Ida Boy-Ed
Thomas Mann

Versuch einer Deutung

Es mag durchaus eine Frage sein, ob man jemanden, der in gesammelter Energie auf dem Weg ist, durch Zuruf aufhält oder anfeuert, obgleich die Dinge im Grunde ja so liegen, daß der Gang des Schaffenden – trotz der Selbstkritik, welche an sich Größe sein kann oder doch Vorbedingung zur Größe ist – von einem Zwange bestimmt wird, dem er nicht entrinnen kann. Niemals ist über Dichtkunst etwas Wahreres und Aufschlußgebenderes gesagt, als die beiden Worte Strindbergs: »Es schreibt.«

Aber Thomas Manns Geburtstag zu beschweigen, geht nicht wohl an. Und außerdem wissen wir so wenig, wie er selbst es wissen kann, ob er auf dem Wege ist oder schon am Ziel. Das kann nur die Zeit erweisen. – Im allgemeinen ist es sehr schwer, über jemanden zu schreiben, der noch mitten in künstlerischer Arbeit steht. Wagt man es, kommt man in die Lage jener Literarhistoriker, die ein Buch über moderne Literatur verfassen und dabei abschließend über Autoren urteilen, die später noch, vielleicht sich selbst zur Überraschung, ihre charakteristischsten und wichtigsten Werke produzieren.

Vor einiger Zeit wurde die Unternehmung gewagt, zwischen Thomas Mann und Josef Ponten (dem auch[170] von mir Hochverehrten) eine Scheidewand derart aufzurichten, daß an der einen Seite der »Schriftsteller« Thomas Mann, an der anderen Seite der »Dichter« Josef Ponten seinen Platz zugewiesen erhielt. Solche Einteilung ist vollkommen unsinnig, und es kann sie nur jemand unternehmen, der von den letzten Geheimnissen des Schaffens keine Ahnung hat. Immer, wo Es schreibt, ist Intuition, also Dichtung. Sie kann herausglänzen aus der bescheidensten kleinen Novelle im Feuilleton einer Tageszeitung; sie kann fehlen in Werken, die Verstand, Erfahrung und sprachliche Gewandtheit meisterlich gestaltete. Daß Thomas Mann der Intuition ermangele, kann kein Kritiker zu behaupten wagen.

Dies unergründlich geheimnisvolle »Es«, das jedem Schaffenden das Martyrium eines Doppelwesens aufbürdet, welchen Fluch und welche Gnade (es ist beides!) Thomas Mann von je als Tragik empfand; dies »Es«, was den beherrscht, in dem es lauert, wachsam und sprungbereit; dies »Es«, das unbezwinglich scheint, weil es in verborgenen Tiefen des Unterbewußtseins lebt, ist dennoch auch abhängig von zwei Bedingungen: vom Blut und von der Zeit. Das Blut bestimmt die Neigung zum Stoff der Darstellung und ihre Temperatur. Von der Zeit ist »Es« abhängig, insofern ihm eine vorbestimmte Aufgabe geworden sein kann, der Gegenwart Erkenntnisse aufzudrängen oder, resp. und, vorausschauend der Zukunft neue Ziele zu schenken.

Mischblut hat seine besonderen biochemischen Merkmale. Und es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß der Zuschuß vom Blut einer altersmüden, übererfahrenen Rasse zu seinem Germanenblut Thomas Mann jene [171] unheimlich scharfe Beobachtungskunst für das Mürbe, Zerfallende gegeben hat. Und dies vermählte sich seiner Begabung und Berufung auf das innigste. Diese ist (wie ich schon früher an anderer Stelle ähnlich sagte), seine Gegenwart zu Erkenntnissen zu zwingen; denn ein frühes und drückend schweres Spüren des Korruptilen, das sich in großen Teilen des deutschen Bürgertums schleichend auszubreiten begann, war ihm eingeboren. So mußte sein Thema Verfall werden und immer wieder Verfall, der körperliche wie geistige. Diese beiden Verfallsformen mehr als die des moralischen – trotzdem der »Tod in Venedig« und Einzelheiten des »Zauberbergs« dem zu widersprechen scheinen. Aber nur scheinen. Wer mit Liebe und Aufmerksamkeit durch alle seine Werke geht, von den »Buddenbrooks« an durch die Novellen bis zum »Zauberberg«, findet immer dies eine: eben den Verfall. Die Lebenssonne scheint nicht hell in Thomas Manns Werken. Die Ausnahmen »Gesang vom Kindchen« und »Bauschan« lassen nur desto deutlicher spüren, wie düster, wie schmerzlich skeptisch und kühl die Temperatur um all seine Gestalten weht und schwebt. Auch im Liebespaar in »Königliche Hoheit« (ein Roman, den ich unter Thomas Manns Schaffen mit am höchsten stelle) schlagen die Pulse maßvoll. Der heiße Feuerstrom der fortreißenden Leidenschaft weht uns niemals an.

Mann ist der besonnenste, der umsichtigste und genaueste Schilderer, den die deutsche Dichtung besitzt. Das Detail ist sein Ausdrucksmittel, aber es ist immer so fein ziseliert, daß es weit entfernt vom brutalen Naturalismus etwa eines »Fuhrmann Henschels« bleibt. Im »Zauberberg« fragt er einmal geradezu besorgt: »Der [172] Leser sieht ihn doch?« (nämlich den Mann, den er da gerade schildert). Das ist eine Frage, die äußerste künstlerische Gewissenhaftigkeit verrät. Denn der Dichter weiß es wohl: es hängt alles davon ab, daß auf den Leser eine starke Suggestion ausgeübt wird, in welcher für ihn die geschilderten Gestalten leben.

Aber nicht die beispiellose Kleinarbeit in der Ausmalung, auch nicht die immer tief durchforschten psychologischen Entwicklungen – die vielleicht nicht immer volle Überzeugungskraft haben können, weil sie vielfach von pathologischen oder gar anormalen psychischen Begleiterscheinungen bedingt und deshalb dem Gesunden nicht nachfühlbar sind –, nicht diese Seiten seiner Begabung haben seinen großen Erfolg getragen. Der furchtbar klare Blick für alle Verfallserscheinungen; dieses seltene und beunruhigende Wissen um Fäulniserreger; die unerschrockene Kraft und Macht, sie aufzudecken – dies ist es, was ihm eine Sonderstellung schafft und seinen Nachruhm, als den des Zeugen dieses Abschnittes teilweiser Erkrankung deutscher Kultur und Zivilisation, befestigen wird.

Und darüber hinaus, ja vor allem für uns Deutsche, ist es seine ganz unvergleichliche Sprachkunst, die ihm hohen Rang gibt. Nur wer selbst ein Menschenalter hindurch mit dem schwersten aller künstlerischen Materiale, der deutschen Sprache, ringt, um sie rein, lebendig, vorbildlich zu gestalten, kann ganz ermessen, welche Monumentalität an Arbeit und welcher Reichtum an Sprachgefühl in Thomas Manns Deutsch steckt. Er sagte mir einmal: Auf das Adjektiv kommt es an. Und er ist der Meister, immer das Treffendste zu finden, oft in langem Ergrübeln, Vergleichen, in sorgsamer [173] Wahl – also in wahrer Künstlerarbeit. Und um eine Sprachkunst von solchem Grade ist es noch besonders bestellt.

Maler und Bildhauer können mit Pinsel, Meißel, Farbe und Stein technisch vollendete Werke schaffen, die dennoch durch ihre geistige Leere den Beschauer ermüden. Aber leere Sprachkunst gibt es nicht. Hier bedingen Form und Inhalt einander, mehr wie in jeder anderen Kunst. Nur wenn die Sprache von echtem Gefühl oder von Gedankenfülle wahrhaft durchströmt ist, kann sie den Leser zu sich hinüberzwingen – dem Dichter den großen Erfolg gewährleisten. Sie muß seine eigene Sprache sein! Nicht die tausendfach abgenutzte, die zahllose vor und neben ihm schrieben und schreiben. Und die von Thomas Mann bringt in ihrer vollendeten Form eine solche unerhörte Fülle von Wissen, Belesenheit, logischen Folgerungen, kühnster Dialektik, eigenartigsten Gedanken, daß sie hierin kaum einen Rivalen hat.

Hier möchte ich doch einschalten, wie wunderlich die verschiedene Einschätzung von Prosa und Vers in Deutschland – nur in Deutschland besteht sie – berührt. Die dichterische Meisterschaft einer bedeutenden Prosa wird noch nicht genug anerkannt. In Frankreich haben einige der größten Dichter niemals einen Vers geschrieben: Balzac weder noch Flaubert, George Sand nicht und nicht die Staël oder Maupassant. Aber ihre Prosa ist der Stolz ihres Landes.

Das Doppelwesen des Schaffenden, vom »Es« bedingt, ist bei Thomas Mann noch mit Nebenbedingungen belastet, oder ich will lieber sagen verknüpft, die es schwer machen, seine Erscheinung ganz deutlich mit [174] dem forschenden und suchenden Blick zu umfassen. Mehr als bei anderen Autoren tritt das Autobiographische bei ihm in Erscheinung. Es ist in jedem Werke jedes Schaffenden Autobiographisches verborgen, nur der Leser erkennt es nicht. Durch die Buddenbrooks setzte sich aber in der Vorstellung der Lesewelt die Idee von autobiographischer Preisgabe fest, und sie bestärkte sich noch an Tonio Kröger. Dies hat dann zu Unterstellungen und Ausdeutungen auch bei anderen Werken geführt. Die ärgerliche Schwerbeweglichkeit der nur Aufnehmenden läßt nicht leicht von einmal gefaßten Vorstellungen ab. Aber dieser Mann, der die dämonische Gabe hat, Verfall, Fäulnis und widerstandslose Hingabe an Lebenserschlaffung zu schildern, ist ein bürgerlich tief glücklicher Familienvater und Gatte, ein Arbeiter von zähester Energie!

Nicht mit so wenigen und klaren Worten läßt sich ein anderer Umstand besprechen, und ganz klären läßt er sich überhaupt nicht. Das ist die politische Wandlung, die wir an Thomas Mann erlebt haben. Er, der Verfasser des großartigen und positiven bürgerlichen Staatsformen geneigten Buches »Betrachtungen eines Unpolitischen«, das von aufbauendem, vaterländischem Geist durchwärmt war und den Zivilisationsliteraten schwer beschuldigte, hat sich nun an seine Seite gestellt und verleugnet seine damaligen Überzeugungen. Er hat sich und uns in die Lage gebracht, daß wir gegen den Thomas Mann, der Demokrat wurde, immer den Thomas Mann der »Betrachtungen« zitieren können. Und ganz wunderlich berührt es, daß er dieses, geistig sozusagen von ihm annullierte Buch dennoch seinen gesammelten Werken einreiht – in [175] denen es nun als gewichtiges Dokument eines weiteren Widerspruchs im Wesen des Dichters wirkt. Man kann und muß jede Überzeugung respektieren, auch wenn sie von der eigenen abweicht. Aber in der Stimme des Renegaten schwingt nun einmal immer ein unreiner Nebenklang mit, und man erinnert sich der Worte, die Goethe über Winkelmanns Religionswechsel sprach. – Es widerstrebt mir nun aber doch, auf die Dauer diese Wandlung, wie vielfach geschieht, auf die Auswirkungen familiärer und verlegerischer Umwelt zu schieben oder durch den Einfluß seines deutschfeindlichen Bruders Heinrich zu erklären, der, außer vielleicht in der Kunst farbiger Schilderung, nicht von fern an die großen geistigen Potenzen von Thomas heranreicht. Ich denke so: damals, in der Hochstimmung und Nervenanspannung, die jeden Deutschen packte und trug, als man unser Vaterland zerschlagen wollte, versank in ihm das schließlich doch vor allem aus dem romanischen Teil seines Wesens Lebensodem saugende »Es«. Seine Pulse schlugen im Takt des Blutes seines Vaters! Aber mit dem Zusammenbruch verebbte die Hochstimmung – sie, in der »Es« nicht die Atmosphäre fand zu schöpferischen Intuitionen. Und dem Zwang gehorchend, der aus den Unterströmungen seiner Blutmischung heraufdrängte, der stärker ist als sein bewußter Wille, wandte er sich von den Anschauungen ab, die er in den »Betrachtungen« vertrat.

Daß Thomas Manns Dichtungen mehr von dem romanischen Teil seines Wesens bestimmt sind und aussagen, ist mir neuerdings sehr klar geworden, da ich mich mit Pirandello beschäftigt habe, dem zur Zeit erfolgreichsten und berühmtesten italienischen Dramatiker [176] und Novellisten. Während ich keinen deutschen Dichter zu nennen wüßte, der mit Thomas Mann verwandt ist – kleine Nachahmer kommen nie in Betracht –, wird man von der Ähnlichkeit mit Pirandello betroffen. Dies ist natürlich nicht die plumpe Ähnlichkeit der Stoffwahl, der Probleme, sondern die zwischen den Zeilen brütende Dumpfheit und pessimistische Beobachtung des Mürben. Diese Feststellung hat mit dem Wert natürlich nichts zu tun, erhöht ihn weder, noch verkleinert ihn.

Einen Teil seines Schaffens muß ich noch mit wenig Worten streifen: Er ist ein Essayist von höchstem analytischen Vermögen, und Abhandlungen wie die über Goethe und Tolstoi, die Vorrede zu Chamissos Schlemihl und andere könnten, als unabhängig von Mode und Zeitströmung, vielleicht manche seiner Novellen überleben.

Eine wunderbare Fügung ist es, daß dieser Abschnitt in Thomas Manns Leben – ein gedachter nur, ein durch die Ziffer 50 gesetzter und vielleicht willkürlich angenommener – zusammenfällt mit dem Ab schnitt in der innerpolitischen Entwicklung unseres Vaterlandes. Was wird der Inhalt der nächsten Jahre sein? Ringen um Aufbau, Ringen um die einfache, reinliche Kraft zum Leben, Versuche zur moralischen und geistigen Gesundheit, Wille zum Überwinden des Korruptilen. Kann und wird in dieser anderen Luft Thomas Mann fortfahren, der Schilderer des Verfalls, des Unterganges, der passiven Hingabe an Differenziertes, der ermatteten Ergebenheit an das Brüchige zu sein? Wenn seine Mission erfüllt und er also innerhalb ihrer nicht mehr auf dem Wege, sondern am Ziel ist, könnte es wohl [177] sein, daß die Entwicklung ihn auf einen anderen Boden hinüberdrängt.

Sein großes, bewundernswertes Können, dessen Zeugnisse auch kluge Regie nicht entbehrt haben, bescherte ihm einen sehr bedeutenden Erfolg. Er ist auch ein Exponent der deutschen Literatur im Ausland geworden. Er gibt sich – wie ihm die Kritik hier und da vorwarf – gern schon als Klassiker. Aber zur vollen Größe, die ihm noch beschieden sein mag, gehört die Umfassung und das Verstehen aller Menschlichkeiten! Sie sind von der Natur vielfach zusammengekittet, und ihr Teil Gesundheit ist denn doch größer als ihr Teil Krankheit – sonst wäre Untergang ihr Los.

Das Erreichte ist bedeutend. Gespannt stehen wir vor dem weiteren Schaffen Thomas Manns, denn jeder Wirkende, und vor allem der künstlerisch Scharfende, ist ein »Werdender« bis zuletzt.

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