[225] Zu spät

Nie, arme kleine Knospe, wird
Dein Kelch der Sonne sich erschließen,
Du hast dich in die Welt verirrt
Zur Zeit, da Blumen nicht mehr sprießen.
Warum hast du so lang verweilt?
Der Sommer war ja längst gekommen.
Wenn dich der Winter nun ereilt,
Gleich ist dir jede Lust genommen.
Ach, ich beneide deinen Traum,
Den du im Erdenschoß geträumet.
Dich weckte all der Jubel kaum
Und immer hast du noch gesäumet.
Sieh um dich her die Schwestern weich
Vom Strahl des Tages schnell getroffen,
Sie neigten sich der Liebe gleich;
Bald waren ihre Kelche offen.
Sie hauchten ihre Düfte aus,
Von Lieb und Demuth hold bezwungen,
Dir haben in der Mutter Haus
Umsonst die Vögelein gesungen.
Sie gaben ihre Blüthen hin –
Der Wind entführte ihre Blüthen;
Du thatest wohl in herbem Sinn
Der eignen Blüthe neidisch hüten.
Nun stehen sie entblättert da,
Getödtet durch zu heißes Lieben,
Nur dir kam nie die Liebe nah,
Nur du bist ungeküßt geblieben.
Und sieh! es lockte dich im Hag
Doch alle Tage gleiche Wonne,
Die Vöglein fangen jeden Tag
Und jeden Tag ging auf die Sonne.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek