602. Thüringer Fluten

Große und greuliche Wasserfluten haben oft das Thüringerland heimgesucht. Eine der schrecklichsten war die am 17. Maimond 1558; die Erde erbebte, und die Schleusen des Himmels gossen stromgleiche Fluten auf die Fluren zwischen Gotha und Langensalza nieder. Im Orte der Grafen von Gleichen, Burgtonna, wurden fast vierzig Häuser und Scheunen zumal und von [403] Grund aus verwüstet, daß man hernach nicht mehr sah, wo Haus oder Scheuer gestanden. Starke Bäume wurden mit den Wurzeln ausgerissen und davongeführt, sechsundvierzig Personen fanden nur allein in Burgtonna ihren Tod. In einem der hinweggerissenen Häuser, des Hirten Wohnung, lag eine Wöchnerin, die Tags vorher geboren hatte. Das Kindlein lag in einer Mulde, das Haus stürzte zusammen, die Mutter verdarb, das Neugeborene schwamm in seiner Mulde unversehrt neunzig Schritte weit davon, blieb im Gezweig eines Apfelbaumes hangen und ward gefunden lebend und ohne Leid. An manchen Stellen im Dorfe hat das Wasser dreier Männer Höhe übereinander erreicht. Ein Mann sang noch im Untersinken: Nun bitten wir den Heiligen Geist; ein anderer reckte seine Hand im Sinken aus dem Wasser und segnete die, so noch lebendig. Ein Knabe, ein Knecht und ein Futterschneider gewannen einen hohen Birnbaum, die erhielten ihr Leben. Ein im Lande umwandernder Buchträger, heutzutage neumodisch Kolporteur genannt, kam auf einen Balken rittlings zu sitzen, schwemmte fünf Ackerlängen hinweg und brachte sich und seinen Bücherranzen glücklich und unversehrt ins Trockne.

Das war aber alles nichts gegen eine Flut, dergleichen nie vorher und nie nachher erhöret worden im Thüringer Lande, die geschahe am 29. Mai 1613. Da kamen Wetter von allen Seiten und standen viele Meilen in die Runde über dem Lande und tobten gegeneinander, daß alle Leute glaubten, der Erde jüngster und letzter Tag sei herbeigekommen, das reichte von der Saale bis zum Harz und von der Werra bis zur Elbe. Die Ilm überschwoll ihr Bette zehn bis zwölf Ellen hoch, riß in Weimar vierundvierzig Häuser und Scheuern weg, ertränkte vierundsiebzig Menschen und zweihundert Stück Vieh; noch ist am Kegeltor daselbst der schwarze Strich, das Wahrzeichen, wie hoch dort die Flut stand. In Oberweimar ertranken vierzehn Menschen, stürzten zweiundzwanzig Häuser ein; in Mellingen raffte die Flut zweiundzwanzig Menschen hinweg und zertrümmerte sechsunddreißig Häuser. Eines Hirten Weib ertrank mit zugleich vier Kindern; der Vater, der sich rettete, hörte noch, wie das jüngste, als seine kleine Lagerstätte schon schwamm, die Mutter fragte: Kommen wir auch in den Himmel, wenn wir ertrinken? – und als jene mit Ja! antwortete, hat das Kindlein gerufen: Ei, so will ich gern mit ertrinken! Gut Nacht, lieb Vater und Mutter! – Mehrere Dörfer wurden fast ganz hinweggerissen, so daß nur wenige Häuser stehenblieben. In Gotha blieb kaum ein Fenster ganz von den Schloßen, kein Halm auf den Äckern. Mühlhausen litt ungemein; der Schade, den Wetter und Flut in Langensalza tat, ward allein auf eine Tonne Goldes geschätzt, aber er ganze Schade im Thüringer Lande auf mehrere Millionen Taler. Nur allein zwischen Jena und Magdeburg ertranken über zweitausend Personen oder wurden von einstürzenden Häusern begraben. Diesen furchtbaren Wassererguß nannte man hernachmals die Thüringer Sündflut und erkannte in ihr ein strafendes Gottesurteil, um so mehr, als alle römischen Zahlbuchstaben dieses strafenden Jahres in einem einzigen Worte enthalten waren, und das war das Wort IVDICIVM (MDCXIII).

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