22. Von Recht und Freiheit.
Um Recht und Freiheit ist es etwas, und du magst dich drum mannlich wehren, und, falls es noth thut, auch todt schlagen lassen. Aber zu bedenken ist dabei, daß der Nachbar, sei's ein niederer oder höherer oder gleicher, auch sein Recht und seine Freiheit habe, und daß du Fremdes respectiren müssest, wie Eigenes, zufolge dem Gebote: Liebe den Nächsten, wie dich selbst. – Davon könnte ich dir Exempel genug vorhalten aus der Weltgeschichte. Es thut's aber auch aus einer Stadt- und Hausgeschichte. – Ein Herr von Adel wohnte in einem Hause zur Miethe im ersten Stock. Der war ein sonderlicher Liebhaber der Jagd; und wenn er des Tags zu Feld und Wald sich herumgethan mit seinen Hunden, so hielt er des Abends noch ein Nachspiel der Jagd in seinen Zimmern, die Hunde hetzend auf einen ausgestopften Hasen, um sie abzurichten. Das war denn ein Mordlärm. Nun wohnte über ihm, im zweiten Stocke, ein gelehrter Herr, der auch jagte, aber nicht nach Wild, sondern nach Wissenschaft, welche Stille und Ruhe haben will. Der ließ seinen Herrn Nachbar höflich bedeuten, er möchte das Höllenspectakel einstellen, [83] oder der Teufel solle ihn holen. Worauf der edle Herr erwiderte: Er habe das Recht und die Freiheit, in seiner Wohnung zu thun, was er wolle. Was geschieht? Des andern Tages, als der Junker eben wieder seine Jagd hatte mit Halloh! und Hussah! und die Hunde ihr Möglichstes thaten mit Gebell und Geheul: da überraschte unsern Jagdliebhaber plötzlich ein Regen, unter Dach und Fach. Was ist das? fragte er zuerst sich selbst, dann den Kammerdiener, dann den gelehrten Herrn droben im obern Stock. Der sagte, indem er ihm sein überschwemmtes Zimmer wies: »Herr, Siejagen, wie ich höre, und ich, wie sie sehen, ich fische. Was nun dem Einen recht ist, das ist doch dem Andern billig?« – Von der Zeit an stellte jener das Jagen ein, und dieser das Fischen im Hause, und beide wohnten fortan zusammen als freundschaftliche Nachbarn, unbeschadet ihres rechten Rechtes und ihrer wahren Freiheit.