schritte des Fortgehenden nicht mehr.
Frau Leopoldine sah bei der Heimkehr von ihrem Samaritergang – sie hatte auf dem Rückweg noch flüchtig eine Wöchnerin besucht – den Neffen das Hans verlassen. Nachdem sie Eugen der Dienerin übergeben, ging sie sofort in das Zimmer, ihren Gatten aufzusuchen. Er merkte es nicht, daß sie jetzt hinter seinem Stuhle stand.
»Dein Neffe war da,« sagte sie nach kurzem Besinnen mit leiser, fester Stimme.
Raßler fuhr auf, starrte sie an wie ein Gespenst, die Augen quollen ihm aus den Höhlen, sein Gesicht war verzerrt ... Er packte sie roh an beiden Armen: »Kurtisane! Fluch über Dich! Verdammte Buhlerin! Du bist keine Frau, keine [281] Mutter ... O meine Kinder! ... Fort von hier, fort!«
Die Stimme versagte ihm.
Regungslos stand sie da, den Wütenden um Haupteslänge überragend und ihn mit einem hoheitsvollen Blicke messend, dann kamen von ihren bleichen Lippen die Worte, tonlos, gemessen: »So geberden sich die Raßler, wenn sie gegen ein wehrloses Weib zusammenstehen, eine Ehre zu verteidigen, die zu besitzen sie niemals sich stark und würdig genug gezeigt.«
Kraftlos ließ er die Arme sinken.
Leopoldine schwankte hinaus. Im Kinderzimmer suchte ihr brennender Blick den geschlagenen Franz, der in der dunklen Ecke am Spieltischchen saß, die großen blauen Augen erwartungsvoll auf die eintretende Mutter gerichtet. Sie ging auf ihn zu und kniete sich zu ihm nieder, ihn mit Ungestüm an ihre Brust drückend. Das Kind schlang seine Arme um ihren Hals und schluchzte: »Verzeih, Mama, ich hab' Dich ja so lieb, so lieb ...«