Indem ich diese Blätter dem Publikum übergebe, erlaube ich mir die Bitte, sie nicht für eine auf wirkliche Ereignisse basirte Erzählung anzusehen. Stadt, Straße, Umgebung und das nicht mehr vorhandene Haus, in welchem ich selbst meine frühste Kindheit verlebte, Sitten und Ansichten, die man damals in vielen Thüringischen Familien wiederfand, sind dem Erlebten entlehnt; ich wählte diesen Hintergrund, um meinen Schilderungen eine größere Wahrheit zu sichern; aber leider habe ich weder eine Familie von Waldau noch einen Bürgermeister Müller mit den Seinen in dieser Umgebung gefunden. Nur Sophie und Duguet sind, wie ich gern eingestehe, naturgetreue Portraits, auf denen ich sorglich geweilt, die ich zu meiner eigenen Freude in dankbarer Erinnerung ausgeführt; mögen sie im Bilde dieselbe wohlwollende Beurtheilung finden, die diesen trefflichen Menschen im Leben Keiner versagte, der sie kannte.
Wo aber ein blos zufälliges Zusammentreffen Aehnlichkeiten durch die sich vervielfältigenden Wiederholungen gleicher Zustände hervorruft, möge man mich nicht zur Portraitmalerin stempeln, ich verwahre mich dagegen: denn ich fühle, daß ich auch nicht [] die mindeste Anlage dazu habe und nur eine so bestimmt und scharf sich abzeichnende Persönlichkeit wie die unserer alten Diener mich zu einer Charakteristik wirklich gekannter und mir werther Menschen verlockt hat.
Das Allgemeine gewährt so vielfachen, so reichen Stoff, daß mir das Umbilden zur Einzelnheit zu angenehm und zu leicht scheint, um es gern mit einer Copie täglicher Begegnungen zu vertauschen.
[][] []Draußen wüthete der Krieg mit seinem gräßlichen Gefolge: Brand und Plünderung; in den Häusern, in denen die beängsteten Einwohner der Stadt sich vor körperlicher Mishandlung und dem Eindringen der feindlichen Krieger zu bergen suchten, herrschte die Beklommenheit eines noch ganz ungewissen Geschicks. Obgleich des Kaisers Befehl, die Erlaubniß zur Plünderung, seit gestern schon zurückgenommen, waren die entzügelten Soldaten nicht zu bändigen, die Ordnung noch nicht herzustellen möglich gewesen.
Noch blieben Thor und Thüren fest verrammelt, alle Fenster und Läden geschlossen; [] auf dem Steinpflaster der öden, nur von Soldatenhaufen durchzogenen Gassen mischten sich die Spuren des vergossenen Bluts mit den langen weißen Streifen des aus Uebermuth verstreuten Mehls – und immer noch wirbelten die schwarzen Dampfwolken aus dem großen Schutthaufen empor, zu dem eine Reihe Häuser geworden, die der Feind zuerst beim Eindringen über die Kegelbrücke auf Napoleons Befehl angezündet. Wunderbar genug hatte die Flamme, wie eine Riesenfackel, still und gerade fortgebrannt, ohne weiter um sich zu greifen. Ans Löschen hatte Niemand denken können im entsetzlichen Drange des Augenblicks, auch mochte es anfangs verwehrt worden sein – es wußte kaum Einer vom Andern in der Jeden aus allen Winkeln, einer Hydra gleich anstarrenden Angst!
An einem Erkerfenster der Windischen Gasse standen, furchtsam einander umfassend, zwei [] kleine Mädchen und sahen zu, wie des Nachbars Hofthor mit Flintenkolben eingeschlagen wurde; da kam die Amme der jüngeren Geschwister und riß die Kinder zurück, dann ließ sie rasch das grüne Rouleau vor den Scheiben nieder.
Aber eben jetzt war drüben das Thor gefallen und aus dem Innern des nachbarlichen Hauses erklang lautes Wehegeschrei. Mit einem Satz war die kleine Anna vom Stuhl am Fenster hinab und auf dem Boden, und ehe noch die Amme Leontinen, die ihr zunächst gestanden, aus den Armen zur Erde entlassen konnte, war jene ihrem Blick und Ruf entschwunden.
Die Amme scheute vor Allem lauten Verdruß; sie wandte sich sogleich zu den andern Kleinen, die ruhig in ihren Bettchen neben einander lagen und schlafen sollten, weil es Nachmittagszeit war – zu Mittag war freilich noch gar nicht gegessen worden.
Der Vater Anna's und der beiden Zwillingsschwesterchen [] war, als Bürgermeister, noch auf dem Rathhause, wo er sich selber keinen Rath wußte, denn er konnte kein Französisch; die Mutter stand draußen am Herd und sott Kartoffeln. Anna lief an ihr vorüber und durch den Gang, der das Vorder- und Hinterhaus verband; aber die Thüre am Ende desselben fand sie verschlossen. Aengstlich klopfte das Kind mit den kleinen Fäusten, rüttelte gewaltsam am Schloß und schrie aus Leibeskräften: Monsieur! monsieur Capitaine!
St. Luce hatte gehört, ein Zufall ließ ihn gerade in der Nähe sein; allein nun hinderte auch ihn die abgesperrte Thür, und er begann auf seiner Seite eben so laut zu rufen: Madame, Madame! öffnen Sie doch! Geschwind!
Jetzt brachte die vom Lärm geschreckte und aus der Küche hergeeilte Mutter den Schlüssel. St. Luce trat ein; aber eh' noch ein Wort unter ihnen gewechselt werden konnte, hatte Anna [] die Hand des jungen Offiziers erfaßt und riß ihn, in Thränen, Schmeicheleien und Bitten zugleich ausbrechend, heftig mit sich fort in das Vorderzimmer ans Fenster. Ein Blick genügte. Mit einem Sacre dieu! fuhr St. Luce die Treppe hinab auf die Straße, stieg ebenfalls durch die zerlöcherte Hofthür und trieb nach wenigen Minuten ein halbes Dutzend bärmütziger Kerls mit flachen Säbelhieben desselben Wegs wieder hinaus und vor sich her. Schurken! schrie er, und der Kaiser, der es verboten hat! Unsinnige!
Fluchend zerstreute sich das Gesindel; St. Luce ging wieder in des Bürgermeisters Haus zurück, verrammelte mit Hülfe der Mutter und der Amme die Außenthüre und es ward Alles auf ein Weilchen still.
Endlich ertönten drei leise Schläge an einem unteren Fensterladen und eine wohlbekannte Stimme forderte Einlaß. Es war der Vater, [] aber mit ihm ein Offizier, ein Regimentsarzt, der Majorsrang hatte, als Einquartierung. Der Bürgermeister hatte ihn sich selbst auf dem Bureau zugetheilt.
Der erschöpfte Mann setzte sich, noch innerlich bebend von all der Angst und der Sorge, in eine Ecke des Wohnzimmers; ihm war zu Muthe, als habe er in seinem eigenen Hause und Besitz kein Recht mehr. Die Mutter führte schüchtern den unwillkommenen Gast in die Putzstube, sah aber noch im Schließen der Thüre, wie der Ermüdete sich auf das gute, nur selten benutzte Sopha warf, und kehrte niedergeschlagen zu ihrem Gatten zurück. Und wir haben nichts für ihn zu essen im Hause, nicht einmal Brot! seufzte sie.
Diable! sagte Monsieur August, der Bediente des Regimentsarztes, ein baumlanger Grenadier. Er hatte die Klage errathen und [] halb verstanden. Und mein Herr will frühstücken! fuhr er fort.
Frühstücken um ein Uhr Nachmittags? schluchzte die Amme, die das eine französische Wort unterschied.
Gib, was du hast, daß nur Friede bleibt, sagte der geängstete Hausherr. Gib doch nur um Gottes willen! Du hast ja die eine Wurst und backe etwa einen Eierkuchen, nur mache mir den Major nicht verdrießlich! Er ist unsere Sauvegarde und schützt uns vor der Plünderung!
Die Mutter eilte fort. Und wir hatten seit gestern früh nur Kartoffeln, sprach Anna, da kann er auch wol zufrieden sein.
Unterdessen hatte der Major den Grenadier gerufen und fluchend den Befehl, ein Frühstück zu schaffen, wiederholt.
Die Bürgermeisterin nahm nun die sechsjährige kleine Leontine, die ruhig mit ihrer Puppe spielte, auf den Arm. Willst du wol [] dem Major sagen, Leontinchen, daß wir nichts Besseres im Hause haben, daß die Soldaten schon vorgestern Alles weggenommen?
Sie trug das Kind zum Major; das Dienstmädchen folgte mit Eiern, Wurst und einer sauern Gurke, dem Lieblingsessen der Thüringer. Laut lachend blickte der Major auf die Gruppe. Was will uns denn die Närrin? rief er aus.
Die Mutter brachte zitternd ihre Worte auf Deutsch an, der kleine Dolmetscher auf ihrem Arme wiederholte sie in reinem Französisch.
Schwere Bomben! sagte der Major, noch immer lachend, du fingerlanger Schatz sprichst Französisch?
Weil ma bonne eine Französin ist, erwiderte eifrig das Kind, und ich rathe dir sehr, dich nicht über dein Frühstück zu beklagen, sonst bekommst du Schelte!
Alle Wetter! Und wo ist denn diese saubre Bonne?
[] Nun, bei der Mama!
Und die Mama?
Drüben im Hinterhause, wo wir wohnen.
Und nun sehe mir einer den Dummkopf von Bürgermeister, der uns hier einquartiert!
Die Magd und die Hausfrau hatten indessen das spärliche Mahl auf den Tisch gestellt, Anna trat mit den Kartoffeln hinzu. Ich spreche auch Französisch, sagte sie, aber nur ein bischen. Der Offizier sah auf. Ich bitte sehr um Verzeihung! fuhr Anna mit unbeschreiblicher Anmuth fort, indem sie die Kartoffeln vor ihn hinstellte und mit der andern Hand eine kleine einladende Bewegung machte.
Kreuz Donnerwetter! August! sieh mir einmal nach, was all dies Geträtsch eigentlich soll?
Und August machte Kehrt, ward aber von Niemand zurechtgewiesen und brachte also nach zwei Minuten einen zitternden Beutlergesellen, der im Waschhause, hinter den Waschgefäßen [] versteckt gelegen, und mit ihm ein hübsches in Thränen zerfließendes Dienstmädchen, die er auch unten gefunden.
Ist das deine Mama? lachte der Major Leontine an.
Aber das war zu viel für Anna's Herz. Sag ihm doch, Leontine, bat sie, daß deine Mama eine fremde Dame ist, und daß ihr im Hinterhause nach der Esplanade zu wohnt, und sag ihm, daß dies nur eure Marie ist, und daß meine Mutter dich geholt hat, weil du Französisch sprichst.
Leontine that ihr Bestes. Ah! Deine Mutter ist eine vornehme Dame! und der da? fuhr der Major fort, indem er auf den Beutler zeigte.
Ei, das ist ja unser Liebhaber! erwiderte Leontine ganz ernsthaft.
Nun aber war es um des Herrn wie um des Dieners Fassung geschehen. Beide brachen in ein homerisch-unauslöschliches Gelächter aus. [] Eine Flut von Witzen und Zweideutigkeiten überschüttete den armen Beutlergesellen mit einer Verlegenheit, die ihm helle Schweißperlen ins Gesicht trieb und um so peinlicher war, da weder er noch die übrigen Anwesenden ein Wort von dem Allen verstanden. Nur die beiden Kinder belustigte die Scene und Anna lachte herzhaft mit.
Unterdessen hatte der Major gegessen und eine mitgebrachte Flasche Wein geleert; der gute Humor prädominirte. Rasch sprang er auf, nahm Leontine auf den Arm, gab dem Beutlergesellen einen Tritt in den Rücken und trieb ihn vor sich her zur Thür hinaus.
Komm, mein Liebchen, wir wollen deine Mutter besuchen!
In tödtlicher Angst folgte die Hausfrau mit Annen an der Hand. Auch die Annemarie wollte ihren Schatz nicht aus den Augen verlieren.
[]Man hatte, wie schon erwähnt, der Ordnung halber den Gang gesperrt, der oben die beiden Wohnungen verband; ungern wollte die Bürgermeisterin ihn anzeigen, dennoch konnte sie dem Fremden das Kind um so weniger allein überlassen, als es ihr anvertraut war. Mit bittenden sanften Vorstellungen suchte sie den Offizier, der sie nicht im mindesten beachtete, von seinem Vorhaben abzubringen; umsonst, und so gelangte die ganze Karavane auf die Hausflur, die zwar in Verbindung mit dem Gange stand, aber auch eine Treppe hatte, die, abgesondert von demselben, in den Hof führte.
Hier wohnt Wilhelm, sagte im Vorüberkommen Leontine. Sogleich machte der Major Anstalt, in die verschlossene Stube zu dringen. Der Liebhaber warf sich in Todesangst dem Helden zu Füßen und flehte um Schonung.
[] Imbécille! brüllte der Franzose, indem er ihm einen zweiten Fußtritt gab.
Monsieur August hatte dem Flehenden längst einen großen Stubenschlüssel aus der Tasche gezogen, mit dem er ganz gelassen das Zimmer öffnete. Außer dem Bett und Handwerkszeuge des armen Burschen, war nichts in der Kammer zu sehen, und nun wurde der in seinen Erwartungen getäuschte Major alles Ernstes böse, weil er sich genarrt glaubte; daß der arme Beutler sein Bischen Geld unter den Wurzeln eines abgeblühten Nelkenstockes verborgen, der im Winkel stand, fiel ihm eben so wenig ein wie Allen, die vor ihm da gewesen.
Unter vielen, von allen Seiten unverstandenen Reden rückte indessen der kleine Haufe, der jetzt muthig voraneilenden Leontine nach, durch Hof und Schuppen, eine andere Treppe hinan, und plötzlich standen Alle in dem von Frau von Waldau bewohnten Hinterhause, in [] einer Küche und vor einer appetitlichen dicken Französin von etwa sechs und dreißig Jahren, die mit Hilfe einer Magd Tassen und Gläser aufwusch.
Oho! sagte Madame Sophie, da bekomme ich ja viele Zuschauer beim Gläserspülen.
Ist das deine Mutter? fragte der Major.
Das ist ma bonne Sophie! jubelte Leontine ihr in die Arme laufend.
Mein Herr, Madame nimmt jetzt keinen Besuch an, sagte ganz trocken Madame Sophie.
Das wollen wir einmal sehen! donnerte der Major.
Sophie erschrak doch ein wenig; sie versicherte, sie wolle nachfragen, ob Madame zu sprechen sei – da öffnete sich eine gegenüberstehende Thüre.
Frau von Waldau! rief die Bürgermeisterin. Ach, es ist nicht meine Schuld, gnädige Frau!
Frau von Waldau trat den Eindringenden [] ruhig entgegen. Es war eine stattliche gelassene Erscheinung, nicht schön, nicht häßlich, mit der sichern und vornehmen Würde der Haltung, die man bei unserer weiblichen Aristokratie oft findet und die meistens sogar der Zügellosigkeit imponirt. Rasch hatte sie sich mit der Bürgermeisterin verständigt, und ehe noch der Major das Zudringliche seines Eintritts irgend bevorworten konnte, war diesem St. Luce aus einer offenen Nebenthüre entgegengekommen, hatte seine Hand ergriffen und ihn in aller Form der Frau Baronin von Waldau vorgestellt.
Die Scene auf dem Verbindungsgange, die Gewalt, mit welcher er sein Erscheinen hier erzwungen, Alles wurde durch das besonnene Betragen jener Beiden so gänzlich ausgelöscht, daß der Major selbst kaum sich dessen zu erinnern vermochte. Frau von Waldau versicherte sehr höflich, er sei ihr willkommen; und da in der [] jetzt Alles umwogenden Unruhe ein friedliches Asyl mehr denn je als Bedürfniß erscheine, so habe sie gesucht, ein solches in ihren Zimmern sich zu bewahren, wobei ihr die Galanterie und Ritterlichkeit seiner Landsleute zu Hilfe gekommen. Wenn es erst gelungen sein würde, die tobenden Massen noch in etwas mehr zu beschwichtigen, hoffe sie ihn bei längerem Verweilen auch bei sich in ihren kleinen Abendcirkeln zu sehen; für den Augenblick sei freilich noch Alles zu aufgeregt.
Der Major stotterte einige unbehülfliche Phrasen und begann Leontinens Liebenswürdigkeit zu preisen, was ihn glücklich in Zug und zu Erwähnung des Liebhabers brachte, der eigentlich sein Kommen veranlaßt haben sollte.
Die gnädige Frau lächelte, erklärte in zwei Worten, wie die Liebschaft des geängsteten Beutlergesellen zu einer ihrer Mägde diesem den Spitznamen verschafft habe; und ehe noch der [] Major es selbst wußte, hatten er und St. Luce sich beurlaubt und dieser ihn in sein Quartier zurückbegleitet.
Und nun, lieber Major, bitte ich Sie, der Baronin, die unter den ganz besondern Schutz des Prinzen Murat gestellt ist, im Nothfall jeden Beistand angedeihen zu lassen, wenn ich selbst meinem Regiment folgen muß, sagte St. Luce, sich anmuthig verbeugend; es scheint daß diese Dame in großem Ansehen steht!
Daß er selbst mit unsäglicher Mühe und Aufopferung Frau von Waldau den erwähnten Schutz und eine Sauvegarde verschafft, davon sagte er kein Wort.
Der Major biß sich in die Lippen und murmelte blos: Ich werde dir's gedenken, mein Bester!
Die nächsten Tage führten eine Art Stille herbei, die, wie ein trübes Wasser, ihre Tücke barg. Die Plünderer schienen zur Disciplin [] zurückgekehrt, auf den Straßen war Alles ruhig; nur geordnete Regimenter durchzogen sie und glänzende Offiziere des nun angelangten Generalstabes sah man auf- und niederreiten. In den Häusern aber blieb die rohe Gewalt noch eben so entfesselt, als sie früher es gewesen; einzelne Mishandlungen fanden immer noch statt, nur war der Unfug minder merkbar. In diesen einzelnen Fällen aber zeigten sich Kenntniß der Sprache und billiges Gewähren gleich unwirksam, da die jetzigen Forderungen nicht durch das Bedürfniß des Augenblicks, sondern nur durch Frechheit und Uebermuth erzeugt sein konnten.
Leontine war nicht wieder zu Bürgermeister Müllers hinübergekommen. Frau von Waldau ängsteten die rüden Späße und Liebkosungen des Majors, und Madame Sophie, die sich selbst mit vollem Recht Servante-maitresse im Hause titulirte, hatte schon gestern ihre Meinung gesagt, [] folglich blieb Leontine zu Hause, und Müllers mußten ohne Dolmetscher sich behelfen.
Anna war den ganzen Tag betrübt gewesen, am Morgen war St. Luce auf seinem schönen Schimmel fortgeritten mit seinem Regiment. Nun fiel ihr mit einem Male ein, daß er ein Franzose sei und also nach ihres Vaters Ausspruch zu den bösen Leuten gehöre, die das ganze Land unglücklich machten. Es war ihr unbegreiflich, daß er, so gut und schön, irgend Jemand unglücklich machen sollte; und sie wäre gern zu Waldaus hinübergegangen, um Leontinen zu fragen, die Mutter hatte ihr aber die Kleinen zu hüten gegeben, weil die Amme Kinderzeug wusch. Der Vater war wieder auf dem Einquartierungsbureau. Anna erzählte den Geschwistern, als sie nebenan den Major sehr lustig lachen und singen hörte. Leise schlich sie hinzu – die Thür war blos angelehnt – noch leiser schob die kleine Hand sie zurück.
[] Aber, Monsieur Major! was machst du denn mit der Mutter Shawl? und die Kette! und die weißen Spitzen – Mutter! Mutter! brach das arme Kind in lautes Weinen aus.
Die Mutter kam und blieb versteinert an der Schwelle stehen. Der Major ließ sich nichts anfechten. Das wird meiner kleinen Freundin Spaß machen! sagte er; und die Herrlichkeiten verschwanden in seinen Mantelsack.
Die arme Bürgermeisterin nahm ihr schluchzendes Kind in die Arme und beschwichtigte es mit Küssen; sie konnte nicht reden – kaum ein Seufzer entglitt den zitternden Lippen; es war ihr zu Muth, als sei sie nirgend mehr sicher in der Welt. Anna aber riß sich los: Böser Major, rief sie französisch aus, das gehört meiner Mutter! und streckte die Hand nach den verlornen Schätzen aus.
Ah, kleiner Naseweis! Was geht's dich an? schrie ihr der Major entgegen. Dich soll ja – – [] Eh noch die zagende Mutter das Kind an sich zu reißen vermochte, hatte es Monsieur August auf den Arm genommen und tänzelte mit ihm zur Thüre hinaus.
Nun, nun, mein Herzchen, stille! ich gebe dir etwas anderes. Da! sagte er, indem er sie niedersetzte und von einer Schnur, die er um den Hals trug, eine goldne Berlocke löste, die er ihr gab. Bah! nimm sie nur! Sie ist mit vollem Rechte mein! Der sie getragen, liegt auf dem Felde der Ehren! Nimm, nimm! und zur Mutter gewendet, fuhr er plötzlich ganz leise fort: Ah! nix sag, Madame! Monsieur le Major bös! bös! dazu machte er eine erklärende sprudelnd heftige Bewegung und war fort, ehe noch die Räthin vom Schreck sich erholte.
Mutter und Kind weinten. Anna hielt die Berlocke an's Licht. Mutter, Mutter! ob er die auch andern Leuten genommen hat? und die Kleine wollte hinaus, sie ihm wiederzugeben, [] aber Monsieur August war nirgends zu finden.
Als am Abend der Vater heim kam und die Mutter ihm den Unfall klagte, war auch der Major über alle Berge.
Anna hatte die Berlocke behalten; es war ein zierliches Posthörnchen von Gold, eine der damaligen Modespielereien, die man häufig an der Uhr trug; sie hatte fest beschlossen, sie Monsieur August zurückzugeben, wenn er wiederkäme, und sie deshalb an einem Bändchen um den Hals gehängt. Das Kind konnte sich gar nicht denken, daß man auf immer fortgehen, immer fortbleiben könne; sie hatte nie an Reisen oder Abschied gedacht.
[] Leontine war viel weniger entwickelt, als ihre kleine Freundin; die äußern Erlebnisse zogen noch wie Guckkastenbilder an ihrer Seele vorüber. Sie erzählte, daß jetzt alle Abende eine Menge Offiziere zur Mama, Thee zu trinken, kämen, und daß Madame Sophie ihn im Gesellschaftszimmer bereiten müsse. Und die alte Fräulein Wallstädt von oben kommt auch, schloß sie.
Aber wo ist denn dein Vater? fragte Anna.
Der sitzt noch im Dachstübchen, er kommt nicht und Mama hat mir streng verboten, von ihm zu reden.
Und Duguet?
O, Duguet soll sich gar nicht sehen lassen, versicherte die Kleine. Sophie hat gesagt, die Franzosen würden ihr ihn gleich wegnehmen, wenn sie ihn fänden, weil er auch ein Franzose sei.
Kurios, sagte Anna, daran habe ich noch nie gedacht!
[] So? fuhr Leontine altklug fort; sie sagt, er müßte dann Soldat beim Kaiser werden, und dann hätte sie keinen Mann mehr!
Lieber Waldau, ich bin's, sagte flüsternd eine weiche Stimme und ein leiser Finger klopfte an die Thür des Dachstübchens.
Wie lange, liebes Kind, willst du mich eigentlich hier gefangen halten? sagte Waldau, der Eintretenden herzlich die Hand bietend. Mich dünken die Gefahren dort unten für dich weit größer, als die mich bedrohenden.
Nicht im mindesten, erwiderte sie lachend, es sei denn, daß du für mein Herz fürchtest; denn allerdings muß ich, inmitten all der Angst und Unruhe, die liebenswürdige Wirthin machen und alle Abend fünf bis sechs Offiziere bei mir sehen, die mir unsre Einquartierung zuschleppt, und sehr schöne Leute obendrein!
[] O Josephine! seufzte Waldau, die Hand über die Augen legend, welch eine furchtbare Zeit! Dich unter den Feinden, den rohen Scherzen den Bravaden dieser Schergen unsers Vaterlandes ausgesetzt – und mich hier, im Dachkämmerchen, versteckt, wie einen Feigling, wie einen Hospitalkranken, Aussätzigen oder Narren!
Und bist du etwa nicht krank, Waldau?
O ja, an meinen sechsundsechzig Jahren und den tausend Erfahrungen, die sie mir aufgewälzt! – Aber hast du denn nun ordentlich warm zu Mittag gegessen, Kind?
Und ein wenig närrisch bist du auch, lieber Freund, fuhr sie, die Frage überhörend, fort. Deine Koblenzer Thorheit, die jugendliche Excentricität, die dich antrieb, dich als Beschützer der Emigranten auszusprechen, hat wie die meisten Kinderkrankheiten späte und böse Folgen hinterlassen.
Josephine! ich war damals ein Mann! [] Als ich nach Paris kam – doch, unterbrach er sich selbst, lassen wir das!
Wenn die gute alte Wallstädt, die ich, als einzige Dame meines Bereichs, nicht missen kann, mich nur nicht den ganzen Tag von dem unterhalten möchte, was die Soldaten bei ihr geplündert haben! – Die Langeweile ist auch keine kleine Qual, sagte, ablenkend, Josephine.
Ist ihr denn so viel weggekommen? fragte Waldau.
Keine Stecknadel! In unserm Hause ist gar nicht geplündert worden, und nur theilweise drüben bei Bürgermeisters, wo unter andern der saubre Major, den mir St. Luce noch zu guterletzt präsentirte, eine Kommode ausgeräumt hat. Glaube mir, Sophiens Kochen und Backen während der Schlacht, die Vorräthe, die wir aufgekauft hatten, und der überraschende Empfang, der den Plünderern ward, haben [] Wunder gethan. Nach einem Tage voll Blut und Kampf einen für sie gedeckten Tisch finden, das ist eine Verlockung, der es wahrhaftig schwer ist, bösen Willen entgegenzusetzen. Diese Frau ist unser guter Engel.
Aber du? du hattest bis gestern nur Kartoffeln?
Bewahre, lieber Freund, ich hatte auch eine Tafel Chokolade zum Nachtisch. –
Und heute? – fuhr er fort, in zärtlicher Bewunderung ihres heitern Muthes ihre Hände an sein Herz drückend – und heute?
Nun, heute mußt du Sophien fragen; du weißt, daß ich mich nicht um die Details der Wirthschaft bekümmern darf!
Ich habe aber gestern von Duguet gehört, daß sogar für unsre Herzogin –
Uebertreibung! Die Menge, denen die edle Frau den Schutz ihrer fürstlichen Nähe gewährte, hatte vielleicht die Vorräthe aufgezehrt; [] die Franzosen hatten die Bäckerläden geplündert und zerstört, die vorräthigen Mehlsäcke auf den Gassen ausgeleert – wo sollten die Leute sogleich das Brot hernehmen, oder den Muth, es zu backen? Bei uns hat man am ersten Tage für sie nach einer Flasche alten Wein gefragt; schade daß ihn die Kerls schon allen ausgesoffen!
Josephine! den ganzen Keller?
Oui, mon ami! Bis auf ein Fäßchen Malvasier und weißen Burgunder, den Sophie irgendwo, in ihrer Tasche glaube ich, versteckt hat.
Fünf hundert Flaschen!
Haben uns gerettet, Waldau! Das sind Nebendinge. Als ich dich glücklich überredet hatte, in dies Dachstübchen zu ziehen, da war alles gut! Nur einen Augenblick, als die Kanonenkugeln wie Scheeren die Bäume unter unsern Fenstern beschnitten und die Zweige gegen die Scheiben anschlugen, war mir bange!
[] Armes Kind! sagte Waldau bewegt, hätte ich dich nicht in mein Leben gerissen!
So würde ich auf andre Weise gelitten haben! Lieber Freund, wer darf in unsrer Zeit auf ruhige Tage hoffen? Daß du durch frühere Begünstigung der Emigrationen, durch deine Freundschaft mit Turgot und Chateaubriand die Augen auf dich gezogen, ist halb vergessen; das Schlimmste, glaube mir, sind deine Artikel im Tartarus. Indessen geht Mancher, dem das Herz ängstlich schlug, jetzt sorgenlos umher und spielt den Vermittler zwischen den Feinden und den der Sprache nicht mächtigen Stadtbehörden. Warum sollten wir mehr zu fürchten haben als sie?
Weil ich nicht so handeln werde.
Thut nichts, dafür hast du eine gar gescheite Frau! Habe nur noch ein klein wenig Geduld, ich habe dir bei allen Bekannten ein wunderschönes Podagra angelogen!
[] Und die Offiziere?
Halten mich für eine reiche Witwe. Sophie benimmt sich vortrefflich, sie ist abwechselnd die Hausfrau, wenn Gemeine kommen und Duguet gerufen wird, oder meine Gesellschafterin, meine Haushälterin, ich glaube sogar meine Duegna. Sie singt mit ihren Landsleuten Nationallieder in lüttich'schem Dialekt, die Gott verstehen mag.
Es klopfte wieder leise und Madame Sophie erschien mit der Hälfte eines gekochten Huhns, hinter ihr die beiden Kinder.
Eh! Sophie, wo hast du das her? riefen wie aus einem Munde beide Gatten.
Dame! erwiderte Sophie, mit großer Gewandtheit den Tisch mit Silber deckend, man ist nicht umsonst eine Lütticherin. Man hat seinen Landsmann.
Siehst du! sagte lachend Frau von Waldau, so macht sie es den ganzen Tag. Die gute Seele ist eine wahre Perle in dieser Zeit.
[] Ich glaube, sie fühlt sich im gewohnten Element, sie die Revolution erzeugte.
Die Kinder unterbrechen das Gespräch. Mitten in Kriegesnoth und allgemeiner Sorge breiteten Bildung und Anmuth eine Art Friedensasyl um die Leidenden. Aber auch das angenehme angewöhnte Gefühl der Wohlhabenheit hatte Theil an der Gestalt des Augenblicks.
Daheim traf die von Waldaus rückkehrende Anna die Mutter oft in Thränen. Seit dem Eindringen der feindlichen Truppen wollte das Wirthschaftgeld nirgend mehr zureichen. Manches war, in den ersten Tagen der Drangsale vernachlässigt, weggekommen, durch die Plünderer fortgeschleppt; nun zeigten sich von allen Seiten Bedürfnisse, es mußte Vieles neu angeschafft werden; alle Ausgaben hatten sich vergrößert und das Einkommen sich nirgend gemehrt.
[] Der Bürgermeister war ein ängstlicher Mann, rechtlich in hohem Grade, dagegen um den Pfennig handelnd und sorgend. Die Mutter war dadurch gewohnt, das Geld zu manchem kleinen Putz- oder Kleidungsstück von ihrem Wirthschaftsümmchen abzusparen, jetzt mußte es einzeln dem Vater für alles Fehlende abgefordert werden; es ward ihr ungern, oft mit Vorwürfen gegeben. Anna war erst acht Jahre alt, aber sie fühlte mit der Mutter; – und wenn sie eben drüben gewesen war bei Waldaus, fühlte sie es noch tiefer. Wenn ich groß bin, will ich reich sein! sagte sie.
Aber es hatte nicht den Anschein, als ob Anna das Talent des Reichseins oder Reichbleibens vom Himmel erhalten; kaum bekam sie irgend ein Stück Kuchen, ein Spielzeug, was es auch sein mochte, so trug sie es hinüber zu Leontinen. Nie fiel ihr ein, daß sie irgend etwas besitzen könne, das nicht eigentlich[] jener angehörte, und mit stillem Entzücken weidete sie sich an der Freude, die sie der kleinen Freundin bereitete.
Man sagt den glücklichen Stunden nach, daß sie Flügel haben; mir scheinen die unglücklichen in noch rascherem Flug zu entschwinden, nur ist eben ihr Vorüberziehen ein unmerklicheres, es gleicht dem lautlosen Schweben des Nachtvogels oder der Fledermaus, deren Bewegung man nicht hört. Jahre des Elends, die im Entstehen unerträglich schienen, liegen plötzlich in langer Reihe hinter uns. – Hast du das wirklich ertragen? fragt rückschauend das vor der eignen Leidensfähigkeit zusammenschreckende Herz – all das Entsetzliche erduldet – all die Schmach überdauert? Und vor Allem fragt so der Deutsche, der vor und nach dem Handeln so viel, ach, oft so nutzlos spricht![] – aber im Augenblick des Leidens stille hält und Unermeßliches sich aufbürden läßt, eben weil er die Kraft des Ertragens und Hebens an sich kennt, und so erging es in jener kummervollen Zeit dem Einzelnen wie den Nationen. Es reihten Tage sich an Tage, sie wurden Monde, wurden Jahre der Erniedrigung, bis wir das Joch, das uns zu erdrücken schien, zu dem Ziele hinzutragen gelernt, das uns mit dem Bewußtsein unzerstörbarer Stärke den Vollgewinn der Freiheit wiedergeben sollte.
Nach und nach hatte man die Offiziere mit der Anwesenheit eines kranken Gemahls der Frau vom Hause bekannt werden lassen; als endlich Waldau unter sie trat, waren sie längst an ihn gewöhnt, hatten von ihren Vorgängern ihn erwähnen hören; Niemand spürte bei seinem Erscheinen seiner Vergangenheit nach, der Feuerbrände des Tartarus ward in jener kaleidoskopartig die Gegenwart stets umgestaltenden[] Zeit kaum mehr gedacht. Man erzählte, daß der Kaiser bei Waldau's Namennennung gefragt: Est-il auteur? aber die ihn zunächst Umgebenden gehörten insgesammt zu den immer brillanter werdenden Abendzirkeln des Waldauschen Hauses; ihnen war der Herr desselben so unschuldig, unbedeutend erschienen, daß die Antwort, verneinend oder ausbeugend, den Fall unerörtert ließ.
Und wer hätte denn auch in diesem schweigsamen, fast theilnahmlosen Mann den kaum vor wenig Jahren erst einer glänzenden Laufbahn entrückten Staatsmann und Politiker zu erkennen vermocht?
Waldau zeigte sich mit einem Male gänzlich umgewandelt: denn er war zurückgetreten in lautlose Stille und ließ das unselige Geschick seines Vaterlandes an sich vorüberziehen, wie einen verheerenden Lavastrom, ohne irgend ein äußeres Zeichen des Schmerzes. Er hatte [] sogar Stunden, in denen das ihm eigne große Combinationsvermögen ihn schon damals zu der festen Ueberzeugung trieb, daß nur ein allgemeines, grenzenloses Elend sein Volk allmälig wieder zu einem siegverheißenden Widerstande kräftigen werde. Waldau war ein gelehrter, tiefer Denker; der Glanz, der damals Preußens Jugend, besonders aber das Militair, bis zum Uebermuth gesteigert hatte, mußte sei nen strengen Blick ungeblendet lassen. Jahre lang hatte er die bunten Erscheinungen seiner Zeit, wie eine rückwärts spiegelnde Fata Morgana betrachtet, die das Untere zu oberst kehrt. Noch vor kurzem hatte er es versucht, seine Stimme warnend zu erheben, jetzt war er verstummt; in dem ihm aller Wahrscheinlichkeit nach eng zugemessenen Kreis der Tage konnte er nun nichts Großes zu erleben erwarten!
Josephine hatte ihren Gatten sehr lieb; sie hatte den viel älteren Mann aus Enthusiasmus [] geheirathet. Wenn man jetzt die anmuthig gelassene Erscheinung in der Färbung sah, die ihr mannichfaches Erfahren, Zeitenwechsel und ganz aristokratische Gewöhnungen gegeben, konnte man sich gerade in ihr keine solche Aufregung möglich denken. Auch war sie deren nur noch im tiefsten Herzen fähig, und diese sehr seltenen inneren Erschütterungen der Seele nahmen immer eine so bestimmte äußere Form des Handelns an, daß man kaum umhin konnte, sie für Früchte einer großen Besonnenheit zu halten. Und eine solche Frucht der ihr ganzes Wesen durchzitternden Angst um Waldau war die Art und Weise, mit der die noch an der Jugendgrenze stehende Frau es möglich machte, sich dem allgemein lastenden Druck zu entziehen und um sich und ihren Gatten eine Gesellschaftsoase zu bilden, die ihm äußere Sicherheit und das geistige Lebenselement bot, von dem die Erhaltung körper- und gemüthskranker Menschen [] weit öfterer abhängt, als wir es uns eingestehen mögen.
Umsonst umgibt uns der weite Wesenkreis der auf unsere Geistesfragen ringsum antwortenden Natur mit analogen äußern, die inneren Erscheinungen unsers Lebens rückspiegelnden Erfahrungen; wir beachten sie nicht. Die Lösung so mancher quälenden Verworrenheit liegt in Riesenhieroglyphenschrift um uns her gebreitet; aber wir wenden unser Auge ab.
Der Cappflanze geben wir mit stets erneuter Fürsorge die ihr zusagende Erde; wir stellen sogar die Gewächse zu einander, deren Odem eine verwandte Atmosphäre um sie her bildet, ängstlich entfernen wir die fremdartigen, denen vielleicht gerade diese Ausströmung gefährlich werden könnte – nur den Menschen, die edelste Blüte der Schöpfung, stoßen wir kalt in eine ihn erdrückende, seinen besten Eigenschaften fremde Umgebung! Wir knicken die zarten Keime [] seines angebornen Empfindens und dann fodern wir eine Entwickelung von ihm, die kaum das günstigste Verhältniß zu sichern vermocht hätte.
Zum Glück gibt es Frauen, die allenthalben instinctmäßig das Amt der Pflegerinnen übernehmen. Wie man zuweilen Kinder eine Blume an die Lippen drücken und gleich darauf ein runzliches, altes Muhmengesicht mit gleicher Inbrunst herzen sieht, als leuchte dem frischen jungen Blick das Göttliche durch jede Hülle zu; eben so unbewußt verleihen jene edeln weiblichen Naturen der schwankenden Ranke den Stab, dem wankenden Schritt den Arm, dem zagenden wie dem erstarrenden Herzen die Umgebung, deren es zum Genesen bedarf!
Und eine solche geborene Soeur grise alles Lebens war Josephine.
Waldau hätte ohne sie das Dasein nicht zu ertragen vermocht. Sie wußte ihn von einem [] Tage zum andern hinzuhalten und durch stete Theilnahme und stets erneutes Interesse zu hindern, daß ihn diese Mitteltemperatur der Existenz, die so plötzliche Unthätigkeit, nicht vernichte.
Was damals Weimar an ungewöhnlich begabten Männern und anmuthigen Frauen in sich schloß, das verstand Josephine um sich und Waldau herzuziehen, das Störende suchte sie mehr und mehr zu entfernen, und ihr Haus ward bald mitten im Drang der drückenden Zeitumstände zum Sammelplatz aller wissenschaftlich Gebildeten und Künstler.
Fast möchte es unserer objectiven Zeit unmöglich scheinen, die jenen gewaltsamen Kriegsmomenten vorangegangnen stillen Jahre sich zu vergegenwärtigen. Fabelhaft klingt es, wenn die ergrauten Denker und Gelehrten jener Tage uns von der Abgeschlossenheit ihres damaligen geistigen Schaffens erzählen, unglaublich die [] Versicherung: daß in Jena selbst, am Vorabende der entscheidenden Schlacht, jeder von ihnen nur mit seinem wissenschaftlichen Zwecke beschäftigt, den Riesenschritt des Geschicks erst am Kanonendonner erkannte.
Und doch war dem so, und doch wurde eben durch diese Begrenzung so Vollständiges geleistet und sogar die Schöpfung einer Volksbildung durch eine bloße Theaterbühne möglich.
Von dieser jetzt untergegangenen Subjectivität, die so ganz verschieden von der unsern, nur in ihrer eignen Thätigkeit sich spiegelte, gab es in Josephinens Umgebung gar manche Beispiele. Was kümmerte diese die Politik! Freudig kehrten alle die von Außen ungern gestörten Naturen in das durch sie ihnen gebotene Lebenselement zurück. Ihre geselligen Kreise wurden bald land-, ja weltberühmt; im Grunde dachte sie nur daran, ihren Gatten zu erheitern, unbewußt aber fühlte sie selbst sich hingerissen, [] gefiel gern, lernte gern im lebendigen Geistesverkehr und ward bald zum Mittelpunkt desselben, denn sie verstand mit unnachahmlicher Grazie zuzuhören.
Auch Anna war jetzt viel bei Waldaus. Die kleine Leontine hatte eine Menge Lehrer, es fehlte ihr aber noch an Stätigkeit. Anna's Eltern schickten diese in eine öffentliche Mädchenschule, in der sie nichts lernen konnte, weil nichts in derselben gründlich gelehrt ward. Die Eltern kümmerte das wenig, schrieb doch die Mutter selbst nicht orthographisch. Auch waren die Brüder, die früher bei einem Verwandten, einem Landpfarrer, in Pension gewesen, nun heimgekehrt. Der Bürgermeister fand, daß deren Erziehung ihm täglich mehr kostete, und wandte um so weniger an Anna's Unterricht.
Die Buben aber waren wild und ungezogen; war der Vater im Rath, konnte die Mutter nicht mit ihnen fertig werden; und die [] Amme, die zur Wartung der Kleinen im Hause geblieben, machte ihr viel böse Stunden durch tägliches Anklagen derselben.
All diesen Uebelständen gründlich abzuhelfen, nahm endlich der Bürgermeister einen Gymnasiasten in's Haus, der den Knaben das nöthige Latein einbläuen sollte. Anna, meinte er, könne beim Repetiren der Weltgeschichte und Geographie gegenwärtig sein und die Krümchen der brüderlichen Gelehrsamkeit auflesen.
Es versteht sich, daß der achtzehnjährige Primaner die Buben ebenso wenig in Ordnung zu halten im Stande war als die Bürgermeisterin; höchstens vergaß er bei ihnen sein eignes Latein.
Der armen Anna ging es durch Mark und Bein, wenn Herr Schmied in seiner Verzweiflung die Jungen beim Papa verklagte und dieser sie mit väterlicher Hand fürchterlich durchprügelte; noch mehr widerte es sie an, wenn [] der Schüler mit so einer Execution den Knaben drohte und andere Male Versteckens oder Blindekuh mit ihnen spielte, zuweilen sogar zu seltsamen Bestellungen sie benutzte. Anna fühlte ein dunkles Unrecht, einen Schmerz in dem Allen und nahm mit doppelter Freude die Erlaubniß an, Leontinens Unterricht mit dieser zu theilen.
Aber wenn es nun nach langer Woche endlich Sonntag war und die Magd die Stube mit feinem Sand bestreut hatte, wenn die mit rothem Kattun bezogenen eichenen Meubles im Sonnenschein glänzten, Mutter und Kinder geputzt zur Kirche gingen, o dann war Anna weit lieber zu Hause, denn drüben merkte man ja den Sonntag gar nicht!
Sie freute sich an Allem, am Sonntagsbraten, am Tröpfchen Wein, das die Geschwister bekamen, an den frisch gefüllten Blumenvasen und vor Allem an der Mutter; denn [] an diesem Tage zog die Bürgermeisterin einen weißen, garnirten Rock an und ein Negligéejäckchen mit rosa Bandschleifen; und dann kam ihr alter Verehrer und Hausfreund, der Präsident Ballheim und machte ihr eine Morgenvisite.
Und das Alles war so feierlich und schlug wie eine Wünschelruthe aus Anna's poetischer Seele tausend Quellen des Glücks hervor!
Wer in jenen Tagen Thüringen und Weimar gekannt hat, muß sich erinnern, daß die jetzt so oft an einzeln uns erhaltenen Beispielen bewunderte Einfachheit der häuslichen Einrichtungen damals ganz allgemein war und der Luxus unser Ländchen weit später berührt hat. Dennoch waren die Stände durch Umgang und äußere Lebensbedingungen geschieden, das Waldau'sche Haus hielt die Mitte zwischen Hof-, Bürger- und Künstlerwelt.
Waldaus waren Fremde; sie hatten großstädtische[] Sitten, in ihrem Hause geschahen eine Menge Dinge, die »Bürgermeisters« für unpassend erklärt haben würden, wären sie je in diese Zirkel gekommen; das aber fiel beiden Familien auch nicht im Traume ein.
Josephine hatte eine Ahnung von Anna's Charakter; allein die tausend Nadelstiche des so früh gestörten Lebens konnte sie nicht gewahren, weil sie deren Häuslichkeit nicht kannte.
Wenn die Bürgermeisterin ohne Vorwissen ihres Mannes Kartoffeln oder Aepfel aus dem Garten verkaufte und sich von deren Erlös ein Tuch, eine Haube anschaffte, ahnete Niemand, daß Anna der Vergleich der Art und Weise, wie Waldau und seine Gattin lebten, so schmerzlich ins Herz schnitt, und doch, wenn ein ander Mal das Kind von seinem Bettchen aus die Mutter in tiefer Nacht, bei einem einzigen Licht, an der Christbescheerung für die Kleinen heimlich arbeiten sah, wenn es die tausend [] Ersparungen und Berechnungen bemerkte, durch welche die theure Frau den Geschwistern ein Spielzeug mehr auf den Weihnachtstisch legen konnte, dann fühlte es sich wieder tausendmal glücklicher als Leontine, deren Wünsche so leicht und nebenher erfüllt werden konnten. Annen ward dann Alles lieber, instinctmäßig empfand sie einen Vorzug ihres Geschicks und es ward ihr ernst und still beim Fest zu Muthe. Das schwarze Kleid der Mutter, das Kuchenbacken, ja sogar das vorangehende Fasten rührte sie durch einen geheimnißvollen beglückenden Zauber; aber Anna verstand sich selbst eben so wenig, als Frau von Waldau sie begriff.
Drüben zerfiel indessen das äußere Leben auch in zwei Hälften. Madame Sophie hatte eine eigenthümliche Atmosphäre, die eben so sehr von der ihrer Herrschaft, als von dem thüringisch-bürgerlichen Leben abwich. Man spricht so viel über das Festhalten der Engländer [] an ihren Sitten und Gebräuchen auf dem Continent, sie machen etwas mehr Umstände dabei, als die Franzosen, die am Ende dasselbe thun. Denn es bleibt höchst bemerkenswerth, daß selbst die Revolution mit ihren Folgen die eigentliche Familiensitte des Petit bourgeois nicht anzugreifen vermocht hat!
Madame Sophie wurde noch mit altväterischer Galanterie von ihrem Manne behandelt, der trotz seiner zahlreichen Infidélités sie entschieden als Hauptperson anerkannte und von seinen Landsleuten sich le mari de la femme de regret nennen ließ; liebte ihn doch diese Frau aus Herzensgrunde und verdeckte unermüdlich alle seine Schwächen!
In der höhern Gesellschaft war der Muth, mit welchem sie ihre Herrschaft vor der Plünderung bewahrt, zu allgemein bekannt, als daß man sie einer gewöhnlichen Dienerin hätte gleichstellen mögen.
[] Auch war sie eine durchaus angenehme Erscheinung, voller Witz und Verstand, ungezwungen und dennoch bescheiden. In ihrer rein bewahrten Nationalität lag ein so eigenthümlicher Reiz, daß beinahe keiner der berühmten Gäste des Waldau'schen Hauses an Madame Sophiens Thüre vorüberging, ohne auf ein Viertelstündchen bei ihr einzusprechen. Bei diesen Gelegenheiten entfaltete sie eine Menge durch Erfahrung erworbener Kenntnisse, und belustigte oft ihre Zuhörer durch die wunderlichsten Aufklärungen über Zeitumstände, die ihnen in ganz anderem Lichte erschienen waren.
Die Kinder waren viel um sie und hörten solchen Gesprächen gern zu, noch lieber aber ließen sie von ma bonne's eigener Vergangenheit sich erzählen. War die Gesellschaft oben beisammen und Duguet beschäftigt, nahm Sophie die beiden kleinen Mädchen auf den Schoos und erzählte ihnen: von Ludwig des[] Sechszehnten Tode, von der Emigration und wie sie damals als Kammerfrau im Dienst der schönen Gräfin D'Alvigni gestanden. Und Bild auf Bild drängte sich hervor aus dem tiefen Schacht ihrer Erinnerung.
Dann sprach sie weiter von den Clubs, den Jakobinern und der Zeit der Terreur, deren Greueln sie mit der gräflichen Familie entflohen; sie beschrieb den Kleinen den Stromübergang der Verbündeten über den Rhein bei Mühlheim und die herzzerreißende Trennung des Grafen von seiner Gemahlin, die erst nach Jahren erfuhr, daß auch ihn bald nachher das Beil der Guillotine getroffen. Dazwischen aber webte ihr heiteres Naturell humoristische Skizzen des Emigrantenlebens; Grafen und Marquis traten als Schneider und Schuster auf, um wiederum an Galatagen, bei ihren Zusammenkünften, mit den alten Abzeichen ihres Ranges zu glänzen.
Die bunte Mischung all dieser Bilder führte [] die Kinder in eine Realität des Lebens ein, die ihnen kein Geschichtslehrer geboten haben würde.
Nun malte Sophie die sich steigernde Noth aus; die Scenen wechselten immer geschwinder; schon hatte die Gräfin alles verkauft, was sie von Werth gerettet; ma bonne ward Wäscherin und ernährte sie und ihre beiden Kinder.
Anna ward sehr ernsthaft, sah sie freundlich an und fiel ihr endlich schweigend um den Hals.
Aber das Elend wuchs. Sophiens Erwerb reichte nur spärlich, Duguet war seinem Herrn gefolgt, mit ihm verkleidet über die französische Grenze zurückgegangen. Nun ward es Winter. Mit fürchterlicher Gewalt schwemmte der Eisgang seine Krystallblöcke daher, als Sophie zum zweiten Male mit ihrer Gebieterin Mühlheim berührte. In wilder Eile setzten eben Truppen über den theilweise freiwerdenden Strom. Das Gedränge war unbeschreiblich beängstigend;[] durch lange Gassen verschlossener Häuser irrten Sophie und die gräfliche Familie auf und nieder, ohne ein Unterkommen zu finden; den Kindern bluteten die zarten Füße und versagten den Dienst. Mühsam schleppte Sophie sie weiter; endlich ward eine schlechte Schlafstätte mit vielem Gelde erkauft – Mutter und Kinder ruhten. Sophie wagte noch einmal sich hervor, Nachrichten einzuziehen und Lebensmittel einzukaufen; auf diesem Wege aber ward ihr sehr unwohl. Die Unglückliche blieb in einem fremden Hause auf den Marmorquadern eines Vorplatzes liegen; als es ihre Kräfte gestatteten, kroch sie mühsam auf Händen und Füßen unter einen dunkeln Treppenvorsprung. – Niemand beachtete, niemand gewahrte sie, und dort gebar die Arme einen Sohn.
Wenn Sophie bis dahin erzählt hatte, brach sie in unaufhaltsames Weinen aus und schickte die kleinen Mädchen zu Bette.
[] Aber die Kinder konnten nicht schlafen; Leontine sah, wie Sophie eine seidne Schnur hervorzog, die sie um den Hals trug, und ein daran hangendes zerbrochenes Geldstück lange betrachtete. Als einmal Anna sie fragte, was denn aus ihrem Kinde geworden, sagte sie, es sei lange todt, man müsse nicht davon sprechen.
Längst hatten die Tage der Unterdrückung zu Jahren sich gereiht, Napoleon hatte den Kaiser Alexander zu sich nach Erfurt berufen und der spanische Feldzug bereitete sich daselbst vor.
Josephine saß allein in ihrem Zimmer. Waldau war seit einigen Wochen leidender und schwächer geworden. Beklommen sah sie dem Feind aller zehrenden Uebel, dem Herbst, in's bunte Blumenauge – ach! mit den Blättern und Früchten fallen die Menschen der Erde zu [] und die farbigen Blütensterne legen sich, Auferstehung verheißend, auf deren Gräber!
Josephine hielt eine Menge uneröffneter Briefe in der Hand. Sie erwartete weder Gutes noch Böses aus der Ferne, die nächste Nähe war's, die so beengend auf ihr lastete. Es ist etwas Entsetzliches um das unaufhörliche gespenstische Auftauchen der Angst um ein geliebtes Leben, wie man auch den Gedanken an das uns Drohende zu bannen suche: immer umschleichen uns die Schatten der Sorge mit ihren heimlichen Dolchen und überfallen uns in heitrer Gegenwart, wie Diener eines Vehmgerichts, mit plötzlichem Entsetzen.
Endlich fiel Frau von Waldau's trüber Blick auf die Briefe. Eine französische Handschrift? Aus Erfurt? Rasch erbrach sie das Siegel und las:
[] Gnädige Frau!
Wenn das Bild eines jungen Mannes, dem während der Tage der Schlacht bei Jena das Glück Ihrer Bekanntschaft ward, noch nicht ganz Ihrer Erinnerung entschwunden ist, so wird die milde Güte, die noch einem Sterne gleich in der seinen steht, diesem Schreiben gern Verzeihung gewähren. Denn wie ein Posaunenstoß des jüngsten Gerichts rufen meine Worte einen Todten aus dem Grabe und geleiten hoffentlich einen glücklichen Sohn in die Arme seiner gewiß noch glücklichern Mutter. Ohne Zweifel haben Sie, hochverehrte Frau, schon errathen, daß ich meine Erzengelschaft dem Zufall danke, den so lange beweinten Sohn Ihrer Madame Sophie gefunden zu haben, die, wie ich von meinen beneideten Kameraden erfahren, Ihr Hauswesen noch wie ehemals besorgt.
Der Kaiser hat mich in diesen zwei heißen Kriegsjahren zum Rang eines Obersten erhoben, [] und als Adjutant des Marschall Ney bin ich ihm nach Erfurt gefolgt.
Eben hier glaube ich in einem jungen Soldaten, der an den Folgen in Portugal empfangener Wunden krankt und von Lazareth zu Lazareth geschleppt wird, den in Mühlheim ausgesetzten Sohn der wackern Frau Duguet erkannt zu haben. Die Klagen des kaum dem Knabenalter entwachsenen Jünglings, der seiner Existenz fluchte, weil er, der weder Vater noch Mutter gekannt und Niemanden angehöre als nur seinem Kaiser, den Feldzug nicht mitmachen solle, zogen mich an; der Zorn, den er den ärztlichen Rathschlägen entgegensetzte, rührte mich tief; ich gewann mir sein Zutrauen. Jetzt, nachdem ich alle Details seiner Lebensgeschichte gehört, das Stück Taschentuch mit dem Zeichen Marc Duguet und die treubewahrte Hälfte des Fünfsous-Stücks gesehen, das er, wie seine Mutter, am Hals trägt, scheint mir unzweifelhaft, [] daß er wirklich das in Mühlheim ausgesetzte, so lang beweinte Kind sei. Sein Alter trifft auch zu. Wenige Stunden, nachdem Sie, verehrte Frau, diese Zeilen erhalten, hoffe ich selbst meinen Kranken bei Ihnen einzuführen, und als Belohnung das Glück zu genießen, Sie und Herrn von Waldau zu begrüßen und um die Fortdauer Ihres Andenkens und mir unschätzbaren Wohlwollens zu bitten.
Mit ausgezeichneter Achtung
und Verehrung
Ihr tief ergebener
St. Luce.
Sophie! rief aufspringend Frau von Waldau, großer Gott! ich habe die Briefe seit drei vollen Stunden! Sie können jeden Augenblick hier sein! Sophie, so komm doch!
Madame! erwiderte die Gerufene, den mit einem Foulard umwundenen hübschen Kopf zur [] Thüre hereinsteckend, es ist nur, weil ich das Bett mache –
Sophie! Monsieur de St. Luce ist Oberst geworden und wird vielleicht schon in einer Stunde hier sein!
Ach, Madame! welches Glück! der gute junge Mann! Aber da muß ich mich beeilen, Madame werden ihn zu Tische bitten, vielleicht logiren wollen. Pardon, Madame! charmanter junger Mann, und Oberst! Ja, ja, das sieht dem kleinen Korporal ähnlich, der kennt seine Leute! Wundert mich nicht, daß sie einen Gott aus ihm machen. Duguet, Duguet! rief sie im Gehen zur andern Thür hinaus; Du hilf mir – Monsieur de St. Luce ist Oberst geworden!
Die Freude kann sie tödten, sagte Josephine leise vor sich hin; der Schlag kann sie rühren, sie ist so heftig! Aber, Sophie, fuhr sie fort, sie beim Arm ergreifend, um sie zu halten; es [] ist noch eine andere Nachricht mitgekommen; es ist aber nur eine schwache Hoffnung! Der Oberst hat von einem jungen kranken Soldaten gehört, in Portugal, der den Namen Marc Duguet führt.
Sophie wandte den Kopf, kein Zug des sonst so regen Gesichts bewegte sich, mit starrem Auge blickte sie die Sprechende wie bewußtlos an, sie hatte, das sah man, keinen klaren Gedanken, all ihre Fähigkeiten hatte das eine Wort erschüttert.
Bald aber überflog ein leises Zittern die ganze Gestalt, die Brust hob sich langsam und schwer, ohne einen Laut ausströmen zu lassen, die bleichen Lippen bebten convulsivisch; endlich hauchte sie fragend: Madame?
Ja! erwiderte Josephine, indem sie nun auch den andern Arm ergriff, um die Schwankende wie zufällig zu stützen, er hat hingeschrieben, um Nachrichten einzuziehen.
[] Nachrichten! er lebt, er ist nicht in Portugal umgekommen, er lebt noch?
Wenn er es nur ist, sagte Frau von Waldau, um den Eindruck zu schwächen.
Es wäre möglich, schrie Sophie mit plötzlich freiwerdendem Jubel auf – möglich! mein Sohn! mein Sohn könnte leben, – ich wäre nicht seine Mörderin! O, setzte sie wieder ermattet hinzu, ihre Arme sanken und große Thränen perlten über ihr wieder erwärmtes Gesicht, ich könnte mir verzeihen, und Gott auch! Sie legte die Hände auf ihr Herz und wurde still.
Aber der junge Mensch soll verwundet sein, meint St. Luce.
Verwundet? Wollen sie sagen, todt? – Duguet, Duguet! rief sie, mit einem Mal wieder auf ihren Mann sich besinnend.
Waldau öffnete eben die Thüre, hinter ihm trat Duguet ein. Josephine hielt ihrem Gemahl den Brief entgegen; sie wußte, daß er [] keiner Unbesonnenheit fähig sei. Sophie sprang auf Duguet zu, sie wollte ihm um den Hals fallen, aber ihre Knie brachen zusammen, sie fiel ihm zu Füßen und brachte nur die Worte hervor: O jetzt, jetzt wirst du mir verzeihen!
Bis zu diesem Augenblicke hatte der wüthende hoffnungslose Schmerz zu harpyenartig an ihr Herz sich angekrallt, sie hatte nie begreifen können, daß sie auch an Duguet ein großes Unrecht gethan, indem sie ihn und sein Kind verlassen.
Ja, sagte Josephine zu Waldau, Schiller hat recht: ein glücklicher Mensch ist ein Heiliger!
Unterdessen hatte Waldau gelesen. Der junge Mann scheint mir sehr flüchtig, sagte er halblaut; ich fürchte, Josephine, du hast dich übereilt. Es ist so vieles unklar in dem Briefe.
Duguet hatte seine Frau aufgehoben und auf einen der Thüre nahen Stuhl niedergesetzt. Nun überschüttete er sie mit tausend Fragen, [] dazwischen bat er seine Herrschaft einmal um das andere um Verzeihung, Sophiens, nach seiner Ansicht, ganz unerklärlichen Betragens wegen, indem er, bald zu Waldau, bald zu Josephinen gewendet, sein unaufhörliches: Aber was ist ihr? wiederholte.
Sophie schluchzte nur: Mein Sohn, mein Sohn! und war durchaus keines andern Gedankens fähig.
Es war ein Glück, daß in eben diesem Augenblick St. Luce's Wagen vorfuhr. Die menschliche Natur erträgt solche Spannung nicht lange. Mit Blitzeseile war der kranke Waldau, hinter den mit einander beschäftigten Gatten weg, an der Hausthüre, vor welcher eine Extrapost hielt.
Oberst St. Luce hatte einen schönen schwarzäugigen, todtblassen Soldaten neben sich, die Bedienten halfen denselben herausheben und führten ihn langsam ins Haus. Der junge [] Mann ging sehr gekrümmt; es schien, als habe eine Kugel die inneren, edleren Theile verletzt, vielleicht die Lunge berührt.
St. Luce begrüßte die nun auch herbeigeeilte Josephine und sagte, indem er ihre Hand an seine Lippen zog: Ich habe gewollt, daß Sie selbst es ihm aussprechen, denn das Glück wird am besten durch einen Schutzengel den Menschen verkündigt.
Aber die Wunden werden am besten durch eine Soeur grise behandelt! lächelte sie ihm freundlich zu.
Beides, weil Sie beides sind, gnädige Frau.
Waldau hatte den Arm des jungen Kranken ergriffen. Fühlen Sie sich stark genug, eine heftige Erschütterung zu ertragen? fragte er sehr sanft.
Der Soldat sah ihn verwundert an. Ist der Kaiser hier? fragte er in zitternd jubelnder Hast.
[]Eben so schön, nein, noch viel schöner ist die Freude, die Sie erwartet, sagte Josephine. Haben Sie niemals etwas Anderes sich gewünscht?
Sie müssen weit zurückschauen, in ihre früheste Vergangenheit, setzte Waldau hinzu.
Gott! meine Mutter! rief außer sich der Kranke. O, Madame, Madame, Sie sind zu jung, um es selbst zu sein; aber, um Gottes willen, wenn Sie etwas von ihr wissen, o geschwind! geschwind! lassen Sie mich bei ihr sterben, da ich nicht bei ihr leben durfte!
Er schwankte. Waldau hielt ihn mit Mühe. Bitte, bitte, fuhr er fort, vor Josephine wie zum Gebet die Hände faltend.
Ei, junger Freund, drohte freundlich St. Luce, haben Sie denn nur dem Feinde gegenüber Courage? Haben Sie doch jetzt den Muth, für Ihre Mutter zu leben!
Aber des Sohnes Herz war nun mit Gewalt [] erweckt und vermochte die Ueberfülle eines geahneten Glücks nicht länger schweigend zu tragen. Mutter! Meine Mutter! rief er laut aufschreiend.
Und die Mutter hörte und erkannte beim ersten Laut die Stimme ihres Kindes. Mein Sohn, mein Sohn! klang es von drinnen, und im Augenblick lag sie an seiner Brust. Sie fragte nichts, untersuchte nichts, der Ton hatte wie ein Zauber gewirkt und sie herbeigezogen. Bewußtlos war sie ihm gefolgt, die Erschlaffung war verschwunden; sie hatte mit einem Male Kraft, Riesenkraft; aber ach, wie sie das Haupt hob, um nun auch die geliebten Züge zu sehen, fühlte sie die leblose Schwere des seinen auf ihrer Schulter. Der junge Krieger war ohnmächtig geworden.
Die Umstehenden versuchten, ihn aufrecht zu erhalten, das Zimmer war noch nicht erreicht, kein Stuhl auf dem Hausflur; sie vermochten [] die Last des hochgewachsenen, starken Jünglings nicht zu tragen und mußten ihn langsam auf den Boden sinken lassen; die Mutter aber hielt ihn fest und legte geschickt seinen Kopf auf ihren Schoos, indem sie neben ihm kniete. Es gibt kein schmeichelndes Liebeswort, mit dem sie ihn nicht nannte; sie riß ihm die Uniform auf, um ihm Luft zu verschaffen, und fand das Fünfsous-Stück, das sie lachend und weinend zugleich an die Lippen drückte.
Immer lag er ihr noch nicht sanft, nicht bequem genug; bald küßte sie seine Haare, bald seine Hände oder flüsterte ihm in's Ohr, und hauchte ihn an, als wolle sie ihr Leben ausströmen in seine Brust, es ihm zu geben. – Duguet war ihr gefolgt, allmälig schien auch er zu begreifen; er sprang auf Waldau zu und stand zitternd mit gerungenen Händen vor ihm. Die Stimme versagte ihm. Ist es wahr? war alles, was er hervorbringen konnte.
[] Ich glaube, ja, lieber Duguet, erwiderte Waldau; aber fassen Sie sich, denn er ist krank, Sie müssen ihn schonen.
Duguet nickte seinem alten Herrn das gewohnte Verstehen zu und kniete erst leise neben dem Ohnmächtigen. Nur die gewaltig pulsirende Ader auf seiner Stirn und die kurzen fast röchelnden Athemzüge zeugten von der Kraft, die er anwandte, sich zu beherrschen; als er aber nun das Gesicht seines Sohnes so ganz in der Nähe sah, so daß ihn sogar dessen Haare berührten, da riß ihn der innere Jubel doch unaufhaltsam fort, dicke Thränen rollten über das braune Gesicht, der feste Mann bebte an allen Gliedern und sah den Wiedergefundenen mit unbeschreiblicher Zärtlichkeit an. Armes Kind, armes Kind! flüsterte er, dann wandte er sich zu seiner Frau: Aber, Sophie! – sie sah auf und wäre ihm gern um den Hals gefallen,[] aber sie mußte ihren Sohn unterstützen; es lag eine Welt von Gefühl in ihrem Auge.
Aber, Sophie! sagte er endlich, er liegt hier schlecht! Komm, komm! Und wie eine Feder nahm er den schweren Körper des Soldaten auf, den Alle nur mühsam gehalten, und trug ihn unten in die Hinterstube hinein, die er und Sophie bewohnten, dort legte er ihn still auf das Bett.
Waldau, Josephine und St. Luce blieben an der Schwelle des Zimmers stehen; es wagte keiner, sie zu überschreiten; sie hörten eine Weile schweigend von außen zu.
Sophie hatte ihren Sohn in's Leben zurückgerufen; jetzt saß er aufrecht im Bette, zwischen den Eltern. Und nun ging es an ein so seliges Fragen und Erzählen und an das Erkennen des Vaters, den zu sehen ihn ja die Ohnmacht gehindert. Der junge Soldat hatte die Hälfte seines Fünfsous-Stück an die seiner [] Mutter gehalten, und o Freude! die Stücke paßten aneinander.
Wie die arme Frau den Jüngling mit den Blicken verschlang, und wie Duguet, stolz auf seinen Sohn, höher zu werden und zu wachsen schien! Jetzt sprachen alle Drei zugleich. Sophie erzählte von jener entsetzlichen Nacht, wie sie ihr armes, kleines Kind auf die Schwelle eines reinlich und wohlhäbig aussehenden Hauses niedergelegt und, unter einen Schuppen gekauert, lange abgewartet, daß man es abhole; wie endlich ein Mann aus der Thüre gekommen und es gefunden, wie sie bei dem Anblick einen Moment kraftlos zusammengesunken sei, dann aber habe laufen müssen weit, weit weg, um es nur dem Manne nicht aus den Armen zu reißen!
Gleich darauf war sie unter einen Trupp betrunkener Soldaten gerathen, die sie festgehalten und gezwungen, die Carmagnole mit [] ihnen zu singen; kaum diesen Wüthenden entflohen, mußte sie mit der Gräfin weiter. Von der Stunde an hab' ich noch oft gelacht, zufrieden bin ich nie wieder geworden, schloß sie.
Arme Mutter! armes Weib! sagten Duguet und der junge Soldat, wie aus einem Munde.
Marc Duguet – er hieß so nach dem Vater, Sophie hatte, da sie nicht schreiben konnte, ein abgerissenes Stück Wäsche mit dem Namen dem Kinde auf die Brust gelegt und es mit Stecknadeln an die wenigen Hüllen befestigt, in denen sie es eingewickelt; wie hätte sie im Drang des Augenblicks Kinderzeug sich verschaffen können – Marc Duguet war vom Leben herumgeworfen worden und in all dessen Wendungen ein Findelkind geblieben. Er erzählte den Seinen, da schlichen die Horchenden still davon, in Frau von Waldau's Zimmer zurück.
In diesem Augenblick faßte eine kleine Hand [] die Josephinens und ein leiser Kuß streifte ihre Finger; es war Anna, die ein unbemerkter Zeuge des ganzen Auftritts geworden. St. Luce freute sich ungemein, seine junge Freundin wiederzusehen. Das Kind schlang beide Arme um seinen Hals und dankte ihm unter heißen Thränen, daß er ma bonne so glücklich gemacht: Ich hatte längst gemerkt, daß ihr Sohn nicht todt war, sagte sie.
St. Luce blieb noch bis zum nächsten Tage. Anna war jetzt zehn Jahr alt und fesselte seine Aufmerksamkeit mehr und mehr. Er begleitete sie zu den Eltern hinüber, und obschon Sprache und Nationalität ihm ein eigentliches Verstehen ihrer häuslichen Lage unmöglich machten, hatte er doch bald genug gesehen, um das Mädchen Josephinen auf's Dringendste zu empfehlen. Während seiner Anwesenheit wich sie kaum von seiner Seite und erzählte ihm alle ihre kleinen Leiden und Freuden; sie zeigte ihm auch das [] vom Grenadier August erhaltene Posthörnchen, das sie noch immer am Halse trug, und konnte nicht begreifen, daß er ihr keine Nachricht von dessen ehemaligem Besitzer zu geben vermochte.
Nach der Abreise des jungen Obersten, der dem noch kranken Marc einen Urlaub bis zu seiner Genesung ausgewirkt hatte, nahm Josephine sich Anna's ernstlicher an; St. Luce's Besuch ward zum Capitelstrich ihres Lebens, das von jenem Augenblicke an eine edlere Gestalt gewann.
Der junge Marc blieb vorläufig im Hause und erhielt ein eignes Wohnstübchen, brachte jedoch den größten Theil des Tages in dem seiner Eltern zu. Die Kinder nahm Josephine in ein an das ihre stoßendes Zimmer, wo sie ihre Stunden erhielten, nur die Abende durften sie noch theilweise bei ma bonne bleiben. Durch diese Einrichtung sah Anna die ausgezeichneten Männer, die mit Waldaus verkehrten; [] sie fiel Jedem von ihnen auf und gewann sich hier die belehrenden Freunde, die in späteren Jahren einen unschätzbaren Einfluß auf ihre Bildung äußerten.
Der Winter verging. Waldau fühlte sich kräftiger, Josephine athmete sorgenfreier auf. Da trat eines Morgens Madame Sophie, in Thränen fast aufgelöst, in ihr Zimmer. Ah, Madame! er will fort!
Allerdings wollte Marc fort. Der Kaiser hatte Madrid erobert, seinen Bruder Joseph von Neuem auf Spaniens Thron gesetzt und die Engländer geschlagen.
Zu Astorga, wohin er am ersten Januar gezogen, traf ihn die Nachricht der ernstlichen Kriegesrüstungen Oestreichs. Am dreiundzwanzigsten war er bereits selbst in Paris, um dem kaum erst noch vierhundert Stunden von ihm entfernten Feindesdrohen sogleich zum vierten Mal die Stirn zu bieten.
[] Von Tag zu Tag erwartete man den Ausbruch des Kriegs, jetzt ließ es dem jungen Soldaten nicht länger Ruhe; das Corps, zu welchem er gehörte, marschirte. Freude und sorgliche Pflege hatten ihn gestärkt; wie hätte der Kriegsgeborne länger noch zu säumen vermocht! L'empereur va à Vienne! wiederholte er zehnmal in einem Tage; wo sein Kaiser war, leuchteten ihm Glück und Leben.
Sophie hätte ihn gern dem Soldatenstande ganz entzogen; im Herzen noch Royalistin, konnte sie nicht umhin, den petit Caporal mitunter noch für eine Art Landesverräther anzusehen, obschon sie mit großer Theilnahme den Erzählungen ihres Sohnes zuhörte; er kam ihr höchstens wie ein Kaiser der Armee vor; wenn nur von dieser die Rede war, konnte sie mit den Andern an Enthusiasmus wetteifern; doch auf den Thron Frankreichs, auf welchem sie [] den Märtyrer Ludwig gesehen, vermochte sie nicht, sich ihn zu denken.
Wie aber den kaum wiedergefundenen tausend Gefahren entrissenen Sohn vor den von Neuem drohenden Uebeln bewahren! Zu fest hing er seiner glänzenden Laufbahn an; ihn dem Auge seiner Vorgesetzten zu bergen, schien allzu schwer. Am Ende blieb der Armen nur die Qual, ihn fern von sich, dem möglichen Elende preisgegeben zu wissen. Konnte er nicht von Neuem erkranken, verwundet, verkrüppelt, wieder von Lazareth zu Lazareth geschleppt werden?
Lange kämpfte das arme Weib – die Mutter siegte. Sie beschloß, ihm zu folgen, sein unsicheres Loos wenigstens so lange zu theilen, als sie ihn nicht für ganz genesen hielt. Daß Duguet seinen sterbenden Herrn verlassen könne, kam weder ihm noch ihr in den Sinn. Die Gatten mußten sich trennen! Das blieb unausweichlich, [] aber zum Glück wollte ja der Kaiser in kurzer Zeit mit Oestreich fertig sein und in Wien einziehen; dann konnte Sophie zurück – die Oestreicher mochte sie ohnehin nicht leiden und gönnte ihnen alles Böse.
Nachdem Sophie ihrer Gebieterin ihr ganzes Herz eröffnet, bat sie um ihre einstweilige Entlassung: ob schon es wahrscheinlich mein Tod sein wird, unsere Leontine zu entbehren, schloß sie; aber ich bin ja nur drei Monate meines armen Kindes Mutter gewesen, und Marc ist achtzehn Jahr alt.
Josephine fühlte, daß an keine Aenderung des so gewaltsam gefaßten Entschlusses zu denken; sie versuchte nur, dem Plan eine praktischere Gestalt und die Möglichkeit des Gelingens zu geben, indem sie St. Luce schriftlich um seine Vermittelung bat. Der Kaiser gestattete nur Marketenderinnen den Regimentstrains sich anzuschließen; es blieb der einzige Ausweg, [] Sophien in den Dienst einer der begünstigten Offizierdamen zu bringen, die einzelnen Chefs folgen durften. Der junge Oberst hatte längst Erfurt verlassen, dennoch erreichte ihn der Brief und nach Verlauf weniger Wochen war Sophie von ihm als Kammerfrau der Geliebten eines seiner Freunde empfohlen, der Marc's Regiment befehligte und in Magdeburg der Marschordre harrte.
Gottlob! nun ist's überwunden, sie schläft! sagte Madame Sophie, indem sie leise Leontinens Kammerthüre an sich zog, schon im Reisekleid, sich zu Duguet an den Tisch setzte und mit dem Rücken der Hand ein Paarmal über die Augen fuhr! Wie groß sie sein wird, wenn ich sie wiedersehe!
Hol's der Teufel! ich glaube, armes Weib, daß du eine ungeheure Thorheit begehst, brummte [] Duguet, aus dumpfem Sinnen auffahrend; er reichte ihr über den Tisch hin die Hand, als müßte er die Härte des Wortes vergüten.
Sophie hatte nicht recht hingehört, ihre Gedanken waren schon unterwegs. Sie zog eine große silberne Taschenuhr aus dem Kleide hervor und sagte: jetzt wird er wol schon in Buttstädt sein – morgen früh vier Uhr, meinte er, würde das Bataillon von dort abmarschiren – er hätte doch lieber schon gestern gehen sollen, der arme Junge! so könnte er nun ein Paar Stunden schlafen.
Duguet ging im Zimmer auf und nieder und stäubte, mit einer Damastserviette um sich schlagend, die reinen Meubles ab.
Du hast nichts als ihn im Kopf! murmelte er halb ärgerlich.
Wenn's Glück gut ist, glaubst du wol gar, mir wäre das Herz nicht schwer? erwiderte sie, euch Alle zu verlassen, dich und Madame und [] unsern armen Herrn! Die Thränen traten ihr in's Auge.
Nun, nun, so war's nicht gemeint! begütigte sie Duguet; iß doch einen Bissen! Er versuchte ihr vorzulegen. Die Nacht ist grimmig kalt; in einer Stunde wird der Postwagen da sein. Ja, ja, mein armer Herr, fuhr er fort, die gekreuzten Hände sanken ihm auf's Knie, wird es nicht lange mehr machen. Ich hielte es nicht aus, ihn jetzt zu verlassen. Seitdem die Bäume treiben, ist er so mager, und Nachts hustet er; es möchte Einem das Herz spalten.
Gott gebe ihm nur noch ein Jahr, seufzte Sophie, daß ich ihn wiederfinde. Er und Anna machen mir am meisten Sorge.
Anna! wie so?
Der Vater ist ein schlimmer Mann, da haben sie ihm in den Kopf gesetzt, das Kind würde hier im Hause zu einer vornehmen Dame [] gemacht, und die Bürgermeisterin soll es nicht so oft herlassen. An den Stunden, meint er, sei auch nichts gelegen, Küche und Haus gingen ihm vor. Du lieber Gott! er wird das Kind nicht hindern, die geht ihren eigenen Weg. Und unser Leontinchen ist so allein und viel zu schwächlich, um Anna entbehren zu können; sie lernt besser, sie ist sogar viel gesünder und frischer, wenn sie die kleine Freundin um sich hat – Herr, mein Gott! da ist sie!
Anna hatte die Küchenmagd beredet, die beide Wohnungen verbindende Gangthüre offen zu lassen; bei Bürgermeisters lag Alles um zehn Uhr in den Federn, jetzt war es über Mitternacht. Die Kleine schlief mit den Geschwistern allein in der Kammer, sie konnte leise aufstehen, um sich zu Madame Sophie zu schleichen, deren Reiseplan sie längst entdeckt, und stürzte jetzt unerwartet in deren Arme.
[]Wo kommst du her, liebe Anna? woher weißt du –
Ach, ma bonne, erst hat es mir das Herz gesagt! Dann fuhren mich die Brüder auf der kleinen Schleife spazieren, du weißt wohl, auf der Leontine nicht fahren darf. Sie hatten versprochen, mich kein einzigmal in den Schnee zu werfen, so nahm ich ihren Vorschlag an. Als wir um die Ecke bogen, kam der Postwärter und hatte deinen Koffer auf dem Karren – ach, sei nicht bös! – Da frag4e ich ihn. – Aber wo ist denn Leontine?
Madame Sophie verschluckte ein Paar Thränen und sagte ganz leise und wehmüthig: Leontine muß schlafen! Du weißt wohl, daß sie sonst krank wird. Anna nickte. Und, fuhr jene fort, das Kind zwischen ihre Knie nehmend, wenn sie morgen aufwacht und ich fort bin, so sei du da und tröste sie und sage ihr: ich käme gewiß wieder. Der Kaiser [] will's nicht lange machen mit den Oestreichern; ist er in Wien, so kehre ich zurück, dann laß mich dich und Leontinen zusammenfinden. Wenn aber der liebe Gott Ernst mit mir oder mit meinem armen Jungen machen sollte, was eigentlich eins ist, so bleibe du bei ihr, verlasse sie niemals, sei ihre Schwester; dir vertraue ich sie an. Dein Vater freilich – Ach, erwiderte betrübt Anna, nun er einmal seine Meinung gesagt hat, denkt er nicht mehr daran; er merkt so wenig auf mich. Und die Tante hat ihm auch zugeredet und versichert, ich könnte, wenn ich recht gut Französisch spräche und keinen Mann kriegte, Kammerfrau bei der Frau Herzogin werden –
Warum nicht gar! fuhr Duguet dazwischen.
Nein, nein, sagte ma bonne, du darfst nicht dienen! Sieh doch, Duguet, steht sie nicht da wie eine kleine Gräfin?
Und wozu wäre denn die ganze Revolution [] gewesen, wenn das Verdienst nicht erhoben werden könnte aus dem Staube? salbaderte Duguet, von alten Erinnerungen erfaßt. Gewiß, Mademoiselle, fuhr er fort; wenn mein guter Herr uns erhalten wird, so werden Sie unsere Familie niemals verlassen dürfen. Man sieht, er rechnete sich dazu.
Die Uhr schlug! Noch eine Viertelstunde! Sophie athmete schwer, machte sich allerlei zu thun, öffnete und schloß wol zehnmal ihren Reisesack, setzte die warme Mütze auf, sah wieder nach ihrer Uhr; endlich eilte sie festen Tritts hinaus, die Treppe hinan, – sie nahm von ihrer Gebieterin Abschied.
Wenige Minuten später hatte sie schon an Duguet's Seite die Hausschwelle überschritten. Anna hatte ihren Arm ergriffen und umklammerte ihn mit beiden Händen. Stumm wanderten sie durch die frühlingsklare Nacht dahin – einzelne Sperlinge schreckten auf, als sie [] an den Esplanadenbäumen vorübergingen, die Straßen waren still, nur ganz von weitem dutete ein verspäteter Nachtwächter. Vor dem Posthause hielt der Wagen. Sophie zitterte ein wenig, aber bei solchen Gelegenheiten weinte sie nicht; es lagen so viele bange Abschiede hinter ihr. Einen Augenblick hielten alle Drei sich umschlungen, denn Anna wollte ma bonne nicht loslassen – da schmetterte das Posthorn und die arme Kleine wußte selbst nicht, wie es zuging, daß plötzlich der Wagen schon in der Ferne weit, weit die lange Straße hinabfuhr; jetzt bog er um die Ecke. Anna hielt sich beide Augen zu und der erste heftige Schmerz ihres Lebens hatte sie ergriffen.
Duguet sah sie an und schüttelte den Kopf. Armes Kind! sagte er, damit wird man nicht glücklich. Dann nahm er die Kleine in die Arme und lief eilends mit ihr nach Hause, als [] wollte er sie von dem Kummer hinwegtragen, der sie und ihn betroffen.
Der Eindruck, den Sophiens Abschied dem zarten Kindesgemüth hinterlassen, war ein dauernder. Anna hielt Wort: mit immer tiefer wurzelnder Liebe blieb sie Leontinens Gefährtin, ertrug nun ihretwillen die Scheltworte des Vaters und erschmeichelte sich täglich von Neuem die Erlaubniß, hinüberzugehen. Anna's Vater war kein gemeiner oder harter Charakter, es lag eine tüchtige, nur unentwickelte Eigenthümlichkeit in dieser Natur, die alle Kräfte, deren sie sich bewußt war, der strengen Realität des Lebens zuwandte. Aber in den Winkeln seiner Seele blieb den noch manches unverstandene Edle unausgebildet liegen – so war ihm Freundschaft durchaus weder fremd, noch unbegreiflich; er hatte sogar selbst einen reichen[] vornehmen Herrn zum Freunde, für welchen er sich in jüngern Jahren eben so treu und hingebend geopfert, als jetzt Anna für Leontine es that. Aber an seiner äußern Lebensgestaltung hatte dieser adlige Freund nichts geändert, – und daß eine solche Empfindung auch bei Frauen statthaft sei, gab er überhaupt gar nicht zu. Erst nach einer Reihe von Jahren, nachdem er sich von der unerschütterlichen Festigkeit des Charakters seines Kindes überzeugt hatte, gewann ihn Anna in so weit, daß er keinen Versuch mehr machte, hemmend in die Räder ihres Geschicks einzugreifen.
In dieser Zeit war er von mehren Seiten sehr hart gebeugt worden. Beide blühende Zwillingsschwestern Anna's, sanken, von einem nervösen Fieber ergriffen, zugleich in's Grab, und an den Söhnen erlebte er wenig Freude. Vielleicht hätten bedeutendere Geldmittel, und durch diese eine planmäßigere Erziehung, den [] Knaben einen regeren Eifer und eine entschiedenere Richtung gegeben; aber obgleich der Tod seiner jüngeren Töchter das einstige Erbtheil der übrigen Kinder vergrößerte, vermochte der ängstliche Mann nicht darüber mit sich in's Reine zu kommen, was er für sie zu thun berechtigt sei, und wie es auszuführen, ohne sich und seine Frau an den Bettelstab zu bringen.
Jedes an sich noch so unbedeutende Ereigniß erhöhte die Sorglichkeit, mit welcher er den eigentlichen Betrag seines Vermögens selbst seinen Kindern zu verhehlen suchte, und die Sparsamkeit, mit der er sie und seine Frau täglich peinigte. Unter zahllosen kleinlichen Rücksichten und Einschränkungen wuchsen die Buben auf; ohne eigentliche Wahl eines einstigen Fachs wurden sie blindlings ihrer Bahn zugestoßen; von nichts sagenden Umständen gedrängt, ergriffen sie bald diese, bald jene Bestimmung, verlernten das kaum Erlernte wieder in der [] neugewonnenen Richtung und wechselten dann kleinlaut das noch unerreichte Ziel abermals mit einem noch fernern. Leider ist dieses die Geschichte einer Menge junger Leute jener Zeit, die in dem betrieb- und industrielosen Thüringen aus Mangel innerer Energie als taube Blüten dem großen Baum des Lebens fruchtlos entfielen.
Die Weigerung des Vaters, den Söhnen die ihnen zu Begründung einer Carriere nöthigen Mittel reichlich zu geben, erbitterte die Buben und machte sie abwechselnd stöckisch und leichtsinnig. Der Eine lief aus Ueberdruß unter die Soldaten, der Andere spielte dem Alten zum Trotz, als Commis bei einem Krämer, im nahen Auslande den vornehmen Herrn en miniature und machte Schulden.
Anna litt sehr, die Thränen und die Sanftmuth der Mutter thaten ihr so weh. Einzelne heftige Auftritte mit den Verwandten ihrer Eltern, [] die bald für, bald gegen des Vaters Ansichten sich aussprachen, verschüchterten sie ganz. Daß sie ihren Lebensunterhalt verdienen lernen sollte, sagte man ihr den ganzen Tag, ohne ihr jedoch irgend ein Hülfsmittel zu Erreichung dieses Zwecks zu bieten. Die Mutter hoffte auf eine frühe Heirath für sie; die Tante wollte sie in Hofdiensten wissen. Was konnte natürlicher sein, als daß Anna wieder und immer wieder zu Waldaus hinüberflüchtete, wo all diese Qual sie nicht berührte.
Daß sie in so untergeordneter Stellung auch nicht einen Augenblick an die einstige Benutzung der ihr dort gebotenen Vortheile dachte, daß sie im Gegentheil unaufhörlich bemüht war, Sophien Wort zu halten, nur darauf sann, für Leontine etwas zu thun, zeugt von der Unbefangenheit ihres Charakters.
Madame Sophie hatte nicht so streng Wort gehalten als der Kaiser; er war längst mit den [] Oestreichern fertig und in Wien eingerückt, sie war aber nicht zurückgekehrt. Leider erkrankte der junge Mann dort von Neuem. Sie zog den Vortheil aus ihrer wunderlichen Lage, ihren Sohn nie ganz aus den Augen zu verlieren. Auch hatte das treue Herz dieser Frau eine zu warme Tiefe, um der neuen Gebieterin, die ihr dieses Glück verschaffte und ihrer Dienste nöthig bedurfte, mit Undank zu lohnen.
So kam der Frühling des Jahres 1812 herbei, ohne die Gatten vereinigt zu haben.
In Deutschland erhob sich damals ein innerer Frühling: die von Osten nach Norden gehenden unaufhörlichen Bestrebungen deutsch gesinnter Männer brachen der Freiheit unseres Vaterlandes langsam und besonnen Bahn.
Oft zeigten sich Boten dieser wachsenden Hoffnungen im Waldauschen Hause, ungehemmt und vom Feinde nicht bemerkt, flog die Kunde besserer Tage seinem sinkenden Leben vorüber. [] Er nahm indessen nur einen wehmüthigen Antheil an dem Allen, denn er hielt sein Volk für noch nicht hinlänglich gereift.
Eines Abends saß er in seinem Lehnstuhl, von wenigen nahen Bekannten und Gleichgesinnten umgeben, und unterhielt sich lange mit ihnen von einem in der guten Sache sehr thätigen Freunde, dem ehemaligen preußischen Obersten von Geiersperg.
Liebes Kind, sagte er plötzlich, zu Josephinen gewendet, ich kenne keinen zuverlässigeren Menschen auf Erden.
Als die Andern Abschied genommen, erneuerte sich das Gespräch zwischen ihm und seiner Gattin. Ich habe Geiersperg nie gesehen, sagte sie, und du kennst ihn so lange Jahre.
Waldau lächelte seltsam. Du wirst ihn bald kennen lernen, fuhr er fort, und wenn er kommt, so bitte ich dich, ihm unbedingt zu vertrauen. Unbedingt, liebe Josephine. Er küßte sie auf [] die Stirn und ließ sich von Duguet in sein Schlafzimmer geleiten. Am andern Morgen fand man ihn todt in seinem Bett; auf seinem Nachttische lag ein versiegelter Brief an Geiersperg.
Wenige Wochen später ließ sich ein Jäger bei der noch immer tief betrübten Witwe melden; er habe eine Botschaft an den verstorbenen Herrn gehabt, hieß es, die er der gnädigen Frau selbst zu überbringen wünsche.
Das ist Geiersperg! blitzte es in ihr auf – und er war es. Auf einer geheimen Sendung des Bundes begriffen, dem er angehörte, überraschten ihn in Helgoland des sterbenden Freundes letzter Gruß und dessen Bitte, seine Witwe noch vor Ausbruch des russischen Kriegs in die Nähe ihrer Verwandten nach Breslau zu geleiten. Und Geiersperg kam.
Es war ein stattlich schöner Fünfziger, voller Feuer und Enthusiasmus für die Sache [] Deutschlands, auf deren glückliches Ende er mit frommem Gottvertrauen bauete.
Der Oberst blieb acht Tage. Anna sah ihn wenig, auch Frau von Waldau kam während der Zeit nicht viel zum Vorschein; sie war beschäftigt. Leontine erzählte von vielen Veränderungen im Hause; plötzlich kündete Frau von Waldau ihre morgende Abreise an. Sie versprach wiederzukommen und behielt einen Theil ihres Quartiers. Geiersperg hatte die ganze Zeit hindurch für einen Förster ihres Schwagers gegolten und begleitete sie als solcher nach Breslau. Duguet blieb zurück. Nach einigen Wochen verschwand auch er; man sagte, er sei nach Dresden gegangen, wohin Napoleon eben die deutschen Fürsten berufen hatte. Vielleicht hoffte er von dort aus Gelegenheit zu finden, sich dem Obersten zu nähern, bei dessen Geliebter Sophie in Diensten stand, und diese zurückzubringen.
[] Die erste Stunde des verhängnißvollen Jahres dreizehn gewährte Annen, nach einer langen traurig hingebrachten Zeit, die erste Freude. In Freiberg wohnte von der Mutter ein älterer Bruder, der im Bergwerk Geschworener war und daselbst ein heiteres, etwas mühseliges, von der übrigen Außenwelt abgeschlossenes Leben führte. Sein einziger Sohn Otto, ein ungewöhnlich fähiger Junge von funfzehn Jahren, hatte sich selbst zum Chemiker bestimmt. Der Vater brachte ihn zum neuen Jahre nach W...... in die Lehre eines alten Vetters, der als bedeutender Pharmaceut dort lebte und ihm die nöthigen Vorkenntnisse beibringen, das heißt ihn zur Universität vorbereiten sollte, die er im nächsten Jahre zu beziehen gedachte.
Wie fast alle im Bergbau Erwachsenden, war der Jüngling lustig, phantastisch und fromm. Die Einfachheit seines Wesens gewann ihm bald die Herzen der ganzen Familie, sogar [] das des Bürgermeisters. Auch ihn hatte, wie seinen Vater, das Leben »Jenseits der Berge« kaum berührt, die Politik war ihm ganz fern geblieben. Er hatte zwar mitunter auch tüchtig auf die Franzosen geschimpft, doch etwa so, wie wir auf den Teufel, ohne etwas Besonderes dabei zu denken. –
Die Neigung zur Analyse alles Sichtbaren schien Otto angeboren. Der Alte, ein Bergmann mit Leib und Seele, hätte ihn lieber auch zum praktischen Bergbau ausgebildet; und wirklich hatte der Knabe die ersten mühseligen Jahre der Lehrzeit bestanden und in den Gruben von unten auf gedient. Aber es trieb ihn gewaltsam weiter, der Bahn seiner Wissenschaft zu, und der Vater konnte es nicht über's Herz bringen, den Willen des sonst so nachgiebigen Kindes zu brechen. Um in Freiberg aufgenommen zu werden, wo es damals etwas aristokratisch zuging, waren des Alten Verhältnisse [] nicht günstig genug; und Otto selbst entzog sich gern dem Kreis seiner Gefährten, um der einmal erwählten Richtung bestimmter folgen zu können.
Der fröhliche Ohm fiel in der Neujahrsnacht dem ängstlichen Schwager wie eine Bombe in's Haus: beide alte Herren contrastirten wunderlich, aber sie vertrugen sich und Otto's Gegenwart brachte Leben in den kleinen Familienkreis.
Anna athmete auf in seiner Nähe; er rief den Frohsinn wieder wach, den der Familie Waldau Verlust in Schlummer versenkt hatte. Die beiden schönen jungen Leute entwickelten sich im Umgange mit einander; und als im Verlauf der nächsten Monate der allgemeine Enthusiasmus auch sie erfaßte, entfaltete der volle kräftige Sonnenstrahl jener Tage ihre Kindheit mit zauberischer Schnelle zur Jugendblüthe.
Es ist viel über jene Zeit geschrieben worden;[] – wer sie in gesunder Jugend frisch durchlebt hat, dem wird keine der Beschreibungen völlig genügen; sie hatte das mit der Liebe gemein, daß, obgleich sie in Aller Herzen widerhallte, jeder Einzelne sie ganz anders durchfühlt, durchlebt oder durchträumt zu haben wähnt als seine Genossen. – Am ersten März hatten die Verbündeten Frankreich den Krieg erklärt.
Der Herbst des nämlichen Jahres, der zum Frühling der Völkerfreiheit ward, reifte das nun funfzehnjährige Mädchen zur Jungfrau und den um ein Jahr älteren Knaben verhältnißmäßig noch rascher zum Jüngling.
Die ausgezeichneten Männer und Frauen, denen Anna im Waldau'schen Hause begegnet war, hatten auch nach Josephinens Abreise das wunderbare Kind nie ganz aus den Augen verloren. Trotz aller häuslichen Hemmungen ward Annen manche schöne Gelegenheit geboten, ihre [] Anlagen zu entwickeln, ihr Zeichnen- oder Sprachtalent zu fördern, und mit glühendem Eifer hatte sie instinctmäßig jede derselben ergriffen. Konnte dieser aphoristischen Bildungsweise nun gleich keine gründlichere Kenntniß entwachsen, so hatten doch wenigstens geliehene Bücher, freundliche Ermunterungen und gelegentliche ernstere Gespräche jeden edeln Keim ihrer jungen Seele frisch und lebendig erhalten.
Otto'n war es nicht so gut geworden, das Geistig-Schöne schlummerte noch in ihm; er kannte nur die Poesie seines errathenden Gefühls, und hatte sich dagegen eine Menge praktischer und empirischer Kenntnisse erworben, denen jetzt der schnelle Zeitenwechsel störend entgegentrat. Um so entschiedener drängte sich das volle wogende Freiheitsgefühl als poetisches Streben plötzlich in seine Existenz.
Rings im ganzen Lande stand Deutschlands Jugend auf, rüstete sich und bildete Freicorps. [] Otto's Blut kochte; unaufhörlich lag er dem Bürgermeister an, ihn nun auch mit in den Krieg ziehen zu lassen. Brief auf Brief trug die flehentlichsten Vorstellungen nach Freiberg zu seinem Vater, aber die beiden Alten blieben unerbittlich: Otto schien ihnen noch immer ein Kind.
Wie viele heiße Thränen weinte der Bayard in der Knospe um seinen unerreichten Ruhm! wie bebte Anna vor Zorn und Schmerz, als sein Vater endlich mit einem Machtwort all diesen heroischen Plänen ein Ende machte und den Ritter ohne Furcht und Tadel mit der Aussicht, zu Ostern immatriculirt zu werden, nach Jena in Pension that! Aber freilich begann für die beiden jungen Leute eine Serie ganz neuer Leiden und Freuden durch diese Trennung.
Das Jenaische Studentenleben hatte durch die Nähe Weimars für dort Einheimische einen sonderbar eigenthümlichen – fast könnte man [] sagen, einen häuslichen Reiz. Da gab es zweimal die Woche Markt- und Botentage, an denen die Gemüseweiber ihre grünen Waaren hinübertrugen und im Heimkehren Otto'n die von der Tante besorgte Wäsche oder irgend einen für ihn bewahrten Leckerbissen, ganz gewiß aber ein Briefchen von Anna überbrachten. Ach, man schreibt so gern mit funfzehn Jahren!
Und dann die Komödienabende, an denen er mit den Gefährten hinüberwanderte und Anna von weitem im Parterre sitzen sah, ihr wol gar beim Nachhausegehen begegnete! Schon wenn er durch das Kegelthor singend mit seiner Landsmannschaft einzog, war es möglich, sie am Fenster einer Freundin zu gewahren. Zum Onkel durfte er nicht so oft, der schalt über die Verschwendung der acht Groschen, die der Eintritt in's Theater kostete. Vor allem aber gab es eine Aussicht auf ein noch nie genossenes [] Glück, das, Annen auf den ersten Ball zu begleiten, als die bis dahin mit französischen Expeditionsbureaux angefüllten Säle endlich ausgeräumt wurden und nach jahrelanger Pause wieder öfters getanzt werden konnte.
Arme Kinder! es sollte ihnen nicht so gut werden.
Längst schon zog die Bürgermeisterin Sonntags keine rosa beschleiften Negligées mehr an; sie war blaß geworden und mager, und dann stiller und immer stiller. Seit dem Tode der zwei kleinen Mädchen war sie nie wieder zu voller Kraft gelangt; sie athmete schwer, und wenn sie mit dem Nähzeug Annen gegenübersaß, sank ihr die Arbeit in den Schoos, und sie konnte die Tochter so halbe Stunden lang wehmüthig ansehen, ohne mit ihr zu sprechen.
Wenn die Buben einmal schrieben, oder zufällig einer ihrer Streiche dem Vater zu Ohren [] kam, ging sie den ganzen Tag keichend und tief gebückt einher, aber sie klagte nicht.
Der Bürgermeister hatte seine Amtsgeschäfte im Kopf, er sah nicht, wie bleich sie war; früh morgens ging er auf das Rathhaus, das Mittagsmahl ward eilig eingenommen, zu Nacht aß er nach thüringischer kleinbürgerlicher Sitte allein warm, die Andern nahmen mit einem Butterbrot fürlieb. Der Bürgermeister hatte gar keine Zeit, den Zustand seiner Frau zu bemerken.
Als nun einmal an einem wunderschönen Frühlingstage Otto als Fuchs, den Rock am Stock, über der Schulter tragend, fröhlichen Sinnes mit andern Studenten zur Aufführung der Räuber herüberkam, gewahrte er das Mädchen nirgends. Es trieb ihn zu ihr hin, im Zwischenact eilte er in des Oheims Haus, öffnete schnell die Zimmerthür – er wollte sie überraschen – da lag die Tante schon auf der [] Bahre. Anna saß still weinend zu den Füßen derselben; – der arme junge Freund hatte nicht einmal von der kurzen Krankheit etwas erfahren.
Wie er am Begräbnißtage vom Kirchhof heimkehrte, stand Anna am Fenster, sie hatte das kleine, von ihr und der Verstorbenen bewohnte Gemach aufgeräumt, wie zu der Mutter Zeiten, und blickte starr und besinnungslos die Gasse entlang, ohne zu sehen; sie war nun fertig, mit Allem fertig; sie konnte sich durchaus keinen Begriff der kommenden Tage, ja nicht einmal der nächsten Stunde machen.
Sie bemerkte den eintretenden Otto gar nicht; als er sie leise umfaßte und an seine Brust zog, wehrte sie ihm nicht, hörte nicht die tausend Schmeichelnamen, mit denen der arme Junge sie zu trösten versuchte. Ihr Schweigen riß ihn weiter fort, ihre Nähe, die eine unbekannte Seligkeit durch alle Pulse seines Lebens jagte, [] steigerte ihn – immer bestimmter in seinen Wünschen und Empfindungen, schloß er damit, ihr zu sagen, wie unaussprechlich theuer sie ihm sei, wie er nur einzig sie liebe und lieben werde, und wie sie ihm vertrauen, den Vater nicht scheuen solle, Tag und Nacht wolle er arbeiten, in vier bis fünf Jahren müsse er ganz gewiß schon eigen Brot haben, dann – dann könne er sie heimholen, als seine Frau. Jetzt sah sie auf und mit den großen blauen Augen eine Secunde starr ihn an; enger umrankte sie sein Arm – Otto! Otto! rief sie, was fällt dir ein. Ich – Du? aber das ist ja ganz unmöglich! und mit einer heftig raschen Bewegung riß sie sich los und lief hinaus – erschrocken, blindlings, unbewußt, den alten Weg hinüber, durch den Gang, der nach Waldau's Wohnung führte; Jahrelang war die Thüre verschlossen geblieben, sie bedachte es nicht – jetzt wich sie bei der ersten Berührung – und mit einem [] jubelnden Freudenschrei stürzte Leontine in Anna's Arme!
Lange hielten sich die Mädchen eng umschlungen. Anna konnte es nicht begreifen, keinen klaren Gedanken fassen, sie sah nur mit Entzücken ihrer Freundin in das strahlende Gesicht.
Aber hattest du mich denn nicht gehört, nicht meine Stimme erkannt? fragte wieder und wieder Leontine; ich hatte ja geklopft, ich wollte ja zu dir, dich überraschen.
Plötzlich fiel Annen der Mutter Tod ein; sie brach in lautes Weinen aus und die Thränen des herben Wehs und der kindlichsten Freude mischten sich auf der jungen Mädchen Wangen. Allmälig wurde Anna ruhiger; sie konnte sprechen. Hand in Hand gingen Beide endlich hinüber zur Generalin Geiersperg: Josephine hatte dem Wunsch ihres verstorbenen Gemahls zufolge dem edeln Freunde ihre Hand gereicht.
[] Der erste Augenblick des Wiedersehens war tief erschütternd, Josephine hatte während Leontinens Abwesenheit den Tod der Bürgermeisterin erfahren. Als Anna das Haupt aus der Umarmung der mütterlichen Freundin erhob, an deren Brust sie lange leise geschluchzt, bemerkte sie einen jungen Offizier des Freiwilligencorps, der neben ihnen stand und sie mit tiefer Theilnahme betrachtete.
Sieh', Anna, sagte Josephine, das ist mein Bruder, von dem ich dir so oft erzählt, den ich bei meiner Heirath mit Waldau als kleinen Knaben verließ; es ist, glaub' ich, eigentlich mein Sohn, fuhr sie lächelnd fort, indem sie mit den Fingern über seine schönen braunen Locken hinstrich; er könnte es wenigstens den Jahren nach wol sein.
Anna machte einen halbverlegenen Knicks und schlug die Augen nieder – dann eilte sie mit Leontinen fort. Das ist ein wunderbar [] schönes Mädchen, flüsterte der junge Mann, der bereits Verschwundenen immer noch nachsehend.
Leontine war dreizehn Jahre alt und noch ganz und gar ein Kind. Sie hatte alle ihre Puppen und all ihr Spielzeug mitgebracht, das sie nun vor Annen ausbreitete. Anna sah wie ihr Schutzengel aus, als sie so ernst und freundlich neben der am Boden Knienden stand, die immer neue Herrlichkeiten aus einem Köfferchen hervorzog. Sie dachte unwillkürlich an Madame Sophie. Und weißt du denn nicht, wo jetzt Duguet ist? fragte sie Leontinen.
Ach, sagte diese, seit vielen Monaten haben wir nichts mehr von ihm gehört. Er hatte in Dresden Sophien nicht gefunden, und der gute Mann ist nun bei unsern Feinden, bei den Franzosen, – wer weiß, ob er nicht mit gegen uns fechten muß.
Anna sah mit einem Male so mitleidig und traurig aus, daß der junge Offizier, der eben [] mit Josephinen eingetreten war, laut ausrief: Aber das Mädchen ist ja wirklich ein Engel!
Die Kinder hörten es nicht, sie waren zu sehr miteinander beschäftigt.
Josephine blieb nur wenige Tage, sie ordnete ihre Geschäfte und den Verkauf des größeren Theils ihrer Mobilien, packte ihre Kunstschätze und bereitete sich vor, nach Berlin zu gehen, wo sie Geiersperg erwarten sollte. An dem glücklichen Ausgange des Kriegs zweifelte damals schon Niemand, man zitterte nur der Opfer wegen, die er vom Einzelnen fordern mußte.
Roderich, der Generalin Bruder, hatte schon am folgenden Tage Weimar verlassen, er war zu seinem Regiment zurückgeeilt.
Auch Otto hatte nach Jena zurückgemußt, und zwar ohne Annen wiedergesehen zu haben, die Josephine den ganzen Tag bei sich behalten hatte. Aber er gönnte der Geliebten den ihr [] wie vom Himmel zugefallenen Trost des Wiedersehens ihrer theuern Freunde und trug sein Herz voll himmlischer Träume und Hoffnungen nach Jena hinüber. Mit brennender Sehnsucht erwartete er dort den nächsten Sonnabend, an dem er wieder nach Weimar zu kommen gedachte; er hatte keinen rechten Muth zum Schreiben, denn die erste Liebe macht ja des Jünglings Herz schüchtern, wie das der Jungfrau. Auch hatte sein Gefühl plötzlich die Welt zur Ewigkeit ausgedehnt, zu der hinüber die Liebe tausend Brücken schlug; was galten ihm acht Tage, blieb sie ihm von nun an auf immer!
Josephine ging am nächsten Morgen zum Bürgermeister, was noch nie geschehen war, und blieb zwei volle Stunden bei ihm. Als sie aus seinem Zimmer trat, sprang ihr Anna entgegen, sie drückte das schöne Kind freundlich an's Herz und sagte weich und innig: Liebe Anna, du gehst mit uns nach Berlin; [] dein Vater hat mir erlaubt, dich auf ein Jahr mitzunehmen.
Anna zitterte und weinte vor Schmerz und Glück, sie umarmte bald Josephinen, bald ihren Vater, Leontine jauchzte und tanzte im ganzen Hause umher, sie war außer sich vor Freude.
Gerade acht Tage nach dem Begräbniß der Bürgermeisterin reisten sie ab; Anna schrieb einen herzlichen, ja fast zärtlichen Abschiedsbrief an Otto; des letzten Gesprächs erwähnte sie mit keinem Wort.
Als er das Blatt gelesen, packte Otto sein Ränzel und verließ Jena. Der alte greise Vater erfuhr es erst hinterdrein und mußte das einmal Geschehene ertragen, wenn er es auch nicht gutzuheißen vermochte.
[][] []An einem der bis zur Erde hinabreichenden Balkonfenster, die eine Eigenthümlichkeit der Bauart des alten Berns sind, saß eine elegant gekleidete junge Frau und blickte gedankenschwer vor sich hin in die klare Gebirgsweite.
Die Alpengipfel begannen aufzuleuchten, im Thal war die Sonne bereits verschwunden; das lichte Grün der vorliegenden Unterberge ward noch einen Augenblick von ihrem schwachen Widerschein erhellt, im Hintergrunde der Landschaft aber, da wo sich die Hügelkette weitete und hob, färbten sich die mattern Abendtinten zu tieferem Purpur, violett und blau;[] – langsam rollte die Dämmerung ihr Dunkel darüber hin, und hell und heller durchflammten es die rosigen und goldgelben Spitzen der Gletscher.
Die beiden Eiger, die Breiten- und Blümelisalp, eine nach der anderen erglühte; nur das finstre Aarhorn streckte über seine Schneescheitel noch zwei schwarze Felsspitzen in den heitern Abendhimmel, deren gerad' ansteigende Flächen keine Schneedecke dulden.
Alle diese Herrlichkeit überflog das ernste Auge der schönen Frau, dann schaute es so fest in sie hinein, als ob es noch darüber hin in's Weite sähe. Sie hatte den einen Arm auf die eiserne Balustrade gestützt; der liebliche Kopf ruhte in der schmalen, von blonden Locken überflossenen Hand. Dieses Anlehnen hatte etwas Mattes, Müdes, das Auge aber, das so durchdringend die Ferne suchte, war dunkel und [] frisch wie die Veilchen der Eisspalten am Rande der Gletscher.
Zu ihren Füßen, dicht vor ihr, lagen auf einem Teppiche zwei kleine fünf- bis sechsjährige Knaben, die sich zankten und den Beschwichtigungen einer englischen Kinderfrau Trotz boten. Die blonde Frau hörte nicht darauf.
Jetzt trat ein stattlicher schöner Mann von einigen dreißig Jahren in's Zimmer und zu ihr; eine Secunde lang hob sie die Augen, senkte sie aber sogleich wieder auf die Gegend hin.
Als sich jedoch der junge Mann in ihrer Nähe auf ein Sopha setzte, schien sie sich zu besinnen, wandte sich rasch zu ihm und begann ein heiteres Gespräch.
Nun ja, erwiderte er, mir ist es am Ende auch recht. Ich kann es hier so gut abwarten, wohin sie mich versetzen, als in B., nur sehe ich nicht ein, warum das nicht eben so leicht nach Rom, Florenz oder Neapel sein könnte, [] als nach jeden andern Ort. Graf Fink ist zu alt, er kann dem Posten nicht länger vorstehen, Baron Stein will nach Deutschland zurück; wir aber haben drei volle Jahre in Italien zugebracht, kennen das Terrain, und –
Ich glaube nicht daran, sagte Anna, ich fürchte, wir müssen uns an den Gedanken eines nördlichen Aufenthalts gewöhnen. Wär'st du, lieber Roderich, nur erst völlig hergestellt.
Thorheit! versicherte ihr Gemahl, meine Brust ist wieder kräftig; ja, ich denke, sobald ich nur diese mich beengenden Berge und ihre verdammten weichlichen Molken hinter mir habe, werde ich reiten können wie sonst.
Laß dir noch die wenigen Wochen Ruhe, bat sie, sind wir doch jetzt aus dem eigentlichen Hochgebirg heraus und hier in der Stadt, wo du mehr Zerstreuung hast, der Umgang mit den Professoren und sonstigen Honoratioren ist ja so übel nicht, und dann – sie zog[] ihn zu sich an's Fenster – sieh' doch diese Pracht nicht mit so unstätem Blick an, der Geschäfts- und Gesellschaftswirbel wird dich bald genug wieder erfassen!
In diesem Augenblick übertönte das Geschrei der beiden Kinder das Gespräch bis zu gänzlicher Unterbrechung. Der Wärterin Beruhigungsmittel reichten nicht mehr aus. Die Mutter eilte, den Jüngsten in die Arme zu nehmen und dadurch dem Streite ein Ende zu machen.
Die Buben werden unerträglich ungezogen, schalt Graf Kronfeld – so hieß der junge Mann – ich werde diese Interimszeit benutzen, ihnen einen tüchtigen Hofmeister zu suchen.
Den sechsjährigen Kindern! lachte Anna.
Egon ist im siebenten.
Seit gestern, und die heutige Unart stammt, glaube ich, noch direct vom Geburtstagskuchen her.
[] Aber, liebe Anna, mit funfzehn Jahren kann der Eine Offizier sein, mit achtzehn der Andere eine diplomatische Carriere beginnen. Wir können doch unsre Söhne nicht wild aufwachsen lassen wie diese Alpenpflanzen.
Anna seufzte. Nach einer Weile ward sie heiterer und als sich die Wärterin mit den Kleinen entfernt hatte, fuhr sie fast neckend fort, während sie die Blumen ordnete, die Kronfeld im Eifer seines Vergleichs auf den Tisch geworfen:
Du scheinst einen ganz außerordentlichen Werth auf eine möglichst frühe und möglichst vielseitige Entwickelung zu legen. Müssen denn nun unsere Söhne durchaus in der Diplomatie Pferde zureiten und im Küraß ministerielle Noten dechiffriren?
Warum nicht? wenn sie es gescheiter machen als ihr Papa, nicht vom Gaule fallen, wenn er durchgeht, und sich nicht gerade in dem Augenblicke [] verlieben, in dem sie einen Cabinetsbefehl studiren sollen. Er war aufgestanden und blickte ihr freundlich in die Augen; sie lächelte ihm zu: man sah, Beide belebte eine angenehme Erinnerung.
Sie standen, zwei vollkommen edle, wahrhaft schöne Gestalten, neben einander, der Graf war lichtbraun, groß, von aristokratischem, doch kräftigem Gliederbau; man sah ihm weder den frühen Lebensgenuß, noch die frühe Geistesarbeit an.
Warum, fragte er weiter, sollten sie nicht eben so lebhaft an ihrem Vaterlande hangen wie ich? Warum sollen die Jungen zu ihrer Zeit nicht auch für die Freiheit schwärmen und sie jubelnd begrüßen, ohne daß sie deshalb gerade Wartburgenser zu werden brauchen, oder gar ihr Ehrenwort brechen, wie leider, leider so Mancher unserer jetzigen Jugend? Ist es mir selbst doch schwer genug geworden, den [] Glanz jener Tage in uns Allen nach und nach ermatten und verdumpfen zu sehen. Warum sollte ich nicht hoffen, daß meinen Kindern auf der nämlichen Bahn ein besseres Loos blühen werde?
Weil sie keinen Freiheitskrieg wirklich mit zu durchfechten haben werden, weil, eh' sie erwachsen, ganz andere Interessen die Welt bewegen müssen, und endlich, weil es eben dem Herrn Papa recht sehr schwer geworden, den kurzen Kriegestraum zu vergessen, die Uniform wieder an den Nagel zu hängen und in die alte abgemessene Laufbahn zurückzukehren.
Kronfeld seufzte. Sehr wahr, indessen habe ich mich doch darein gefunden.
O ja, bis auf das Zureiten wilder Pferde, was, soviel ich weiß, nicht zum Chargé d'affaires gehört.
Immer kommst du darauf zurück.
Weil es uns zurückbringt in's Vaterland, [] lieber Freund, das du übrigens fürchte ich, sehr verändert finden wirst.
Wollen sehen, brummte Kronfeld. Ich bin aber genesen, und es kann auch anders kommen, und wäre überhaupt gar nicht dahin gekommen, wenn die italienischen Aerzte besser wären, und wenn die dumme alte Wunde nicht gerade dem Armbruch so nah' – ich hätte bleiben können, sollen.
Roderich! Du hast Mutter und Schwester am Brustleiden verloren.
Aber Josephine? ist sie nicht gesund und kräftig? bin ich's nicht auch? Haben mich die vielen Reisen angegriffen? Hast du mich vor dem unglücklichen Sturze klagen hören?
Anna wollte etwas erwidern, als sie durch den Eintritt einer alternden, trotz den ergrauenden Haaren noch immer hübschen Frau unterbrochen ward, deren äußere Erscheinung zwischen der einer Dienerin und einer bürgerlichen [] Hausfrau in sehr glücklich gewählter Mitte stand. Sie war ein wenig altmodisch gekleidet, mit kurzen Aermeln, ein klares etwas gesteiftes über einander gefaltenes Battisttuch umschloß ihren Hals, die schwarze seidene Schärpe mit den Seitentaschen fehlte auch nicht, die Französin war vom Scheitel bis zum zierlichen Fuß unverkennbar. Auch sprach sie Französisch und nur zuweilen ein übelbehandeltes Deutsch. Ihr erster Blick suchte die Knaben, dann übergab sie der Frau Gräfin eine Visitenkarte.
Kann weder der Jäger, noch der Bediente sie bringen, Sophie? fragte der Graf, etwas gereizt. Sie wissen, ich liebe dergleichen Unordnungen im Dienst nicht.
Verzeihung, Herr Graf! aber –«
Mein Gott! rief Anna, welche die Karte angesehen, mein Vetter Otto!
Was? der kleine Bergstudent, der deinetwegen in die weite Welt lief?
[] Ist nun groß und stattlich geworden, beinahe so stattlich wie der gnädige Herr, versicherte Sophie. In einer Stunde will er wieder anfragen. Er ist ein gelehrter Professor, in Basel geworden, und der Wirth erzählte mir, er sei ein entsetzlich berühmter Mann und habe irgend was entdeckt; auch zogen eine ganze Menge Schüler hinter ihm drein.
Das ist ja kaum möglich, sagte Anna, die Karte wieder und wieder überlesend, der ganze Mensch ist ja doch erst fünfundzwanzig Jahre alt.
Wird auch nicht so arg sein, meinte Kronfeld. Ma bonne ist immer freigebig gegen ihre Lieblinge gewesen und hat auch mich vom Secondlieutenant zum Hauptmann avanciren lassen.
Aber der Herr Graf sind es ja doch auch nachher geworden, sagte seufzend Sophie, eine weit zurückliegende Erinnerung umflorte ihr Auge.
Leider ja, durch das Abschiedspatent. Ach, [] liebe Sophie, das waren schöne Tage, obschon du während derselben meine Freundin und Feindin zu gleicher Zeit gewesen bist. Aber wir wollen nicht davon reden, ich bin nun ein ergrauender Diplomat und muß meine Jungen versorgen.
Die Kinder waren längst wieder hereingeschlichen, sie hingen an Sophie wie Kletten.
Jungens, wollt ihr einen Hofmeister haben?
Von Pfefferkuchen, Papa? fragte der kleinste.
Nein, nein! schrie der älteste, ich mag keinen Hofmeister.
Anna stand immer noch da, wie eine Träumende; es war dunkel geworden, die Bedienten hatten den Thee servirt und Licht gebracht. Sie schaute gedankenvoll in die kleinen Flammen derselben, wie früher in die leuchtenden Alpen hinein; endlich sagte sie gepreßt: Ich wollte, ich hätte ihn wiedergesehen.
Fürchtest du die Erinnerung? fragte Kronfeld.
[] Ja, erwiderte Anna, an seinem Bilde hängt das meiner ganzen Kindheit.
Ich bitte dich, liebe Anna! sprach Kronfeld, plötzlich wie durch Zauber ein Andrer geworden, indem er so edel und ruhig vor sie hintrat, daß sie unwillkürlich zusammenschrak, als habe sie etwas Ungerechtes gedacht, ich bitte dich, bedenke, wie sehr dieser junge Mann dich geliebt hat und was er gelitten haben mag; sei besonnen! Ich will noch einen Augenblick zu Lady Frederic hinübergehen, fuhr er französisch, mit einer leichten Wendung zu Sophien fort, bringen Sie die Knaben zu Bette oder übergeben Sie sie der Betty; ich kehre bald zurück. Wenn der Herr Professor Schulze kommt, wird Madame wol die Güte haben, ihn anzunehmen und zu unterhalten, bis ich wieder hier bin.
Anna blieb allein. Sie hatte längst ihre heitere Fassung wieder errungen, als nach etwa [] einer halben Stunde ein Bedienter den Professor anmeldete. Otto hatte sich vortheilhaft entwickelt; er war sehr groß geworden und seine ehemals zu kleinen, zusammengedrückten Züge hatten sich ausgearbeitet und erweitert, sein Gesicht war bleich, aber auffallend schön. Rasch trat er auf Annen zu, als wollte er sie in die Arme schließen, dann wich er um ein Paar Schritte zurück und stand fast ungeschickt verlegen vor ihr, ohne das begrüßende Wort sogleich finden zu können.
Lieber, lieber Otto! rief Anna, ihm die Hand reichend, wie freue ich mich, daß du da bist.
Wirklich, Anna! wirklich? es freut dich? Er zog ihre Hand einen Augenblick an sein Herz, ließ sie aber sogleich wieder los. Nun, so freut es mich auch.
Ohne ihre Aufforderung abzuwarten, setzte er sich, gepreßt nach Athem ringend, auf einen [] Stuhl ihr gegenüber; sie nahm ihren Fauteuil am Fenster wieder ein. Nun betrachteten sich Beide einige Minuten lang schweigend; in Beider Züge strahlte die Freude an des Andern Erscheinung.
Und du bist schon Professor, Otto? nahm endlich Anna das Wort, und wo?
Vorläufig nur in Basel. Ich bin nach der Schweiz gekommen, um einige Localbeobachtungen zu machen. Eine Entdeckung, die mir in die Hand gefallen, hat mir hier überall die Leute gewonnen. Sie haben mir die in Basel erledigte Professur angeboten, die manche Vorzüge hat; meine Zeugnisse waren gut. Ich habe die Stelle angenommen. Ein paar Jahre werde ich bleiben. Ich studire Schwedisch, ich will später zu Berzelius, er ist der Einzige, der mich anzieht. Davy ist noch in Italien.
Du bist gerade so geworden, wie ich mir [] dich dachte, sagte Anna, nur noch geschwinder, als ich es erwartete.
Ja, siehst du, erwiderte Otto und wurde feuerroth, ich sagte dir's im Voraus. Du aber bist sehr vornehm geworden, eine Gräfin, eine große Dame, du hast Lakaien und Jäger, Kammerdiener und Zofen, und du hast auch noch deine prächtige alte Madame Sophie, von der du mir so oft erzähltest; ich habe sie den Augenblick nach deinen Worten wieder erkannt.
Ach, die Arme, fuhr Anna fort, froh, das gefahrlose Thema erfassen zu können, sie hat vor einigen Jahren ihren durch so viele Gefahren hindurch geretteten Sohn nun doch verloren. Der arme junge Mann ist an den Folgen einer Wunde gestorben, die er an den Ufern der Beresina erhalten hatte.
Wir waren nach Italien gegangen; Kronfeld konnte nach mehrjährigem Kriegsleben sich nicht sogleich an die diplomatische Laufbahn gewöhnen, [] die ihm frühere Studien und Vorbereitungen anwiesen. Dort angelangt, übernahm er indessen doch einzelne geschäftliche Sendungen und diplomatische Reisen und ward endlich als Attaché der preußischen Gesandtschaft in Mailand angestellt. Etwa zwei Jahre nach meiner Vermählung gingen wir dahin ab. Da trat eines Abends auf der Straße eine todtbleiche und, wie es schien, todtmüde Frau auf mich zu und fragte mich nach mir selbst; sie hatte mich nicht erkannt.
O! sagte Otto, das ist natürlich, du bist unglaublich schön geworden; aber ich – hätte unter Tausenden dennoch dich erkannt.
Als ich den Klang der lieben, wohlbekannten Stimme hörte, rief ich laut ihren Namen; sie fiel ohnmächtig auf das Steinpflaster, noch ehe ich sie in meinen Armen aufzuhalten vermochte. Wir ließen sie sogleich nach unserer Wohnung bringen, von da an hat sie bei uns [] gelebt. Auch an der Beresina hatte sie ihren Marc trotz seiner Wunden glücklich am Leben erhalten, in der Schlacht bei Leipzig, die der kaum Geheilte wieder mitfocht, erhielt er eine nicht gefährliche Quetschung am Bein von dem Druck einer Kanonenkugel, die ihn aber dienstunfähig machte. Sie flüchtete mit ihm nach Frankreich, wohin eine fast fanatische Verehrung seines Kaisers ihn zog; dort blieben sie. Die gute Sophie mußte zuletzt zu so mancher äußeren Noth einen gewaltigen inneren Kampf bestehen, als die Bourbons wieder auf den Thron kamen und sie ihrem Herzen nach sich über die erneute goldne Zeit zu freuen hatte, während sie mit Marc die untergegangene Sonne des Kaiserthums beweinte. Marcs Enthusiasmus für den Gefallenen fristete ihm eine Weile das Leben, im beglückenden Traume der hundert Tage endete er. Duguet war bei Geierspergs geblieben, indessen wollte es mit dem [] neuen Herrn nicht recht gehen; er folgte seiner Frau nach Paris. Als aber die redlichen Menschen ihren Sohn begraben hatten, war es ihnen am natürlichsten, mich aufzusuchen und sich meinem Schicksal anzuschließen. Sophie nimmt sich jetzt meines Hauswesens an, wie einst des Waldau'schen, und pflegt meine Kinder.
Kinder! Du hast Kinder? Eine nicht zu bewältigende Rührung überhauchte die aufblitzende Empörung in Otto's Zügen. Er schwieg. Auch Anna fand kein Wort; es war gut, daß eben jetzt Kronfeld eintrat. Nach einer Stunde schon standen Anna und Otto einander ohne Verlegenheit gegenüber. Beim Abendessen hatten die Männer bereits eine Menge gemeinschaftlicher Gesprächs-Interessen und jede Spur von Verlegenheit war verschwunden.
Anna ging früh auf ihr Zimmer. Sie fühlte sich todtmüde. Denken mochte sie nicht. Kronfeld fand sie schlafend, als er durch ihre Stube [] in die seine ging, er beleuchtete sie scharf mit dem Lichte, das er in der Hand hielt. Sie schlief wirklich. Bin ich nicht ein Thor! lachte er vor sich hin und schlich leise vorüber.
Am nächsten Morgen war Anna ihrer vollen Kraft sich wieder bewußt. Nein, sagte sie, ich wäre doch nicht glücklicher mit ihm. Was er forderte, hatte ich damals nicht, hätte es wol auch jetzt nicht für ihn. Er wird mich vergessen; er hat es wol schon tausend Mal gethan in dieser langen Zeit. Aber ihr Herz strafte sie Lügen.
Otto hatte sie nicht vergessen; er hatte nur nicht Zeit gehabt, den Schmerz zu hegen, der ihn so gewaltig ergriffen, denn er hatte zuerst sich in den Krieg gestürzt, und als dieser endete, tief in seinen Studien sich vergraben. Die Nachricht von Anna's Heirath hatte ihn, da sie gleich nach Beendung des ersten Feldzugs vollzogen worden, schon in Paris erreicht.[] Ein paar leere Liebeleien, ein paar Momente des Sinnenrausches abgerechnet, hatte die Liebe sein Leben nicht eher wieder berührt, als eben jetzt in Bern, wohin er in den Ferien gekommen war. Anna's Wiedersehen verlöschte den leichten Eindruck und gab ihn der alten, nie ganz überwundenen Qual zurück.
Die ersten Tage vermied er sie, dann führte ein Zufall ihn ihr wieder zu. Sie hatte sich auf eine so verwandtschaftlich sichere Weise zu ihm gestellt, daß ihm sehr bald bei ihr am ruhigsten zu Muthe ward.
Männer wie Otto, die ihre Kindheit und Jugend in den Mittelständen verlebt haben, sind dem Einfluß des aristokratischen Benehmens vornehmer Frauen in hohem Grade ausgesetzt. Ohne eben verlegen zu sein, fühlen sie dennoch in höheren Gesellschaftskreisen sich etwas unsicher; um Alles in der Welt möchten sie keinen Verstoß begehen, besonders plagt sie eine [] geheime Scheu, lächerlich oder gar ungehobelt zu erscheinen; so geben sie unbewußt der Einwirkung einer anmuthigen, nicht schwer sie niederdrückenden Ueberlegenheit sich hin. Schlägt doch diese Ueberlegenheit über all solche Abgründe leicht fliegende Brücken, erscheint sie doch so unbedeutend, der Gewalt und Kraft des männlichen Charakters gegenüber – nur bestimmt sie in all ihrer Unbedeutenheit erst diesen, dann den nächsten Augenblick, reiht Schritt an Schritt und Stunde an Stunde. Und auf diese Weise ist manche vornehme und sogar manche dabei recht häßliche und nicht sonderlich geistreiche Frau zur Circe gescheiter und ausgezeichneter Männer geworden.
Und nun Anna, Anna, die mit dem sichersten Weltanstande das einfache, wohlwollende Gefühl eines Kindes vereinte, Anna, die nichts für sich suchte, keine Art heimlichen Strebens hinter angenommenen Formen barg, in der Alles [] lauter Wahrheit geblieben war, wie hätte Otto sich ihr zu entziehen vermocht! Bald sah er sie täglich; sie war wieder eben so freundlich und herzlich zu ihm als in den Zeiten ihres früheren Beisammenlebens. Wie hatte sie jede Erinnerung derselben sich zu bewahren gewußt! und dennoch mischte sich auch nicht die leiseste Andeutung eines Gedankens seiner damaligen Liebe in diese Bilder, die sie im magischen Glanze seinem Blicke täglich aufs Neue entfaltete; ja, oft vermochte er, ihr gegenüber, selbst kaum mehr daran zu glauben, daß sich damals sein leidenschaftliches Gefühl gegen sie ausgesprochen, daß er in jener unvergeßlich schönen, traurigen Stunde ein Glück geträumt, vor dem ihm jetzt schwindelte, daß er seine heißen Wünsche ihr gestanden, seine Hand ihr geboten.
Und doch war Otto keiner von den Männern, die sich die Vergangenheit absprechen, sie [] annulliren wollen, weil sie nicht mehr in ihre Gegenwart paßt. Der helle Strom des Lebens floß ihm voll und tief durch die Seele und er scheute den Rückblick auf dessen veränderte Ufer nicht. Es ist unbegreiflich, wie wenig Menschen den Muth haben, wirklich glücklich oder elend zu sein, wie die meisten aus purer Feigheit mit einem Mittelzustande sich begnügen. Otto traute sich zu beiden die Kraft zu, darum schloß er die Augen nicht vor dem, was abgegrenzt, schmerzlich weit hinter ihm lag; er vergaß es nur momentan, weil sie es so wollte.
Anna dagegen berührte das Verlassen ihres väterlichen Hauses ungern. Es war der Wendepunkt ihres Daseins gewesen, es hatte ihrer Existenz eine andere fremdartige Färbung gegeben, die sie nicht mit Bewußtsein sich gewählt, die nicht ihr ganzes Wesen durchdrungen; in einzelnen Stunden war sie sich dessen bewußt.
Wenn sie von ihrer Mutter sprach, war es [] von deren Leben, ihren Tod erwähnte sie nie. Sie sprach überhaupt ungern vom Tode – er ist so räthselhaft, sagte sie, und darum schaudert mir vor ihm; es geht mir wie den Kindern, die sich vor allem fürchten, was sie nicht kennen. Könnte ich ergründen, was der Tod ist, mir würde nicht mehr bangen.
Anna ehrte die christlichen Dogmen aus innigster Ueberzeugung, nur, äußerte sie oft, hat Christus selbst zu wenig über den Tod gesagt, denn die Auferstehung erklärt den Tod nicht; sie springt über das Grab hin aus in einen neuen Zustand mitten hinein.
Auch die Fabel der Alten, das schöne Bild geistiger Verklärung, der Psyche-Schmetterling, genügte ihr nicht. Die Raupe ist geflügelt worden, hat ihre Farben gesteigert, ihre Formen entwickelt und hinterläßt die Larve, wie eine Blume ihre Knospenkapsel, aber des Menschen Leib verwelkt und bricht endlich ganz und gar [] zusammen, ihm entsteigt keine sichtbar veredelte und doch seiner Urform verwandte Gestalt. Ich glaube an die Fortdauer, eben darum graust mir vor den unlösbaren Räthseln des Todes.
Als du ein Kind warst, erwiderte Otto lächelnd, hast du mich oft mit dergleichen Fragen und Aeußerungen geplagt, die ich, der Sprache nie sonderlich mächtig, dir nicht zu beantworten vermochte. Weißt du noch, wie ich mir damals half? Ich zeigte dir auf einem der Blätter im großen Bilderbuche der Natur die Antwort. Ich will's heute wieder so machen und aus unscheinbaren Substanzen, aus Gas und formenlosen Stoffen eine Gestalt dir erwecken, die wir zu den Urformen der unorganischen Natur zählen. Er ließ nach bekannten chemischen Proceduren einige Stoffe sich krystallisiren und fragte ganz trocken: Auf die Größe kommt es dir doch nicht an? Nun, könnte denn die flüchtige Substanz der Seele im Uebergange [] mit uns noch unbekannten Stoffen sich nicht wie dieser Krystall zur eigenen Urgestalt erwecken? Da hättest du die Auferstehung des Geistes, die Verklärung seiner früheren, verborgenen Wesenheit. Laß den Körper als bloße Schale der Erde.
Du bist, sagte Anna, trotz all deiner Gelehrsamkeit immer noch der alte philosophirende Phantast, und glaube mir, ich bin immer noch das gläubige, aus allen Kräften der Seele aufhorchende Kind.
Ja, ja, sagte Kronberg ein wenig schläfrig, Sie beide harmoniren als unbewußte Poeten im Märchenfache, das merke ich; gedenken Sie aber einmal der Realität eines unpoetischen, ungelehrten, krüppelhaften –
Und krystallisiren Sie ihn in seine Urform als Whistspieler, setzte Anna scherzend hinzu.
Allerdings spielte ich gern, wenn wir einen vierten Mann hätten.
[] Vor dem todten Whistmann fürchte ich mich gar nicht, versicherte Anna.
Und alle Drei setzten sich lachend an den Spieltisch und Kronberg fand seine Frau allerliebst.
Kronberg war ein wirklich gebildeter, unterrichteter Weltmann; die Naturwissenschaften aber waren damals keineswegs ein Gemeingut der Gesellschaft. Nur wenn durch seine Anwesenheit ein hochberühmter Reisender sie zum belehrenden Gesprächsstoff umschuf, erweckten sie ein durchgehendes Interesse, das demnach in den meisten Fällen entschieden der Persönlichkeit des Erzählers viel zu danken hatte.
Es war daher Kronberg durchaus nicht zu verargen, daß ihn Otto's Gespräche mitunter langweilten und er sich ärgerte, daß, wie er oft Annen versicherte, ein so grundgescheiter Mensch nicht im Stande sei, eine ordentliche Conversation [] zu machen – und nicht einmal dir gegenüber! setzte er kopfschüttelnd hinzu.
Eigentlich hatte Otto überhaupt noch nie ordentlich mit einer Dame gesprochen; die jungen Mädchen, mit denen er auf selten besuchten Bällen verkehrt hatte, verstanden es eben so wenig als er, ein fortgesetztes Gespräch zu führen. In so jungen Jahren ist es meistens der Liebe allein vorbehalten, die Brücke des Verstehens zwischen den Geschlechtern zu schlagen.
In Bern erst war er einem Mädchen begegnet, mit der zu reden ihm gelungen war, er wußte kaum selbst, wie es zugegangen. Es war die Tochter eines armen Schreiblehrers. Der Vater, gelähmt und altersschwach, wünschte sie in einem Institute, in welchem er selbst bisher den Dienst versehen, an seiner Statt als Lehrerin unterzubringen. Die dem Plane sich entgegenstellenden Schwierigkeiten hatten Otto in dem Hause, in welchem er bei einem älteren [] Collegen wohnte, mit dem hübschen Vrenely zusammengeführt. Die Professorin interessirte ihn für das arme Kind und suchte seine Fürsprache bei dem ihm befreundeten Institutsdirector für dasselbe zu gewinnen.
Trotz ihrer niederen gesellschaftlichen Stellung war das Vrenely ungemein beliebt in Bern. Der Vater mochte auch wol bessere Tage gekannt haben, wenigstens hatte er seinem Töchterchen eine sorgfältige Erziehung gegeben. In einigen höheren Kreisen freundlich aufgenommen, hatte das schöne junge Mädchen durch die Lieblichkeit seiner äußeren Erscheinung, durch die Anspruchlosigkeit seines ganzen Wesens die regste Theilnahme sich erworben.
Vrenely war durchaus von Anna verschieden; sie hatte wenig Muth, aber viel Pflichtgefühl, das den Mangel an jenem übertrug, und so unternahm sie in fast gleicher Lage mit der, aus welcher Anna zu ihrer jetzigen Stellung [] durch die Generalin von Geiersperg gelangte, ihren eigenen Weg zu gehen, weil sie für ihren Vater es als nöthig erkannte. Mit vierzehn Jahren schon hatte sie kleine Kinder im Lesen, Rechnen und Schreiben unterrichtet und den Alten fast ganz und gar erhalten. Jetzt war sie siebenzehn. Es war die Rede davon, sie bei einem Doppelinstitute für Knaben und Mädchen, statt besoldeten Lehrers, die Stunden geben zu lassen; der Fall war noch nicht vorgekommen und der größte Theil der Gesellschaft interessirte sich für sie und ihr Anliegen.
Vrenely war, wie sonst wol eigentlich echte Katholiken zu sein pflegen, fromm und still die lange Arbeitswoche, ja den ganzen Sonntagsmorgen hindurch, dann aber nach vollendetem Geschäft fröhlich und guter Dinge, als breite das Leben einen Reichthum von Festtagen um sie her. Sie hatte den vollen kräftigen Wunsch, das Dasein zu genießen, aber auch den Genuß [] zu verdienen. Sie hoffte unendlich viel von der Zukunft und stellte in ihrem Herzen jedem Worte, das sie ihren kleinen Zöglingen vorschrieb, eine mit allen Farben einer regen Phantasie ausgeführte Initiale voran, aus Engeln und Blumen zusammengesetzt; aber alle flossen in einen einzigen Wunderrahmen zusammen, der sich um ein schönes ritterliches Heiligenbild hinzog, als sie Otto gesehen. Er fand sie fast jeden Abend bei der alten Professorin; ihr gefälliges Aeußere und ihre Herzensgüte gewannen ihn. Das Mädchen schien ihn zu lieben, aber sie dachte weder an Liebe noch an Heirath dabei, sie dachte nur – an Ihn. Sie hatte auch gar keine Zeit, ihr Gefühl zu betrachten oder zu analysiren; sie ließ es in sich walten, wie man die Sonne sich bescheinen läßt.
Da sah Otto unvermuthet Annen wieder. Es war vorbei, er dachte nicht mehr an das Vrenely; er kam gar nicht mehr herunter zur [] alten Frau Professorin und hatte des selbst kein Arg. Ihn hatte eine höhere Gewalt ergriffen, seine Seele war wie von einem Blitzstrahl durchleuchtet, er konnte sich auf nichts Anderes besinnen.
Anna war wirklich unbefangen geworden; sie hatte die kurze Störung einer ihr unsäglich lieben Vergangenheit vergessen wollen, um den Jugendfreund sich zu bewahren, und es war ihr gelungen. In solchen Fällen ist das Gemüth der Frauen beweglicher, ja wechselnder, als das der Männer.
Mit jedem Tage fühlte sich Kronberg mehr und mehr gesunden; er betrachtete sich als völlig hergestellt und stand in eifriger Correspondenz mit dem Fürsten H., dem allgewaltigen Minister, der ihm gewogen war und durch dessen Gunst er eine wirkliche Gesandtenstelle in Rom, Florenz oder Neapel zu erlangen hoffte. Die nächsten Wochen, oder wenigstens die nächsten [] Monate mußten hierüber eine Entscheidung bringen. Kronberg schwankte, ob er dieselbe in der Schweiz abwarten solle oder nicht.
Die Verhältnisse in Deutschland waren ihm unangenehm, sie drückten ihn. Mit einer rein legitimen, fast ritterlich poetischen Anhänglichkeit an König und Vaterland, die ihm sein kurzer Kriegerstand zurückgelassen, verband er den schon damals erwachenden, in unsern Tagen so allgemein und allgewaltig heranwachsenden Drang nach persönlicher Freiheit; die amtlichen Verhältnisse, wie günstig sie sich ihm auch gestalten mochten, ekelten ihn an; die für ihn zu hoffende Carrière, welche ihn unter unmittelbare Leitung des Ministeriums stellen mußte, genügte ihm durchaus nicht; nur ein Gesandtenposten, wo möglich der eines Ministerresidenten, gewährte, selbst wo er ihm die größten Rücksichten aufzubürden schien, seiner Ansicht nach, die Garantie einer persönlichen Unabhängigkeit, [] die ihn, trotz allen mit ihr verbundenen Lasten der Gesellschaft, lockte und alle ihm sonst gebotenen Vortheile abweisen ließ.
Aber, sagte ihm Otto in einer langen Unterredung über diesen Gegenstand, fühlen Sie denn nicht, Herr Graf, daß im Verhehlen einer Gesinnung, in Darstellung irgend einer Thatsache, deren Färbung ein bestimmter Zweck bedingt, auch ein Zwang liegt? Und sollte dieser nicht größer sein als der eines Amtes, das seine feststehenden Formen und seinen festsitzenden Schlendrian mit sich führt?
Lieber Freund! erwiderte Kronfeld, man wird identisch mit seinem Staate und verhehlt, beschönigt, verschweigt gerade so, wie etwa der Einzelne in der guten Gesellschaft sich gern von der besten Seite zeigt. Glauben Sie mir, der Triumph eines feinen Diplomaten ist der süßeste auf Erden, – ausgenommen der einer schönen Frau, schloß er lachend, zu seiner Gemahlin [] gewendet. Pardon! Er küßte ihr schmeichelnd die rosigen Fingerspitzen.
Otto fühlte sich unangenehm berührt, ja wunderlich geärgert und verletzt. Diese Galanterie, mochte sie noch so zart und ritterlich sein, verwundete ihn jedesmal, wenn Anna der Gegenstand derselben war. Sie war ihm so heilig und er noch ein recht gläubig Liebender. Er ließ das Gespräch fallen.
Kronfeld glaubte, er habe ihn nicht verstanden. Diese Gelehrten, sagte er verdrießlich zu sich selbst, vermögen mit ihrer mathematischen Weisheit die Sonnenstäubchen zu berechnen, aber im gemeinen Leben können sie nicht drei zählen. Wenn's Glück gut ist, meint der, ich wolle den p.....schen Staat auf meine Schultern nehmen und durchs Weltmeer tragen, wie St. Christophorus den Herrn!
Anna sah Beide an und lächelte, sie verstand Beide, nur hielt sie Otto's Liebe für [] minder ernst; sie hatte gerade genug über das hübsche Vrenely gehört, um nicht an die Unvergänglichkeit dieser Liebe für sich selbst glauben zu müssen – so glaubte sie nicht daran. An die Möglichkeit einer heftigen Leidenschaft dachte sie gar nicht, theils traute sie dem Jugendfreunde sie nicht zu, theils fehlte ihr der Maßstab für dieselbe, und überhaupt träumte Anna nicht und wiegte sich nicht in Emotionen. Ihr ernster Charakter gehörte nicht zu den romantischen; sie bebte zurück vor der eigenen Kraft und Tiefe ihres Wesens, wenn irgend ein Umstand den Schatten derselben an ihr vorübergleiten ließ, ohne ihn zu erkennen, wie zuweilen ein unverstandenes Geisterleben durch einen Mark und Bein erschütternden Schauder uns schreckt, den wir nicht zu erklären vermögen. So vergingen mehre Wochen.
Otto fing indessen doch allmälig an, sehr zu leiden; er sah täglich mehr ein, daß Anna [] weder ihn, noch seine Liebe begriff – und die Leidenschaft will verstanden sein, um jeden Preis verstanden! Er verlangte, daß sie wisse, was er um sie erduldet, wie damals ihr Verlust sein ganzes Dasein umgestaltet, welchen unermeßlichen Schmerz sie ihm gegeben. Mehr forderte er nicht; er suchte nichts zu erreichen, nicht einmal ihre Liebe. Was konnte diese Liebe ihm gewähren! Otto war ein frommer, ganz einfacher Mensch; ihm war die Ehe eine chinesische Mauer, die unwiderruflich von jeder Hoffnung auf die Geliebte ihn schied.
Auch Vrenely ward des eigenen Herzens sich mehr und mehr bewußt; es war so finster in ihrer Seele geworden. Der frohe Muth, mit dem sie sonst allmorgendlich erwachte, war plötzlich wie versunken in ihrer Brust. Wie ward ihr Alles so bitter schwer. Sie hatte nun die lange gewünschte Stelle erhalten; sie konnte ihren alten Vater ernähren und pflegen – aber,[] ach! ihre Stunden gab sie nicht mehr gern. Wie erbärmlich kam es ihr jetzt vor, nur kleine Kinder schreiben und buchstabiren zu lehren; wie gar gering, wie mangelhaft war nicht eine solche Kenntniß! Was mußte nicht die wunderschöne Frau, die sie so oft mit Otto am Schulhause vorübergehen sah, alles wissen und Ihm sagen können.
Sie besann sich jetzt auf jedes Wort, das er früher mit ihr gewechselt, – das hatte sie sonst auch wol Nachts oder in einzelnen freien Stunden, und, ach! wie gern gethan, aber damals war es ihr immer vorgekommen, als enthalte die ganze Welt nichts Schönes oder Edles, das sie nicht mit ihm besprochen – nun sie es sich so recht innig-grausam überlegte, hatte er ja nur ganz oberflächlich von dem Nächstliegenden zu ihr geredet. Er hatte ihr Vieles erzählt, aber vielleicht hatte er damals schon bei dem Allen gar nicht an sie gedacht, sondern immer [] nur an die schöne Fremde mit den langen blonden Locken.
Otto ahnte von dem Allen nichts. Gibt es etwas Traurigeres, als dieses Nebeneinanderleben und Leiden, wo keiner auf den Andern sieht, ja nicht einmal die Qual eines nahen und liebenden Herzens beachtet? Und jeder meint dennoch, eine Unermeßlichkeit der Empfindung in sich zu tragen, und sie reicht nicht einmal für den dicht neben ihm Stehenden, neben ihm Weinenden aus!
Das Ende der Herbstferien nahte, mit Entsetzen dachte Otto des Augenblicks, der ihn von Annen trennen mußte. War er schon nicht glücklich in ihrer Nähe, empfand er dennoch einen Todesschauer bei dem Gedanken, die Abende, die er jetzt großentheils bei Kronfelds zubrachte, künftig ohne sie in Basel durchleben zu müssen. Unwillkürlich ging er jeden Tag etwas [] früher hinüber, mit jeder Stunde, ach, mit jeder Minute hätte er geizen mögen!
Eines Abends, als er dem Hause zueilte, gewahrte er den Reisewagen des Grafen, der eben, schwer bepackt, aus dem Hofthor und die Straße entlang rollte; Duguet, mürrisch, in seinen dicken Pelz gehüllt, saß auf dem Bock – das mußte nach Norden, die Nacht hindurch, weit, weit gehen, großer Gott! war sie ihm denn schon wieder verloren?
Das nämliche Gefühl, mit dem er einst den Brief aus der Hand legte, der ihm Anna's Reise nach Berlin verkündigt hatte, überfiel ihn jetzt mit plötzlicher Gewalt und wälzte sich erstickend auf sein Herz; ihm vergingen die Sinne. Ohne zu bedenken, daß er auf offener Straße sei, lief er dem Wagen eine weite Strecke nach; als die Unmöglichkeit, ihn zu erreichen, endlich seine Schritte hemmte, stürzte er eben so mechanisch in wilder Hast zurück und dem Hause zu, das [] die Familie bewohnte. Unten im Hofraum stand Philipp, des Grafen Reitknecht, und wusch den zweiten Wagen, in welchem Anna häufig auszufahren pflegte. Sie ist noch da! schlug es an Otto's Herz! Er trat in das Haus, die Mägde waren emsig mit der täglichen Arbeit beschäftigt, nirgend gewahrte er eine Spur von Reiseanstalten oder Unruhe. O guter Gott, sie ist noch da! Er lehnte sich erschöpft an die Treppenbalustrade und vermochte nichts weiter zu denken, kaum sich auf den Füßen zu erhalten. Ein Strom von Glück und Dank flutete auf in seinen Adern, in seiner Seele. Sie mußte noch da sein, da lagen ihre Handschuhe, ihr Hut. Sie war im Nebenzimmer; sechs Schritte, so stand er ja vor ihr.
Der starke Mann zitterte wie ein Kind und hatte lange nicht den Muth, die sechs Schritte zu thun. Endlich öffnete er die Thür des Salons; am Tische saß das Vrenely zwischen den [] beiden kleinen Knaben und gab ihnen Schreibstunde. Otto rang nach Athem und blieb an der Schwelle stehen, da trat Anna hinzu; sie war im Hintergrunde des Zimmers gewesen. Das Vrenely war aufgesprungen von seinem Stuhl, die beiden Frauen standen neben einander.
Zum ersten Mal durchzuckte ihn eine Erinnerung an sein früheres Benehmen gegen das Mädchen, welches schon wieder zwischen den Kindern saß. Seit den acht Tagen, da die Stunden begonnen, hatte sie ja Zeit gehabt, auf diesen innerlich schon hundertmal durchlebten Augenblick sich vorzubereiten, sie beugte sich unter dessen Gewalt, wie eine Lilie unter dem aufstürmenden Nachthauch, aber sie blieb gefaßt. Anna war ruhig, wie immer; sie blickte sinnend bald Otto, bald das Vrenely an. Ob er sie liebt? fragte sie sich leise und eine helle Röthe überflog ihre Wangen; sie wußte ja, er liebe sie selbst.
[] Otto blickte mit tiefer Glut auf Anna's schöne Züge, die der rosige Hauch verklärte; er hatte das arme Vrenely bereits wieder vergessen. Ich glaubte dich fort, Anna! ich hatte den Wagen gesehen, entrang sich fast tonlos seiner Brust.
Du! er nennt sie Du! widerklang es in Vrenely's Herzen.
Fort, ohne dir Lebewohl gesagt zu haben? wie wäre das möglich, Otto!
Hast du es nicht bereits einmal gethan? fragte Otto sehr bitter. Zum ersten Mal war er empört über Anna's Unbefangenheit.
Die Röthe auf ihren Wangen wich, sie ward blaß, sehr blaß. Du solltest jetzt und überhaupt niemals mich daran erinnert haben, Otto! es wäre großmüthiger gewesen, edler. Du hast Kronfeld's Reisewagen gesehen, er ist nach Karlsruhe. Der Minister H. kommt auf der Rückreise dort durch. Roderich will ihn sprechen. Es hat sich schnell, in wenig Stunden gemacht. [] Nach beendigter Lection der Knaben wollte ich zu dir schicken, dir es sagen zu lassen. Kronfeld grüßt dich herzlich, er kommt in sechs bis acht Tagen zurück. Uebrigens, mein Freund! fuhr sie freundlicher und sehr weich fort, übrigens sollte man Todte ruhen lassen, und diese Vergangenheit mit all ihrer Lust und all ihrem Leide muß todt sein – sie ist an der Gegenwart gestorben. Otto, ist uns denn nicht noch unendlich viel an einander geblieben? Sie bot ihm mit tiefer Rührung die Hand.
Vrenely saß mit dem Rücken gegen die Sprechenden gewandt, aber sie hörte das halblaut geführte Gespräch. Sie hatte ihre Stärke überschätzt, das empfand sie jetzt erst. Hatte sie doch das ganze Anerbieten, den Kindern Stunde zu geben, nur angenommen, weil sie Ihn sehen wollte. Ihn neben ihr! Es war ihr gewesen, als müsse sie dann mit einem Male genesen von all der Qual, oder daran sterben, [] und nun tödtete das Allerunerwartetste sie nicht, sondern die Qual wuchs und überwuchs in tausend Gestalten zugleich all ihre Vorsätze und Kräfte.
Anna und Otto standen in einer Fensterbrüstung vor einander und sahen sich wehmüthig an, das Vrenely hatten jetzt Beide vergessen.
Anna, flüsterte er endlich, die dargebotene Hand leidenschaftlich an sich ziehend, ich habe es lange schweigend ertragen. Warum hattest du mir das gethan! War ich dir denn damals gar nichts? Ist dir denn in diesen vielen Jahren nie eingefallen, was du in mir zerstört, was ich um dich gelitten.
Otto, ich war ein Kind, funfzehn Jahre. Kannte ich denn das Leben, wußte ich, was ich that? Jetzt weiß ich es, ich hätte anders handeln sollen und müssen. Ach! glaube mir, es hat mir oft unsäglich leid gethan.
Wo wäre die Liebe, die bei solchen, wenn [] auch absichtslos gesprochenen Worten nicht, von tausend zündenden Funken durchglüht, aufloderte zur verzehrenden, jedem Gesetze Trotz bietenden Leidenschaft? Anna, die er so kalt geglaubt, Anna fühlte also, daß sie unrecht an ihm gehandelt; sie hatte es bereut, sie hatte um ihn, mit ihm gelitten. Wie anders wäre vielleicht Alles gekommen, wenn Josephine sie nicht überredet, ja durch ihr Uebergewicht sie vielleicht gezwungen. Jeder Vorwurf, den er der Geliebten gemacht, war aus seinem Gedächtnisse entschwunden. O wie sophistisch ist die Neigung! Otto vergaß die ganze schmerzliche Vergangenheit, ja die ganze noch schmerzlichere Gegenwart, er zog schweigend Anna's zitternde Hände an seine Lippen und zum ersten Mal im Leben überströmten heiße Thränen das schöne männliche Gesicht.
Anna erschrak, sie wußte nicht, was zu thun; sie empfand ihre eigne Unvorsichtigkeit, ihrer [] Kinder und Vrenely's Nähe. Sie vermochte nichts, als ihn bittend anzusehen und leise ihre Hände den seinen zu entziehen. Jetzt kehrte auch ihm die Besinnung und das Gefühl des unwiederbringlichen Verlustes zurück, schneidend kalt ließ er sie los und wandte sich von ihr ab.
Mußt du die Wege noch weiter von einander leiten, Otto? fragte sie mit einem unaussprechlich trüben ernsten Ausdruck. Aber der Schmerz hatte ihn überwältigt; er zitterte heftig und griff in der Aufregung nach einem in der Nähe stehenden Tischchen, um sich zu stützen; die auf demselben befindlichen Gläser klirrten gegeneinander und Vrenely wandte unwillkürlich den Kopf. Er weinte; nun wußte sie ja Alles! und so ganz war sie vergessen, daß er in einem solchen Augenblicke nicht einmal ihre Anwesenheit gewahrte. Auch das Mädchen weinte heiß und still, aber die arbeitgewohnte Hand führte dennoch die kleine Hand des Knaben, [] der eifrig seine Grundstriche machte. Das arme Vrenely war nicht an heftige Aeußerungen gewöhnt.
In Anna's Seele regte sich jetzt zum ersten Mal eine Ahnung der tiefen Leidenschaft, die Otto seit Jahren für sie empfunden und treu bewahrt hatte, und vor ihr richtete, einem Gorgonenhaupte gleich, die Verantwortlichkeit sich auf; der leiseste Hoffnungsschimmer mußte ihn verwirren, die entschiedene Zurückweisung konnte seine Thatkraft hemmen im Augenblicke ihrer Entwicklung. Ach, und die Seele hat auch ein Janushaupt mit doppeltem Antlitz! Mitten in diese wahrhaft edle Empfindung mischte sich der egoistische Schmerz: Beide nicht glücklich, beide liebelos den langen leeren Weg des Lebens! Noch nie hatte Anna so klar sich's einzugestehen gewagt, daß sie ihren Gemahl eigentlich nie geliebt; vor der ungeheuern Wahrheit in Otto's Gefühl brach plötzlich diese[] Ueberzeugung herzzerreißend, fast vernichtend grell an das Licht, aber sie stand ruhig, den Blick zur Erde gesenkt und nur die blonden Locken zitterten über der heftig pulsirenden Ader an den Schläfen.
Gerade dies Schweigen vernichtete den letzten Rest der Kraft in Vrenely's Brust; sie hielt diese plötzliche Stille für den lautlosen Ausdruck des Glücks, weil sie selbst wortlos so unsäglich glücklich gewesen; ihr war, als stürbe sie in diesem Augenblick, ihr Köpfchen sank auf die Lehne des Stuhls, auf welchem ihr kleiner Zögling saß, und unaufhaltsam flossen ihre Thränen. Da trat Sophie zu ihr, die vor wenig Secunden durch die Alkoventhür hereingekommen war; die Stunde hatte geschlagen, ma bonne wollte die Knaben abholen. Der kleinste saß in seinem hohen Stühlchen fest eingeschlafen, Vrenely hatte es nicht bemerkt; der ältere schrieb noch, aber in immer krauseren [] Schriftzügen. Sophiens Falkenauge überflog die beiden Gruppen, sie begriff alles.
Sie sind unwohl, liebe Mamsell, sagte sie leise, indem sie hinter des Mädchens Stuhl trat, um die Weinende mit ihrer Gestalt den im Fenster Stehenden zu verdecken. Fürchten Sie nichts, es hat's niemand gesehen. Kommen Sie, wir wollen auf mein Zimmer oder in den kleinen Hausgarten gehen; es ist beklommen hier, frische Luft wird Ihnen wohlthun.
Vrenely richtete das freundliche Auge dankend zu ihr auf, an den langen schwarzen Wimpern hingen die hellen Thränen, wie Thau an einer dunkeln Blume; sie war keines erwidernden Lautes mächtig.
Die Kinder – der Kleine war erwacht – sprangen fröhlich auf die Mutter zu, Anna beugte sich liebkosend zu ihnen nieder; ihr Herz ward stiller.
In Otto regte sich plötzlich bei diesem Anblicke [] die entzügelte Furie der wildesten Eifersucht, mit einem unterdrückten Schmerzensschrei schlug er beide Hände vor das Gesicht.
Vrenely war aufgestanden und schwankte eben an Sophiens Arme der Thüre zu; der leise Aufschrei traf ihr Ohr. Unfähiger noch, seinen als den eigenen Schmerz zu ertragen, erlag das arme Kind so vielen zugleich es bestürmenden heftigen Gefühlen, es fiel ohnmächtig in ma bonne's Arme und mußte hinausgetragen werden in deren Stube.
In tiefster Seele erschüttert, blieben Otto und Anna zurück, des Mädchens Schmerz hatte zu unwiderlegbar laut gesprochen, er bedurfte wenigstens vor diesen Beiden keiner Erklärung. Lange fanden weder sie noch er ein Wort, Otto stand mit untergeschlagenen Armen, als trotze er der neuen Qual, die ihren Schatten über seine Tage legte; die Gräfin saß wie am ersten Abende im Fauteuil am Fenster, aber sie blickte[] nicht mehr auf die erglühenden Gletscher und Alpen, sondern in die viel starrere und schroffere Natur des menschlichen Gemüths.
Was wirst du thun? fragte sie endlich.
Ich weiß es nicht, antwortete er wild, und es kümmert mich nicht; ich bin an dem allen nicht Schuld. Leide ich denn etwa nicht?
Otto, sagte sie sehr sanft, ich glaube, du mußt uns so bald wie möglich verlassen.
Du willst mir die einzige kurze Freude meines geknickten Jugendlebens misgönnen? Bleibt mir denn etwa außer diesen paar Augenblicken mit dir noch so gar viel, daß ich sie wegwerfen könnte, wie welke Blüten, oder sind sie dir eine Last? Hat dich meine Leidenschaft etwa überlaufen wie ein zudringlicher Gläubiger? Habe ich irgend etwas verlangt? dir eine Untreue, eine Erwiderung aufgebürdet? Ich will ja nichts von dir, als deine Gegenwart, die jeder Bettler hier mit mir theilt.
[] Anna, Anna! fuhr er fort, immer heftiger im Zimmer auf- und niederschreitend, du kennst mich nicht; reize mich nicht durch Sophistereien, mache mich nicht zum wilden Thier, das in der Wuth des Schmerzes alles zerreißt und niedertritt. Was geht das Mädchen mich an? Habe ich ihr je ein Wort von Liebe gesagt? Was kümmert mich außer dir die ganze Welt!
Ich weiß es nicht; aber sie hat sich geliebt geglaubt. Ein Recht dazu konntest du auch ohne Worte ihr geben – – und mußt es irgendwie gethan haben; das Kind ist so bescheiden. O, glaube mir, es ist gut, ja nöthig, daß du gehst. Werde ich dich denn nicht vermissen? Ach, ich hatte mich ja so unbeschreiblich auf Basel und unser Wiedersehen dort gefreut!
Nun, Anna! nun?
Ich irre vielleicht, wir Frauen verstehen ein [] Männerherz so schwer in all diesen Verhältnissen. Ich kann dich nur bitten, lade keine neue Schuld auf dein Haupt, keine auf mein gedrücktes Herz.
Du? rief er, auf sie losstürzend, als wolle er ihr zu Füßen sinken, du schuldig, und durch mich? Engel! und worin? Er preßte ihre zitternden Hände gegen seine glühende Stirn, dann eilte er fort.
Mehre Tage traf er sie nie allein. Er hatte anfangs wegbleiben wollen, doch es nicht vermocht. Jetzt fand er sie beständig von Sophien und ihren Kindern umgeben, sogar Frauen aus Bern als Besuchende bei ihr. Nie war ihm Anna reizender erschienen, als in diesem milden, besonnenen Versagen, in dieser Scheu vor allem Unrecht; aber ihre Absicht erreichte sie nicht, denn sie entflammte ihn nur zu immer heftigerer Leidenschaft. Sie bedachte nicht, daß sein ernster, einfacher Sinn sie ohnehin jetzt [] vor neuem Aussprechen seines Gefühls schütze; nur das Ueberraschende des Moments hatte ihn zu Ausbrüchen fortgerissen, die er selbst strenger tadelte als sie.
Vrenely war krank geworden. Anna besuchte sie täglich; sie erzählte ihr, wie zufällig, von ihren Kinderjahren und der schönen mit ihrem Vetter verlebten Jugendzeit. So schien äußerlich alles beschwichtigt und in das alte Geleise zurückgekehrt; die Stunden mit den Kindern sollten nächstens wieder beginnen. Otto hätte wahnsinnig werden mögen, jede Regung seines Wesens fühlte er gezügelt und tief im Innern den gigantisch tobenden, blind wüthenden Schmerz.
Mit bewundernder Schwärmerei schloß sich das arme Mädchen der schönen gütigen Frau an, die ihr so viel Wohlwollen erzeigte; sie glaubte Sophien, die ihre Ohnmacht dem plötzlichen Eintritt der Krankheit zuzuschreiben schien, [] obschon ihr klarer Sinn sich nicht zu bergen vermochte, daß des Geliebten Herz sich von ihr gewendet; sie fand nur eine Milderung ihres Geschickes in dem Gedanken, daß er Annen vor ihr gekannt und geliebt.
Dennoch müßte dieser künstliche Bau eines erträglichen Zusammenlebens zu einem sehr zweifelhaften Glück für alle geworden sein, hätte nicht ein ganz unerwarteter Brief Leontinens dem Augenblick plötzlich eine neue Färbung und neue Interessen aufgedrungen. Sie schrieb:
»Thue mir den Gefallen, herzliebe Anna, gleich bei Empfang dieser Zeilen so recht gründlich auf mich zu schelten; sage: ich sei von einem Leichtsinn, den man bei meinen einundzwanzig Jahren nicht zu entschuldigen vermöge. Meine Unüberlegtheit und Koketterie müßten und würden mich gewiß noch in unabsehbare Abgründe stürzen; auf diese Weise müsse ich geistig und körperlich zu Grunde gehen. Letzteres, [] Gott sei's geklagt! fängt bereits an, nämlich beim Teint, den ich in diesen Tagen gar sehr vernachlässigt.
Wenn du nun im Zuge bist, kannst du gleich sagen, daß ich bei einem Haar zwei höchst achtbare, treffliche Kavaliere durch meine entsetzliche Frivolität auf zeitlebens elend gemacht haben würde, wenn sich diese lieben Kreaturen Gottes nicht glücklicherweise gleich mit einem zweiten Meisterstück der Schöpfung getröstet hätten. Wirf mir nun auch noch vor, daß ich bei der letzten an mich ergangenen, jedenfalls unverdienten Bewerbung, weil sie etwas sehr lange dauerte, am Ende nicht mehr recht Acht gab, aufsprang und beinahe – aber nur beinahe – in der Zerstreuung davongegangen wäre und den Freier stehen gelassen hätte, ohne alles abzuwarten, was er vorzutragen für nöthig fand. Ach, liebe traute Anna! zeichne mich schwarz, so recht kohl-pech-raben-sünden-schwarz, dann [] aber ruhe aus und fasse dich, denn das Schlimmste kommt noch! ich habe einen viel ärgeren, viel tolleren Streich begangen, als diese alle – ich bin davongelaufen! Mit einem Liebhaber? O Gott, nein, Kind; vor einem Liebhaber, weil er sehr langweilig wurde.
Nun bin ich aber in Solothurn, zwei, drei Meilen von euch, und meine Babet sitzt neben mir, betrachtet verzweifelnd meine zerknitterte Haube und meinen entfärbten Kapot, und versichert: daß sie nicht weiß, wie das alles enden soll! – Nun gerade so weit bin ich auch.
Im Grunde war die Geschichte ganz einfach Als die Saison in Baden beendigt, wollten wir, wie du weißt, nach Straßburg, wo Geierspergs Nichte heirathen und wir – das heißt ich – dazu tanzen sollten. So weit war alles gut; nun aber denke dir meinen Todesschreck, macht uns am zweiten Tage unseres Aufenthaltes dort mein frühester, ehemaligster [] Ver- und Entlobter, Vetter Albert, eine angenehme Ueberraschung, kommt von Koblenz aus angefahren und trifft, mir nichts, dir nichts, in Straßburg mit uns zusammen.
Und nun geht das Anhalten noch einmal los, und ich bin in dem letzten halben Jahre um ein ganzes älter geworden, denn Geiersperg erklärt mir peremptorisch, ich sei mündig und ganz mein eigner Herr, vermuthlich aber nicht meine eigne Frau, da ich, wie Babet sagt, absolument seinen Vetter Albert nehmen soll.
Ich höre das alles an, sage nicht ja, nicht nein. Nun wird der General zornig und fragt: Misfällt dir sein Aeußeres? – Gar nicht, Papa. – Ist er nicht gebildet, wohlhabend, Graf? Was kann in seinen Verhältnissen dich abschrecken? – Rien au monde, papa. – Hast du irgend eine andere Neigung? – Für den Augenblick, nein, Papa. Nun ging ein entsetzliches [] Donnerwetter über meinen Uebermuth los. Ach, Herzens-Anna! sie redeten alle so in mich hinein, Albert war so außerordentlich zärtlich, schön, glücklich, dazu war es himmlisches Wetter, man konnte an einem solchen Tage Niemand betrüben. –
Da habe ich vermuthlich ›ja‹ gesagt; denn gleich darauf ging's an ein Herzen, Küssen, Danken, Gratuliren daß es eine Lust war.
Nach der Hochzeit der Cousine machten wir alle eine kleine Reise nach Trier, Albert immer mit; wir sahen schöne Alterthümer und unverfängliche Leute; es ging prächtig. Gerade unter der Porta nigra überkömmt mich der alte Ennui. Ich fange an zu experimentiren, gerade wie in der Pension. Bald servire ich ihm heiß, bald kalt, bald glüht er, daß er fast besinnungslos zu meinen Füßen liegt, bald schilt er mich, wird bitter, heftig, scharf, schroff. Das war doch nun wirklich endlich eine Abwechselung, [] und ich bitte ihn um Verzeihung. Aber mit einem Mal wird mir's fatal – aber ganz fatal – ich begegne einem jungen Manne; er grüßt her, ich grüße hin. Ach, lieber Engel! es war eine so unschuldige Liebesgeschichte, Mädchen von vierzehn Jahren könnten sie lesen. Wird mir mein Verlobter wild, aber wild wie ein Türke. Geiersperg hält lange wohlgesetzte Reden, Mama macht Vorstellungen, Babet sagt: Aber wenn nun das gnädige Fräulein durchaus nicht mögen, da thäte ich's absolument nicht!
Babet hat den Stein der Weisen gefunden, denke ich, und kurz, wie wir eben von St. Bern-Kastell aus das himmlische Moselthal entlang schauen, sage ich: Albert, wir wollen es doch lieber gut sein lassen, wir passen doch nicht für einander! Und wie nun so recht das Lamento und die ganze betrübte Geschichte im Gange sind, fängt mir der Mensch an zu weinen. [] Großer Gott! – denke ich, das Weinen halte ich nicht einmal von der Babet aus, wenn sie ein Battisttuch versengt hat, sondern schenke es ihr immer lieber, damit sie nur gleich aufhört – was soll daraus werden? Ehe ich mich noch besinnen kann, heirathe ich einmal in solch einem Accès den Vetter Albert frischweg und muß mich hinterher wieder von ihm scheiden lassen. Das geht nicht!
Und da fiel mir wie ein Lichtstrahl meine Anna ein, mit ihrer festen, treuen, starken Seele, und mein verehrter schöner Onkel, dem ich nicht die Hand, aber die Stirn küsse – halt! denke ich, nach Bern fährt gewiß ein Eilwagen, oder du nimmst einen Char à banc, die Babet packt so etwas nothwendigstes Zeug zusammen, und du flüchtest zur Tante Anna. Gesagt, gethan; wir erreichen Abends Kehl, Straßburg gegen über, wo wir übernachten sollen, wir trennen uns ziemlich spät ganz doloros [] und schwärmerisch; Geiersperg geht glorreich davon, weil er mich wieder einmal durch die Kraft seiner gediegenen Gründe besiegt, gedemüthigt und so zu sagen total herumgekriegt hat; Mama denkt Alles geschlichtet zu haben und geht ihrerseits mit ihrem Compensations- und Nivellirungssystem zu Bette; Albert küßt mir die Hände; ich, ich lasse alles gut sein; wie sie aber sämmtlich in ihren Kammern sind, schreibe ich, wie's Maidli am Brünnli, meinem Schatz den allerletzten Abschiedsbrief, schleiche früh um vier Uhr, in der Morgendämmerung, ganz sachte mit der Babet und ihrem Päckchen zum Hause hinaus und sitze nun in Solothurn. Hier habe ich fürs Erste ausgeschlafen, dann mir die Gegend durch's Fenster beschaut, und von fern, aber nur ganz von fern, kann ich den Montblanc erblicken.
Die Solothurnerinnen tragen häßliche Mützen. Hier im Hause ist eine Dirne aus Schwyz, diese [] hat eine schwarze Flügelhaube von Spitzen auf, die auf ihrem Kopfe wie ein dunkler Schmetterling aussieht, der auf einer Rosenknospe sitzt; das allerliebste Gesichtchen ist das einzige Lustige, was mir bis jetzt hier vorgekommen. Die Solothurnerinnen sehen alle entsetzlich fromm und ehrbar aus; die Stadt ist winklig und schmutzig: das hat mich zur Reflexion gebracht. Ich will doch lieber hier warten, bis ihr mich holt. Daß ich mit der Babet über Nacht allein im Wirthshause geblieben, mag wirklich unpassend genug sein, und nun ich aufgewacht bin, fürchte ich mich fast; die Leute sehen einen so besonders an. Wir haben gleich gefragt, ob der Onkel noch nicht da sei und gethan, als ob wir ihn erwarteten. Zögere nicht, lieber Engel, schicke schnell Duguet mit Pferden und Wagen – oder komme selbst zu
Deiner thörichten Leontine.«
[] Otto war bei Annen, als sie den Brief empfing. Lies! sagte sie, ihm denselben reichend, ich muß doch sogleich hin. Ohne weitere Erklärung verließ sie das Zimmer, um die nöthigen Reiseanstalten zu treffen.
Duguet ist mit dem Grafen fort, und sie will allein in der Nacht fahren? schoß es ihm durch die Gedanken. Er eilte ihr nach; sie stand im Vorzimmer, von ihren Leuten umringt, denen sie ihre Befehle gab.
Anna! sagte Otto sehr sanft und ernst, es wird spät werden, laß deinen Jugendfreund dich begleiten.
Sie sah ihm fest in die Augen; eben in diesen immer ganz einfachen Worten lag Otto's Gewalt, tausend Eide hätten sie nicht sicherer gestellt. Sie fühlte das, und das Bewußtsein der edeln Zuverlässigkeit dieses Charakters leuchtete einen Moment auf in ihr, fast wie ein Glück. Schweigend bot sie ihm die Hand. [] Um welche Stunde? fragte er. – Sogleich erwiderte sie; ich lasse nur anspannen.
In diesem Augenblicke übertönte das lustigste Charivari von Posthornklängen, Jauchzen und Schreien, Jubeln und Lachen ihre Worte; unwillkürlich eilten beide an's Fenster, unten hielt Kronberg's Wagen. Er selbst stieg eben heraus, ein junger Mann stand bereits am Schlag, den Rücken dem Fenster zugekehrt. Ehe noch Otto's fragender Blick dem ihren zu begegnen vermochte, legten sich zwei warme weiche Händchen auf Anna's Augen; sie wandte sich rasch, es war Leontine, Leontine in all ihrer Frische, in all ihrer glänzenden Heiterkeit.
Bist du mir bös? fragte unter tausend Liebkosungen der süßeste Schmeichellaut einer weiblichen Stimme. Bist du mir wirklich ganz bös? Aber es war schwer, ihr zu zürnen, wenn man sie ansah.
Leontine war blond, aber von jenem durchleuchtenden [] Blond, das in den blauen Adern des schneeigen Teints, in den wie hingehauchten zarten Farben der Lippen, der Wangen, der blaßröthlichen Fingerspitzen überall sich ausspricht. Es war nicht möglich, etwas Dämonisch-Lieblicheres zu sehen als dies Amorsköpfchen, das wiederum zuweilen, aber selten, seine eigene Psyche schien, wenn Mitleid oder Neigung die reizenden Züge durchstrahlten. Und so war ihr ganzes Wesen: Dämon, Amor und Psyche, und der Muthwille der Hauptzug ihrer Erscheinung im täglichen Leben. Sie hatte sich ungewöhnlich spät entwickelt; jetzt war sie einundzwanzig Jahre alt und sah aus wie siebzehn.
Aber wie kamst du zum Onkel? fragte Anna nach den ersten Ausbrüchen der Freude; wie du, Kronberg, zu Leontinen?
Par compagnie, wie der Staar von Segringen ins Netz kam, würde Freund Hebel sagen, antwortete lachend Leontine.
[] Ganz recht, sagte Kronberg, ich sah das Vöglein auf dem Zweige sitzen und fing mir es. Was sollte ich anders am Thor von Solothurn gewahren –
Als meine schönen Augen; nicht wahr, Onkel?
Er küßte ihr die Hand. Die meinen riß ich allerdings ein wenig groß auf. Das Uebrige könnt ihr euch ja leicht denken.
Nicht ganz, erwiderte Anna, denn noch immer begreife ich nicht, wie du so schnell wieder hier sein konntest.
Davon nachher, sagte Kronberg freundlich.
Otto war es, als führe ihm ein Messer in die Brust. Sie werden reisen, dachte er dumpf; dazwischen gaukelte Leontinens Bild vor seinen Sinnen.
Sophie war hereingeschlichen; sie vermochte es nicht, Leontinens Nähe zu entbehren. Leontine herzte und küßte sie und schmeichelte ihr [] wie ein Kind. Komisch war es anzusehen, wie in der guten alten Bonne Respect und abgöttische Liebe für ihren Zögling miteinander kämpften; sie nannte Leontinen wol zehn Mal in einem Athem gnädiges Fräulein und Du, küßte ihre Hände und schalt sie zugleich wegen ihrer in Unordnung gerathenen Locken.
Auch Duguet hatte unaufhörlich im Zimmer zu thun, servirte zum ersten Mal in seinem Leben schlecht, präsentirte Pfeffer zum Thee und lachte endlich sogar mit über seine eigenen dummen Streiche, was bei seiner Dienstgewöhnung ganz unerhört war.
Erst jetzt fiel Annens Blick auf den Fremden. Es war ein junger Mann von vier bis fünfundzwanzig Jahren, nicht groß, nicht klein, kaum ausgezeichnet in der äußeren Erscheinung und dennoch blieb der erste Blick auf ihm haften; es war durchaus kein schönes, nur ein sehr edles Gesicht, nichts auffallend darin als die [] gedankenklare, elfenbeinweiße und hohe Stirn, dann vielleicht noch der kleine etwas trotzig gewölbte Mund – in unserm Deutschland gehört ein schön geschnittener Mund zu den Seltenheiten – vielleicht also war es dieser künstlerisch geformte, fast ideale Mund, der so unbegreiflich das Auge fesselte, vielleicht war es auch nur das reine Ebenmaß der ganzen Gestalt und jedes einzelnen Zuges. Otto war unendlich schöner, aber jener sah vornehmer aus. Otto erinnerte an einen jungen Aar, von dem man jeden Augenblick er wartet, nun werde er die Flügel ausbreiten, jener schien keiner bestimmten Zeit, keinem bestimmten Lande anzugehören, und es fiel Niemand ein, ihn mit irgend etwas Anderem zu vergleichen.
Vergeben Sie, lieber Herr Gotthard, sagte der Graf, die Damen tragen die Schuld; wie Sie sehen, machen sie mich so verwirrt, daß ich vergessen habe, Sie meiner Gemahlin vorzustellen. [] Liebes Kind, Herr Gotthard will so gut sein, unserer Knaben sich anzunehmen, was um so nöthiger ist, als – doch wo sind denn die Kinder?
Der ein Hofmeister? dachte Anna, das ist ja unmöglich. Sie verneigte sich verbindlich und sprach einige höfliche Worte; zum ersten Mal in ihrem Leben war sie verlegen, es überkam sie das Gefühl einer Mystification. Leontine hatte indessen mit angeborner Koketterie Otto in ein langes Gespräch gezogen, dessen Wogenspiel ihm über dem Kopfe zusammenschlug; ihm war es, als spräche er mit einer Fee oder Sylphide, so flatterten Wort und Gedanken hin und her. Als aber die Knaben kamen, die sie noch nicht gesehen, vergaß sie ihn mit einem Mal und ward mit diesen zum Kinde. Otto sah ihr verwundert nach.
Der junge Fremde schien überrascht, seine Zöglinge so klein zu finden, beugte sich aber [] mit einer gewinnenden Herzlichkeit zu ihnen nieder und begann ein halblaut geführtes Gespräch, das ihn gleichsam mit den Kindern isolirte. Im Verlauf einer halben Stunde hatte er sie gewonnen; eigentlich hatte er sie nur befragt und sich von ihnen erzählen lassen, er hatte nicht mit ihnen gespielt, nicht einmal gescherzt, aber er hatte ihr Zutrauen erworben, denn als er sich beurlaubte, um auf seinem Zimmer Einiges zu ordnen, liefen beide ihm nach.
Anna! fragte jetzt Otto leise, was soll der junge Mann?
Gott weiß es, erwiderte sie, ich kann kaum umhin, die ganze Sache für einen Scherz zu halten.
Nicht im mindesten, versicherte Leontine, der Onkel hat ihn von Karlsruhe mitgebracht, um eure Kinder zu erziehen und mir ihn gleich in dieser Eigenschaft vorgestellt.
Ich habe den Minister gesprochen, sagte [] Kronberg, als er endlich am späten Abend mit Anna allein war; ich erreichte Karlsruhe drei Stunden vor seiner Abreise und sah ihn bei sich und dann bei Sternheim, wo wir dinirten. Er hat mir goldene Berge versprochen, leider aber mit der unglücklichen Idee geendigt, mir den Vorschlag zu einer Sendung nach Petersburg zu machen; unterdessen hofft er mir die Stelle in Neapel verschaffen zu können; an Rom, meint er, sei vorläufig nicht zu denken. Ich bin nun genöthigt, nach Berlin zu gehen und dort zu verweilen, bis ich meine Instructionen erhalte, und bin jetzt nur zurückgekommen, um dir vorzuschlagen, hier oder am Rhein zu bleiben.
Otto geht ja zurück nach Basel, dachte Anna. Gut, sagte sie ruhig.
Ich meine, fuhr der Graf etwas verlegen fort, die Einrichtung für so kurze Zeit in Berlin mit den Kindern, dem indispensabeln Bediententroß, [] den Ausgaben einer Hofpräsentation werden große Unkosten verursachen.
Ich bleibe gern, sagte Anna. Aber was soll der junge Mann hier –
Sonst, fuhr Kronberg fort, müßtest du in Berlin verweilen, bis ich von Petersburg zurückkehrte, und unserem Range nach ein brillanteres Haus machen als etwa Geierspergs. Freilich kann es einige Monate dauern und du bliebest allein dort.
Kronberg, sagte Anna fest, dann kann ich nicht hier bleiben. Frage mich nicht weitläufig, ich will hingehen, wohin du willst, aber nicht etwa Jahre lang ohne dich hier sein, glaube mir! – Indessen sage mir, was soll der junge Mann hier?
Die Kinder erziehen, liebe Anna! Es ist ein seltsames Ding mit diesem jungen Menschen, er ist mir sehr dringend vom Minister empfohlen; Näheres weiß ich selbst nicht. Indessen [] scheint er das Seine gelernt, vorläufig aber keine Aussichten zu haben. Der Minister bat mich, ihn auf ein paar Jahre zu nehmen; er meint, späterhin werde man ihn als Privatsecretär bei einer Legation anwenden können. Der neueren Sprachen ist er vollkommen mächtig und ein sehr klarer Kopf – – Dir gefällt er nicht?
Gefallen, Roderich! Ich habe zehn Worte mit ihm gesprochen. Zum Glücke sind die Kinder zu jung, er kann ihnen nicht schaden. Mir sieht er zu vornehm aus, er macht einen ungewöhnlichen Eindruck; das meint auch Leontine.
Bah! die findet Alles ungewöhnlich, weil sie es selbst ist. Ihre kleine Escapade macht mir aber Kopfbrechen. Mein Schwager hat Unrecht; schon als Albert das erste Mal um sie anhielt, mochte sie ihn nicht. Schade, es wäre eine brillante Partie, der kleine Trotzkopf aber –
[] Albert ist ein Schwächling.
Eh bien, ma chère! sie ist bedeutend genug, ihm nachzuhelfen. Das geben die besten Ehen. Aber du willst also nicht hier bleiben?
Einige Monate, ja – länger, nein!
Liebes Kind, du weißt, daß ich nicht eifersüchtig bin. Du hast wahrlich Verehrer genug gehabt, um diese Eigenschaft in mir zu wecken – und zu unterdrücken, schloß er fast galant. Aber die kleine Vrenely –
Anna erröthete; sie vermochte es nicht, Otto's Gefühl preiszugeben. Ich werde bleiben, sagte sie, bis Leontine mit ihrer Mutter ausgesöhnt ist, dann mußt du das Weitere bestimmen.
Ich danke dir und traue dir vollkommen, erwiderte er mit einem Anflug des edeln Ernstes, der ihn in einzelnen Momenten so liebenswerth erscheinen ließ; aber ich bin achtundvierzig Stunden gefahren und falle um vor Ermüdung. Er küßte sie auf die Stirn und ging.
[] Beklommenen Herzens blieb Anna vor ihrer Toilette sitzen; sie kleidete sich gern allein aus, wie sie überhaupt ungern persönliche Bedienung brauchte. Madame Sophie erschien Abends nie, ohne daß ihr geklingelt worden. Es war eigen, welchen Unterschied ma bonne zwischen Annen und Leontinen machte. Die erste blieb immer ihre Gebieterin, die andere, trotz ihren tausend Launen, Bedürfnissen und Eigenheiten, das Kind, das sie erzogen.
Lange saß Anna so vor den tief heruntergebrannten Kerzen. Also nun wieder hingehalten mit leerem Versprechen! Wieder nach Petersburg und einem Phantom des Glanzes nachjagen, ohne Zweck und Ziel! Wieder ein momentanes Wirken nach außen hin, das der nächste Windstoß des Geschickes spurlos verweht! – Armer Kronberg! – – Und dann zu guterletzt die wiedergewonnene Last einer Geselligkeit, die sogar mich schon ermüdet! Mein [] Gott, und ich bin so jung! – Wie viele, viele Jahre das so fortgehen kann: dies schön, geistreich, witzig, brillant sein müssen! Alles das nach gegebenen Gesetzen, wie einen Zehnten, den man abliefert!
Und dagegen Otto mit dieser stillen Unergründlichkeit seiner tiefen Seele! – Nein, ich liebe ihn nicht. Kronberg hat recht, so ruhig zu sein; aber ich will für ihn sorgen wie eine Schwester. O, wie bliebe ich so gern hier, diesen weißen Alpenhäuptern gegenüber, einsam und still wie sie! – –
Es war weit über Mitternacht, sie trat an's Fenster, die Alpen hatten ausgeglüht. Der Herbst hatte sein Schweigen über die Landschaft gebreitet, auf dem dunkeln Grunde der ungestörten Nachtstille leuchteten die Bilder ihrer Vergangenheit auf. Kronberg stand wieder vor ihrem inneren Auge, wie er sich nach dem ersten Feldzuge um sie beworben. Wie fern schien [] jene Zeit zu liegen! Damals, wie edel, wie fest zeigte sich sein Streben! Welcher Aufopferung mußte sie ihn nicht fähig halten, wenn er seine künftigen Pläne und Wünsche ihr entfaltete! Mit ihr auf seinen Gütern leben, seine so lange gedrückten, zur Knechtschaft herabgewürdigten Bauern in ihren Rechten vertreten, sie beglücken – das war sein einziges Ziel. Er wollte dem Staat nicht dienen als Beamter, er wollte sich seine eigene Stellung in demselben suchen und erbauen, wie der Adler seinen Horst.
Gedachte sie dann ferner all der Versuche seiner Verwandten, diesen grillenhaften Eigensinn zu brechen, wie sie es nannten, wie that ihr das Herz so unsäglich wehe um ihn! – Dann kam die Reise nach Italien. Ach, daß gerade diese, die ihn so vielen störenden Einwirkungen entziehen sollte, daß gerade diese Reise, die anfangs einer genialen Flucht glich, ihn nach und nach allen seinen früheren Zwecken [] entfremdete! Wie drängten einander die reichen Erinnerungsgarben der ersten Jahre, die sie und ihr Gemahl in Italien und Sicilien verlebt hatten! Rom, Florenz, Genua, Palermo und das schwimmende Venedig! – Nur daß zuletzt im goldenen Freudenbecher der schwere, bittere Bodensatz geblieben.
Eben diese immer wechselnden Scenen, besonders der in Nichts zerflatternde Freiheitstraum der Neapolitaner, waren es, die Kronberg's Ansichten und Vorsätze nach und nach umgeschmolzen und so gänzlich umgewandelt hatten. An die Stelle eines nationalen Ganzen war ihm die Kleinheit des eigenen Ichs getreten und ein gelungenes Miteingreifen in den momentanen Gang der Ereignisse hatte eine maßlose Eitelkeit in ihm erweckt, die wie ein feines Gift allmälig alle Lebensfasern seines intellectuellen Seins durchdrang. Seitdem war er ein Spielball in der Hand der Mächtigen [] geworden, hatte viel gethan und im Ganzen wenig geleistet. Das ist die Macht des Lebens! seufzte Anna.
Wenige Tage später reiste Kronberg wirklich nach Berlin. Ueber ihren Winteraufenthalt wollte er von dort aus ihr schreiben, wenn das Geschäft, das ihn nach Petersburg berief, erst deutlicher in seinen Verzweigungen ausgesprochen. Anna ließ ihn gewähren, sie war ja entschlossen. – Otto schwieg, er hatte noch acht glückliche Tage vor sich.
Die Abende hatten sich belebt; einzelne Kunstfreunde, junge Maler, die schon früher erwähnte alte irländische Dame, Lady Frederic und vor Allen Leontine hatten einen poetisch regen Geist in der kleinen Gesellschaft geweckt. Sogar das Vrenely fand den Muth, zu kommen, wenn gleich nicht immer den, zu reden. Leontine nannte sie ihr Veilchen, sich selbst deren Schmetterling.
[] Sehen Sie, Comtesse, sagte ein alter Professor zu Leontine, ich behaupte, unsre Gegend allein ist wirklich im Stande, dieser immer wieder heranwachsenden Künstlermenge stets neue, frische Motive zu gewähren. Der Wechsel der Beleuchtung und Färbung bringt phänomenartige Wandelungen hervor, die, in der Darstellung treu zurückgespiegelt, den Vorwurf des Gemäldes immer neu und originell erscheinen lassen und es unsern jungen Burschen leicht machen, ein Bild zum Ganzen abzurunden.
Charmant, sagte Leontine; aber, bester Professor, es ist doch viel Verwandtschaftliches in den Bildern, so etwas à la cousin germain Aehnliches. Die Herren ***** und ihre Schüler haben es der Mama Natur treulichst abgelauscht, wie sie es hier mit Himmel und Erde hält; sie gewährt liebenswürdige Charakterbilder, diese Schweiz, mit ihren frischen, grellen Tinten, aber mir träumt von größeren, edler gehaltenen [] Landschaften. Lachen Sie mich nur aus, wenn ich's gestehe, daß mich diese Art Bilder alle, alle an Genregemälde im Riesenstyl erinnern.
Die Hintergründe, gnädiges Fräulein, entbehren der großartigen verschwimmenden Linien der Ferne in dem Theil der Schweiz, den Sie kennen, sagte mit einem Male Herr Gotthard. Die nächstliegenden Berge werden von höheren Gebirgsketten oder gar von den Alphörnern in ihren Thalweitungen unterbrochen, die sich nur schluchtenartig öffnen, um neue Höhenreihen zu zeigen. Das Berner Oberland ist ja durch und durch Gebirg. Sie müßten es von höheren und ferneren Standpunkten übersehen. Schaffhausen, wo die Künstler leben, die Sie nannten, liegt in diesem Sinne etwas günstiger; doch wird auch dort die Gegend Ihren Kunstanforderungen nicht genügen.
Kennen Sie die so genau? fragte das Fräulein.
[] Vergebung, wenn ich ja sage. Aus Ihrem vorhergehenden Gespräch kann ich ziemlich bestimmt entnehmen, daß Sie die Landschaft wie ein historisches Bild behandelt wünschen, und daß, während Ihnen in der Wirklichkeit hier die Gegend einen frischen, kräftigen Eindruck gewährt, sie im Gemälde dennoch Ihnen beengt erscheint. Ihr Landschaftsideal würde schon nicht mit der treuen Portraitauffaffung unserer hiesigen Landschafter sich genügen lassen, selbst wenn die Gewohnheit ihnen nicht einen gewissen Rhythmus der Auffassung gegeben hätte.
Kann es denn etwas Höheres in der Landschaft geben, als das treue Spiegelbild der Natur zu sein? fragte Otto.
O ja, wie es etwas Edleres gibt, als die individuelle Aehnlichkeit der Menschen: die vergeistigte Natur in ihrer möglichsten Vollendung – das Ideal. Nur sind die einzelnen Züge des unorganischen Lebens weit schwieriger aufzufassen [] und deren höhere Harmonie noch schwerer zu errathen und herzustellen, als die der menschlichen Erscheinung. Es gehört also ein viel feineres und ausgedehnteres Proportions- und Schönheitsgefühl dazu, um hier alles Störende und Disharmonische zu meiden und nicht der Farbe allein das Erreichen eines Effects anzuvertrauen, der nur durch Zusammenwirkung alles Genannten erreicht werden darf. Ach, man müßte, schloß er possirlich-wehmüthig, ein Poussin und ein Claude le Lorrain und noch einiges mehr sein als beide!
Alle lachten; der Professor aber fragte: Sind Sie denn ein Maler?
Nein, sagte Herr Gotthard, es ist mir schwer geworden, der Kunst ganz zu entsagen, aber ihre Ausübung würde mich auf meinem Lebenswege hemmen. Anna sah auf. Er stand so ruhig da, als habe er das Allergewöhnlichste gesagt.
[] Ich wette, flüsterte Leontine ihr zu, dieser Rattenfänger von Hameln wird nächstens sein Zauberlied singen und uns Alle sich nach ziehen, wie jetzt deine Knaben, die den ganzen Tag an ihm hangen wie Kletten. Anna war sonderbar nachdenkend, sie nickte schweigend.
Die Andern hatten von Singen gehört und fingen an, Leontinen zu bestürmen. Lady Frederic quälte sie um ein irländisches Lied.
Bewahre! sagte Leontine, ich thue niemals, was man von mir will; ich mag heute nicht singen und werde Ihnen lieber eine Geschichte erzählen. Beiher können die gelehrten Herren dann von mir selbst erfahren, was ich eigentlich von der dargestellten Landschaft verlange; denn wenn ich sie reich und großartig will, bis über das Maß des Alltäglichen hinaus, so will ich sie doch auch wechselnd und treu, wie der Laddy und das irische Mädchen.
Alle rückten eifrig zusammen, Leontine setzte [] sich auf einen niedrigen Sessel zu Anna's Füßen und begann, Vrenely saß ihr gegenüber. Es war schwer, etwas vollendet Schöneres zu sehen, als diese drei Frauenköpfe neben einander; aber wenn Leontine wie ein Amor, Vrenely wie eine Waldnymphe aussah, blieb Anna immer die schönste und eigenthümlichste Erscheinung unter ihnen; man mußte an Titians Frauenbilder denken, wenn man sie ansah, deren bestimmte Individualität auch keinen Vergleich duldet. Seltsam, daß sie diese Eigenschaft einer so streng abgeschlossenen Eigenthümlichkeit mit Gotthard gemein hatte.
Leontine sprach ihre Ballade, nur den Mittelsatz derselben sang sie, ohne alle Begleitung, in wiegend einförmiger Melodie, deren Weise, zwischen Intonation und Recitativ gehalten, einen wunderlichen, geisterhaften Eindruck hinterließ.
[] Ballade. (Irländisch.)
Sie schwieg. Otto starrte sie tief erschüttert an. Liebende finden überall etwas ihrer Empfindung Analoges.
Vrenely war im Zuhören der Sprechenden immer näher gerückt; sie horchte noch immer auf wie ein Kind, nachdem jene geendet. Endlich strich sie mit der kleinen schön geformten Hand die dunkeln Haare aus der Stirn und flüsterte für sich hin: Was für ein Glück das sein muß!
Leontine lachte. Das hab ich schön gemacht! sagte sie; ich dachte eine rechte Qual und Angst, sonst habe ich wahrhaftig schlecht geschildert.
[] Es ist ein großes Talent, was Sie da haben, mein gnädiges Fräulein, meinte der alte Professor. Haben Sie denn das alles erdacht?
O dear no! seufzte die Lady, das liebe Herz! Ich habe die Sage schon gehört, da ich noch in my green years und in green Erin war. Bei uns sind die Elfen den Familien durch zahllose Bande verknüpft und die Geschichten wachsen mit uns auf. Sie war ganz aufgeregt von ihren Erinnerungen. Aber, schloß sie, Kind! die Anwendung ist weder nationell, noch katholisch.
Gotthard hatte bisher stumm dagesessen, nach einer Weile wandte er sich zu Anna. Es wäre ein Unermeßliches, ein solches Erkennen durch alle Lebensverwandlungen der Zeit hindurch, wenn es gegenseitig wäre und zwei kräftige Naturen vereinte.
Und glauben Sie wirklich, ein Mann wäre [] eines solchen festhaltenden Glaubens fähig? fragte Anna.
Er sah sie durchdringend an. Ja, sagte er endlich, ich glaube es. Beide schwiegen.
Aber, meine Herrschaften, wo ist denn die Landschaft geblieben? rief Leontine, der das Recensiren langweilig war. Sie hatte das Loben in ihrer Familie stets wie eine Art Landplage, Pestilenz oder Heuschreckenschwarm betrachtet und ertragen. Das ist das eine Auge, meinte sie, was zu haben schrecklich, und gar zu verlieren noch schrecklicher wäre. Ach! seufzte sie höchst drollig, in der Mark sitzt mir ein ganzes Nest Waldaus, die zwitschern alle die nämliche Weise; drucken lassen sie mich nicht, ich könnte ja in Recensentenhände fallen! Sie geben mir aber mein Theil Bewunderung rein umsonst. Du bist nicht mit gemeint, Anna! schloß sie, ihr liebes Gesichtchen an deren Schulter legend und sie so von unten auf ansehend. [] Weißt du wol noch die Zeit, da wir gar nicht zu singen wagten, um nicht etwa Ausdruck in die Gesangsweise zu legen; ich spielte damals in Gesellschaft blos Klavier, aus lauter Gefühl meiner Würde und der ihr anklebenden Anstandspflichten.
Wildes, irisches Mädchen! sagte die Lady.
Aber die Landschaft, die Landschaft! fuhr Leontine fort. Sehen Sie, bester Professor, ich gestatte es recht gern, daß man durch Licht, Schatten und allerlei Zufälligkeiten der Landschaft einen sogenannten Charakter aufbürde, man kann sie meinetwegen düster, schaurig oder so lieblich verlockend machen wie den Kuß einer Geliebten; man mag dabei, wie die Indier lehren, alle fünf Liebespfeile der fünf Sinne losschnellen, aber sie muß am Ende doch immer wieder in den Grundzügen ihrer Eigenthümlichkeiten erkennbar bleiben, die Steine müssen nicht wie Wollenballen, Gletscher nicht wie gefrorne [] Wasserfälle aussehen, und Granitfelsen nicht wie behauener Sandstein; sie muß sich in eingeborner alter Treue uns an's Herz schmiegen, wie der Laddy an des Mädchens Brust, im Vollgefühl des ihr Heimatlichen, daß wir sie zu erkennen vermögen.
O Jerum! Jerum! sagte der Professor, so wie der grimme Leu ein fleischfressend Thier ist, also sollen auch wir in einem gottesfürchtigen und christlichen Wandel leben? Sind mir das Kunsturtheile!
Es war mit der Aufmerksamkeit vorüber, Alle lachten und der Abend schloß auf heitre Weise mit Musik und allerlei Scherzen. Von Poesie und Kunst war nicht weiter die Rede.
Das Scheiden und der Tod kommen gleich unvermeidlich, darum sucht man so gern den Gedanken an beide zu bannen. Die Ferien gingen zu Ende; Otto mußte nach Basel, seine Vorlesungen zu eröffnen. Die letzten Tage waren [] leidlich vorübergegangen, er hatte viel gearbeitet, chemische Versuche und andere wissenschaftliche Beobachtungen angestellt, auch eine Untersuchung der nächstliegenden Gletscher mit andern Gelehrten unternommen. Anna hatte ihm versprechen müssen, daß er Abschied von ihr nehmen dürfe; zu ihrer Verwunderung trat er völlig heiter und ruhig in ihr Cabinet.
Er brachte eine große Menge getrockneter Alpenpflanzen, die er auf den Gletscherrändern und den höchsten Gebirgen für sie gesammelt, und erklärte ihr wol eine Stunde lang deren eigenthümliche Beschaffenheit. Endlich kam der gefürchtete Augenblick. Er reichte ihr die Hand. Ich danke dir, Anna, für die unsäglich schönen Stunden, die du mir gegeben, sagte er mild; du hast mir das Leben wieder lieb gemacht, gleichviel um welchen Preis. Eh' sie ihm zu antworten vermochte, war er ihr entschwunden.
[] Anna war schmerzlich bewegt. War das eine Ueberanstrengung der Kraft? es sah nicht so aus. Ihre Gedanken jagten einander in peinlicher Hast, sie gedachte Leontinens und Vrenely's O, sagte sie wehmüthig, ich werde nie das Leben ertragen lernen! Also auch in ihm haftet kein Gefühl! Und doch ist es gut so, ich habe es ja selbst gewollt, gewünscht. Da flog die Thür auf, Vrenely trat ein. Das arme Mädchen war Otto auf der Treppe begegnet, er hatte ihr freundlich und hastig Lebewohl gesagt; unten hielt bereits sein Reisewagen – er war fort.
Seit den letzten Wochen war eine große Veränderung mit Vrenely vorgegangen, sie hatte sich plötzlich in sich selbst kräftig entwickelt, ihre Gedanken waren scharf geordnet, ihr Urtheil war klar geworden; sie las und lernte in jeder freien Stunde, und gab ihren Unterricht gut und besonnen. Auch jetzt trat sie zwar mit[] hochgerötheten Wangen und fliegender Brust ein, aber so vernichtet und aufgelöst in Lieb und Leid, wie sie bei jenem Gespräch zwischen Otto und Annen gewesen, war sie jetzt keineswegs.
Er ist abgereist! sagte sie fast tonlos. Schon? erwiderte Anna. Armes Herz! sie reichte Vrenely die Hand.
O, er wird wiederkommen! versicherte die Kleine; es ist nicht anders möglich. Bei den Worten flossen ihr die Thränen aus den Augen.
Leontine sah sie traurig an. Ach, Vrenely! Sie sind viel, viel zu gut. Wenn wir die Männer lieb haben, mishandeln sie uns. Kommen Sie, Kind, wir wollen Musik machen; lernen Sie von mir eine leichtfertige Seele sein, ich tauge gar zu nichts Anderem, als euch arme, weiche Gemüther zu rächen. Wir wollen die neuen Walzer einüben.
Liebes Fräulein, meine Augen sind trübe, [] ich habe die halbe Nacht hindurch geschrieben, seufzte Vrenely.
An Ihn? fragte unbesonnen Leontine.
Vrenely erglühte wie eine Rose. An wen? hauchte sie bebend hervor. An wen könnte ich wol zu schreiben haben! Ich habe aus dem Englischen übersetzt; der Professor lernt es auch eben, und da hatte ich Lust bekommen und fing es vor Kurzem an.
Aus welchen Fäden die Liebe ihr Glück spinnt! flüsterte Leontine Annen zu. Aber ihre Lockungen zogen das Mädchen am Ende doch hinüber in den Saal, und ihre Gutmüthigkeit gaukelte ihr so lange vor, bis sie heiterer gestimmt schien.
Gotthard brachte einige von Annen gewünschte Bücher und Noten; er sah sehr ernst, fast trübe aus und erwähnte ebenfalls Otto's Abreise. Wir werden ihn alle vermissen, erwiderte Anna. Gotthard antwortete nicht sogleich. [] Anna war dieses Schweigen gewohnt an ihm, er war einer von den still und besonnen immer nach der einmal innerlich angeschlagenen Richtung fortdenkenden Menschen; auch jetzt glaubte sie ihn mit irgend einem Vorschlag für der Kinder Unterricht beschäftigt. Basel ist sehr nahe, sagte er nach einer Weile. Sie sah erschreckt auf; daß Otto im Laufe des Semesters kommen könne, war ihr nicht eingefallen. Jetzt schien ihr seine Heiterkeit erklärlich. Leontine und Vrenely waren unterdessen in den Salon gegangen, Gotthard war zum ersten Mal mit der Gräfin allein.
Es regte sich ein Gefühl des Unmuths und der Unzufriedenheit mit Otto in ihrer Brust, als habe er ab sichtlich sie getäuscht; sie arbeitete emsig an ihrer Tapisserie, ohne ein anderes Gespräch zu beginnen. Als folge Gotthards Blick wortlos dem Zuge ihrer Gedanken, fuhr er nach einer Pause fort: Und Sie, gnädige Gräfin, Sie [] finden es nicht natürlich, daß in unserer so streng und viel fordernden Zeit wir Männer einzelne glückliche Stunden fester zu ergreifen und zu halten streben, als die zarteren, vom Außenleben minder hart behandelten Frauen? Wie lange Jahre hindurch bleiben wir nicht gezwungen, mit einem eilends errafften Genuß des Glücks Verlangen zu beschwichtigen, das die Natur in jede Menschenbrust gelegt. Anna zählte ihre Stiche. Und gewiß, einem solchen Kreise nahen zu dürfen, in ihm vermißt zu werden, ist ein so großes, seltenes Glück, daß ein Nachtritt es nicht zu theuer erkauft. Darum zweifle ich auch nicht, daß wir den Professor recht bald wieder hier begrüßen.
Ich habe geglaubt, der Weg sei weiter, sagte Anna etwas verlegen.
Gotthard hatte bis dahin mit gesenkten Augen gesprochen, jetzt schlug er sie auf; sie fühlte sich mit diesem einen Blick bis in ihr tiefstes [] Seelenleben durchschaut; rasch entschlossen, heftete sie den ihren fest auf ihn, er hatte ja kein Recht, in das von ihr Verschwiegene sich zu drängen; aber ihr Auge traf auf ein todtenbleiches Antlitz, dessen zitternde Lippen eine tiefe Gemüthsbewegung verriethen.
Nach wenigen Secunden empfahl sich Gotthard, um nach den Knaben zu sehen.
Anna blieb nachdenkend auf ihrem Stuhl sitzen. Worüber sann sie denn so seltsam ernst und tief? Sie fühlte sich gereizt, und doch war ihr, als müsse sie Gotthard eine Art Aufklärung schuldig sein.
Ihm? dem Hofmeister meiner Kinder? fragte sie sich mit plötzlich erwachendem Stolz. Wie kann dieser Mensch es wagen, mich zu beurtheilen, mich zu richten? Warum argwohnt er zwischen mir und Otto eine Leidenschaft – ein Verhältniß? – Aber thut er es denn wirklich?
[] Verstimmt schritt sie im Zimmer auf und nieder und entwarf allerlei Pläne, Gotthard sich fern zu halten.
Weißt du, sagte jetzt Leontine, die unterdessen zurückgekommen, daß die Kleine trotz ihrem Liebesunglück glücklicher ist, als wir beide?
Wie so? fragte Anna zerstreut.
Du, mein Herz! fuhr Leontine fort, indem sie sich in eine Sophaecke warf, bist an einen vortrefflichen Mann verheirathet, dem du die unendliche Ehre erzeigst, seine Gemahlin zu sein. O still! still! Du wirst mir doch nicht von dem Glück sagen, daß wir dich in die reichsgräfliche Krone unsers Hauses gefaßt, als deren besten Edelstein? Halte mich doch um Gottes willen nicht für miserabel, Anna! Dein Glück kenne ich innen und außen, wie meine alten Handschuhe. Mein Oheim ist wirklich ein guter Mensch und ein echter Cavalier, er hat sogar eine Menge vorzüglicher Eigenschaften; [] unglücklich bleibt es indessen doch, daß gerade Er in eurer Ehe der Mann ist.
Leontine, du quälst mich!
Und ich möchte dich doch nur veranlassen, deine Stellung genauer zu überblicken, um sie etwas leichter zu nehmen.
Laß mich den einmal scharf bestimmten Weg so fortgehen, bat Anna.
Wahrhaftig, du hättest irgend einen meiner Cousins in Pommern, oder, wenn man dort nicht katholisch wäre, nach Westphalen hin heirathen sollen, so einen der vielen blonden Johannes, Karls und Egons von Kronberg. Du wärst ihm eine züchtige, demüthige Hausfrau geblieben – wie ich deren dort eine Menge kenne und liebe – hättest ihm aus langer Weile eine Reihe blühender Kinder geschenkt; kurz, es wäre bei deinem Charakter immer alles gegangen, nur hättest du nicht vorher dem Zweige der phantastisch kühnen Waldaus aufgepfropft [] werden müssen! In meinem Papa steckte noch die ganze französische Revolution – mir ist sie ins Blut übergegangen und siedet darin fort. Mama's Eltern waren respectable Philister, und Geiersperg ist ein tapfrer Ritter, den das Mittelalter aus Versehen zurückgelassen hat, als es über die Erde schritt.
Du aber, armes Kind! in unserm Hause, mitten unter allem erwachsen, was Deutschland an Geist, Anmuth, Verstand und Witz zusammenbringen konnte, du sollst nun unsern guten, prächtigen Roderich beständig leiten und schieben, und zwar so fein, daß er's selber nicht merkt! Du sollst dem in seiner Art ehrenwerthen, sehr aristokratischen Edelmanne eine elegante, ebenso aristokratische Gefährtin sein, pas plus! denn das Uebrige ist vom Uebel – du mit deinem Kothurnen-Charakter, du, die für ein geliebtes Herz zu sterben vermöchte!
[] Leontine, ich hoffe, ich kann auch für dasselbe leben.
Wahrhaftig ja, das kannst du! Du bist eine gute Frau, eine vortreffliche Mutter, du bist ein Stern der Gesellschaft, der oft ihre Existenz bedingt und beherrscht. Anna, weißt du, wenn du im weißen Atlaskleide durch unsre Hofsäle rauschest, so kann ich, weiß Gott! nie recht begreifen, daß man nicht »Ihre Majestät« zu dir sagt, und vergesse immer wieder, daß mein guter, dummer Onkel Gesandter geworden ist, um dich an den Hof zu bringen.
Ja, sagte Anna lachend, warum hat er auch eine Roturière geheirathet!
Siehst du, rief aufjauchzend Leontine, so himmlisch gut und gescheit hätte mir unter tausend Bürgerlichen nicht eine geantwortet! Das ist's ja eben, mein Kronjuwel, daß du ein geborner Prinz Regent, innerlich deiner eignen höchsten Vornehmheit dir bewußt bist. Darum [] ist man auch immer à son aise mit dir und kann dir alles sagen. Ach, ich wollte nur, ich hätte die Courage, dir auch etwas recht Schlechtes, recht Fatales von mir selbst zu sagen! Sie barg das Gesicht in den Händen.
Von dir? Bist du ein Falschmünzer geworden und hast uns betrogen?
A-peu-près! gelogen habe ich wirklich, 'pon honnour! sagt Lady Frederic, und das Schlimmste, schloß sie, aus ihrer Sophaecke aufspringend und in einem höchst aufgeregten Zustande zu Annen hinlaufend, das ganz Erschreckliche ist: ich lüge noch!
Was wird da herauskommen, dachte Anna, die irgend eine Narrensposse erwartete. Aber Leontine warf ihr beide Arme um den Hals, küßte sie wiederholt und heftig, und zwei helle Thränen fielen auf Anna's Wange, die sie nicht selbst geweint. Thränen? Leontine, du? Mein Gott, was ist denn geschehen?
[] Morgen! Morgen! flüsterte die Schluchzende und eilte in ihr Cabinet, das sie hinter sich abschloß.
Aber der nächste Tag brachte nicht die gewünschte Erklärung; es kam nicht dazu. War es Absicht, war es Zufall? Anna konnte sich keine Rechenschaft darüber geben. Leontine schien heiterer als je, phantasirte den ganzen Tag von Bergfahrten, vom Gletschermeer, vom Grindelwald, und wollte, trotz dem Spätherbst, noch überall hin, besonders lag ihr ein Ausflug nach Luzern zum Markt in Gedanken; sie hatte den Kopf voller Aeußerlichkeiten und Muthwillen.
Annen war dieser plötzliche Wechsel der Stimmung ihrer Freundin nicht fremd; sie kannte an dem wunderlichen Mädchen einen sie seltsam und stoßweise überfallenden Hang zu philosophischem Grübeln, der zuweilen in fast skeptischen Unglauben ausartete. Leontine verdankte diese Richtung dem frühen, bei wiederholtem [] Aufenthalt in Schlesien sich stets erneuenden Umgang mit einer sehr bigotten katholischen Familie, deren Hauskaplan ihrem kindischen Witze zum Stichblatt dienen mußte. Der Eifer des alten Domine, sein Mangel an Kenntnissen, die groben Widersprüche, zu welchen seine beschränkten Religionsansichten ihn hinrissen, alle diese sich in katholischen Ländern oft ganz gefahrlos wiederholenden Zufälligkeiten, die den wirklich Frommen kaum berühren, reizten die junge Protestantin erst zum Widerspruch, dann zur Analyse, endlich zu gänzlichem Misverstehen des nur mit einfachem Sinne auf wohlthuende Art zu Erfassenden.
In Berlin gewährte Geierspergs Bibliothek, die sie heimlich durchstöberte, dem noch an der Grenze der Kindheit stehenden Mädchen Gelegenheit zu einer Art Controverse mit ihrer jungen Freundin, die auf Annen einen vorübergehenden, auf Leontinen einen dauernden Eindruck [] machte, der mit den Jahren tiefer ward, als ihr glänzender Scharfsinn sich entwickelte. Sie schrieb Annen lange, höchst geistreiche Briefe über solche Gegenstände, die diese sanft und völlig ruhig erwiderte.
Bei späterem Wiedersehen begann Anna durch den momentanen Unfrieden, in den sie die geliebte Zweiflerin verfallen sah, insgeheim zu leiden; ein längeres Beisammenleben hatte jedoch diesen ersten Eindruck längst gemildert. Wie oft hatte sie Leontinen tiefsinnig spottende, an Voltaire's Geist erinnernde Bemerkungen aussprechen gehört, wie oft aber auch in weicheren Augenblicken die heißen Reuethränen gesehen, die das liebenswürdige Wesen über die Unmöglichkeit vergoß, sich einen überzeugenden Glauben an die tröstlichen Verheißungen unserer Kirche anzueignen. Stunden lang konnte sie die Möglichkeit einer individuellen Fortdauer bestreiten und andere Male am Krankenlager [] alter Diener und Nothleidender denselben durchdringenden Geist zur Erweckung des innigsten, reinsten Gottvertrauens anwenden. Daß dieser stete Wechsel eines unaufhörlich in sich bewegten Gemüths dem starken festen Sinn der jungen Frau widerstand, ist begreiflich, aber die Verschiedenheit ihrer Naturen wirkte nicht störend auf die Zärtlichkeit der so lange und eng Verbundenen. Allmälig war Annen die Ueberzeugung geworden, daß dieser flutenreiche, ewig auf- und niederwogende Charakter Gefühlstiefen in sich berge, die dem Senkblei willkürlichen Eindringens stets unerreichbar bleiben müßten. Sie hatte sich darein ergeben, wie man eben an das Ungewöhnlichste sich gewöhnt, wenn ein seltenes Geschick uns dasselbe aufdringt und das, was die Welt als Phänomen anstaunt, in die Bahn unserer Alltäglichkeit wirft. Natürlich machten aber jetzt weder Leontinens Thränen, noch ihr späteres [] Schweigen über deren Ursache einen so tiefen Eindruck auf sie, als dies bei jeder Andern der Fall gewesen sein müßte. Sie schrieb Leontinens Aufwallung einer augenblicklichen Erregung zu und mochte sie nicht mit lästigen Fragen verletzen, als dieselbe vorüber schien.
Gotthard beschäftigte sich mit immer regerem Eifer mit den beiden Knaben. Ihre Entwicklung grenzte ans Staunenswerthe, doch quälte er sie wenig oder gar nicht mit Lectionen, er entfaltete die reichen Anlagen der Kinder, wie ein geschickter Gärtner eine frische Pflanze zur gesunden Blüte bringt. Halbe Tage streifte er mit ihnen umher über die minder hohen Berge, durch Thäler und Schluchten hin, er gab ihnen Unterricht in den einzelnen Zweigen der Naturkunde, er führte sie in Städte und Dörfer zu Handwerkern und Bauern, bildete ihr Auge und zeigte ihnen alles, was er sie lehrte; sie mußten es mit Händen greifen, dann begriffen [] sie es auch geistig. Zum eigentlichen positiven Lernen hatte er den nächsten Winter bestimmt.
Sie machen meine Kinder zu Amerikanern, sagte lachend Anna, wenn die Knaben ein unbegreiflich klares Auffassen äußerer Eindrücke zeigten. Geht das so fort, so werden die Buben mit funfzehn Jahren heirathen wollen und ich mit dreißig eine alte Frau sein müssen.
Er blickte ihr mit einem fast jubelnden Ausdruck in das reizende Gesicht. Im Gegentheil, gnädige Gräfin, ich sichere Ihnen eine nie unterbrochene Jugend und immer frische Sinne zu.
Sie sah ihn dankbar an. Sie fühlte zwar dunkel, daß er die Kinder um ihretwegen liebe, aber sie gestand es sich nicht.
Von Otto war nicht wieder unter ihnen die Rede gewesen; Anna dachte nicht mehr ihrer Pläne, Gotthard sich fern zu halten. Es ist etwas Furchtbares um die Gewalt des sich alltäglich [] Wiederholenden, wie es leise die Seele umspinnt!
Kronberg war immer noch in Berlin. Sie schrieb ihm lange Berichte über der Knaben Fortschritte, die er in wenigen Zeilen mit der Versicherung erwiderte: es freue ihn, durch die Erfahrung ihr beweisen zu können, daß er sich in Herrn Gotthard nicht geirrt. Uebrigens ließ er sich in keine Details ein; der Aufenthalt in den ehemals heimischen Kreisen, der rasche Diplomatenwechsel, der zu Verona eröffnete Congreß, an welchem der Minister so bedeutenden Antheil nahm, hatten seine ganze Seele mit so mannigfaltigen Eindrücken überfüllt, daß er Gott dankte, alle Familiensorgen seiner Gemahlin überlassen zu können.
So freundlich Kronbergs Schreiben war, lag dennoch unendlich viel Schmerzliches für sie in dem Briefe; das leise Gefühl, dem Gemahl lästig zu werden, überschlich sie mehr und mehr [] mit kältender Qual. Daß er als Diplomat dem Reactionssysteme unbedingt anhangen, die monarchischen und conservativen Grundsätze zur Norm all seiner Urtheile machen und dabei mit wachsendem Egoismus eine immer rücksichtsloser ausgedehnte persönliche Unabhängigkeit behaupten könne, war ihr unbegreiflich. Diese Art Freiheitsliebe, die nur ihn selbst von jeder individuellen Pflicht lösen sollte, kam ihr unedel vor. Die Oberflächlichkeit, mit welcher er die griechische Freiheitssache behandelte, die ihr frisches Herz mit dem glühendsten Enthusiasmus erfüllte, that ihr wehe. Das Hinwegschlüpfen über Josephinens Stimmung gegen Leontine, vor allem aber die Gleichgültigkeit gegen die Fortschritte der Kinder, die nur im Triumph über die getroffene Wahl eines Hofmeisters eine Spur der Theilnahme zeigte – alles dies verletzte sie unaussprechlich. Ueber die Bestimmung eines Winteraufenthalts für [] sie enthielt der Brief keine Zeile und doch ging der October bereits zu Ende. Kronberg mußte es ganz und gar vergessen haben.
Otto war noch nicht von Basel herübergekommen. Gotthard lebte nur den Kindern und seinen Studien. Seit ein paar Tagen hatte er sich fast ganz zurückgezogen; wenn die Kleinen ihn nicht beschäftigten, kam er gar nicht aus seinem Zimmer. Seine Lampe brannte immer noch, wenn Anna, an großstädtische Stunden gewöhnt, lange nach Mitternacht von Leontinen sich trennte; der bleiche Strahl erhellte die Hautelissetapete ihres Schlafzimmers, auf der die Schlacht bei Sempach dargestellt war; erwachte sie gegen Morgen, so lag der matte Schein immer noch auf irgend einem Theile des graulichen Bildes. Der junge Mann arbeitet sich todt! sagte sie leise zu sich selbst. Am Morgen erzählte sie es Leontinen.
Welch ein entsetzlicher Ernst in dieses Menschen[] Willen! Er will Minister sein, und glaube mir, er wird es.
Minister? fragte Anna.
Ja, erwiderte Leontine, er will eine unerhörte Carrière machen, und wenn er sein Ziel erreicht hat, irgend etwas Großes, Ungewöhnliches durchsetzen. Vielleicht ist er verliebt und hofft auf diese Art die Hand seiner höher gestellten Geliebten zu erhalten.
Was für romantisch-thörichte Ideen du von allen Leuten dir machst! sagte Anna etwas gereizt. Nun soll der junge Mann verliebt sein, weil er des Nachts schreibt!
Ja so, meinte lachend die Gescholtene, ich vergaß, in unsern raisonnirenden und revolutionairen Zeiten muß man ein Weib oder ein sechszehnjähriger Jüngling sein, um zu lieben! O dolce amore, ragion cui non s'intende, e se ragion intende subito amore non è! Mit fünfundzwanzig [] Jahren ist man viel zu alt zum Lieben, nicht wahr?
Sollte Gotthard lieben? Aber wen? Lange sann Anna schweigend nach, nicht die leiseste Aeußerung hatte jemals Leontinens Vermuthung bestätigt. Aber warum arbeitete er denn so rastlos? Ihr fielen die Volksbewegungen der letzten Jahre in Spanien, Portugal und Brasilien ein; was konnte er mit ihnen allen zu schaffen haben? In Deutschland war ja alles ruhig. Und dennoch, sollte er irgend einer geheimen politischen Verbindung angehören – unmöglich, das glich ihm nicht. Zum ersten Male dachte sie daran, daß sie ihn nie nach seinem Vaterlande gefragt. Ein Deutscher war er, obschon er mehre Sprachen mit gleicher Fertigkeit sprach, das schien ihr gewiß. Kann man zugleich so ganz einfach und dennoch so räthselhaft sein? dachte sie. Sie sprach ihre Gedanken nicht wieder gegen Leontine aus.
[] Duguet räumte den Salon auf, Leontine wollte tanzen heute Abend, auch ohne Ball, lieber nach dem Klavier als gar nicht. Eine kleine Gesellschaft war dazu eingeladen. Jetzt war er fertig, er sah sich ein paar Mal um, dann zog er ein gefaltetes Blatt aus der Tasche, das er, an's Fenster tretend, zwischen den Fingern hin und her schob und in den hellen Sonnenstrahl hielt.
Mais – c'est malhonnête ce que tu fais là! sagte mit einem Male Madame Sophie. Als er seine Frau gewahrte, steckte Duguet das Blättchen ein – es war ein versiegelter Brief – und begann ganz tapfer Marlborough s'en va-t-en guerre zu singen, was bei ihm das entschiedene Zeichen eines großen inneren Triumphs war. Zugleich rückte er Tische und Stühle zurecht und stäubte sie auf schon erwähnte Weise mit dem Tuch, den Takt schlagend, ab. Sophien [] sah er gar nicht an, er war auf dem höchsten Gipfel seines Hochmuths.
Mais je dis que c'est malhonnête ce que tu fais là!
Hein? fragte er.
Was hattest du denn für ein Papier? fuhr sie fort.
Hein? qu'est-ce? fragte er, immer heftiger um sich schlagend. Aha, si! eine Rechnung vom Herrn.
Die man nur auf der Rückseite lesen kann, wenn man sie in die Sonne hält?
Er schwieg und ordnete mit wachsender Hast die Sessel.
Es ist eine Indiscretion! Gib mir das Papier! bat sie dringend.
Diable! sagte er, comme tu y vas! was geht dich's an!
Gib mir das Blatt, Duguet! ich weiß, was es ist.
[] Hoho! Du weißt, was es ist? Ich will es nicht hoffen! Meine Frau, meine Frau will wissen, was ein Papier enthält, das unsre ganze Familie – das heißt, unsre Herrschaft, in Noth und Schande bringen kann! Sacre bleu! und wie sie mir das ganz ehrlich und unschuldig, mir nichts, dir nichts, so hinsagt! Wie kannst du so etwas von dir sagen? Und mir? mir von dir? hein? Begütigend fuhr er fort: Allons, allons, ne te fàche pas! Ich weiß schon, es ist dir nur so entfahren! Nichts auf der Welt weißt du von diesem Gott vermaledeiten Wisch, es geht dich nichts an, das verfluchte Papier!
Duguet, willst du mir das Papier geben?
Nein!
Ich bitte dich um Gottes willen, Duguet, gib mir das Papier! Du weißt nicht, was du thust.
Sophie zitterte an allen Gliedern.
[] Diable! sagte nochmals Duguet, sie von Kopf zu Fuß mit den Augen messend, und woher weißt denn du den Inhalt eines versiegelten Blattes?
Weil ich – ich kann, ich darf es dir nicht sagen; aber bei allem, was dir heilig ist, beschwöre ich dich, schweige und gib es mir!
Schweigen? Ich? Schweigen, wenn es die Ehre, den Namen, das Blut meines Herrn gilt? Was geht mich der Narr an, der jetzt – Weib, mach mich nicht rasend! Ich darf gar nicht daran denken, es reißt mir das Herz aus dem Leibe. – Da, da ist dein verfluchtes Papier; ich will es nicht lesen, aber nicht du, nicht sie, Niemand soll's lesen. Und du sollst sehen, schloß er immer drohender und wilder, daß ich alles vereiteln werde. O, mein Herr! mein armer Herr! Mit Händen und Zähnen riß er das Papier in tausend kleine Stückchen und warf es in die Kohlen des Kamins.
[] Nach Athem ringend, stand Sophie vor ihm und sah zu, wie das Feuer den Brief verzehrte, während Duguet, die geballten Hände vor den Augen, hinauseilte. Als die Thüre heftig dröhnend hinter ihm zugeworfen war, blieb sie noch eine Weile, gespannt horchend, regungslos stehen, seine Schritte verhallten endlich auf dem Corridor; ja, er war fort. Sie sammelte die letzten am Kaminrande herumliegenden Papierfetzen und warf sie den andern nach in die Kohlenglut. Gott sei Dank! er hat nichts gelesen! Tief aufathmend, als sei eine Riesenlast ihr entnommen, verließ Sophie den Salon.
Es war ein schöner, aber kalter Herbstabend; die Gesellschaft hatte sich entfernt, es war Niemand mehr im Saal, als die Hausgenossen und der alte kunstliebende Professor; das nämliche [] Kaminfeuer, das zum stillen Träger des Geheimnisses geworden, das Madame Sophie so bedrückte, hielt den kleinen Kreis noch beisammen.
Aber warum, Herr Gotthard, wollten Sie nicht mit mir tanzen? fragte Leontine.
Ich habe es nie gelernt, Gnädigste, und fürchtete, sie mit einem schlechten Tänzer in Verlegenheit zu setzen.
Gott Lob und Dank! Die Achillesferse! rief, laut auflachend, das Fräulein. Anna, Anna! Herrn Gotthards verwundbarer Fleck! Wahrhaftig, lieber Herr Gotthard, Sie konnten mir gar keine größere Gefälligkeit erzeigen als durch diese kleine menschliche Unvollkommenheit; aber nun müssen Sie sich auch mir zur Liebe blamiren und auf der Stelle mit mir tanzen! Der Professor und Anna stimmten scherzend bei.
Wenn Sie mich unterrichten wollen, gnädiges Fräulein, werde ich wenigstens nie mehr [] die Entschuldigung haben, nicht tanzen zu können, sagte Gotthard verbindlich; er war in Leontinens Zauberbann gerathen.
Sie war aufgesprungen und hatte bereits ihre Hand auf seinen Arm gelegt. Einen Walzer, lieber goldner Professor! Erst aber langsam, wenn ich bitten darf.
Sie schwebte mit Gotthard dahin; er tanzte, wie die meisten Deutschen, seinen Nationaltanz gut, sogar schön. Schneller, immer schneller! rief Leontine. Der alte Professor trommelte immer heftiger auf dem Klaviere herum, mit und neben dem Takt; Gotthard folgte mit größter Gewandheit und sicherem Taktgefühl jedem Wechsel des Rhythmus.
Herr Gotthard, sagte, plötzlich stillstehend, Leontine, das ist abscheulich! Sie tanzen vortrefflich! Ich bitte dich, Anna, walze nur ein einziges Mal um den Saal – Gotthard stand bereits schüchtern, aber doch bittend vor ihr.
[] Zum ersten Male berührte ihn der Gräfin Hand, das Blut stieg ihm in's Gesicht, aber er tanzte sicher und besonnen fort. Das ungewöhnlich reine Ebenmaß seiner durchaus edeln Gestalt trat während des Ländlers auf das Vortheilhafteste an's Licht, seine Züge waren ruhig geworden, er machte einen sehr angenehmen Eindruck. Anna empfand zum ersten Mal in ihrem Leben eine wirkliche Freude am Tanz; sie fühlte keines ihrer Glieder, auch nicht den sie leicht stützenden Arm ihres Tänzers; jede Bewegung des schönen Paares paßte harmonisch an einander.
Aber, Anna! rief Leontine, die sich im Sopha recht bequem zurechtgesetzt hatte, um mit kritischem Blicke zuzusehen; aber, Anna! es ist ja wundervoll, wie ihr Beide zusammen tanzt!
Der Professor wollte es geschwind auch sehen, vergaß zu spielen und drehte sich um. Der improvisirte Ball hatte ein Ende.
[] Und warum sagten Sie denn eigentlich, Sie könnten nicht tanzen? fragte der Professor.
Weil ich nur walzen kann. Einen Tanzlehrer mir zu halten, war meinen Eltern zu kostspielig. Von den ausländischen Tänzen, die ich heute hier sah, kann ich keinen.
Schade, daß ich's nicht gesehen habe, sagte der Professor.
Nun wollte Leontine durchaus dem Professor zu Ehren an dessen Stelle spielen, und Gotthard und Anna sollten und mußten ihm noch einmal vorländlern; sie hatten jedoch kaum die Hälfte des Zimmers erreicht, als die Saalthüre aufflog und Otto durch dieselbe eintrat.
Er blieb an der Schwelle stehen und schreckte sichtlich zusammen; überhaupt schien er von der ganzen Scene, obschon sie ihm augenblicklich laut lachend erklärt ward, so unangenehm berührt, daß weder Leontinens einschmeichelndes Entgegenkommen, noch Annens herzliche Freundlichkeit [] den Eindruck sogleich zu verlöschen im Stande waren. An Kronbergs späte Stunden gewöhnt, hatte er es gewagt, zu fast nächtiger Zeit und in Reisekleidern zu kommen. Der folgende Morgen war zu einer nochmaligen Gletschermessung hinter Grindelwald bestimmt, von welcher er Abends nach Bern zurückzukehren und dann den folgenden Tag wieder nach Basel zu reisen gedachte.
Alles dies erzählte er mit so seltsam kalter Miene, daß Leontine aufmerksam wurde und ihn mit dem durchtriebensten Uebermuthe zu necken begann. Sie behauptete, er wolle sich selbst als Gletscher ausmessen lassen, anstatt, wie er vorgebe, das Vorrücken des Eismeeres zu beobachten, was auch in der That viel unbequemer sei. Anna blieb in ihrer Einfachheit ganz arglos, sie suchte Leontinens heftige Ausfälle gegen Otto zu mildern und ihr Wohlwollen [] besiegte nach und nach den eifersüchtigen Unmuth des Freundes, er ward etwas heiterer.
Gotthard hatte sich an das Klavier gesetzt und phantasirte ungemein schön. Nur der alte Professor achtete darauf und nickte still entzückt gegen den Takt.
Otto fragte nach allem, nach den Kindern, nach Briefen und Nachrichten, nach Sophien; seine warme bürgerlich-häusliche Theilnahme legte sich balsamisch weich auf Anna's verwundetes Herz. Sie mied jedoch alle nähere Erörterung über ihres Gemahls Schreiben. Nach ihrem Winteraufenthalt zu fragen, fehlte Otto der Muth; so kam weder ihr Reisen noch Bleiben zur Sprache, und leise und allmälig entfaltete sich ihm die Wunderblüte des Glücks, die immer die Nähe eines geliebten Gegenstandes, selbst unter den traurigsten Beziehungen mit sich bringt. Saß er doch neben ihr! Die Zimmer, die sie bewohnte, all die kleinen Thee- [] und Arbeitsgeräthschaften zu sehen, hatte er ja so unendlich lange entbehrt, und nun war alles noch da und wie sonst, es zog sich wie ein Zauber um seine Sinne. Daß Gotthard sich nicht in das Gespräch mischte, gewährte ihm ebenfalls eine Erleichterung. Allmälig wurde er immer fröhlicher und begann von seinen Vorlesungen, seinem Leben in Basel, den eben damals die Geologen und Naturforscher zuerst beschäftigenden Gletscheruntersuchungen und seiner morgenden Expedition zu erzählen. Aber, fragte er, plötzlich sich besinnend, wer ist denn der Fremde, der eben von euch ging? Ich bin ihm an der Hausthüre begegnet?
Du irrst, erwiderte Anna, wir haben keine neue Bekanntschaft gemacht.
Doch kam er aus euerm Hause, sogar aus eurer Etage, die Treppe herunter. Vielleicht ein Bekannter von Herrn Gotthard?
Dieser verneinte stumm.
[] Leontine versicherte, es müsse ein guter oder böser Geist sein, der sich ihrer drohenden Winterlangeweile anzunehmen denke; sie hatte tausend Fragen, immer eine possirlicher als die andere, und baute zuletzt aus Otto's Antworten eine so grotesk-burleske Gestalt des Fremden zusammen, daß Alle in lautes Lachen ausbrachen und die lustigste Stimmung des kleinen Zirkels sich bemächtigte.
Nun, wenn es sich nicht so verhält, wie das gnädige Fräulein zu meinen belieben, sagte endlich, immer noch lachend, der alte Professor, so muß er eine Traumgestalt des Herrn Gotthard sein, der seit einer halben Stunde dasitzt, als brüte er, wie Doctor Faust's Famulus über einen Homunculus.
Gotthard hatte keinen Theil an dem Gange des Gesprächs genommen, auch jetzt war er zerstreut und hatte nicht recht hingehört. Ach! sagte er ernst und weich, welcher Mensch ist [] am Ende individuell genug, um so ganz genau Dichtung und Wahrheit in sich zu scheiden und mit Gewißheit zu sagen, das habe ich erlebt – das habe ich geträumt!
Otto maß ihn von Kopf zu Füßen, ein furchtbarer Zorn loderte auf in seinen Augen. Ihm war Gotthards Zerstreuung sehr erklärlich; dieser bemerkte es nicht und blieb still in seinem Winkel sitzen.
Leontine war aufgestanden und hatte trotz der Novemberkälte ein Fenster geöffnet; sie sah eine Weile hinaus. Als sie auf Anna's wiederholtes Bitten zur Gesellschaft zurückkehrte, erschien sie den Andern bleich und angegriffen; sie zitterte sogar. Sie schob es auf die Nachtluft.
Der Professor, den die plötzliche, ihm ganz unerklärliche Verstimmung drückte, hatte sich wieder zu Gotthard an das Klavier gesetzt und bat ihn, eine seiner Lieblingscompositionen zu singen. Gotthard fragte die Gräfin, ob sie [] es erlaube, und willfahrte dem alten freundlichen Mann gern; aber er sang andere, als die gewohnten Textworte.
Mit jedem Vers war Gotthards Stimme voller und tönender, sein Ausdruck mächtiger geworden. Als er an die Worte kam: Ruhig, Klang und Welle! leuchtete eine fast blendende Kraft und Sicherheit aus seinen ganz vergeistigten Zügen, so daß Alle in dem kleinen Kreise davon ergriffen, ihn starr und bewegungslos anschauten, etwa wie einen plötzlich unter ihnen erstandenen Propheten oder einen von höherer Kraft Begeisterten. Leontine stand einen Moment, das schöne Köpfchen zu einer fast demüthigen Stellung herabgebeugt, neben ihm am Klavier. Ja, sagte sie leise, Sie werden ein glücklicher Schiffer sein, denn Sie vermögen die inneren, wie die äußeren Gewalten zu bändigen, Sie haben die Kraft dazu.
[] Kraft ist nicht Glück, mein Fräulein! sagte Gotthard sehr ernst.
Er war aufgestanden und mit an den kleinen runden Tisch getreten, um den die Andern saßen. Wunderbar, der untergeordnete, der besoldete Hofmeister der Kinder stand unter ihnen wie ein Fürst. Sogar Sophie staunte ihn mit einer Art dumpfen Respect an, mit dem sie nicht leicht bei der Hand war. Gotthard bat, sich beurlauben zu dürfen, verbeugte sich tief vor Annen, leicht vor den Uebrigen und verließ den Saal.
Das ist doch ein sehr ungewöhnlicher Mensch! sagte Otto düster. Anna schwieg. Ach! erwiderte Leontine, wie in Traumeswogen versunken, halb flüsternd vor sich hin redend, wenn sich diese Ueberlegenheit an die Spitze eines bedeutenden Unternehmens stellte, wenn in Oberitalien –
Sophie warf den Nähkorb des Fräuleins [] um und brachte mit den unbedeutendsten Fragen und Suchen nach den herumrollenden Wollenknäueln das Gespräch aus dem Gange. Leontine erröthete heftig; Anna reichte Otto quer über den Tisch die Hand.
Als Anna in ihr Schlafzimmer trat, leuchtete die stille Arbeitslampe wie gewöhnlich herüber. Er schreibt noch! Sie trat ans Fenster und legte die heiße Stirn gegen die kühlenden Glasscheiben. Zum ersten Mal hatte Gotthard vergessen, seine Vorhänge zu schließen. Sie sah hinüber, sah ihn ein Paquet Schriften packen, siegeln und adressiren. Lange stand er dann, es betrachtend, am Schreibtische; er sah sehr ernst, fast trübe aus. Plötzlich wandte er sich und trat mit einer unerwartet raschen Bewegung ihr gegenüber an sein Fenster.
Das alterthümliche Haus, das die Familie bewohnte, umschloß, mit seinem Nebenbau und Seitenflügeln im Viereck, nach hinten zu einen [] ziemlich engen Hof; Gotthard sah also durch die einander schräg gegenüber liegenden Zimmerfenster Annen unerwartet ganz nahe vor sich. Er hatte scharfe Augen und mußte bemerken, daß sie ihn beobachtet hatte. Ein unbeschreiblicher Ausdruck von Seligkeit und Schmerz überflog einen Augenblick seine Züge, dann senkte er die Augen. Als er sie wieder hob, war das Meteor seines Glückes verschwunden und tiefe Finsterniß umhüllte das ganze Gebäude. Für das ganze lange Leben einen Augenblick des Glücks! sagte er wehmüthig vor sich hin. Er löschte auch seine Lampe, dann sank er im Dunkeln auf einen Stuhl und blickte tiefsinnig in die Nacht hinaus.
Als er am nächsten Morgen nach dem Frühstück, seine Zöglinge abzuholen, bei Annen erschien, sah er unbefangen und heiter aus wie immer.
Muß dem armen Kinde, dem Vrenely, gerade [] heute einfallen, sich einen guten Tag zu machen! sagte Leontine, Hut und Mantel abwerfend. Ich wollte keinen von euern Leuten hinschicken und lief selbst hin, sie einzuladen. Sie ist nach Brienz zu Verwandten.
Ich habe gar nicht gewußt, daß sie hier aus der Umgegend ist, antwortete Anna.
O, wie ist das möglich? fragte Leontine, indem sie ihren alten Lieblingsplatz, eine Art niedrigen Kinderstühlchens, zu der Freundin Füßen einnahm und ihren zierlichen Arm auf deren Knie legte. Hat sie dir nie vom Haslithal erzählt? Wenn dich die alten erfahrungsgrauen Granitgeister durch die Felsenpforte in das liebliche kleine Eden einlassen, so kannst du dort gewahren, woher ich all meine Elfen- und Nixenbekanntschaften habe. Das frische grüne Thal ist ihr Tanzboden und Sammelplatz; plätschernd, flüsternd und wiegend steigt es von allen Seiten zu ihm hinab; da wehen Wasserfälle [] wie silberne Fahnen, sie stäuben so duftig geisterhaft hernieder in lauterem Glanz, sie schwingen ihre Regenbogenschleier über die grünen Felsenwände hin, oder schmeicheln in kleinen krausen Schaumwellen zwischen den Gräsern und Blumen sich ein, und Alle erzählen das nämliche Märchen, jedes trägt es ein Stückchen weiter in's bunte Leben. Haben sie aber die Tiefe des Thales erreicht und sind glücklich dem liebenden Drohen des Sonnenstrahls entgangen, der in tausend Küssen ihre Schönheit an sich ziehen will, dann eilen die Plauderinnen, die gar nicht auf ihn hören, weiter; sie eilen, eilen, überlaufen einander bis zum Ulschibach, dem größten und schönsten der Gebirgsbäche, der mit einer ganzen Kaskadenfamilie den Bergrücken hinunterstürzt, und nun geht es lustig fort in schäumendem Jubel. Ueber die grünen Berge schauen die ernsten Wetterhörner auf das plätschernde Kinderspiel nieder; sie [] strecken ihre alten Schneehäupter dicht übereinander her; aber so alt und klug sie sind, hat's ihnen die Sonne dennoch angethan, sie erröthen noch immer, wenn sie so seitwärts über die Felswand weg nach den tanzenden Bächlein hinlugt. Und wenn die Nacht kommt, dann solltest du erst sehen, wie alle mit einem Mal leichenhaft bleich werden, ordentlich graulich; aber man muß tief in die Mitternacht wachen, um das zu erfahren. Die Bächlein haben deß nicht Acht, sie springen und tanzen lustig fort bei Mondenschein und Sternenlicht und bis zur Morgenröthe.
Gotthard hatte ihr mit steigendem Interesse zugehört. Welch ein Schatz innerer Poesie! sagte er leise. Leontine drehte languissant ihr Köpfchen ihm zu und erwiderte halb schläfrig: Ach, bester Herr Gotthard! ein einziger Regentag macht ihn zu Schanden.
Ich stehe recht ärgerlich arm zwischen Ihnen [] Beiden, meinte Anna. Ihr ward diese bunte, alles überkleidende Phantasie, Ihnen Ihr rastloses wissenschaftliches Streben, mir aber treten Poesie und aller Ernst des Lebens immer nur in's Herz. Das ist recht unbequem, damit kann man eigentlich nichts anfangen.
Wie können Sie, gnädigste Gräfin! mein Streben beurtheilen – ich meine eigentlich, wie es bemerkt haben? Kaum waren die unglücklichen Worte über Gotthard's Lippen, so fiel ihm die Nachtscene ein und er verstummte, in sichtlicher Verwirrung.
Wo es das Herz zu bergen gilt, sind Frauen muthiger als Männer. Sie erzählte ganz unbefangen, wie sie von ihrem Zimmer aus sein Licht herüberschimmern sähe und oft gesorgt, er werde zu sehr auf seine Jugendkräfte bauen und sich überarbeiten. – Da lag die arme kleine Blüte eines geheimnißreichen Glückes vor ihm[] – entblättert – zu seinen Füßen. Es mußte sein – dachten beide.
Nach einem Augenblicke erwiderte er: Ich habe eine alte gichtbrüchige Frau gekannt, die fast den ganzen Tag zu Bette lag, aber dennoch täglich um fünf Uhr in die Frühmesse ging und während derselben auf den kalten feuchten Steinen kniete; sie behauptete, es schade ihr nicht, während sie sonst sehr besorgt um sich war, und wirklich wurde sie nicht kränker dadurch und die Aerzte ließen sie gewähren. – Lassen Sie mir meine Kirche, Gräfin, und – ihren etwas strengen Dienst.
Und wie heißt diese Kirche? fragte Anna.
Der Staat, gnädige Frau – und allgemeines Wohl.
Ich fühle die Wesenheit, wenn ich auch nicht die Form des Gehalts erkenne, die Sie Ihrem Leben geben. Jedenfalls werden beide edel sein. – Sonderbar, fuhr sie nach einer [] Weile fort, daß ich auch nicht einmal die Richtung derselben kenne, ja nicht einmal weiß, welcher Theil Deutschlands Ihr Vaterland ist?
Ich bin ein Rheinpreuße, mein Vater war ein Schlesier. Die Liebe zu meiner Mutter hatte ihn bewogen, sein Vaterland zu verlassen und in das ihre zu ziehen. Wir lebten in Mehlem, einem der kleinen weißen Rheinufer-Städtchen, die Sie kennen. Ich machte meine Studien zu Bonn, Berlin und Breslau; in den Ferien besuchte ich Frankreich, Belgien, Oberitalien. Ich bin sogar einmal auf kurze Zeit in England gewesen. Der bekannte und geehrte Präsident Hellemon, meines Vaters Freund und mein Pathe, leitete meine ersten Schritte in das öffentliche Leben. Ich verdanke ihm viel, doch wollte er mir eine meinem Wesen fremdartige Richtung geben. Meine Eltern hatte ich verloren, ich konnte mich nicht entschließen, in seiner Hand das Instrument seiner [] Zwecke, sein Geschöpf zu werden. Ich riß mich los. – Im Jahre 1817 hatte mich ein günstiges Ungefähr in die Nähe des Fürsten gebracht, der damals die Rheinprovinzen durchreiste. Hellemon stellte mich ihm vor; später hatte er ihm Arbeiten von mir gezeigt, mich ihm empfohlen. Mir ward dessen Gunst auf eine noch unverdiente Weise. Das Uebrige, gnädige Gräfin, ist Ihnen bekannt.
Aber wie konnten Sie, wenn Ihrer Familie Mittel beschränkt waren, so bedeutende Reisen machen?
Klima, Boden und Jugendkraft begünstigten mich, ich arbeitete mich durch, ich gab sogar an kleinen Orten ein paar Mal Concerte, wo ich länger blieb, Musikstunden, ich schrieb ab, ich behalf mich. Kurz, ich habe die erwähnten Länder in interessanten und bedeutenden Momenten gesehen und wollte, da meine Studien vollendet, eben nach Spanien, als der [] Krieg von Neuem das unglückselige Land überzog.
Auf dem Rückwege traf ich den Fürsten in Karlsruhe, er concentrirte für den Augenblick meine Kraft, er gab mir Beschäftigung – und öffnete mir Ihr Haus.
Ein jubelndes frisches Kindergelächter unterbrach, von der Treppe herauf schallend, das ernste Gespräch. Leontine, die wie halb schlummernd in ihre eigenen Gedanken und Träume versunken still gesessen, fuhr auf und lief den Kleinen entgegen, die mit großem Eifer ihr Zuspätkommen entschuldigten, ma bonne habe sie weit, weit auf die Bastei spazieren geführt, um die Alpen zu sehen.
Und, fuhr der Aeltere fort, mit den tiefblauen Augen seiner Mutter an Gotthard hinauf sehend, wenn du nur mit oben gewesen wärest, die Leute sagen, daß Lawinen gefallen sind – eine ganze Menge. Denke nur, du [] hättest sie uns gezeigt. Die Berge brauen, sagte der alte Senne unten am Thor, und das sei so rechtes Lawinenwetter, da fielen sie dutzendweise in's Thal. Wärst du nur mitgegangen, lieber Herr Gotthard!
Mein Gott! rief Leontine, plötzlich aufgeschreckt, und unsre Gletscher-Reisenden? – Reicht das Wetter wol so weit?
Das wäre entsetzlich!
Gotthard gestand, ihm fehle genaue Kenntniß der Wetterscheiden und der ganzen Wettergestaltung im Hochgebirg. Gleich nach der Stunde, die ohnehin heute im bloßen Erklären einiger naturgeschichtlichen Gegenstände bestehe, wolle er selbst zum Sennen gehen und ihn befragen. Die Kinder zogen ihn fort.
Gegen Mittag, noch ehe Gotthard wiederkehrte, kam Besuch aus der Stadt und sogleich war von Lawinen die Rede, die hier nahe [] an Bern selbst gefahrlos und ganz unbedeutend wären, im Oberlande aber sehr gefährlich.
Es sei gar toll, meinten einige Herren, in solchem Wetter Excursionen in's Gebirg zu wagen, es heiße, Gott versuchen. Und wiederum ward die ganze Gletschermessung als unnütz, als thörichte Spielerei gescholten, denn die Unwissenheit reibt sich ja so gern an ihr unverständlichem wissenschaftlichen Streben.
Auf den Seen brause der Föhn, hieß es weiter, und die Luft hange weit und breit voll Schnee; so wie es windstill werde, würde sich's in Massen niedersenken.
Gnad' ihnen Gott und behüte sie! sagte eine junge freundliche Frau. So ein Herr aus der Fremde denkt sich einen sächsischen oder bairischen Winter zu finden; bei uns aber beginnt er zeitig, und ist gar hart und scharf. Und wir haben den zweiten November, es wäre kein [] Wunder, hingen die Eiszäpfli schon am Dächli ümme.
Annen starrte das Herz in der Brust. Leontine fertigte leise Duguet ab, und dann noch einen zweiten Diener, sie sollten sich beide erkundigen, ob man von irgend einem Unfall oder Unwetter im Oberlande gehört. Es war nichts zu erfahren.
Der Tag verging, der Abend kam. Sie begannen zu warten, zu horchen auf jeden Laut, auf den Schritt in der Gasse, auf das Oeffnen der Hausthür; es kam Niemand. Die Kleinen hatten etwas von der Unruhe gemerkt, sie fragten alle Augenblicke, ob denn Onkel Otto nicht komme, den sie noch gar nicht gesehen und der ihnen immer etwas mitbrächte und sie auf seinem Fuße tanzen oder fliegen ließ.
Die Nacht brach ein. Die alte Thurmuhr schlug Stunde um Stunde so bleischwer langsam, es kam Niemand. Die unter den Häusern [] hinlaufenden Arcaden, in denen Tags hindurch ein fast südlich reges Leben sich bewegte, wurden öde. Schon waren längst alle Läden und Werkstätten geschlossen, die Lichter erloschen nach und nach die ganze Gasse entlang, es ward so todeseinsam. Anna hörte ihr eigenes Herz schlagen mit peinlicher Gewalt, sonst nichts, gar nichts.
Vergebens suchte sie das Thörichte, Kindische ihrer Angst sich einzureden; es überwältigte sie wieder und wieder.
Gegen Morgen hörte sie ein Pferd aus dem Stalle ziehen. Sie flog an's Fenster; es war Duguet, er hatte sich vom Nachbar einen Char-a-banc geliehen, dem er jetzt heimlich ein Pferd einspannte. Er vermochte es nicht, die Angst seiner jungen Gebieterin so unthätig zu ertragen. Sophie stand mit einer Laterne im Hof und leuchtete ihm; dann packte sie ein und steckte eine Menge kleiner Paquete, auch eine [] Flasche Wein in das Wägelchen – sie mußte doch wol auch an ein mögliches Unglück glauben. Endlich schleppte sie noch einen alten Pelz ihres Herrn herbei. Duguet nahm ihn nicht um, er legte ihn, sorgsam gefaltet auf den Sitz; augenscheinlich bestimmten ihn die wackern Leute für Otto. Kalte Thränen rollten über Anna's bleiche Wangen, als Sophie vorsichtig das Thor öffnete und der Char-a-banc aus dem Hofe fuhr, leise, leise, um sie nicht zu wecken. Sie trat zurück, als der alte treue Diener schon im Abfahren den Blick noch einmal ihrem Fenster zuwandte; sie wollte seinem so ergebenen Eifer kein Mislingen zeigen, und aus der weit entlegenen Zeit ihrer Kindheit flog zauberschnell ein Bild ihrer Seele vorüber, wie Duguet nach dem allerersten Abschiedsleid in seinen Armen sie nach Hause getragen, als wolle er mit ihr dem Schmerz entlaufen.
Beim Frühstück fand Anna Leontinen fast [] noch besorgter, als sie selbst war. Gotthard ließ um Erlaubniß bitten, einen Augenblick zu den Damen herüberzukommen; sie ward ihm gern gewährt; man ist so ungern allein, wenn man sich fürchtet. Gotthard trat in seinem mit Pelz gefütterten Jagdrock ein; er näherte sich der Gräfin mit der Frage, ob sie ihm gestatten wolle, eines der im Stalle befindlichen Pferde zu benutzen, um nach Grindelwald zu reiten. Anna sagte ihm, Duguet sei bereits hin, sie nehme indessen sein Anerbieten an, da jener der Sprache nicht mächtig. Wenige Minuten später hörte sie das Pferd vorübertraben.
Und nun begann von Neuem und in immer sich steigerndem Grade die Seelenmarter des Wartens. Diese Qual der Frauen – Männer kennen sie nicht, sie werden zornig, sie laufen fort, sie handeln, sie zertrümmern sogar – Frauen müssen warten! Ach, wüßten Männer, was es ist, für so ein armes gequältes Frauenherz, [] zu warten, sie würden diese trostlose Pein nicht so oft über uns verhängen! – Mich dünkt, ich würde dem Himmel entsagen, wenn ich ihn lange, lange erwarten sollte – wenigstens bedürfen unsere Seelen keines Fegfeuers. Das Warten der Liebenden auf den Geliebten, der Gattin auf den Gatten, der Mutter auf den nicht heimkehrenden Sohn – dies Uebermaß tausendgestaltiger Angst mag wol als unser Fegfeuer schon auf Erden gelten.
Gegen Abend zog der Lärm vieler Schritte auf dem Steinpflaster und das dumpfe Gemurmel leiser Menschenstimmen von der Gasse herauf – sie kommen! Langsam, Schritt vor Schritt, nahte der Char-a-banc, Gotthard ritt daneben, mit angestrengter Kraft hielt die eine Hand sein Pferd zurück, die andere wehte grüßend mit dem Tuch; augenscheinlich traute er sich des Geräusches wegen nicht, Trab zu reiten.
Im Wagen lag Otto, ob todt, ob verwundet, [] ließ sich nicht unterscheiden. Vrenely und Duguet hielten ihn stützend in ihren Armen.
Gott sei Dank, er lebt! rief Leontine, ich sehe es Herrn Gotthard an.
Anna war bereits unten am Thore, Gotthard stand vor ihr. Ja, er lebt! aber er ist verwundet, doch hoffe ich, nicht gefährlich.
Ohne weitere Worte schlossen sich beide dem nach der Treppe hingewandten Zuge an. Vrenely hatte fortwährend des betäubten, wie es schien, bewußtlosen, Otto Haupt auf ihrer Schulter und trug mit, muthig und fest wie ein Mann. Das Tuch, das sie im Wagen über den Kopf genommen gehabt, war zurückgesunken, in reicher Fülle fielen ihre dunkeln Locken und Flechten über Hals und Achsel und umschleierten ihr und Otto's bleiches Gesicht; sie sah aus wie eine Mater dolorosa.
Otto ward auf ein Ruhebett in einem an den Salon stoßenden Zimmer gelegt; Anna hatte [] schon einen Wundarzt rufen lassen. Mit unhörbar leisen Bewegungen trug Leontine alles herbei, was zu des Kranken Pflege dienen konnte. Sophie, früh an solche Scenen gewöhnt, bereitete still dem Wundarzt das Nöthige zum neuen Verbande; Duguet hatte ihr gesagt, daß Otto den Arm zwei Mal gebrochen.
So erwachte, nach einem leichten Aderlaß, der so lange Jahre Vereinsamte, rings von liebenden, sorgenden Blicken umgeben, fast wie zu einem schmerzlichen Glück; keiner hatte ihn aus den Augen verlieren wollen. Anna! war sein erster Laut; als er sie neben sich sah, reichte er ihr die Hand und sank lächelnd, aber erschöpft zurück in die stützenden Kissen.
Allmälig langten nun auch die übrigen Naturforscher an, mit denen er die verunglückte Expedition unternommen. Alle waren ihm besorgt und voll warmer Theilnahme gefolgt, und einstimmig nannten alle das Vrenely seine Retterin. [] Erst jetzt fiel den Hausbewohnern ihre Gegenwart auf.
Lauterbrunn, Grindelwald und das Haslithal liegen nahe bei einander, nur die große und kleine Scheideck trennen sie. Am Tage, ehe die Gletscheruntersuchung vorgenommen werden sollte, hatte das Vrenely ihren Herrn Ohm, den gewesenen Landammann, nach Lauterbrunn begleiten müssen, wohin ihn ein Geschäft berief.
Im Gasthof hörten sie noch Abends vom Unternehmen einiger fremden Herren, die am nächsten Morgen gar die Gletscher auszumessen gedächten. Auch dort ward das Wagstück vielfach getadelt; ein alter Hirt zeigte sich besonders bedenklich, er war den Weg über die Wenger Alp und Scheideck herabgekommen, und sagte, Wind und Wetter seien drüben gar wüst; auch erzählte er eine Menge schauerlicher Unglücksfälle, die bei derlei tollen Wagstücken sich ereignet.
[] Nach Grindelwald zu habe es schwer geschneit, meinten andere, es werde sich wol kaum ein Führer finden nach so böser Nacht.
Das Mädchen überkam eine dunkle, namenlose Angst. Ob er dabei sei, wußte sie nicht, nicht einmal, daß er Tags vorher nach Bern gekommen.
Jetzt trat ein Fuhrmann aus Wengern mit an den Schenktisch; sie kannte den Seppi. Es führt ein gefahrloser Weg von einem Thal ins andere, der Gebirgspfad ist der bereits erwähnte über die große Scheideck hin.
Der Fuhrmann war im Begriff, mit seinen Karren abzufahren. Vrenely schmeichelte dem Ohm die Erlaubniß ab, die Gelegenheit benutzen zu dürfen, um eine Bekannte in Grindelwald zu überraschen, sie wolle zeitig wieder zu Lauterbrunn eintreffen, versprach sie. Der alte Mann hatte noch gar nicht einmal Zeit gehabt, sich auf das Ja oder Nein zu besinnen, [] so saß sie schon auf dem Wägelchen, neben dem Seppi und rollte mit ihm das Thal entlang.
Als sie in die Weitung desselben kamen, begegneten ihnen Bauern und Hirten, die auch von den Fremden erzählten, die wirklich schon seit mehren Stunden aufgebrochen und dem Eismeer zugewandert wären.
Unter einem Vorwande stieg das Mädchen am ersten Hause des Grindelwalds ab, in ihrer Seele hatte plötzlich die Sorge eine feste Gestalt bekommen, sie war Ahnung, ja fast Gewißheit eines drohenden Unglücks geworden. Es war grimmig kalt, obschon die Luft jetzt heiterer war, sie wickelte sich fest in ihr Mäntelchen und eilte querfeldein einem Sennbuben zu, der jetzt im Thal auf der Herbstweide das Vieh hüten half. Der Knabe war halb blödsinnig; sie hatte ihn oft beschenkt, und er war ihr mit großer Neigung zugethan. Diesen holte [] sie jetzt und beredete ihn mit ihr hinauf nach dem untern Gletscher zu gehen, es mochte eine Stunde Wegs sein.
Lange sahen sie nichts von den Fremden, endlich bei einer Wegkrümmung gewahrten sie hoch über sich am Schneegebirg schwarze, sich fortbewegende Punkte; sie schienen nach dem oberen Gletscher sich hinzuziehen. Aber der Wind hatte sich heftig erhoben hier in der Höhe und wehte ihr den Schnee, der noch ganz weich und flockig in den Aarfen und Fichten hing, wie einen Schleier in's Gesicht; noch immer vermochte sie nichts zu unterscheiden. Sie eilten weiter. Wo der obere Weg an die Gebirgsschlucht führt, sah sie von Neuem die dunkeln Gestalten.
Herr, mein Gott! fuhr das Vrenely fort, dort oben lag schon allenthalben fußhoher fester Schnee, und seitwärts an der Alp rollten donnernd Lawinen hinab in den Bach und in die Enge; bald sah ich die Wanderer, bald sah ich [] sie wieder nicht. Mit der Gletschermessung wird es heute nichts! dachte ich in meinem Herzen. Ob er nur dabei ist? Es hatte mir Niemand die Namen der Fremden nennen können, und keiner von allen, denen ich begegnet, hatte sie mir zu beschreiben vermocht. Die kalte Bergluft versetzte mir den Athem und den Friedli fror und er wollte nicht weiter mit. Ich gab ihm alles Geld, was ich bei mir hatte, und lockte es dem Bübeli ab, daß wir noch fortstiegen. Jetzt sah ich die Männer wieder, aber seitwärts, hoch über uns und weit; sie gingen sichtlich nach dem zweiten, dem Obergletscher. Scharf zeichneten sich ihre Gestalten gegen die hellgraue Schneeluft ab, dem Einen fiel im Gehen der Mantel von der Schulter, er haschte mit der Hand darnach. Mein Jesus! das war er, an der Bewegung hatte ich ihn erkannt.
Das Herz stand mir still vor Scham, was sollte ich nun sagen, wenn sie das Unternehmen [] aufgaben, das nicht gelingen konnte bei dem Wetter, und wenn sie herunterkamen und mich da fanden?
Schrillend scharf pfiff der Wind, grell wie ein Nachtvogelschrei. Der Schnee wirbelte immer dichter um mich her, ich mußte gar die Augen schließen, und dennoch litt mich's nicht, umzukehren. Als ich wieder aufblinzle, steht er ganz allein am Bergrand, und ich sehe keinen der Andern mehr um ihn, und wie ich beklommen scharf und schärfer hinüberschaue, kommt es weiß und schwer die Alpe heruntergerollt, zwei, drei kleine Lawinen zugleich stürzen tobend neben ihm und uns in die Thalschluchten. Die Gletscher konnte keine derselben treffen, ich fühlte es an der Windspur, und doch sträubte mir die Angst das Haar. Plötzlich fragt' ich mich selbst: Wo ist er hin? Ich sehe ihn nicht mehr. Da riß es mich vorwärts mit unwiderstehlicher Gewalt; ich sprang, ich lief, das Friedli [] konnte nicht nach. Nun war ich oben an dem Gletschermeer. Es klang herüber wie fernes Rufen; weiter noch gewahrte ich die Führer, sie gingen eilig hin und wieder, sie suchten, sie riefen. O, es war sein Name, den ich hörte!
Ich hab' ein scharfes Aug', wie ein Falkenblick hielt es die Spitze fest, auf der ich ihn zuletzt gesehen. Immer ängstlicher rannten die Führer auf der Höhe an mir vorüber, indem sie rückwärts schrien, es könne ihn keine Lawine erreicht haben, und endlos seinen Namen wiederholten; aber all ihr Umherlugen war umsonst, er blieb verschwunden. Ich, ich weiß, wo er ist! kreische ich auf, mit einer Gewalt, daß mir fast das Herz in der Brust zerspringt, ich habe ihn gesehen! und springe auf den Gletscher und packe den Führer am Arm und reiße ihn fort mit mir – es war der Jacquelin, ich kannt' ihn wohl. Er ist in einen Eisspalt gefallen; und der mir nach und alle Andern [] hinterdrein. Es fragt keiner, es zögert keiner, ich reiße sie mit mir fort, durch die unsäglich bebende Angst meiner Seele; ich wußte, er war, von dem Brausen der Lawinen erschreckt, in irgend eine verschneite Tiefe getreten, im Fallen vom Schnee überdeckt; ich wußte es gewiß, klar und deutlich, wie ich meines Lebens mir bewußt bin. Ich flog den Uebrigen voran, bis ich nicht mehr konnte, da nahm mich Jacquelin auf den Arm und kletterte mit mir über die Eisblöcke hin, um den Platz schneller zu erreichen.
In den Spalten lag viel lockerer Schnee, er mußte kürzlich erst als Ball herabgekollert und durch die Schwere seiner eigenen Wucht geplatzt sein. Lange konnten wir nichts entdecken; ein Riß sah aus wie der andere. Ich kroch auf Händen und Füßen bis an die äußersten Ränder. Nein, Gottes Barmherzigkeit wird es nicht zugeben, daß mein Gedächtniß fehle! Es [] muß da sein! Jetzt erst gewahrte ich etwas in dem tief blauen Spalt, es schimmerte roth, es war das Futter seines Mantels. Ich sah hinab, daß mir die Augäpfel schier verglasten: es regte sich nicht! Was ich von da an gethan, weiß ich nicht; sie hatten Hacken, Schaufeln, Stricke geholt; wie Jacquelin hinabgestiegen, wie sie ihn heraufgewunden, ich weiß es nicht. Ich war die Erste, fuhr sie nach einer Pause fort, die seine Hand ergriff, als er nun vor uns auf dem Eise lag; sie war noch warm. Nach einigen Secunden schlug er die Augen auf und – erkannte mich.
Das Andre weiß ich, du herzig Mädchen! rief Leontine, indem sie dem Vrenely mit thränenüberströmtem Gesicht in die Arme fiel. Ich weiß, wie du, als er heraufgezogen ward, immer noch besonnen jede Handreichung thatest; ich weiß, wie du voranliefst mit größter Gefahr und den alten Mann holtest, der ihn verband [] und seinen Arm schiente, wie du die ganze Nacht bei ihm wachtest, bis endlich am Morgen Duguet kam und euch alles Nöthige brachte, noch eh' dein Bote abgegangen. O Vrenely! rief sie immer heftiger weinend, jetzt muß er dein werden! Verlörst du ihn jetzt, du müßtest ja daran sterben!
Jetzt? O nein! sagte kopfschüttelnd das Mädchen, das Vrenely hat ja nun ein Glück für's ganze Leben! O Fräulein, Fräulein! fühlen Sie es denn nicht? Ich, ich habe ihn gerettet! Wenn er nun fort durch die Welt zieht, setzte sie träumerisch und tiefernst hinzu, in weit, weit entlegene fremde Länder und alle die großen Studien und Entdeckungen macht, von denen er manchmal so schön sprach, und wenn er immer berühmter wird und allen Menschen ein Gottessegen – das Vrenely hat ihm ja das Leben erhalten, mit dem er das alles thut! – Und – sie erröthete tief und schlug[] die Augen nieder – jetzt schäme ich mich auch gar nicht mehr, daß Sie – und er, und so viel andre Leute es wissen, daß ich ihn so lieb habe, ihm so ganz unaussprechlich gut bin, wie gar keinem andern Mann auf Erden; denn sehen Sie – sie heftete den klaren Blick auf Leontinen – das Vrenely will ja nun gar nichts weiter in der Welt. Darum lassen Sie ihn nur ruhig seine Straße ziehen, und wenn er auch das arme Schweizermaidly oft Jahrelang vergißt, manchmal wird er doch daran denken. Das ist mein Segen bis an den Tod.
Mit immer gleich heiterer Kraft stand das Mädchen Annen bei, als Otto nun schwer erkrankte. Mit unerschütterlicher Ausdauer pflegten ihn die Frauen, dazwischen mußte Vrenely noch für den alten Vater sorgen und im Institut ihre Stunden geben. Otto's Zustand blieb mehre Tage bedenklich, er hatte eine starke Contusion am Hinterkopf und man fürchtete [] eine Hirnentzündung. Es war graulich, mit welcher wirbelnden Hast die Gedanken in seinem Kopfe sich drängten, welch entsetzliche Lebendigkeit und Unruhe aus allen seinen Zügen sprach. Oft rief er halbe Stunden lang Anna's Namen.
Vrenely saß still neben ihm, ihre Hand reichte ihm den kühlenden Trank und ihr liebes Gesicht behielt den freundlichen gütigen Ausdruck; keine Thräne trat in ihr Auge, das, nur jedes seiner kleinen Bedürfnisse zu entdecken bemüht, für nichts Anderes einen Blick hatte.
Allmälig legte sich der nervöse Zustand, er kam zur Besinnung, zur Erinnerung dessen, was geschehen. Als er kräftiger ward und die Frauen ihn mitunter ein paar Stunden lang sich oder Sophiens geübter Pflege überließen, saß Gotthard viel bei ihm. Die beiden jungen Männer kamen einander näher und ein Bandtiefer gegenseitiger Achtung schlang sich um beider [] Seelen. Lieben konnte Otto Gotthard nicht, er war ihm nur dankbar. Das Herz hat Fühlfäden, die unendlich weiter reichen, als das Erkennen des klarsten Geistes.
Als Otto wieder auf zu sein vermochte, ließ er sich von Duguet zu Annen geleiten. Mit welcher Freude flog sie ihm entgegen! wie sorgsam rückte sie dem Freunde den Sessel in den jetzt selten gewordenen Sonnenstrahl! Wie suchte sie, gleich einer liebenden Schwester, ihm alles recht bequem zu machen! Sie war überglücklich, daß er lebe und genese. Otto sah sie mit unaussprechlich inniger Wehmuth an, dann reichte er ihr die Hand: Ach! sagte er, du meinst es gut, unendlich gut, und doch, Anna, wie weh' – er vollendete nicht.
Wunderlich verschieden schien Otto's Leiden auf die drei Freundinnen gewirkt zu haben, was sich am deutlichsten in der Art ihrer Krankenwartung aussprach. Leontine war an fast [] geister- oder elfenstiller Pflege kaum zu erreichen, sie flog mehr, als sie ging, und doch wie in unhörbar leisem Fluge. Sie saß oft viele Stunden bei ihm, meist unbemerkt, hinter dem Vorhang seines Bettes; war er trübe, schaute sie hervor und erzählte ihm, sang ihm mit halber Stimme seine Lieblingslieder, oder sie las ihm ihre Gedichte vor, sie zeichnete bei ihm lauter närrisch-possenhaftes Zeug, das ihn lachen machte, so daß er seinen Schmerz vergaß.
Anna war sich immer gleich, weich und ernst, errieth sie immer seine Seele. Sie schrieb für ihn nach Basel und an seinen noch in Freiberg lebenden Vater. Sie that eigentlich weniger, als die Andern, beschwichtigte aber mehr und regte ihn weniger durch äußere Dinge auf, nur daß eben sie die Welt ihm sonnenhell und dennoch so finster machte!
Mit unbeschreiblicher Zartheit trat das Vrenely zurück, sowie seine Genesung vorwärtsschritt, [] mit jedem Tage sittsam scheuer, stellte sie sich wieder an die alte Stelle; des ganzen Unfalls erwähnte sie mit keinem Wort. Verlangte er jedoch zufällig einmal gerade von ihr eine kleine Handreichung, dann zuckte der elektrische Strahl namenloser Seligkeit durch ihr ganzes Wesen, und man wußte kaum das Auge abzuwenden von dem Licht des Glücks, das ihre Züge durchleuchtete und allem, was sie that, den Zauber der tiefsten Herzensneigung verlieh, dem, einen sich ihm Jugend und Schönheit, kaum ein Männerherz widersteht.
Anna! sagte eines Morgens Otto, dieser Zustand muß enden. Ich kann meine Vorlesungen wieder beginnen, den linken Arm brauche ich nicht dazu, ich muß zurück nach Basel. Aber ich habe vorher noch vieles mit dir zu besprechen, eh' wir scheiden.
Wird es dich nicht angreifen, lieber Freund?
Er verneinte schweigend. Dann fuhr er [] fort: Ich muß es aussprechen, denn ich denke doch unaufhörlich daran.
Soll ich dir entgegenkommen, Otto? Soll ich dir sagen –
Ich habe Kraft, liebe Anna! Du weißt, genauer vielleicht, als ich selbst, was geschehen, was Vrenely für mich gethan. Ich kann kaum weniger thun, als ihr das Leben geben, das sie mir erhalten. Ich bin entschlossen – ihr meine Hand zu bieten.
Anna sah ihn freudig an. Ich wußte es, Otto, und glaube mir, du wirst glücklich werden!
Glücklich! Anna! sagte er sehr trübe, du solltest jetzt nicht mehr so reden! Sie erbleichte. Ruhig, Kind! ich rufe keine Dämonen aus ihrem Dunkel an's Licht. – Ich will lieber unglücklich sein, als unglücklich machen; siehst du, das ist Alles. Es kostet mich einen hohen Preis: die volle Freiheit meiner Wissenschaft.
[] Anna blieb eine Weile nachdenkend stumm. Eine Ehe ohne gegenseitige Liebe, Otto –
Laß das! unterbrach er sie streng. Ein Mann, Anna, liebt einmal, einmal, nicht öfterer. Unsre Sinne und unsre Eitelkeit, unser Egoismus und eure Schwäche mögen uns in tausend Verhältnisse hineinziehen, vielleicht ist keiner sicher, in keinem Alter, in keiner Stellung, vielleicht bin ich es noch am ehesten durch meine Wissenschaft, sie hat mein Leben bisher mir erhalten, trotz seiner Gluten. Gluten, von denen deine Engelsseele keine Ahnung hat. Still! still! ich bin kein Teufel, aber ich bin nur ein Mensch, Anna, ein Mann! Keiner von deinen Papiermaché-Weltfratzen. – Nun denn, versteh' mich recht, hätte ich die Möglichkeit deiner Liebe noch vor mir, die Möglichkeit, sage ich – denn, fuhr er immer wilder fort, dein Mann ist sterblich und das Leben ist lang – nie würde ich einer Andern [] meine Hand reichen; möchten die Geier dieser Qualen an mir nagen, gleichviel. Aber, komme es, wie es wolle, ich kenne dich, deine starke Seele, Anna! mich wirst du nie lieben; mich nicht, das Glück blüht nicht mir! – O wer an ein Jenseits glaubte, so recht glaubte, mit der blinden Sicherheit des Köhlerglaubens, um sagen zu können: aber dort! Nun gleichviel, – oder vielleicht! ich bin kein Frömmler, aber ich glaube an ein Jenseits. Dort also – vielleicht!
Er neigte seinen Kopf auf ihre Schulter und schwieg.
Lange saßen sie beide so stumm neben einander.
Weißt du, fuhr sie nach einer Weile gepreßt fort – es war, als klammere sich ihre Seele gewaltsam an einen andern Gedanken, wie man im Wellenstrudel ein schwimmendes Bret ergreift – weißt du, daß Leontine dich liebt?
[] Ja, sagte er fest. Laß sie! Ich bin wie ein dunkler Schmetterling durch ihr Blumenleben geflogen und habe einen fliegenden Schatten darauf geworfen. Ein Sonnenkuß des nächsten Tages – und sie hat mich vergessen. – Ach, diese glücklichen, ewig bewegten Naturen! Er strich mit der Hand schwermüthig über seine edle Stirn und die noch feuchten Augen. Ich werde das Mädchen nicht betrügen, ich werde nicht heucheln; ich kann ihr Treue geben, Liebe – Liebe in deinem und meinem Sinne nicht! O bitte, bitte, fuhr er fast heftig auf, lehre mich nicht dein Herz kennen! Ich fühle es wie das meine in der eigenen Brust. Was die Welt, was Millionen Weiber Liebe nennen, was sie selbst in ihrer zarten Unerfahrenheit so nennt und glaubt, das gebe ich ihr.
Anna erwiderte nichts, sie hatte seine Hand gefaßt und lange in der ihren gehalten. Plötzlich [] beugte sie sich nieder und eine Thräne und ihre Lippen berührten sie zugleich.
Anna! Um Gottes willen, Anna! schrie Otto. Er sprang auf, riß sich los, stand einen Moment wie besinnungslos schwankend, dann stürzte er vor ihr auf die Knie nieder und barg sein Gesicht in ihren Schoos. Endlich hob er die Augen wieder, umschloß sie, immer noch kniend, mit dem gesunden Arm, und sah sie so nahe, lange und innig an.
Anna meinte zu vergehen; sie hatte keinen Muth, keine Kraft mehr gegen dies Uebermaß der Qual, aber kein Hauch der Scheu vor der Gewalt seiner Leidenschaft befleckte auch nur eine Secunde ihre Gedanken. Da bog sich Otto noch näher zu ihr hinüber, küßte leise erst ihre Augen, dann ihren Mund – und ließ los. – Schon an der Thüre wandte er sich und sah sie noch einmal mit dem Ausdruck des [] tiefsten Seelenschmerzes an und ging stumm, ohne wieder aufzublicken, von ihr.
Am nächsten Morgen aber ging er zum Vrenely und bat sie um ihre Hand. Er sagte ihr, daß sie ihm das theuerste Mädchen auf Erden sei, daß er die Hoffnung habe, sie glücklich zu machen; sie möge ihm nun das Dasein wieder lieb werden lassen, das er ja nur ihr verdanke.
Das gute Kind war tief bewegt, sie wehrte es nicht, daß Otto sie an seine Brust zog, und legte sanft ihr Köpfchen an sein Herz. Dann aber hob sie das Rosengesichtchen zu ihm auf und sagte, es sei nun allzuspät ihm zu bergen, wie sehr sie ihn liebe; als er aber sie noch näher zu sich hinziehen wollte, wand sie sich still aus seiner Umarmung und sprach ohne Schüchternheit mit der zartesten Hingebung und doch ganz fest es aus, daß sie ihn genug liebe, um nicht sein schönes, der Wissenschaft geweihtes Leben verderben zu wollen. Wenn er sie heirathe, [] müsse er seine großen Reisen aufgeben, und das würde ihn gewiß unsäglich unglücklich machen – darum möge er von ihr ziehen, frank und frei, durch kein Versprechen an sie gebunden, und ihrer zuweilen gedenken. Sie aber wolle daheim den alten Vater pflegen und seiner auch nicht vergessen. Und käme er einst nach Jahren wieder und habe dann sein Sinn sich nicht von ihr gewandt, dann, ja dann werde sie unaussprechlich glücklich sein, ihm anzugehören.
Nein! sagte Otto ernst und bestimmt, indem er ihre Hand inniger drückte, dein schönes Herz irrt. Der Mensch hat nur den Augenblick, nur dessen ist er gewiß. Er ist der feste Strand, auf dem er sicher fußt, die Zukunft ist ein wild bewegtes Meer, man muß nicht unnütz sich ihm vertrauen. Und die Trennung, ach, armes Kind! du kennst sie nicht, das ist die Brandung, an der das Schiff zerschellt. [] Nein, nein, jetzt laß mich in Basel dir und mir die neue Heimat gründen, den sichern Hafen bauen. Laß mich sogleich mit deinem Vater sprechen. Ich reise diese Nacht ab, aber ich hole dich – er wollte sagen, wenn Anna fort ist, sagte aber – wenn die nächsten Rosen blühen.
Und, setzte er immer freundlicher hinzu, denn ihr Glück leuchtendes Gesicht erhellte auch sein Inneres, bist du erst eines Naturforschers Frau, ei nun, so mußt du eben mit forschen lernen. Warum kannst du denn nicht mit nach Schweden? Wer weiß, ich könnte wieder in ein Schneeloch fallen –
Vrenely hätte nicht so ganz Wahrheit und Natur sein müssen, um es zu vermögen, dem Drängen des so heiß Geliebten, der ja längst ihr ganzes Wesen beherrschte, zu widerstehen. Beide gingen zum alten Vater hinüber, dessen rührende Freude Otto'n an den seinen erinnerte [] und sehr bewegte. Seinem Selbst zum Trotz fühlte er sich glücklich, und blieb es – bis er Annens Haus wieder betrat und sie sah.
Er war aber den Einwohnern desselben nicht bestimmt, auf dem jeden von ihnen anders, aber doch so gewaltig ergreifenden Eindruck dieser Stunde zu weilen, noch war das Vorgefallene, obschon Allen bewußt, nicht zur Sprache unter ihnen gekommen, als sich die Thür öffnete und Herr Gotthard todtenbleich und mit zerstörten Zügen ins Zimmer trat. Er hatte soeben die Nachricht vom Verscheiden des Ministers H**** erhalten, der unerwartet auf dem Rückwege von Verona gestorben war. Der Brief, den seine zitternden Finger krampfhaft umschlossen, war im Augenblicke abgesandt, in welchem ein Courier die Trauerpost nach Berlin gebracht.
Großer Gott! schrie Anna, aufspringend und mit gerungenen Händen vor Gotthard hintretend, [] und alle Ihre Hoffnungen, alle Ihre Arbeiten – –
Für den Augenblick vernichtet, gnädige Gräfin! erwiderte er dumpf; aber –
Der Fürst ist todt? riefen Leontine und Otto zugleich. Aber Kronbergs Gesandtenstelle, seine Reise nach Petersburg?
Das bricht ja alle seine Pläne, sagte Otto – und ward plötzlich noch bleicher, als vorhin Gotthard.
Anna kam zur Besinnung, der kalte Schweiß trat ihr auf die Stirn. Sie hatte weder an Petersburg, noch an den Gesandtenposten gedacht.
Es ist nicht zu redressiren, sagte Leontine vor sich hin; sie hat ihn total vergessen.
Otto war aufgestanden, die Stirnadern drohten ihm zu springen; er trat ans Fenster, den innern wilden Aufruhr seines Wesens zu verbergen.
Ein Brief vom Herrn Grafen, flüsterte [] Sophie Annen zu, ich habe ihn draußen Duguet abgenommen. Gott sei Dank! nun werden die Frau Gräfin doch gleich erfahren, wo wir den Winter zubringen.
Er enthielt die nämliche Nachricht.
Gotthard hatte sich gefaßt; er berichtete noch einige mit dem Todesfall in Verbindung stehende Nebenumstände und verließ dann den Salon. – Otto war wie vernichtet.
Und Vrenely? ach, die saß daheim überselig an ihrem Nähtischchen und nähte dem Verlobten, dem Geliebten ein längst heimlich gesticktes Halstuch fertig. Vor ihr saßen der alte Vater und die fast eben so alte Professorin, bei welcher sie ihren, ja, ihren Otto kennen gelernt, und alle drei erzählten einander zum hundertsten Mal jeden kleinen Umstand der glücklich-unglücklichen Zeit dieser Bekanntschaft und malten sich die Zukunft mit den glänzendsten Farben der Hoffnung und Erinnerung aus.
[] Zuweilen sank dem Mädchen die Arbeit in den Schoos, die Thränen schossen ihr in's Auge; sie mußte die kleinen Hände über der hochschlagenden Brust falten, weil der innere Jubel, die tiefe, selige Dankbarkeit gegen Gott sie überwältigte. Ach, ich bin's ganz gewiß nicht werth! seufzte sie erröthend, und dann lachte sie wieder über alle die vielen Schneelöcher, in die er noch fallen werde beim Berzelius, und schalt, daß er noch immer nicht da sei; bis ihn die Hausklingel verkündigte und ihr der Schreck in alle Glieder fuhr: er kam ja, um Abschied zu nehmen!
Mit drückender Schwere schlich den Andern der Tag hin. Die plötzliche Wendung in Aller Geschick war, obschon jedem Einzelnen bewußt, dennoch keinem in ihrem ganzen Umfange deutlich. Vrenely sogar fühlte mitten im Glück den heimlich ritzenden Dorn der Rose. Sie hätte Otto um keinen Preis aufgeben und dennoch [] ihm volle Freiheit lassen mögen; es drängte sie ein unbekanntes Etwas, ihm Zeit zu gönnen, das Krankenlager hatte ihr nur allzuklar gezeigt, mit welcher schmerzlich-leidenschaftlichen Hingebung er Annen anhing, aber eben so gewiß war sie dessen, daß diese ihn nicht wieder liebe. Anna's erwachende Neigung für Gotthard war des Mädchens scharfem Blicke nicht entgangen, doch eine leise Scheu ließ sie vor ihr das Seelenauge niederschlagen, ihr Herz wollte nicht darum wissen, daß die verheirathete Anna ein anderes Bild in sich trage, obschon sie ihr, Otto zu lieben, vergeben hätte. Stand er aber selbst ihr gegenüber, sah sie ihn so fest und kräftig ihrem zweifelnden Blicke begegnen, dann war ihr wieder, als sei alles gut, was er gewollt, als könne er gar nicht irren, als müßte gerade sie ihn aus dieser Schlucht glühender Qual herausziehen, wie aus der eisigen Tiefe.
Otto sprach sich über seine Verlobung ernst [] und würdig aus. Leontine wünschte ihm mit bezaubernder Freundlichkeit Glück; ihre Wangen glühten fieberisch, aber sie blieb völlig Herr ihrer selbst und jeder Aeußerung. Die große Welt gewöhnt ja auch die heftigste Natur, die Erregungen des Gemüths und der Leidenschaft zu bergen.
Der gute Professor, der sehr willkommen Abends sich einfand, vermochte es indessen auch nicht, den Stunden eine heitere Färbung zu geben. Otto war mit Vrenely übereingekommen, ihre Verlobung bis zu seiner baldigen Rückkehr zu verschweigen, weil er am nächsten Morgen in aller Frühe abzureisen gedachte. Der Professor, der sich halb und halb im Vertrauen fühlte, war schalkhaft und leicht wie ein bleierner Vogel. Sophie und Duguet wurden den ganzen Abend mit Reiseanstalten und wiederholten Befehlen gequält. Sophie sah abwechselnd Annen und Leontinen an und schüttelte betrübt [] den Kopf, aber sie beugte sich jeder ihrer Launen und war unermüdlich in Herbeischaffung des Verlangten.
Plötzlich entstand ein Tumult auf der Straße, der Lärm schien aus einem am Ende derselben gelegenen Kaffeehause heraufzudringen; es war ein mistönendes, wüstes Geschrei, man unterschied französische und italienische Flüche, deutsches Schelten und Drohen. Ein dichter Menschenknäuel schien sich in einer Ecke der Gasse um etwas herum zu winden und zu drängen. Anna klingelte heftig. Duguet war in Otto's Angelegenheiten ausgeschickt, der Kutscher trat ein. Die Gräfin befahl, sogleich die Ursache des Auflaufs zu erfragen.
Nach wenigen Minuten kehrte er zurück und brachte die Antwort: die gnädige Herrschaft möchte unbesorgt sein, es wären nur eben ein paar italienische Spitzbuben und Maleficanten [] arretirt worden, die Aufruhr stiften und die Schweiz verrathen wollten.
Die traurigen Maßregeln, zu welchen im Jahre zweiundzwanzig die Verfälschung einer ministeriellen Note Veranlassung gab, sind allgemein bekannt. Einem Lauffeuer gleich durchflogen beängstigende Gerüchte einer drohenden Umwälzung des bis dahin friedlich erhaltenen Zustandes die ganze Schweiz; in krassester Entstellung verbreiteten sich die seltsamsten Gerüchte durch die höheren und niederen Volksclassen. Unzählige, meist harmlose Fremde, denen die Cantone Genf, Waadt und Wallis bisher ein sicheres Asyl geboten, mußten plötzlich, des Carbonarismus verdächtig, dasselbe verlassen; sie wurden polizeilich aufgehoben, gewaltsam entfernt, sogar gefänglich eingezogen. Der panische Schreck hatte jetzt auch in Bern der Gemüther sich bemächtigt und wirkte um so gewaltsamer, [] als er später denn in den anderen Städten erwacht war.
Annens freiheitschlagendes Herz hatte schon Wochen lang mit den Unglücklichen gelitten, die, schuldig oder nicht, ein so unerwartet hartes Verhängniß in fremdem Lande traf. Sie ließ sich eben noch einmal die näheren Umstände des traurigen Vorfalls berichten, als Leontine und Otto zugleich eintraten, die in ihren gegenüberliegenden Zimmern von dem ganzen Lärm nichts gehört hatten. Der Kutscher wiederholte sogleich seine Erzählung. Kaum aber hatte Leontine die ersten Worte derselben vernommen, als sie todtenbleich und bebend, wie von einem heftigen Schwindel befallen, mit sehenden Augen blind, tappend den ersten Stuhl zu erreichen suchte, und unfähig, sich auf den Füßen zu erhalten, wie bewußtlos darauf niedersank. Anna, Sophie und Otto sprangen zu, sie zu halten; es dauerte mehre Minuten, ehe sie den [] Anfall, gegen den sie sichtlich mit allen Kräften rang, gewaltsam überwand. Der Kutscher wollte sogleich zum Doctor laufen, Sophie wehrte es, Annen zuwinkend, ab; sie versicherte, es wären Vapeurs, sie sei dergleichen am Fräulein längst gewohnt, und das englische Salz, das irgend auf Tisch oder Console liegen müsse, würde augenblicklich helfen. Alle Anwesenden, sogar der alte Professor, liefen, natürlich das Salz suchend, im Zimmer umher, nur Gotthard, der hinter Madame Sophie stand, blieb unbeweglich. Ce n'est pas lui! flüsterte ma bonne der noch halb Betäubten in's Ohr. Herr Gott, da ist das Salz in meiner Tasche! Mille pardons! fuhr sie, zur Gesellschaft gewendet, fort: Sehen Sie, es wird schon besser!
Leontine hatte sich wirklich erholt; mit großer Anmuth entschuldigte sie den ihr selbst unbegreiflichen Zufall.
O dear, o dear! schrie im Eintreten Lady [] Frederic, die expreß von ihrem lieben Professor Abschied zu nehmen kam. Ist das da draußen ein Spectakel! In ihrem Eifer bemerkte sie natürlich Leontinens Unwohlsein gar nicht. Da haben sie einen von meinen Landsleuten, das heißt, ich wollte gerade das Gegentheil sagen, einen von meinen Nichtlandsleuten, einen Engländer arretirt. Ein Irländer hätte sie nicht hier vier Wochen lang dazu erwartet. Der arme Mensch ist tipsy, ich glaube, sie nennen das hier ein wenig betrunken, und will sich durchaus mit der Polizei boxen. Sie suchen nach drei Andern, die aber nach dem enormen Lärm sich schwerlich finden lassen werden.
Ich bitte Sie, Gotthard! sagte Anna, was ist's eigentlich?
Landammann Wateville hat leider eine zweite und diesmal wirklich authentische Note österreichischer Seits erhalten, die allerdings auch die hier sich aufhaltenden Fremden bedroht. Man [] spricht von Stiftung einer neuen carbonarischen Freimaurerei; auch der französische Minister scheint sehr ernstliche Maßregeln zu Entfernung ihm verdächtiger Personen zu nehmen.
In dichtem Kreise umschlossen alle Anwesenden den Erzähler. Lady Frederic begann zu fragen. Leontine nahm jetzt lebhaft Theil am Gespräch, ihr Unwohlsein schien vergessen. Otto, Gotthard und der Professor arbeiteten das vorgeschlagene Thema nach allen Seiten durch.
Draußen war es still geworden bis auf den Sturm, der an die Fenster schlug und den ein lustig gepfiffenes italienisches Volksliedchen durchtönte.
Ah! sagte Anna, nenna sta grazia toja! und Venedig tauchte vor ihr auf. Gott sei Dank! den haben sie nicht!
Leontine war jetzt brillanten Humors und zankte sich auf's Possirlichste mit dem alten Professor.
[] Hätte ich Sie, mein gnädiges Fräulein, doch wahrhaftig nicht für eine solche Erzdemagogin gehalten!
Bitte, bitte! erwiderte sie lachend, nur für mein Herz bitte ich um das Conservativ- oder, wie es jetzt heißt, Reactionssystem.
Man reizt die Jugend zum bestimmtesten Widerspruch durch diese scharfen Maßregeln, perorirte Lady Frederic. Es hat einen eigenen zauberhaften Reiz, den Märtyrer einer Idee zu spielen.
Hier ist von einer im Allgemeinen untergegangenen, im Einzelnen leider nur allzu wunder-lebendig erhaltenen Ueberzeugung die Rede, sagte Gotthard.
In diesem Augenblicke variirte unten der Pfeifende und ging in wunderlich-kecken Modulationen in das Thema des bekannten Polenliedes: »Noch ist Polen nicht verloren!« über.
Da haben wir's, schmunzelte der Professor, [] unser musikalischer Demagog ist mit der Geographie brouillirt.
Leontine lachte laut; sie und Lady Frederic liefen an's Fenster, es war aber Niemand zu sehen.
Aber, mein gnädiges Fräulein, sagte der Professor, wenn Sie mit dem Lichte in der Hand an's Fenster treten, zeigen Sie sich, anstatt den Gegenstand auf der Straße zu beleuchten.
Oh! Oh, yes, of course! meinte Lady Frederic.
Otto hatte sich still in eine Ecke gesetzt; zuweilen sah er aus derselben Annen wehmüthig lächelnd an, als wollte er sagen: Das nanntest du Liebe?
Gotthard sprach schön und ernst über politische und Staatsangelegenheiten mit dem Professor und suchte die gescheiten, aber etwas schonungslosen Fragen der Lady, die sie wie Raketen in die Unterhaltung warf, abzupariren. [] Am Ende ging der Abend, wie viele seiner trüben Brüder, vorüber.
Als am nächsten Morgen Anna mit ihrem bedrückten Herzen wieder allein war, überlas sie nochmals Kronbergs Brief. Der größte Theil desselben war vor Empfang der Todesnachricht geschrieben. Wie bei seiner Abreise, schien er einen verlängerten Aufenthalt seiner Familie in Bern zu wünschen; wie sollte sie ihm sagen, daß dieser ihrer Empfindung nach unmöglich geworden? Von der Liebe eines Andern mit einem Mann, der uns liebt, zu sprechen, ist schwer; aber einem Gemahl, der uns nicht mehr liebt und doch als sein Eigenthum mit eifersüchtigem Blicke bewacht, das Gefühl dieses Andern als Hebel unserer Handlungen zu bezeichnen, scheint fast unmöglich. Sie fürchtete im besten Falle Spott, gleichgültiges [] Hinnehmen des ihr so Wichtigen, im schlimmern arges Misverstehen und kränkenden Verdacht. Ihr Verlassen Berns war Kronberg unbequem, und leider ist Unbequemlichkeit in unsern Tagen fast das Wichtigste, Verabscheuungswürdigste in den Augen unserer Männer geworden. Ich glaube, die Bequemlichkeitsliebe ist an die Stelle des Faustrechts getreten, wenigstens wirkt sie zuweilen eben so schonungslos und gewaltsam als jenes. Ich habe Freundschaft, Liebe, Vertrauen und vielgestaltiges Glück an dieser unserer fatalen Zeiteigenschaft scheitern sehen und nie begreifen können, warum man sie noch nicht zu den größten Leidenschaften zählt, die einzelnen Auserwählten das Leben zum Paradiese, den meisten aber zu einer sich täglich wiederholenden Qual und Sorge machen.
Es wird ihm sehr unbequem sein! wiederholte sich Anna und sann und sann, einen [] Vorschlag aufzufinden, der ihrem Gemahl die Mühe spare, ihr einen andern Aufenthaltsort anzuweisen. Im wiederholten Lesen des Briefes ward ihr immer deutlicher, daß des Fürsten Tod die ganze nur nach seinem Willen bestimmte Sendung nach Petersburg annulliren und daß sie vielleicht gar einem Andern zugetheilt werden könne – was dann? Vielleicht kam dann Kronberg selbst, vielleicht berief er sie und Leontinen nach Berlin.
Dann tauchte wieder Gotthard's Bild zwischen den Zeilen auf. Wie unwichtig erschien die eigene Sorge, dieser gehemmten gestörten Wirksamkeit gegenüber. Könnten wir nur etwas für ihn thun! dachte sie weiter. Sie kam an einen gestern schon besorgten Auftrag, eine Summe Geldes einzucassiren. Die Rollen lagen vor ihr auf dem Tische.
»Da ich, schrieb Kronberg weiter, über das Salaire des Herrn Gotthard nichts Bestimmtes [] mit ihm abgemacht, du aber, wie mir scheint, immer noch mit seiner Methode und seinem Betragen wohl zufrieden bist, so warte nicht das Ende des Jahres ab, sondern gib ihm funfzig Thaler in Gold und frage ihn zugleich, ob er mit hundert funfzig jährlich und freier Station zufrieden ist. Der arme junge Mann ist viel leicht in Geldnoth ohne daß wir es ahnen.«
Mechanisch war Anna aufgestanden und hatte blindlings eine der Geldrollen ergriffen. Plötzlich durchzuckte sie der Gedanke, daß es Gotthard, Gotthard sei, dem sie dieselbe geben, den sie damit bezahlen solle. Eiseskälte durchrieselte ihre Glieder; sie ließ das Geld fallen – es rollte auf dem Boden umher. Mit starrem Blick folgte sie dessen Bewegung; sie zitterte mit jeder Secunde heftiger. Jetzt bohrte der entsetzliche Gedankenstrahl wie ein glühendes Eisen sich immer tiefer ihr ins [] Gehirn: Du sollst den Mann bezahlen, den du liebst – er steht in Kronbergs Dienst!
Wie zerbrochen knickte die hohe Gestalt zusammen. Und also ist es wahr, und also liebe ich ihn? wirbelte in rastloser Hast das fragende Empfinden durch jede Fiber, durch jeden Pulsschlag ihres Wesens hin. Unwiderruflich elend – antwortete sie sich selbst.
Lange vermochte sie durchaus nichts weiter zu fassen, noch dachte sie nicht entfernt an ein Unrecht gegen ihren Gemahl, sie fühlte nur den Moment und seine Pein, und daß ihr Geschick entschieden sei; sie gehörte zu den Unglückseligen, die nicht weinen im Schmerz – die trocknen Thränen brannten ihr in den Augenhöhlen. Nach vielen Stunden fand sie Sophie in einer Ecke ihres Kanapees, wie von plötzlicher Krankheit ergriffen, stille liegen; sie hatte heftiges Fieber und war, von der endlosen Gedankenjagd tödtlich erschöpft, in dumpfe Betäubung gesunken.
[] Aber es wurde wieder Tag. Erbarmungslos schlangen sich die Stunden zur Kette in einander; sie sollte, sie mußte weiter leben.
Ihre Knaben kamen, ihr guten Morgen zu sagen. Als sie die Kinder sah, überflutete ein nie gekanntes Weh ihr Herz. Anna war fast immer gesund, und den Kleinen war es so ungewohnt, die Mutter leidend zu sehen; sie brachten ihr schönstes Spielzeug, Früchte und Blumen mit, alles, was sie nur besaßen, und wollten, damit die Mama pflegen, wie sie es ihnen bei kleinen Uebeln gethan.
Lange hielt Anna Beide fest in ihre Arme geschlossen und sah die lieben Züge wieder und wieder mit stillem Ernste an. Es war ihr sonnenhell in der Seele, daß, was auch geschehe, in welchen Abgrund von Qual oder Schuld dies gewaltige Gefühl sie stürze, nichts jemals von ihren Kindern sie trennen könne und dürfe.
[] Wochen, Monate lang hatte sie sich zu täuschen vermocht. Otto, sogar Leontine hatten längst das trübe Geheimniß errathen; jetzt, da auch sie sich dessen bewußt geworden, feilschte und marktete sie nicht, weder mit ihrem Herzen, noch mit ihrem Gewissen. Jede Selbstlüge blieb dieser starken, großen Seele fern, es lag vor ihr wie ein unermeßliches dunkles Unglück; aber sie beschloß, ihre Leidenschaft zu tragen, elend zu sein, wenn es denn unvermeidlich, aber nie und nimmer das Gefühl des Verlustes ihrer Kinder auf sich zu laden.
Ach! auch in Annen lag der Drang nach Glück, der, mächtiger noch als der Instinct, den Lebensmüden im Schiffbruch zwingt, an den schwimmenden Mast des zertrümmerten Schiffes sich zu klammern und mit den Meereswogen ihn ums verhaßte Dasein kämpfen heißt. Dieser heiße quälende Durst nach Glück, den fast immer die Liebe in jeder Menschenbrust zuerst[] erweckt, der mit den dahinrinnenden Stunden immer riesiger alle Kräfte der Seele überwächst und den alles spätere Leben fast nie zu stillen vermag. Aber dem Weibe gab die erhaltende Natur ein ungeheures Gegengewicht, daß sie in diesem Ringen nach Glück nicht unbedingt zu Grunde gehen müsse: die heilige, aber so allmächtige Mutterliebe.
Nicht umsonst erfanden die Alten das schöne Wunderbild vom Pelikan, der die eigene Brust aufreißt und mit dem Herzblut seine Jungen nährt; nicht umsonst eint der Indier die zerstörende und erhaltende Kraft zu einer und derselben Gottesgestalt. Tiefer noch als die leidenschaftlichste Glut greift das Gefühl der Mutterliebe in alle Urbedingungen unseres Lebens ein und ruft schaffend und vernichtend zahllose unverstandene, unerklärbare Erscheinungen des Lebens hervor.
Anna dachte von dem Allen nichts, sie [] fühlte es nur: die Lichtausströmungen der höchsten Ueberzeugungen berühren das ganze individuelle Leben, nicht die einzelne Kraft. Die Radien eines solchen unmittelbarsten Verstehens unseres Selbst fließen mit der tiefsten Empfindung in einen Brennpunkt zusammen.
Sie sah ihn wieder. Alle Drei lebten das tägliche Leben so neben einander hin wie immer. Leontinen wurde das Reden am leichtesten; sie barg ihren Kummer um Otto nicht, sie klagte sogar auf's Anmuthigste um ihn und verklärte diese zarte Klage mit jedem Reiz ihrer so reichbegabten Natur. Es lag eine so elegischliebliche Wehmuth in Allem, was sie that; kein Geständniß der Liebe, nur ein Jammer um weit entrücktes und verlorenes Schöne.
Vrenely saß viel bei ihr. Leontine ging sogar zuweilen mit in die Kirche, wenn das Mädchen für Otto beten wollte, sie hatte allmälig eine Art poetischer Frömmigkeit von jener [] angenommen und den Glanz ihres scharfen, spottenden Witzes in der Rückspiegelung einer so schönen Einfachheit von sich geworfen wie einen unnütz gewordenen Schmuck; und in dem Allen war kein Falsch, es war die augenblickliche Gestaltung ihres Wesens. Nur Eins war sonderbar, Leontine, die stets Gesellige, war gern allein, als miede sie die grellen Widersprüche des Außenlebens. Anna mußte sie gewähren lassen, denn zum ersten Mal war sie der Freundin gegenüber nicht unbefangen; zum ersten Mal hatte Anna ein Geheimniß. Obwol sie ahnte, daß es Leontinen längst keines mehr sei, konnte es ihrer Meinung nach niemals unter ihnen zur Sprache kommen.
Man hat zuweilen im Traum das Gefühl des Fliegens, des Hinschwebens über schöne Gegenden und geliebte Menschen; das Erwachen ist fast immer mit dem Schreck eines tiefen Sturzes verbunden. Ich glaube, das gab uns [] das Wort: aus dem Himmel fallen. So war es Annen; wie im Traume hatte sie sich hoch erhoben über das eigene Leben, ihr ahnete ein schweres Erwachen.
Aber sie war trotz dem Allen glücklich und insgeheim sich dessen bewußt. Wenn Gotthard sprach, empfand sie es als ein Glück, und wenn er schwieg und sie seine edeln Züge ansah, war's nur ein anderes; in seinem Gehen, Kommen, Bleiben, vor Allem aber, wenn er seine ernsten Lieder sang, die sein Wesen, wie seine Verhältnisse rückspiegelten, durchwogte sie ein Gefühl der Seligkeit, das sie nicht einmal mit dem Gedanken zu berühren wagte, um nicht aus dem Himmel zu fallen. Thöricht, thöricht, daß man sagt: Unschuld und Jugend – die Frühlinge der Menschenbrust – kehren nie wieder! Anna war eine Frau von vierundzwanzig Jahren, und die Liebe machte sie zum vierzehnjährigen Mädchen.
[] Gotthard war unter ihnen der einzige wahrhaft Unglückliche; auch er wandte den Blick ab vom eignen Innern, um nur auf Annens und ihrer Kinder Leben hinzublicken und in der ihm vielleicht nur karg gemessenen Zeit des Beisammenbleibens noch alles ihm Mögliche für sie zu thun.
Mit Briefen Kronbergs war auch ein Schreiben des Ministeriums an Gotthard eingelaufen. Nicht nur fanden seine Arbeiten die vollste Anerkennung, es ward ihm zugleich die Aussicht zu einer umfassenderen Thätigkeit eröffnet. Wie es schien, hatte der Fürst selbst noch vor seiner Abreise die eingesandten Berichte dem Cabinet, für welches Gotthard arbeitete, vorgelegt und die Klarheit der Darstellung, die ernste Genauigkeit derselben, die Genialität der Combinationen bei größter Tüchtigkeit der Auffassung hatten die Blicke des Ministeriums auf deren Verfasser gezogen. Ueberrascht, ihn nicht schon [] früher bemerkt zu haben, schien man höheren Orts entschlossen, ihn nicht mehr aus den Augen zu verlieren. Seine Bahn war gebrochen.
Gotthard theilte der Gräfin die günstige Wendung seines Geschickes mit und bat, ihm zu vergeben, wenn er sich öfters dem unverdienten Vorzug – das Wort Glück wagte er nicht – in ihrem engeren Familienkreise zu weilen, entziehe. Es war ihm ein tiefer furchtbarer Ernst um die Bekämpfung der ihn schwächenden Leidenschaft, darum mied er sie oft; ein Vergessen, ach, nur ein Verschmerzen seiner Liebe fiel ihm längst nicht mehr ein.
Unerwartet kündete jetzt Kronberg seiner Gemahlin seine Rückkehr an; er befahl, ein paar Gastzimmer in Stand zu setzen, und bat Annen, seine Abreise nach Bern Allen, selbst Leontinen, zu verschweigen. Es schien leicht zu errathen, daß Josephine ihn begleiten und ihre [] Tochter mit einem freundlichen, Alles ausgleichenden Besuch zu überraschen gedenke.
Sie wird mir Leontinen entführen, seufzte Anna, den gelesenen Brief faltend, und wir gehen dann wol Alle nach dem Ort, den Kronberg als Aufenthalt bestimmt. Eben wollte sie in den Saal zurück, als Gotthard aus der Thür ihres Zimmers ihr begegnete und ernst und dringend sie um ein Gespräch weniger Minuten bat. Mit ehrerbietigen Ausdrücken entschuldigte er sein Einmischen in eine Angelegenheit ihres Hauses und schien dann verlegen, den Zweck desselben näher zu berühren.
Kronbergs Befehl nach, hatte ihm Anna das unglückselige Geld zwar zustellen lassen, die Summe aber vergrößert und die Bitte ausgesprochen, die Auslagen für die Knaben davon zu bestreiten und später mit ihrem Gemahl das alles zu berechnen. Auf diese Weise war das Geld ein bloßer Vorschuß für die Kinder. [] Unwillkürlich suchten ihre Gedanken hierin einen Zusammenhang mit dem gewünschten Gespräch; eine tödtliche Verlegenheit bemächtigte sich auch ihrer.
Gotthard faßte sich endlich gewaltsam und bat sie, die nächste Vergangenheit ihrem Gedächtniß zurückrufen zu dürfen. Er erinnerte sie an Otto's unerwartete Rückkehr und an den Fremden, dem jener auf der Treppe begegnet, dann an den letzten Abend, an den Volksauflauf, an Leontinens Ohnmacht und an das vor dem Hause gepfiffene Lied; er bekannte ihr, die dem Fräulein zugeflüsterten Worte Sophiens: »ce n'est pas lui« gehört zu haben; er erinnerte endlich an Leontinens Beleuchten ihrer eigenen Gestalt, als sie mit Lady Frederic an das Fenster getreten. Sprachlos starrte ihn Anna mit immer wachsender Angst an; sie dachte, er werde ihr etwas über sich selbst entdecken, er aber schloß mit wiedererrungener [] Besonnenheit: Unbezweifelbar gewiß scheint mir, daß eines jener unglücklichen Opfer der Politik und eigener Ueberspannung hier im Hause verborgen ist, und daß Fräulein Leontinens Güte und Milde auf eine Weise misbraucht werden, die leider den Grafen Kronberg in seiner Stellung auf's Empfindlichste compromittiren, ja seiner Ehre gefährlich werden kann.
Anna blieb einige Secunden sprachlos. Nein! rief sie aus, wie könnte Sophie – –
Das ist mir selbst ein Räthsel; indessen wurden doch gerade ihre Worte der Leitfaden in meiner Hand. Ich vermuthe, daß im dritten Stockwerke eine über meinem Zimmer gelegene Bodenkammer dem Unglückseligen zum Versteck dient. Unter einem Vorwande habe ich von des Nachbars Hause herüberzusehen versucht, die kleinen Fenster sind verhangen, die Kammer gilt für eine Garderobe Sophiens.
Weiß Duguet? unterbrach ihn Anna.
[] Ich glaube, nein! Und gerade, um mit Ihnen zu besprechen, ob ich meine Vermuthungen Ihrem alten Diener mittheilen, mit ihm oder allein den Versuch wagen soll, dem Verborgenen zur Flucht behilflich zu werden, kam ich hierher. Wenn Sie es mir gestatten, Gräfin, so bekenne ich Ihnen, daß ich letzteres vorziehe. In der Hoffnung, daß Sie mir Ihre Erlaubniß nicht versagen, um die ich Sie herzlich bitte, habe ich – er legte ein versiegeltes Paquet auf den Tisch – hier ein paar Verfügungen getroffen, einige Andenken und vollendete Arbeiten zusammengerafft, die ich Ihrer Gunst empfehle. Im Fall eines Mislingens, das mich vielleicht in Unannehmlichkeiten verwickelt, oder auch zur Flucht mit dem Unbekannten zwingt, enthalten diese Papiere vielleicht meine Vertheidigung, jedenfalls aber nichts, was Ihnen oder den Ihren irgend Nachtheil bringen kann.
[] Gotthard! schrie Anna auf – Leichenblässe bedeckte ihre Züge – keine Uebertreibung, die mir – sie wollte sagen, das Leben kosten würde – aber sie streckte nur bittend die Hand aus und der Ton ihrer Stimme versagte, er brach an der Erinnerung ihrer Lage.
Gotthard ergriff die bebende Hand und hielt sie einige Secunden in der seinen, mit abgewandtem Blick sagte er leise: fühlen Sie denn nicht, daß ich – gerade ich Ihn (er nannte Kronberg nicht) um keinen Preis einer solchen Entdeckung aussetzen darf? In meinen heutigen Briefen ist von seiner Rückkehr die Rede, er ist Gesandter in Wien geworden – und ich – bin ihm als Regierungscommissarius für alles Juristische beigegeben –«
Anna schlug die Augen mit einem unaussprechlichen Ausdruck auf, sie faltete die Hände bittend wie ein Kind: Ist's unvermeidlich?
[] Gotthard ging in tiefer Bewegung auf und nieder. Ich finde keinen Ausweg.
Auch nicht Duguet's Hülfe?
Nein, im Hause könnte er mir nützlich sein, die Flucht wird er vielleicht sogar gefährden.
Und Leontine?
Nein, o nein! – Was auch geschehen mag, welchen Preis es auch koste, es muß unter uns bleiben! Er hatte im Auf- und Niedergehen sich ihr zugewandt, seine Züge hatten das seltsame, ihm eigenthümlich Durchleuchtende bekommen.
Was kann im schlimmsten Fall dem Grafen drohen? fragte Anna etwas gefaßter.
Eine entehrende Anklage der Duplicität.
Und Ihnen, Gotthard?
Der Verdacht der Theilnahme an der Freimaurerloge, am Carbonarismus – –
Großer Gott! also Festung, auf lange vielleicht, im Augenblicke, da Sie dem Höhepunkt [] Ihres Strebens sich nähern! – Nein, rief sie plötzlich im wildesten Schmerz, keine Pflicht auf der Welt kann mir das gebieten!
Gotthard stand wieder still vor ihr, das Leuchten seiner Züge war jetzt wie eine strahlende Verklärung über sein ganzes Wesen ausgegossen – ein bebendes Gefühl unsäglichen Glücks flutete in jeder Ader, jeder Fiber; er sprach kein Wort, er sah sie kaum eine Secunde lang an, er berührte nicht einmal ihre Hand. Aber plötzlich floß der Glutstrom des Glückes auch durch ihr Herz und auch ihrer Seele wuchsen Riesenflügel: Beide wußten in diesem Augenblicke, daß sie grenzenlos geliebt wurden, grenzenlos liebten.
Als sie wieder aufsah, war er fort.
Indem öffneten die Knaben an Betzys Hand die Thür, sie waren schon in ihren weißen Nachtkleidchen und kamen, der Mutter gute [] Nacht zu sagen, um, wie sie es nannten, ihr Dämmerviertelstündchen durch bei ihr zu bleiben.
Anna legte die Hände unbewußt auf's Herz, als habe sie Gott für eine große Gnade zu danken: ein schwerer Lebensaugenblick war schuldrein wie mit Engelsfittigen über sie hinweggeschwebt. – –
Mutter! sagte Egon, indem er rasch die Lehne ihres Fauteuils erkletterte und darauf rücklings seinen gewöhnlichen Platz einnahm, Betzy ist garstig, sie will nicht, daß ich das schöne Gebet spreche, das Vrenely die Tante Leontine gelehrt –
Ich sage das vom kleinen, kleinen Englein, flüsterte schon halb im Schlaf sein Bruder Joseph, der seinen Kopf auf Annens Schoos gelegt hatte, das ist viel hübscher.
Betzy wollte den Fall erörtern, Anna winkte ihr, zu schweigen. Alle Gebete, mein Egon, [] sagte sie liebkosend, die aus dem Herzen kommen, sind gut und schön.
Aber nicht so schön! meinte kopfschüttelnd Egon. Ich kann es recht gut verstehen und Tante hat es mir auch erklärt. Höre nur! Er faltete, oben auf seiner Lehne sitzend, die Hände und betete mit tiefer Inbrunst:
[] Ist das nicht schön, Mutter? Und das letzte hat Tante Vrenely immer gedacht, während sie Onkel Otto im Schnee suchte.
Anna war tief ergriffen. Es gibt Lagen im Leben, in denen man an keinen Zufall glaubt. Sie schloß den Knaben inniger an's Herz und schlichtete den kleinen Streit mit bebenden Lippen. Als aber die Kinder fort waren, fiel die gedankenschwere Last des Augenblicks mit verdoppelter Gewalt auf ihre Seele zurück; sie fühlte nicht den Muth, irgend etwas gegen Gotthards Willen zu thun, und eben so wenig die Kraft, unthätig ihn einer so drohenden Gefahr entgegentreten zu sehen. Endlich fiel ihr ein, Otto zu benachrichtigen, ihm einen Expressen zu senden. Im Begriff, einige Zeilen aufzusetzen, um ihn nach Bern zu berufen, überfiel sie ein neues Schwanken. Würde er zeitig genug kommen?
Sie stand noch unschlüssig am Schreibtische, [] als Duguet meldete, daß der alte Herr Professor im Salon sei.
Wer ist noch drüben? fragte sie mechanisch.
Die beiden jungen Damen und Herr Gotthard.
Gottlob! Heute gedenkt er also nichts in der unseligen Sache zu unternehmen! sagte sie zu sich selbst.
Drüben war Alles heiter. Der alte Professor erzählte und neckte die Mädchen; Gotthard war gesprächig, aufmerksam und freundlich; die vorhergegangene Stunde trat weit zurück und barg sich hinter ihre Schwestern; in der Gegenwart schien Alles behaglich. Im Kamin knisterte die auflodernde Holzflamme, auf dem Tische standen schon Frühlingsblüten. Der Professor machte Vrenely eine emphatische Beschreibung Basels; Paris und London fielen ganz daneben weg. Gotthard war zum ersten Male gesellig-liebenswürdig, er entfaltete ein hinreißend komisches Talent, sowol im Vortrag [] einiger Reiseabenteuer, als in Darstellung der darin vorkommenden einzelnen Persönlichkeiten. Er und der Professor warfen einander das Gespräch zu, wie einen bunten Spielball; Leontine und Vrenely bildeten ein höchst dankbares Publicum. Zum Glück kam niemand Fremdes; die Zeit verging Allen ungewöhnlich rasch und man trennte sich spät.
Erst auf ihrem einsamen Stübchen fiel Annen die Möglichkeit bei, daß Gotthard sie absichtlich sorglos gemacht habe, daß seine Neigung ihr ein Opfer gebracht. Sie flog an's Fenster; drüben brannte, wie allabendlich, seine stille Studirlampe. Aber die sorgende Liebe hat Argusaugen! Anna kannte gewisse Bewegungen am Schatten, wenn Gotthard ein Buch vom Schreibtischregal herunterlangte, oder einen beschriebenen Bogen weglegte; sie wußte genau die Zeit, wo der Docht trüber zu brennen begann und er Oel zugießen mußte. Sie [] erwartete den Schatten seiner Gestalt; es regte sich nichts. Mit immer gespannterer Aufmerksamkeit lauschte sie hinüber, Stunde um Stunde verging in langsam tönenden Vierteln; mit der wachsenden Angst steigerte sich die Ueberzeugung, daß auch die brennende Lampe zurückgelassen worden sei, um sie zu täuschen, zu beruhigen, und daß er nicht mehr da sei. Aber wo war er? Großer Gott! vielleicht war schon Alles verloren! wußte sie es denn?
Leise öffnete sie ihre Thüre, dichte Finsterniß umhüllte das ganze Haus, sie schlich hinaus über den Flur; sie war sich selbst nicht bewußt, was sie eigentlich wollte. Vor Allem horchen, ob der Fremde fort sei, ob Gotthard bei ihm in der Bodenkammer, wo er versteckt sein sollte.
Die Thüre, welche die von ihr bewohnte Etage von den Uebrigen trennte, war abgeschlossen; ohne Sophien zu klingeln, konnte sie nicht hinaus.
[] Trostlos kehrte sie zurück, warf sich am Fenster auf einem Fußschemel in die Knie und starrte, die Hände krampfhaft gefaltet, wieder hinüber. Die Lampe war düster geworden und jetzt nahe am Verlöschen; kein Laut drang durch die öde Nacht, Todesstille überall. Es ward eiskalt im Zimmer, Anna erstarrte nach und nach ganz; alles Leben zog sich in das glühende, wachende, wartende Auge, das ihr wie eine Kohle in der Stirn brannte. Plötzlich flammte drüben eine strahlende Helle auf, die Vorhänge wurden mit gewaltiger Hand auseinander gerissen. Er war's!
Er stand mit dem Lichte in der Hand am Fenster, winkte grüßend, trat einen Schritt zurück, deutete mit der Hand rückwärts, als ob jener fort sei; er sah erhitzt, aber kräftig und glücklich aus. Nur wenige Secunden dauerte das alles, dann sank der Vorhang abermals und tiefes Dunkel verschlang das ganze Bild.
[] Aber wer vermöchte die blendende Sonne des Glücks in Annens Seele zu beschreiben! Er war gerettet – und das Werk vollbracht.
Es war spät am Morgen, als Sophie die Rouleaux aufzog. Anna hatte sich erst niedergelegt, als der Tag sie, immer noch auf ihrem Fauteuil sitzend, überraschte; sie war wie nach einem langen Schlafe frisch und klar. Mon Dieu, qu'elle est belle! dachte still Sophie, indem sie ihr beim Anziehen behilflich war; eine laute Bemerkung wagte sie nicht.
Nun war sie fertig. Annens Schritt hatte die Elasticität der frühesten Jugend wieder, Augen und Wangen glänzten wie nie zuvor; es sprach sich ein Gefühl einer so ganz überwältigenden Freude in jeder Bewegung aus, daß man sie fast fragen mußte, was ihr denn Glückliches begegnet? Madame müssen etwas recht Schönes geträumt haben, sagte endlich lächelnd die alte Sophie.
[] Etwas Wunderschönes, ma bonne, erwiderte Anna. Sie weiß noch nicht, daß er glücklich fort ist, dachte sie mit heimlichem Jubel.
Nach beendigter Morgentoilette begann sie nachzusinnen, wie sie die Details der Flucht des Fremden erhalten könne. Sie hatte eine ernste Scheu vor Gotthard, die aus der tiefen Achtung entsprang, die sie für ihn hegte. Er wird nicht kommen, sagte sie zu sich, denn nöthig ist es nicht. Da lag das Paquet mit seinen Schriften noch auf ihrem Schreibtische; sie verschloß es sorgsam, um – nur etwas zu thun. Leontine kam immer noch nicht; ihr mußte doch anzumerken sein, welcher Stein vom Herzen ihr die Flucht des Fremden sei. Fast eine Stunde über die gewöhnliche Zeit war vergangen und noch immer war sie nicht da.
Jetzt hörte Anna einen leisen Schritt auf dem Corridor, unwillkürlich lief sie Leontinen [] entgegen, öffnete ihre Zimmerthür und – Kronberg schloß sie herzlich und leise lachend in die Arme. Wie bestellt, sagte er. Still! ich wollte dich überraschen und zuerst allein sehen. Ich habe mir einen schändlichen Klepper gemiethet, den ich nicht zugeritten, Kind! und bin vom letzten Städtchen aus geritten. Josephine folgt mir in ein paar Stunden mit dem Wagen und der Dienerschaft; du wirst sie schon Alle unterbringen. Aber erst muß ich dich sprechen. Er zog sie auf's Sopha. Wie schön du bist, Anna! Wie gut dir dieser Aufenthalt bekommen ist, bei Gott! schöner als vor unserer Hochzeit! Sie erröthete. O, Kind! es ist kein Kompliment, und wir kommen auch wol nicht mit einander in's Gerede. – Aber die Zeit drängt! Er stand auf und schloß die Thür ab.
Liebe Anna! es sind hier im Hause entsetzliche Dinge geschehen; Leontine hat in ihrem [] überschwenglichen Leichtsinn wieder eine unglücklich überspannte Liaison angeknüpft.
Leontine? Eine Liaison? Unmöglich!
Doch, doch! erwiderte er, und zwar mit einem Abenteurer, der ihr hieher gefolgt ist, ja sogar gewagt hat, ihr zu schreiben und bis zu ihr in unser Haus zu dringen.
Roderich! laß mich –
Ich fürchte, das wilde Mädchen macht irgend eine irreparable Sottise. Ich habe noch nicht einmal ergründen können, ob der junge Herr von Stande ist. Jedenfalls kann ich die Last nicht übernehmen, sie zu hüten, und habe die Mutter überredet, mich nach Bern zu begleiten, um sie wieder mitzunehmen. Ohnedies werden wir jetzt die Schweiz verlassen, j'accepte vos félicitations, Madame! wir sind Gesandter in Wien geworden!
Bis jetzt hatte Anna ihre Fassung behalten, sie war durch jedes Wort, das die Möglichkeit [] einer noch weit verwickelteren Angelegenheit, als Kronberg zu ahnen schien, andeutete, zu überrascht, um eine Unvorsichtigkeit zu begehen.
Noch mehr, fuhr Kronberg fort, während ihn die wirklich in dieser Aufregung strahlende Schönheit seiner Frau immer wärmer für sie stimmte, du wirst dich darum kränken! Er zog sie näher zu sich und küßte sie im Weitersprechen. Du bist so arglos, – deine närrische alte Madame Sophie hat auch mit debauchirt und will sich ihren Pelz verdienen.
Großer Gott! das trifft wieder zu, dachte Anna, eine sich steigernde Angst begann in ihren Zügen sich zu malen.
Ich glaube, sprach Kronberg weiter, ohne es zu beachten, es war auf eine Entführung abgesehen.
Aber um's Himmels willen, Kronberg! wie kommst du dazu, alle diese Details zu [] wissen? brach endlich Anna ihr Schweigen, während ich hier –
Duguet hat mir geschrieben.
Und seine eigne Frau angeklagt?
Anna, sagte Kronberg stolz, er hat die Ehre der Tochter seines verstorbenen Herrn gerettet. Willst du das gütigst nicht so ganz aus den Augen verlieren! Die Welt lebt nicht von Romantik! Doch, nun muß ich Leontinen sprechen; am sichersten gleich hier, ehe ihre Mutter ankommt. Bleibe ruhig, auch wenn ich etwas ernst mit ihr rede!
Er ging an die Thüre, schob den Riegel zurück und war im Begriff, zu klingeln, als Leontine und hinter ihr Sophie eintraten.
Leontine sah sehr übel aus, sie schien geweint zu haben und vermochte ihrer Ueberraschung, Kronberg zu sehen, keinen warmen Anstrich der Freude zu geben.
Leontine! sprach Kronberg streng, du hast [] uns, mich und Anna, auf eine höchst schmerzliche und leichtsinnige Weise verletzt!
Onkel! – erwiderte sie, wo möglich noch stolzer als er, indem sie sich hoch aufrichtete und eine kalt gemessene Haltung annahm, die, eben so fern von Trotz als Demuth, nur die anerzogene Sicherheit ihres Standes verrieth – da Sie sich unaufgefordert in ein Geheimniß gedrängt haben, das Sie nicht betrifft, ist es nicht meine Schuld, wenn Sie durch diesen Schritt sich compromittiren. Meine Handlungsweise war keineswegs durch meinen Leichtsinn bedingt, wie Sie zu sagen belieben, sondern durch eine alles Andere überwiegende Pflicht. Ueberdem konnte ich nicht ahnen, daß Sie so schnell zurückkehren würden, und da ich außer Sophien keinen andern Vertrauten hatte, blieben Sie, auch im schlimmsten Falle, außer Verdacht.
Verdacht? fuhr Kronberg, an allen Gliedern [] bebend, auf. Ein Kronberg in Verdacht? Bist du rasend, Mädchen?
Desto besser, wenn mich die Sorge um Sie übertreiben macht; so ist aber diese Scene um so überflüssiger. Auf welche Weise Sie zum Mitwisser dieser traurigen Angelegenheit geworden –
Verdacht! wiederholte, noch innerlich das Wort anstarrend, der Graf. Leontine, du wirst die Güte haben, mir den Namen des Elenden zu nennen, der, wie ich zu ahnen beginne, deine Unerfahrenheit auf eine furchtbare Weise misbraucht hat. Wer ist's? Er war ganz nahe an sie herangetreten und hatte ihren Arm fest, aber nicht heftig ergriffen, indem er sie mit durchbohrenden Blicken maß. Wer kann durch einen Schimmer von Verdacht meine Ehre beflecken? Sprich! – Oder ziehst du vor, daß ich Sophien, deine einzige Vertraute, um die wir vielleicht nicht ganz verdient, wie [] sie an uns gehandelt – daß ich Sophien zwinge, mir den Namen zu nennen?
Sophie stand leichenblaß im Fenster; große dicke Thränen rollten über ihr Gesicht; sie ließ den Angriff schweigend über sich ergehen. Nur nach Annen wandte sich zuweilen ihr bittender, trauriger Blick.
Onkel! rief Leontine, zornig erglühend, höchstens hat meine Mutter ein Recht zu dieser Frage, Sie haben es nicht! Er hat – durch welche großmüthige Hülfe, ist mir selbst noch ein Räthsel – in der vorigen Nacht Ihr Haus und die Stadt verlassen.
In der Nacht? Mein Haus? Großer Gott! so weit hast du dich vergessen! Nein, nein! das ist nicht möglich! Die Tochter einer Kronberg kann ja nicht handeln wie eine Dirne! Den Namen, Unglückselige! den Namen! –
Und wenn Sie ihn wissen werden, Oheim! sagte sie, indem sie fest und äußerlich ruhig [] die Arme kreuzte, sind Sie darum in irgend etwas gebessert? Im Gegentheil, der Klang, der bloße Klang desselben macht Sie zum Mitschuldigen.
Also doch! ächzte Anna, die bisher vergebens versucht hatte, den Grafen durch leise Worte und bittende Geberden in etwas zu beschwichtigen.
Der Name! wiederholte Kronberg, zitternd vor Wuth und in convulsivischer Bewegung kaum noch des Tons seiner Stimme mächtig, und hingen Leben und Ehre daran –
Jean Carlo di Viatti, sagte sie ernst, fast leise.
Großer Gott! schrie Kronberg auf, der berüchtigte Carbonari, den die Cabinete verfolgen lassen, den Adjutanten des Marchese Viatti? Der Graf sank auf einen Stuhl, seine Kraft war gebrochen.
O, mein Freund, fasse dich! Theurer Roderich! sagte Anna, ihn liebevoll umschlingend, [] das Geheimniß ist ja treu bewahrt, er ist in der letzt verwichenen Nacht entflohen und hat Bern bereits verlassen!
Wie, Anna? Anna, du wußtest es? Also ist's Gotthard, der ihn gerettet! rief Leontine.
Gotthard? wiederholte der Graf, in höchster Entrüstung von seinem Sessel aufspringend. Gotthard? Er stieß Annen wüthend von sich. Weiber! Weiber! – Mein Gott, mein Kopf! Ihr macht mich verrückt! – Was ist denn das wieder? Ist es denn möglich? denkbar? – Anna, du, du wußtest darum, und gabst mich und meine Ehre in die Hände eines Hofmeisters – eines Dieners unseres Hauses?
Nein, nein – Onkel! schrie Leontine, mit ungeheurer Gewalt alle ihre Kräfte zusammenraffend – bei Allem, was mir heilig ist, schwöre ich Ihnen, sie wußte es nicht! – Die Hauptsache weiß sie noch nicht – – und auch Ihre Diplomatenehre ist unbefleckt. Daß ich aber [] jetzt – o könnte ich's noch in dieser Stunde! – Ihr Haus verlassen muß, ist klar. Wahrscheinlich haben Sie einen Gesandtenposten, vielleicht wäre sogar jetzt Ihre Pflicht, Jean Carlo zu verfolgen. Ich sehe die Nothwendigkeit ein, sogleich zu meiner Mutter zurückzukehren.
Eben fuhr Josephinens Wagen in den Hof; Niemand achtete auf das laute Blasen des Postillons; Niemand gedachte ihrer Ankunft. Kronberg war wie vernichtet. Aber, wiederholte er in trostloser Niedergeschlagenheit, ist es denn denkbar? Was ist dir denn der Unglückliche, daß du ihm – ihm uns Alle opferst? – daß du deine und meiner Familie Ehre vergißt, um eines Abenteurers willen, dem du am Ende von acht Tagen vielleicht um einen neuen Liebhaber vergessen haben wirst! Um eines Geächteten willen, der keines besseren Geschicks werth, eine niedrige Intrigue ausgesponnen, um – –
[] Halt! halt! Kronberg! rief erbleichend Leontine. Kein Wort, keinen Hauch gegen seine Ehre! Er ist –
Um Gottes willen! was denn, liebe, liebe Leontine! fragte Anna, unter tausend Thränen.
Mein Mann! sagte tonlos Leontine und fiel halb ohnmächtig ihr in die Arme.
Eben trat Josephine, von Duguet geleitet, in's Zimmer.
[][] []Ungefähr anderthalb Jahre vor den eben mitgetheilten Ereignissen, saßen einige junge Damen in der Eremitage auf dem Wege, der nach dem alten Schlosse von Baden-Baden führt, und sahen von weitem die im Grünen umherwandelnden Brunnengäste vorüberziehen.
Wer kennt nicht, wenigstens dem Ruf und Namen nach, das freundliche vom Schwarzwald umfriedete Thal mit seinem stillen Reiz, seiner milden Luft und seinen in weiter Ferne verblauenden Vogesen! Schon hier zu athmen, ist der kranken Brust eine Wohlthat.
Die jungen, in der Einsiedelei versammelten Plauderinnen aber waren alle gesund; sie schalten [] die Stille der Saison, die Einsamkeit der Gassen, den Mangel an einem wahrhaft geselligen Verkehr und wollten die Schönheit der Umgebung nicht als Ersatz dafür anerkennen.
Und allerdings hat in Baden-Baden die Natur eine so verlockend-süße Sirenenstimme, daß es schwer fällt, ihr zu widerstehen, und sie das eigentliche Salontreiben Tages hindurch fast unmöglich macht, es hat sich in das Dunkel der hier schon früh und schnell einbrechenden Nacht geflüchtet, in welcher aber leider der grüne Tisch nicht nur die grüne Aue, sondern sogar die blumen- oder schmetterlingsartigen Tänzerinnen verdrängt und das Spiel nicht selten allen Zauber der Jugend und Schönheit überbietet.
Du hast gar nicht zu klagen, Leontine, sagte eine kleine niedliche Majorsfrau, du hast den interessantesten Brunnengast der ganzen Saison auf deinem Hausflur.
[] Bis jetzt sind wir aber in dieser Bekanntschaft noch nicht weiter als zum ehrfurchtsvollen Gruß, lachte diese.
Ist denn die schöne, schwermüthige Dame, mit welcher er immer geht, seine Gemahlin?
Meint ihr den Polen mit dem unaussprechlichen Namen? fragte eine Dritte.
Leontine, so rede doch! Du mußt doch etwas von deinen mysteriösen Nachbarn wissen! riefen die Andern.
Ich weiß gar nichts. Alle Morgen begegne ich Beiden auf dem Wege zur Promenade, wo es eben bei besagter ehrerbietiger und meinerseits höflicher Verbeugung bleibt.
C'est tout? fragte die hübsche Fürstin L....
C'est tout! erwiderte gravitätisch betheuernd Leontine. Mais non, pardon! die junge schwarze Dame ist nicht seine Frau, sondern seine Schwester.
Mein Onkel, fuhr die Fürstin fort, behauptet, [] der Curliste zum Trotz, der junge Mann sei gar kein Pole.
O! sagte Gräfin Hohenheim, er hat doch so ganz den polnischen Gesichtsschnitt, und dann den wehmüthig-stolzen Ausdruck um den Mund –
Haben Sie ihn einmal polnisch reden hören, Comtesse? fragte die Zweiflerin.
Nein; er spricht immer französisch mit den Damen, die er am Brunnen kennt, auch mit seiner Schwester.
Nun sehen Sie! Am Ende hat mein Onkel doch recht?
Aber er hat ja einen ganz polnischen Namen –
Die kleine Prinzessin sah ungemein welterfahren aus und versicherte: Man kann sich aber auch einen falschen Namen geben!
O ja, wenn man ein Barbiergeselle ist; aber ein Mann von Stande!
Ich habe ihn einmal gesprochen, meinte Fräulein von Herchentheim; er machte mir und [] meiner Cousine Platz, als der König hier durchkam und plötzlich auf der Allee ein großes Gedränge entstand. Er benahm sich sehr höflich und zeigte den besten Ton und Anstand. In der Nähe ist er wirklich sehr schön. – Freilich fällt mir eben ein, daß er auch damals mit seiner Schwester nur französisch sprach.
Das mußte er jedenfalls aus Artigkeit Ihretwegen, liebes Fräulein! sagte die Prinzessin etwas ungeduldig. Ihr Urtheil ist nicht contemporain Ihres Gefallens.
Eben schritt der junge Mann, wie gewöhnlich, ernst und schwermüthig vor sich hinstarrend, quer über den lichtensteiner Weg; die junge Dame an seinem Arme war heute noch bleicher als sonst, sie schien sehr leidend. Er stützte sie auf's Sorgsamste und als sich in der Allee ein leichter Abendwind erhob, suchte er erst die Schwester noch dichter in ihren Mantel zu hüllen, und bewog sie dann endlich, und [] wie man an den lebhaft bittenden Geberden deutlich wahrnehmen konnte, nicht ohne Mühe, mit ihm umzukehren. Er zeigte übrigens dabei eben so viel heftige Ungeduld als Liebe. Es ist kein Pole! sagte die Prinzessin, und zerpflückte gedankenvoll eine Sternblume.
Leontine aber beschloß, noch diesen Abend das Räthsel gelöst zu sehen.
Der Zufall verwirklichte den Scherz, doch auf trübere Art, als sie es erwarten konnte.
Sie mochte, ihrer Reisegefährtin harrend, die noch auf der Promenade war, ein Stündchen auf ihrem Zimmer zugebracht haben, als sie plötzlich die Klingel ihres Nachbarn drei-, viermal heftig anziehen hörte; fast in demselben Augenblicke ward drüben eine Stubenthür aufgerissen und sie erkannte seine Stimme, die laut und dringend nach dem Hausmädchen rief. Es lag etwas so Beängstigendes, Heftiges in diesem Ton, daß Leontine, von der ihr eigenen [] Herzensgüte unwiderstehlich fortgerissen, aufsprang und ihrerseits die Thür nach dem Flur öffnete, um zu sehen, ob ein Unglück geschehen und ob man ihres Beistandes bedürfe.
Ein Bild fast wahnsinniger Verzweiflung stand der junge Pole vor ihr; kaum aber gewahrte er sie, so stürzte er auf sie zu und beschwor sie im reinsten Italienisch, mit den rührendsten Worten; um Beistand für seine unglückliche Schwester, die nach einem ganz unerwarteten Blutsturz ohnmächtig geworden, und, von dem heftigen Anfall erschöpft, noch bewußtlos, starr, o Gott! vielleicht sterbend, daliege. Er wolle zum Arzt laufen, die Leidende aber nicht allein zurücklassen. Auf sein Rufen und Klingeln sei Niemand gekommen.
Ohne einen Augenblick sich zu besinnen, antwortete ihm Leontine, ebenfalls italienisch, in wenigen tröstenden Worten und eilte zu der Kranken in das offen stehende Zimmer. Eben [] kamen der Kellner und das Dienstmädchen die Treppe herauf, das heftige Klingeln hatte sie endlich herbeigezogen. Es ward nach dem Arzt geschickt und der junge Mann folgte Leontinen. Fast zugleich näherten sich Beide dem Sopha, auf welchem das schöne Mädchen todtenblaß, einer gebrochenen Blume gleich, noch immer in krampfhafter Erstarrung und regungslos lag.
Nach einigen angewandten Hausmitteln erholte sie sich in Leontinens Armen. Der herbeigerufene Arzt fand den Zustand durchaus nicht augenblicklich gefährlich, schien jedoch im Ganzen die Gesundheit der Fremden für sehr schwächlich zu halten. Er verschrieb Arzneien, versprach nach ein paar Stunden wiederzukommen, und empfahl die größte Ruhe, vorzüglich aber jede Gemüthserregung zu meiden.
Traurig schüttelte Trzebinski das schöne Haupt. Mit dem Arzt hatte er, wie mit dem Kellner wieder französisch gesprochen; die Kranke [] war zu schwach zum Reden. Seltsam, daß er ganz vergessen zu haben schien, daß er Leontinens Hilfe italienisch erbeten. Mit rührender Einfachheit dankte er ihr für die ihm und seiner armen Schwester erwiesene Güte und bat sie, der Leidenden morgen wieder eine Stunde zu gönnen. Jetzt erst bemerkte Leontine, daß, bei aller äußeren Eleganz des Benehmens, wie der äußeren Umgebung der Geschwister, Beide ohne eigne Bedienung waren.
Leontine war durch Zufall diesmal nicht mit ihren Eltern in Baden, sie erwartete die Generalin erst in drei Wochen, welche diese mit Geiersperg in Karlsruhe zubrachte. Josephine hatte gewünscht, die geliebte Tochter nach einem fröhlich durchtanzten, sehr ermüdenden Carneval einen etwas längeren Aufenthalt in der stärkenden Luft des schönen Thals genießen zu lassen. So ward es möglich, daß Leontine, die mit der hingebendsten Liebe ihrer [] Mutter anhing, allmälig in ein Vertrauen sich gezogen fühlte, das sie vielleicht in deren Gegenwart nicht angenommen, jedenfalls aber nie ihr verheimlicht haben würde.
Am nächsten Morgen benutzte sie die erste Gelegenheit des Alleinseins, um ihre Nachbarin zu besuchen, Stanislaus saß an deren Lager. Leontine hatte nicht vergessen, daß Herr von Trzebinski, wie der junge Pole sich nannte, im überraschten Schmerz sie italienisch angeredet und schon im ersten Augenblick dieser unbewußten Annäherung dessen trauriges Geheimniß errathen. Das Entbehren aller sie begleitenden Dienerschaft war für Polen von Stande ohnedies so auffallend, daß es ihre Vermuthung zur Gewißheit erhob. Das Willenlose jenes momentanen Vertrauens störte sie nicht, hatte ja doch in jener beängstigenden Qual das tiefste Gefühl seines Herzens sich ihr ausgesprochen! Gerade in dieser absichtslosen Hingebung lag [] für sie ein gewisser Reiz. Sie schwieg, bewahrte das Geheimniß mit fast religiöser Treue, während der neckische Dämon ihres unbezwinglichen Humors sie dennoch mitunter zu allerlei verfänglichen Fragen verleitete, die ihm den Schreck eines plötzlichen Erinnerns an seine eigne Unvorsichtigkeit geben sollten.
Sie fand Rosalien zwar nicht besser, aber bei vollkommener Besinnung, voller Dankbarkeit und rührender, stiller Resignation. Gern weilte sie ein paar Stunden an deren Lager; und da das mit Gästen überfüllte Haus die Dienste einer überall in Anspruch genommenen Hausmagd als ganz unzulänglich erscheinen ließen, sandte sie ihr die sehr zuverlässige Babet.
Trzebinski sah zu Leontinen auf wie zu einem Schutzengel und kleidete seinen glühenden Dank in alle Farben einer durchaus südlichen Nationalität.
Gräfin Werden, in deren Gesellschaft Leontine [] in Baden war, bemerkte auch heute nicht ihre verspätete Rückkehr. Das Fräulein sagte kein Wort, weder von der Krankheit ihrer jungen Nachbarin, noch von der zufällig angeknüpften Bekanntschaft. In dem Augenblicke war das gänzliche Verschweigen bloßer Uebermuth, aber noch im Laufe des nämlichen Tages fühlte sie vom eigenen Muthwillen sich gefangen und das Besprechen der ganzen Begegnung unmöglich gemacht. Als nämlich die gute Gräfin und deren nächste Bekannten, von der Tarantel der Neugier gestochen, in immer wunderlichkrauseren, immer abenteuerlicheren Vermuthungen über die Fremden sich ausließen, vermochte es Leontine nicht, ruhig zuzuhören, unwillkürlich reizte sie die Damen zu noch tolleren Aeußerungen und Voraussetzungen und hatte sich in ihrer vortrefflichen Laune bald so fest gerannt, daß es ohne gänzlichen Verstoß gegen alle conventionellen Formen nicht mehr ausführbar [] blieb, die dem Gespräch vorangegangene Bekanntschaft der interessanten Polen einzugestehen.
Zum Glück war Gräfin Werden eines jener bevorzugten Wesen, die nur ihren Tag los sein müssen, gleichviel um welchen Preis und in welcher Gesellschaft. Sie ließ Leontinen gewähren. Sie fand in jedem nicht den Curpflichten geweihten Augenblick irgend eine Bekanntschaft zu machen, eine Handarbeit zu besehen, entdeckte einen noch nicht gekannten Laden, einen neuen Spazierweg, eine vorzügliche Kuchensorte, – faute de mieux, sogar eine verarmte Familie, deren Umstände sie sorgfältig erforschen mußte, und alle diese vielen Gründe machten ihr das Zuhausebleiben unmöglich. Enfin je ne suis pas sa gouvernante! sagte sie, wenn Leontine ablehnte, sie zu begleiten.
Auf diese Weise machte es sich ganz von selbst, daß Leontine einen Theil des Tages [] bei ihren neuen Freunden zubringen konnte, ohne von der Gräfin vermißt zu werden.
Stanislaus von Trzebinski – so stand sein Name in der Brunnenliste – hatte sich längst auf seine frühere Unvorsichtigkeit besonnen; er errieth aber auch Leontinens zartes Bewahren seines traurigen Geheimnisses und wußte es ihr doppelt Dank, da ihm, allgemeine Aeußerungen und Klagen über den gedrückten Zustand seines Vaterlandes abgerechnet, sehr schwer wurde, über Polen zu reden – das er nicht kannte!
Rosalie war ein schwärmerisch-weiches, kaum noch durch die lockersten Bande der Erde angehörendes Wesen. Im Kloster aufgewachsen, kannte sie die Außenwelt gar nicht, aber Religion und Vaterlandsliebe waren in ihrer jungen Seele zu einem Brennpunkt vereint, von dem alle Radien ihres Lebens ausgingen, dem [] alle Kräfte desselben wieder zuströmten: außer ihnen war das Nichts.
Der Norden, so erschien ihr Baden, die kalte Fremde erweckten eine, sie täglich mehr und mehr aufreibende Sehnsucht in ihrer leidenden Brust; das Gefühl einer unvermeidlichen, vielleicht lebenslänglichen Verbannung von Italien senkte sich, ein langsamer Tod, wie mit schweren dunkeln Flügeln auf ihre Sinne, auf ihr in Heimatsbangen vergehendes junges Herz. Mit jedem Tage nahmen ihre wenigen Kräfte ab. Der Arzt sah sich genöthigt, ihren Zustand als höchst bedenklich zu erklären, und bald reichte weder Leontinens, noch Babet's Pflege mehr aus. Zum Glück hatte Badens Heilquell eine der in Köln lebenden barmherzigen Schwestern hergezogen; Leontine suchte sie auf und die lange Gewöhnung mitleidiger Selbstverleugnung ließ die gute alte Renate ihrer eigenen kaum vollendeten Genesung vergessen, [] um mit den neu geschenkten Kräften neuen Pflichten sich zu unterziehen. Daß die fromme Alte zwar ein wenig französisch, aber weder italienisch noch polnisch konnte, war ein zufälliger Gewinn, der das Geheimniß der freiwillig Verbannten, Geflüchteten sicherte und ihre Gegenwart nur heilbringend erscheinen ließ.
Als Leontine die Schwester Renata zu Rosalien führte, ergriff Stanislaus ihre Hand, ihr Gewand, und drückte sie an seine Lippen; er war im Begriff, ihr zu Füßen zu sinken. Alles, alles, jeden Trost meiner verödeten, zerrissenen Existenz danke ich Ihnen! hauchte er bebend.
Leontine war, tief erschüttert, zum ersten Male keines erwidernden Lautes fähig; es gab kein Wort für diese so ganz ungewöhnliche Lage.
Gräfin Werden sprach den ganzen Tag von der bedauernswerthen Krankheit der jungen polnischen Dame; für ihr Leben gern wäre sie [] hinübergegangen. Leontine sah sich durch immer neue, sich häufende Gründe zu immer sorglicherem Schweigen gezwungen. Wie hätte sie der Gräfin Zudringlichkeit von ihren unglückseligen Freunden abzuwenden vermocht, hätte diese ihre Bekanntschaft mit denselben ahnen können!
Doch keine noch so sorgsame Pflege vermochte es, der armen Rosalie Blütenleben zu fristen. An ihrem Sterbelager, an der stillen ganz prunklosen und doch so selig vertrauenden Frömmigkeit des jungen schönen Mädchens und der hingewelkten alten Nonne, die, unermüdlich in Nachtwachen und Dienstleistungen, der eigenen geringeren Leiden gern vergaß; an dem innern Verstehen dieser Beiden durch Alter, Bildung und Vaterland so ganz verschiedenen Naturen lernte Leontine den Werth eines begrenzenden Glaubens, die Gefahr ihrer eigenen Ansichten erkennen. O, wie beneidete sie selbst [] Jean Carlo, wie er jetzt ohne Scheu vor ihr sich nennen ließ, um den Trost seiner Fürbitte, um sein inbrünstiges, den von Heiligen erfüllten Himmel erstürmendes Gebet; denn nach demselben ward er ruhiger, er hörte die fromme Schwester mit stiller Ergebung an, er faßte neue Hoffnung und einte die Palme des Friedens der Dornenkrone, die sein Vaterland ihm als letztes Geschenk hinterlassen. Aber diese Dornen stachen schwer und tief, er litt unsäglich!
Nachdem König Ferdinand des Vierten Reise nach Laibach der Neapel kaum gewährten Constitution den frühen Todesstoß gegeben, nachdem die lange Jahre hindurch heimlich vorbereiteten Pläne des Carbonarismus eigentlich bereits vernichtet waren, hatte dennoch ein Sproß des Freiheitsbaumes sich grünend zu erhalten vermocht. Boralli's Schilderung der Lage des Königs in Laibach erweckte eine durchgehende [] allgemeine Begeisterung und Krieg! ward die überall im ganzen Lande widerhallende Losung.
Jean Carlo hatte sich im Gebirg, wo er die Truppen organisiren half, den festesten Glauben an die Thatkraft seines Volkes bewahrt. Ueber jeden Zweifel hin weg trugen ihn die Flügel seiner jungen Phantasie und der feurigsten Verehrung für Guglielmo Pepe, seines Oheims langjährigen Freund und Waffengenossen. Als aber kurz nach dem so glänzenden Beginnen des Kampfes diese Flügel, gewaltsam geknickt, zur nutzlos mit Bürgerblut befleckten Erde niedersanken, als die regellose, wilde neapolitanische Armee, ohne Disciplin, ohne Kriegsübung, ja sogar ohne hinreichende Waffen, der Uebermacht des sieggewohnten österreichischen Heeres fast ohne Widerstand erlag, als mehr noch als alles dies der durch lange Knechtschaft entartete Charakter der niedern Volksclassen dem Gelingen allzukühner, zu rascher Entwürfe einen [] innern, ja den allergefährlichsten Feind entgegenstellte, da focht Jean Carlo unter dem Helden seiner Wahl – um die Gunst des Todes. Sie ward ihm nicht! Er erlebte es, bei Rieti durch General Walmoden die Ueberbleibsel des unglücklichen Heeres zerstreut zu sehen. Pepe ging nach Neapel zurück und brachte nichts mit sich dahin, als die trostlose Nachricht seiner eigenen Niederlage.
Jean Carlo's Oheim, der ihn an Vaters Statt erzogen, dessen Adjutant er in dem kurzen Feldzuge gewesen, an dessen Seite er den goldnen Freiheitstraum geträumt, ward vermißt; ob er gefallen, ob geflüchtet, war nicht zu ergründen.
Zerbrochen an Leib und Seele, hatte Jean Carlo neben ihm gefochten, bis er selbst bewußtlos niedersank. Ihn weckte die Nachricht der neuen Schmach, die Carascosa's Heeresabtheilung getroffen.
[] Als er in einem kleinen Dorfe von seiner Wunde insofern genesen war, daß er aufstehen und sich bewegen konnte, zog er Erkundigungen ein. Die vom König eingesetzte provisorische Regierung hatte einen Preis auf seines Oheims Kopf gesetzt.
Monato, Hiacinth de Passe fielen, unzählige Bekannte, Freunde und Verwandte des unglückseligen Jünglings büßten Leben oder Freiheit ein, ihn selbst retteten günstige Zufälligkeiten und die Zuneigung eines mit seinem Hause befreundeten Fürsten, Medici, der sein Pathe war. Ihm ward die Flucht erleichtert.
Längst ruhten seine Eltern im Grabe, ihm blieb eine einzige Schwester, die in einem unfern Neapel gelegenen Kloster in Pension war.
Als er in der Nacht, verkleidet, sich hinüberschlich, um Rosalien ein vielleicht letztes Lebewohl zu sagen, fand er die Aebtissin desselben, eine Base seiner Mutter, von all den [] Sorgen um die Ihren schwer erkrankt und schon im Todeskampf. Der Einzug des Königs war nahe, die Amnestie für Alle, die bis zum vierundzwanzigsten März an geheimen Gesellschaften Theil genommen, noch nicht ausgesprochen, über Jean Carlo's mögliche Rückkehr in sein Vaterland nichts vorauszusehen, und kein einziger Verwandter, dem er die Schwester übergeben konnte, ungefährdet oder frei, die meisten heimlich verborgen oder geflüchtet. Noch vor Anbruch des nächsten Tages stand die Auflösung der Aebtissin zu erwarten, die wortlos des armen jungen Mädchens zarte Hand in die seine legte. Rosalien blieb nur die Wahl des schützenden Schleiers, das Kreuz des Heilands, oder das Schwere der herben Theilnahme am ungewissen Geschick ihres Bruders.
Sie wählte das letzte. In fast wahnsinniger Verzweiflung umklammerte sie den einzigen Beschützer, der ihr geblieben, und beschwor ihn [] unter heißen Thränen, sie nicht zu verstoßen, sie nicht allein in dem der Knechtschaft geweihten Lande zurückzulassen, sie mit sich zu nehmen in die Fremde – ach! die Aermste kannte ja diese Fremde nicht, die sie um seinetwillen lieben zu können hoffte, in welcher sie nur für ihre Todten und für die einstige Auferstehung ihres Volkes zu beten gedachte und in der sie unbewußt sich selbst den frühen Tod erbeten hatte.
Die dringende Eile der Stunden und die Thränen des armen Kindes siegten. Vereint flohen die Geschwister.
Eine Weile lebten sie unbemerkt in Frankreich und gingen dann nach der Schweiz. Von dort aus ward Jean Carlo nach Baden geschickt, weil seine schlecht geheilte Wunde aufgebrochen. Ach, eine unendlich tiefere öffnete sich ihm dort, als die Hoffnung schwand, Rosaliens Gesundheit herzustellen, deren Schwäche der junge Mann früher bei seinen sie immer [] momentan neu belebenden Klosterbesuchen nicht wahrgenommen hatte.
Die Aerzte schrieben ihr Uebel einer Erkältung beim Uebergang der Alpen zu – der Tod will ja eine Ursache haben.
Leontine, Schwester Renate und Jean Carlo saßen in stummem Schmerz am Bett der plötzlich, nach einem neuen heftigen Blutauswurf sanft wie ein Kind Entschlafenen; die Nonne betete still für die durch den unerwarteten Tod ohne die Gnadenmittel der Kirche Hinübergegangene; Leontinens Hand ruhte zum ersten Mal lange in der ihres armen Freundes; Keines versuchte ein lautes Wort.
Im Hause ahnete noch Niemand die Gegenwart des Todes. Renate hatte selbst die geweihten Kerzen zu Haupt und Füßen des Sterbelagers angezündet, den Priester hatte [] man nicht mehr rufen können, so schnell hatte der Scheidekuß des Lebens die bleichen Lippen des schönen Mädchens berührt.
Die Badegäste und Wirthsleute schliefen, auf den Straßen hatte sich ringsum Ruhe verbreitet, nur ein überwachter Orgelmann drehte auch schon halb schlafend unter einem fernen Fenster sein letztes Ständchen ab, es war ein veraltetes Volks- und Liebeslied; unwillkürlich mußte Leontine darauf hören. »Keine Nessel, kein Feuer kann brennen so heiß als heimliche Liebe, die Niemand nicht weiß.«
Lange saßen sie so schweigend; endlich begann Carlo zu reden. Er blickte nach dem noch nicht ergrauenden Tage; sein unruhiges Blut trug die Unthätigkeit des Schmerzes nicht, und es lastete der Gedanke auf ihm, die geliebte Leiche hier im fremden Lande zurückzulassen. Sollte Rosalie als Polin mit einer Lüge in's dunkle Grab gelegt werden? Welche Hoffnung [] blieb dann dem Trauernden, in möglich besseren Tagen wenigstens die schöne Hülle der Schwester dem Geburtslande wieder heim zu bringen, dem die Lebende entrissen zu haben er so tief bejammerte? Ach, Schmerz und Glück zogen ja ihn wie sie in jedem Athemzug hinüber! – Mit heftig erwachender Leidenschaftlichkeit erneuten sich seine Klagen. Trostlos stand Leontine neben ihm, sie litt unaussprechlich und ach! sie wußte keinen Rath für diese neue Form der Qual. Vergebens bot sie ihm ihres in wenig Tagen erwarteten Stiefvaters Hülfe. Jede Mittheilung des Geheimnisses an einen Dritten lehnte er bestimmt ab.
In diesem Augenblicke hatte die fromme Schwester, die in stillen Fürbitten am Fußende des Lagers kniete und in tiefster Sammlung das Gespräch nicht beachtete, ihre Gebete beendet. Sie schritt der Thüre zu und, schon an der Schwelle, sagte sie leise: Ich gehe zum [] Dechanten; man wird nun bald zur Frühmesse läuten, er wird schon aufsein.
Wie ein Lichtstrahl durchzuckten die einfachen Worte Jean Carlo's verdüstertes Gemüth. Ja! rief er aufspringend, im Schoos der Kirche, in der Hingebung an ihre beseligenden Wahrheiten finde ich die Gewährung einer Versicherung, die nichts Irdisches mir zu geben vermag. Die gefalteten Hände fest auf die Brust gedrückt, blickte er aufwärts und ein Ausdruck der schwärmerischsten, inbrünstigsten Frömmigkeit überflog den Schmerz seiner Züge.
Ja, fuhr er fort, von dir, mein reiner Engel! kam mir der Gedanke. Die Beichte sichert mein Geheimniß und bürgt mir für die Erfüllung deines letzten Erdenwunsches!
Er hob den Schleier, der das Antlitz der Gestorbenen deckte; sie war unaussprechlich schön. Leise küßte er ihre weiße Stirn, dann fuhr er, zu Leontinen gewendet, fort: Ach, Signora! [] könnten Sie fühlen, was in diesem Augenblicke meine arme zerrissene Seele wie ein Friedensbote durchzieht und das wilde Thier in mir bändigt. O, könnten Sie mit mir glauben, so wie Sie mit mir gelitten haben; wie Sie oft mitten in der Verzweiflung mir einen Sonnenstrahl des Glücks in die Lebensöde gesandt! Er küßte heftig ihre Hände und wandte sich dann wieder der Leiche zu, die er mit immer steigendem aber stillerem Schmerz betrachtete.
Könnte ich mit ihm glauben! wiederholte sich leise Leontine. Kann ich's denn nicht? Sie legte den Kopf zurück in die Lehne des Sessels und einzelne große Thränen rollten über ihre hochrothen Wangen.
Da öffnete sich leise die Thür, lautlosen Schrittes trat der Dechant ein, hinter ihm ein Chorknabe, der am Eingange stehen blieb. Er kannte die Geschwister wohl, obschon nur unter polnischem Namen; es that ihm weh, daß sein [] Beichtkind ohne die letzten Tröstungen der Kirche geschieden war. Nun kam er, von der alten Schwester herbeigerufen, den Rest der Nachtwache mit dem unglücklichen Bruder der Verstorbenen zu theilen und den Ritus der Kirche zu vollziehen.
Der Dechant war noch ein junger Mann mit fast durchsichtig bleichem Gesicht; auch ihm schien die Verheißung eines frühzeitigen Todes auf die gedankenklare Stirn gedrückt. Eine große Milde und Sanftmuth sprach sich in seinem ganzen Wesen aus; so war auch sein Ruf von makelloser Reinheit.
Leontine hatte nie einen andern katholischen Geistlichen gekannt, oder auch nur außer der Kirche gesehen, als den alten Domine, dem sie so übel mitzuspielen pflegte. Sie kannte die sanfte Suade, die Gewalt der Einwirkung katholischer Formen, dieses weiche Herrschen, dieses feste Ergreifen und Tragen der Seele nicht, [] das in dem Riesenbau jener Kirche, in der Gestaltung jener höchsten Manifestation des menschlichen Geistes sich ausspricht, und nun in der vollendetsten Ausübung überwältigend ihr entgegentrat.
War der Dechant mit den Verhältnissen der polnischen Familie unbekannt, die er vor sich zu sehen wähnte, hatte der Anblick der jugendlichen Leiche ihn dieselben vergessen machen? Genug, er hielt Leontine vielleicht der heißen Thränen wegen, die während seiner Worte ihr Gesicht überströmten, für Trzebinski's Gemahlin und sprach in diesem Sinne auch zu ihr, ermahnte sie, dem schwer Geprüften nun auch die Verlorene zu ersetzen, sich wo möglich noch enger ihm anzuschließen, und wie aus der Tiefe der Verwesung die Kraft eines erhöhten Lebens der leiblichen und geistigen Natur sich entringe, so auch diesem so früh geöffneten Grabe ein Gott geheiligtes Leben der Liebe entsprießen zu lassen.
[] Jean Carlo weinte so heftig, daß er nicht sogleich die Kraft hatte, die Anrede des Geistlichen zu unterbrechen, der im Begriff war, in einem kurzen Uebergange dem Formular der Kirche sich zuzuwenden und deren Ceremonien zu vollziehen, als endlich Leontinens furchtbare Erschütterung und ihr Zittern des jungen Mannes Aufmerksamkeit gewaltsam auf sie zurücklenkten. Er ergriff mit dem Ausdruck der tiefsten Verehrung ihre Hand und geleitete sie der Thüre und Babet zu, die schluchzend in derselben stand, dann wandte er sich wieder zum Dechanten; in demselben Augenblick schloß sich die Thüre hinter Leontinen, und halb bewußtlos folgte sie Babeten in ihr Zimmer.
Es war Mittag und die Trauerkunde hatte sich bereits durch das ganze Baden verbreitet, als die todtmatte Leontine die Augen aufschlug; die gewandte Babet hatte der Gräfin eine unruhige, [] durch die Nachbarschaft der Kranken schlaflose Nacht des Fräuleins vorgelogen.
Aber mit dieser Nacht hatte ja nun auch das Zusammenleben mit dem neugewonnenen Freunde aufgehört! Der lange Tag verging, ohne daß Leontine mehr von dem hörte, was sich drüben begab, als was auch die andern Hausgenossen erfuhren. Sie sandte, wie die meisten Bewohnerinnen des Hotels, einen Blumenkranz, der schönen jungen Todten auf den Sarg zu legen. Daß er aus Orangenblüten und Granaten bestand, ließ man für einen Zufall gelten; die Thränen, die als Thau ihn benetzten, bemerkte Niemand. Kaum war die Begräbnißstunde bestimmt, so vereinten sich die Gräfin und ihre Freundinnen, um der Ceremonie zuzusehen. Es war ein Drängen und Treiben um die offene Grabhöhle, als hätten Alle das schöne Mädchen gekannt, oder als gälte [] es eine Lustpartie. Leontine warf sich weinend auf ihr Bett und schützte Kopfweh vor.
Noch am nämlichen Abend überbrachte man ihr einige Zeilen von Jean Carlo's Hand. Sie hielt das Blatt noch in der ihren, als draußen Babets aufjubelnde Stimme die Ankunft Geierspergs und Josephinens verkündete; kaum blieb Leontinen Zeit, das Papier zu verbergen, so lag sie schon in ihrer Mutter Armen.
Von nun an begann ein ganz neuer Lebensabschnitt. Geiersperg liebte joviale Geselligkeit, war gern in Baden und fand eine Menge alter Bekannte, Kriegsgefährten und Jugendgenossen daselbst. Auch Josephine ward von einem kleinen Kreise freudig begrüßt, eine Landpartie, eine Ausfahrt jagte die andere.
Die Generalin ging freundlich auf jeden Vorschlag der Art ein, ihre Lebensstellung war in der zweiten Ehe eine ganz andere geworden, als sie in der ersten, im Jugendrausch der Begeisterung [] geschlossene Verbindung mit Waldau gewesen. Die Zeit war ja so ganz verändert, es war Friede, und hatte auch dieser Friede nicht alle Träume und Verheißungen des ihm vorangegangenen Kampfes erfüllt, so waren doch materielles Behagen oder industrielles Wirken überall an die Stelle der früheren Romantik getreten, die Josephinens Blütenzeit belebte und deren mitunter sehr dunkle Schatten die letzten Jahre Waldau's vor Erschlaffung bewahrt hatten. Denn selbst als ihn Krankheit und der schwere Druck der Ereignisse zur Unthätigkeit verdammten, hatte sich das Wechselspiel von Sorge, Angst und Freude, das man Leben nennt, immer noch in weit höheren Potenzen um ihn her entwickelt, als es nun im freundlichen Beisammensein mit Geiersperg der Fall war.
Waldau war ein Idealist, im Alltäglichen ganz unerfahren; man mußte unaufhörlich für [] ihn sorgen. Geiersperg sorgte lieber noch für Andere, als daß er ihrer Leitung sich hingab; er fürchtete beständig, gehandhabt zu werden, wie er es nannte, und wollte alles selbst machen. Hatte Josephine in ihren ehemaligen Verhältnissen zerrissene Herzen, kränkelndes Leben und die Keime nationaler Hoffnungen gepflegt, hatte sie damals oft jede Seelenkraft bis zur höchsten Spannung anstrengen müssen, so pflegte sie jetzt, ohne jedoch an Elasticität des Geistes einzubüßen, mit nicht geringerer Anmuth die Blumen und Bäume, die ihres Gemahls Lieblinge waren, zog seine Jagdhunde auf und bewunderte mit wirklich aufrichtiger Freude die von Geiersperg geschossenen Auerhähne und Schnepfen. Sie war eigentlich nicht minder glücklich als sonst, denn bei ihr war das Glücklichsein fast eine Eigenschaft des Charakters geworden.
Leontinens Erziehung war ihr nicht ganz [] gelungen, das fühlte sie selbst, doch, wie viele Mütter, blieb sie dabei blind für deren Mängel; und dann hatte ja Leontine ihres Vaters Fehler! Geiersperg tadelte sie strenger, schon deshalb mußte Josephine die Tochter entschuldigen. Vor allem war ihm nicht recht, daß sie kein Junge war; er hätte so gern einen Sohn gehabt. Darum hatte er die Verbindung mit seinem Neffen Albert fast leidenschaftlich gewünscht; sie sollte seiner väterlichen Liebe Enkel geben. Im Ganzen konnte er die excentrischen Weiber nicht leiden; – und hast mich doch geheirathet? sagte Josephine.
Aber Geiersperg nahm ihren Kopf zwischen seine beiden großen Hände und küßte sie herzlich. Von dir, liebes Kind, kann ja hier gar nicht die Rede sein, du bist mein lieber, närrischer excentrischer Engel! Aber im Häuslichen bemerke ich, Gott sei Dank! nur, wie du mir alles leicht und lieb machst. Wenn die Leontine [] excentrisch sein wollte, wie du, so hätte ich nichts dagegen.
Geierspergs schönste Jahre waren die gefahrreichen des Kriegs und seiner geheimen Vorbereitungen gewesen; auch nachdem er den Dienst verlassen, blieb er innerlich Soldat. Alles, was auf das Militär sich bezog, interessirte ihn lebhaft; in seinem Hause herrschte die strengste Disciplin, in seinem Herzen blieb er der alte loyale, seinem Könige unbedingt ergebene Kriegskamerad. Selbst wo sein klarer Verstand tadelte, ließ sein Gefühl dem Tadel selten Raum zum Wort, und Leontine hatte ganz recht, ihn einen Ritter aus dem Mittelalter zu nennen. Hätte der König seiner innersten, heiligsten Ueberzeugung zuwider gehandelt, hätte er ihn oder die Seinen durch irgend eine Ungerechtigkeit noch so unheilbar schwer verletzt, Geiersperg war der Mann dazu, in solchem Falle sich lieber eine Kugel vor den [] Kopf zu schießen, als den Grundsatz der tiefsten Anerkennung und Verehrung der Legitimität seines angebornen Herrschers aufzugeben, mit dem sein ganzes Wesen verwachsen war.
Sehr natürlich hatten ihn die politischen Ereignisse des Jahres Zwanzig in Neapel oft und ernstlich beschäftigt; so lange die Volkssache nicht von der des Königs getrennt war, hatte er wahrhaften Antheil an ihr genommen. Seine langjährige Freundschaft für einige der Hauptagenten des bewaffneten Interventionssystems hatte ihn nicht gehindert, sich an dem begeisterten Aufflammen der italienischen Jugend von Grund aus zu erfreuen, es weckte in ihm ja tausend und aber tausend Erinnerungen! Später tadelte er das seiner Meinung nach in unklugem Eifer zu weit gehende Parlament und fühlte sich in seinen Ansichten etwas gestört; dennoch machte es ihm sichtlich Vergnügen, wenn Leontine ihm triumphirend die Zeitungen vorlas, [] in denen die Fabier und Bruttier der Abruzzen eine so glänzende Rolle spielten.
Als sich aber der Aufstand immer bestimmter gestaltete und er das ganze Unternehmen an der Muth-und Kraftlosigkeit des eigentlilichen Volkskernes scheitern sah, ergriff ihn eine echt soldatische Ungeduld, er warf die Zeitungen in einen Winkel und ging eine ganze Weile, von unreifem Zeuge, Kinderstreichen und dummen Jungen murmelnd, im Hause umher. In Baden hatte die ganze Geschichte vergleichsweise längst einen komischen Anstrich für ihn bekommen, den er mit seinen alten Waffenfreunden im besten Humor ausbeutete, und deren derbe und körnige Späße der armen Leontine in's Herz schnitten. Es war rein unmöglich, in dieser Stimmung über Jean Carlo's Lage mit ihm zu reden.
Vielleicht war es diese im Kreise ihrer Lieben zum ersten Mal empfundene Entfremdung [] ihres innigsten Gefühls, welche Leontinen in den Abgrund eines hoffnungslosen, in tiefes Geheimniß gehüllten Verhältnisses fast widerstandlos hineinriß.
Jean Carlo begnügte sich eine Weile mit Schreiben; aber sein junges Leben war so plötzlich leer geworden, jedes Interesse darin schien erloschen, Vaterland und Schwester waren ihm entrissen. In Baden von jeder Verbindung mit den ihm nach und nach in Frankreich und der Schweiz bekannt gewordenen italienischen Flüchtlingen abgeschnitten, verstand er nicht einmal die Sprache, die er um sich reden hörte; war es ein Wunder, wenn in dieser gänzlichen Abgeschiedenheit, im kochenden Blut des Jünglings die Leidenschaft für Leontinen eine Höhe erreichte, die ihn jeder Rücksicht nicht nur vergessen ließ, nein, die sie ihm geradezu unmöglich machte?
Sein Zimmer war dem der so Heißgeliebten [] gegenüber; er hörte sie kommen, gehen. Trotz Josephinens Anwesenheit fand er bald Mittel, ihr zu nahen, sie zu sehen, zu sprechen, sie mit all dem tiefen Zauber seiner poetischen Liebesglut zu umstricken, deren Anblick ihr völlig neu war, die sie nie zuvor gekannt, nie früher geahnt. Denn bei uns wird ja ein wirklich vornehmes Mädchen so sorgsam gehütet, kein Laut, kein Hauch der rohen Heftigkeit der Leidenschaft oder auch nur menschlich-sinnlicher Schwäche berührt jemals ihr Ohr; sie weiß nicht einmal um die Existenz derselben. Und wenn nun auf diese ätherreinen Sinne, auf diese schneeigklare Gedankenfläche die Liebe in Gestalt der heißen Leidenschaft ihr Siegel drückt – wer darf es wagen, sie mit gemeinem Maß zu messen, oder eine Klugheit von ihr zu fordern, die in ihrer Lage eine Erniedrigung, eine Entwürdigung wäre?
Jean Carlo ließ nicht ab, bis sie an seinem [] Herzen, in seinen Armen ihm bebend Gegenliebe gestanden und zuletzt, vom Uebermaß seiner sich immer steigernden Wünsche und Qualen unwiderstehlich fortgerissen, ihm geschworen hatte, nie einem Andern ihre Hand zu reichen.
O, welche Glutwogen der Poesie, des Fanatismus und der sie vergötternden Sinnlichkeit schlugen über des armen Kindes so leicht erregbarem Herzen zusammen!
Wie schal und abgeschmackt erschienen ihr jetzt die früheren Bewerbungen der Männer, die ihr bis dahin von ehrerbietiger Ergebenheit vorgeschwatzt und darin wahrscheinlich nur der Mode oder ihren brillanten Vermögensumständen gehuldigt hatten.
Wenn Jean Carlo spät Abends leise in ihr Stübchen hinüberschlich, Stundenlang vor ihr kniete, ihre kleinen Füße küßte, ihren heißen Athem trank – dann wieder, in plötzlich erwachendem Zorn gegen sich selbst, fast verzweifelnd [] sich anklagte: daß sie mit einem Male die Welt ihm geworden, daß er um ihretwillen sein Vaterland vergesse, daß sie die heilige Jungfrau sei, zu der sein Herz bete – wenn seine heißen wollüstig-schmerzlichen Thränen ihre Hände benetzten, oder wenn er, von der eigenen Glut aufgeschreckt, aufsprang und fortlief, um in der wilden Aufregung seines Wesens mit keinem Hauch ihre kindliche Unbefangenheit zu beleidigen, dann aber, wie gebannt, am Thürpfosten fest angeklammert stehen blieb und nur von fern mit trunkenem Auge die Wonne ihres Anblickes in sich sog, bis dann zuletzt langsam, allmälig die unbegrenzte Herrschaft, die sie über ihn ausübte, die Gewalt seines Gefühls beschwichtigte, ihn zurücklockte und er leise wieder näher trat und mit zitternden Lippen zur »guten Nacht« ihre Fingerspitzen kaum zu berühren wagte, als wäre sie das ihm von Priesterhand geweihte Bild des Allerheiligsten – [] dann mußte ja wol vor allen diesen unverstandenen und doch so beseligenden Empfindungen die ruhige Ueberlegung weichen, die ihr in einsamen Minuten eine Verbindung mit Jean Carlo als unmöglich erscheinen ließ.
Auf den Spaziergängen traf Leontine zuweilen mit dem Dechanten zusammen. Immer machte sein Anblick wieder denselben tiefen, ihr unerklärlichen Eindruck einer höheren Gewalt auf sie. War sie allein, so redete er sie an, und auch er nannte sie Jean Carlo's Stütze, seinen einzigen Trost. Den erhabeneren, an welchen er selbst sein vielleicht einst eben so schmerzlich-bewegtes Herz gewiesen, nannte er ihr nicht; aber dennoch lag in jedem seiner Worte die Glorie der Kirche, welcher er angehörte; immer hob sich aus ihnen, wie in weiter Ferne, eine Friedenshalle empor, die auf goldenen, eine Welt tragenden Säulen ruhte und den Zagenden ein sicherndes Asyl bot. Ach! [] und Leontinens in solchem Zwiespalt von Angst und Seligkeit bestürmtes Herz hatte eines solchen so nöthig!
Josephine ahnte von dem Allen nichts; sie lachte über Geierspergs Späße, mit denen er gegen die Neapolitaner zu Felde zog, sie freute sich über Leontinens blühende Wangen und lobte sie, daß sie nicht tanzte. Daß diese einen Ausbruch von Jean Carlo's wüthender Eifersucht scheute, konnte die Arme nicht ahnen.
Der Sommer ging zu Ende, mit ihm gar mancher bunte Liebestraum. Plötzlich ward der Tag der Heimreise bestimmt. Jean Carlo's Abschied war herzzerreißend. Er kehrte nach Genf zurück, wo er den Winter zugebracht; nach Berlin traute er sich nicht, er fürchtete erkannt und überliefert zu werden.
In des Dechanten Gegenwart, der einen Augenblick aus Jean Carlo's Zimmer zu ihr hinüberkam, ihr Lebewohl zu sagen, zwang er [] die Geliebte, ihm das Versprechen zu wiederholen, nie einem Andern, als ihm, anzugehören, und schwur ihr Treue und Anwendung jeder ihm zu Gebot stehenden Kraft, um ihr sobald wie möglich ein ihrer würdiges Loos zu bieten. Mit dem Versprechen, einander täglich zu schreiben, schieden die Verlobten.
Aber was konnten Briefe einer glühenden Seele, wie die Jean Carlo's war, gewähren? Trotz aller damit verbundenen Gefahr sah er Leontinen mehre Male in Berlin; und als sie im nächsten Frühjahr zu ihren Verwandten nach Schlesien ging, folgte er ihr auch dorthin.
Seine Verhältnisse hatten in diesem Jahre eine Art günstiger Gestalt gewonnen. Obschon sein Name noch immer mit dem seines Oheims zusammen auf der Liste der zum Tode Verurtheilten stand, öffnete sich ihm dennoch durch des Fürsten Medici Vermittlung die Aussicht auf einen künftigen ungeschmälerten Genuß seiner [] Einkünfte im Auslande, das allerdings nur eine beaufsichtigte Freiheit, zugleich aber die Wahrscheinlichkeit der Milderung des Richterspruchs in den einer längeren Verbannung ihm bot.
Und doch waren es gerade diese Hoffnungen, die während eines Sommeraufenthalts Leontinens auf den Gütern ihrer Vettern in Schlesien einen Bruch herbeiführten, dessen Folgen für Beide unberechenbar blieben.
Die Familie des Baron Lersheim, bei welcher Leontine sich aufhielt, sah oft und gern Fremde in ihrem Hause. Jean Carlo ließ sich ganz unvermuthet als einen schweizer Gelehrten, einen Genfer, dort einführen, was er um so eher konnte, da er der Sprache unbedingt mächtig war.
Schön, gewandt, mit dem kräftig pulsirenden Leben in jedem Zuge des Geistes wie der Gestalt, mußte der junge, wirklich liebenswürdige [] Mann gefallen, und bald hatte er das warme Interesse aller Mitglieder des kleinen Kreises sich gewonnen.
Anfangs genoß das schöne Paar der ganz unerwarteten Blütenzeit ihrer Liebe, im Schutz dieser unschuldigen Mystification, ohne Vornoch Rückblick, in der anmuthigen Frische eines jungen Gefühls und jungen Glücks. Ach, nur zu schnell trat die vernichtende Schwüle der Leidenschaft in ihr siegend-verheerendes Recht! Bald ekelte Beide das Spiel mit der so ernsten Empfindung ihrer Lage an. Jean Carlo gestand dem Baron, wer er sei, und stellte ihm frei, das ihn gefährdende Geheimniß auch den Seinen mitzutheilen.
Lersheim dankte ihm gerührt für das ihn ehrende Zutrauen, zog aber vor, bei der noch immer über des jungen Mannes Haupt schwebenden Gefahr, die es schützende Hülle nicht zu heben. Den jungen Fräulein lag die Politik [] zu fern, als daß sie überhaupt etwas Anderes in der Erscheinung des Fremden bemerkt hätten, als daß er augenscheinlich ihrer Cousine Waldau den Hof mache! Die Baronin mochte eine dunkle Ahnung eines traurigen Geschicks ihres Gastes haben, aber zu sehr gewöhnt, ihr Urtheil immer auf das ihres Gemahls zu stützen, suchte sie nicht eigenmächtig nach der Lösung des von ihm nie berührten Räthsels. So vergingen mehre Monate.
Jean Carlo hätte indessen kein Mann und kein verliebter Italiener sein müssen, wenn ihn dies tägliche, öffentliche und doch so geheimnißreiche Zusammensein mit der von Bewerbern umringten Geliebten nicht gesteigert und zu immer heftigeren Wünschen entflammt hätte. Fräulein von Waldau war nicht nur eine sehr glänzende Partie mit einem ganz unabhängigen Vermögen, sie gehörte auch zu jenen fast dämonisch die Phantasie entzündenden Gestalten, deren[] Gegenwart berauschend auf die verschiedenartigsten Männer wirkt, ihre Sinne reizt und quält; sie war eine der Frauen, die der Leidenschaft den Wahnsinn zugesellen. Eine ihr angeborene, durch Erziehung und Umgebung ganz unberührt erhaltene Art Unbefangenheit, eine Unschuld der Unkenntniß, die sie noch gefährlicher machte, ließ sie dem Gemeinen wie dem Unrecht lachend und unbefleckt vorübergehen.
Jean Carlo's heftiges Gemüth, die ihn beherrschende Glut seines Gefühls machten ihm seine Lage bald unerträglich. Er konnte es nicht aushalten, sie andern Männern gegenüber zu sehen, ohne sein Anrecht auf ihr Herz geltend zu machen, er vermochte es nicht, die ihr angeborene Koketterie zu ertragen und machte ihr oft ungerechte Vorwürfe, ja heftige Scenen um unbedeutender Kleinigkeiten willen.
Vergebens bezeigte ihm Leontine die innigste Neigung; vergebens machte sie ihn auf die [] Nothwendigkeit aufmerksam, der Welt kein ernsteres Einverständniß mit ihr ahnen zu lassen; vergebens stellte sie ihm vor, daß des Barons Theilnahme am Geschick eines politischen Verbrechers sich in Abneigung verwandeln werde, sobald dessen Einfluß auf das Leben seiner nächsten Verwandten ihm klar werde; daß ihre Familie eine Verbindung mit einem Ausländer, auf dessen Kopf noch immer ein Preis stehe, nicht zugeben könne; daß bei einer bloßen Andeutung derselben ihr Vetter sie ihren Eltern augenblicklich zurückschicken müsse – Jean Carlo hörte nichts, begriff nichts, als die Unmöglichkeit, diese ewig sich erneuende Gefahr ihres Verlustes auszuhalten.
Alle solche Erklärungen unter den Liebenden führten nur zu erneuten Klagen und der Versicherung: daß er ruhig sein und ihr ganz gewiß unbedingt folgen würde, wenn er wisse, daß keine Ueberredung noch Gewalt sie ihm zu [] rauben vermöge, daß er aber ohne diese Sicherung nicht nach der italienischen Grenze gehen könne, wohin ihn Fürst Medici und sein, wie er, geretteter Oheim beschieden hatten, um Rücksprache der Milderung des Urtheils und der sie bedingenden Umstände wegen mit ihm zu nehmen.
Leontine trieb ihn seinem eigenen Interesse nach zu dieser Reise; ihn selbst hatte der Wahnwitz der Eifersucht zu tief erfaßt; er vermochte weder den Gedanken los zu werden, daß einem Glücklichern gelingen könne, in seiner Abwesenheit die Braut zu bewegen, das ihm gegebene Wort zu brechen, noch sich zu der Trennung zu entschließen, von welcher eine spätere Verbindung mit ihr abhing.
Tage um Tage, Wochen um Wochen vergingen in dieser sich immer neu gestaltenden Selbstqual. Am Ende führte eine unbedeutende Auszeichnung, die Leontine einem Andern zu Theil werden ließ, einen förmlichen Bruch [] herbei. Der verzweifelnde Zorn, mit welchem Jean Carlo sie mit einer alle Rücksicht verachtenden Heftigkeit der Lieblosigkeit beschuldigte, sie in starrer Muthlosigkeit freigab, ihr sogar ganz entsagte, reizte sie übermäßig; in zornigen Thränen wandte auch sie sich von ihm ab.
Im raschesten Uebergange der Klage über sie zur Selbstanklage, wiederholte er ihr nun, daß er unter all diesen Bedingungen und Einschränkungen nicht mehr zu leben vermöge, daß er auf ewig von ihr scheide, daß er den Wink des Himmels, sie freizulassen, sie nicht auch noch dem Fluch seines Schicksals preiszugeben, nicht mehr widerstehe. Noch einmal zog er sie an seine Brust, noch einmal bedeckten seine glühenden Küsse ihre Augen, ihren Mund, ihre glänzende Stirn, dann riß er sich gewaltsam los und stürmte fort. Vergebens suchte sie ihn zu halten, vergebens schrieb sie ihm, beschwor [] ihn, wieder zurückzukehren; er war fort nach Breslau; mehrere Tage hörte sie nichts von ihm.
Eine unnennbare Angst erfaßte nun ihr Herz. Seit Jahr und Tag hatte sie ihn, trotz aller Koketterie, als ihren Verlobten, fast als ihren Gatten betrachtet. In Thränen zerfließend, malte sie sich ihr eignes Unrecht aus, ihren Leichtsinn, ihre Gefallsucht, die Geiersperg so unzählige Male ihr vorgeworfen – ihr dämonisches Anlocken und Aufregen der Männer, die ihr den Hof machten, bis sie die Gequälten, Gereizten zu irgend einer allzuheftigen Aeußerung ihrer Leidenschaft veranlaßt und sie ihr nun plötzlich ganz grenzenlos misfielen, oder ihr gar lächerlich wurden – sie klagte sich auf's Unbarmherzigste an, auch gegen Jean Carlo nicht geduldiger gewesen zu sein, um seine Eifersucht zu schonen. Mit jeder fliehenden Minute steigerte sich ihre Sorge, unwiederbringlich ihn erzürnt, ihn auf immer verloren zu [] haben. Sie schrieb ihm nochmals nach Breslau, erhielt aber keine Antwort.
Es ließ ihr keine Ruhe, unter einem Vorwande fuhr sie hinüber. Sie kannte die Hausleute, bei welchen er wohnte, es waren Handwerker; sie bestellte etwas und fragte nach ihm. Noch war er da – morgen wollte er reisen – da lag sein Paß – großer Gott, nach Neapel! Sie verstand ihn gleich: ohne sie mochte er nicht leben! Noch einmal wollte er unter erborgtem Namen sein Vaterland aufsuchen, dessen sonnengoldene Schönheit begrüßen, dann sein Haupt den Rächern ausliefern; das Dasein war ihm plötzlich zu schwer, um es noch weiter zu schleppen.
Anstatt zur Hausthür hinauszugehen, versteckte sie sich; in einem Augenblicke, da alles still war, schlich sie wieder die Treppen hinauf – sie wußte die Nummer seines Zimmers. Athemlos langte sie oben an; der Finger versagte [] das Anklopfen, der Fuß das Tragen der bebenden, fliegenden Glieder. Gewaltsam riß sie die Thüre auf und stürzte bewußtlos auf die Dielen des Vorplatzes vor ihm nieder –
Jean Carlo empfand den für ein Mädchen, wie Leontine, ungeheuern Entschluß, zu ihm auf seine Stube zu kommen, mit so beseligender, alle Einwendungen seines früheren Gefühls niederschlagenden Gewalt, daß er, wie berauscht von diesem Glück, zu ihren Füßen sank und, fester als je ihr verbunden, lange nur in wortlosem Entzücken ihr zu danken im Stande war. Aber allmälig kehrte den Glücklichen die Besinnung zurück. Vor allen Dingen mußte die Geliebte das Haus verlassen, aber vorher sollte er ihr versprechen, blos bis zur italienischen Grenze zu reisen, dort seinen Oheim aufzusuchen und alle Schritte zur Erreichung der Milderung des gesprochenen Urtheils zu thun. Und abermals fiel die entsetzliche Last auf seine Seele; zum [] ersten Male wagte er in dieser grenzenlosen Hingebung Beider Herzen an einander das Wort: Heimliche Vermählung!
Leontine erschrak; aber sei es, daß der schon allzu ungewöhnliche, bei einer Dame ihres Standes unerhörte Schritt, dem Geliebten in die Stadt, in seine Stube gefolgt zu sein, sie verwirrte; sei es Abspannung nach der ungeheuern Angst, die sie während der letzten vierundzwanzig Stunden erduldet – sie widerstrebte nicht so bestimmt, als Jean Carlo gefürchtet.
Sein Muth wuchs durch diese unverhofft mildere Stimmung; in immer bewegteren, immer eindringlicheren Worten schilderte er ihr von Neuem seine Sorge, sie durch Zwang oder Ueberredung während seiner Abwesenheit zu verlieren; er beschrieb ihr den unendlichen Trost des Gefühls, mit ihr unauflöslich fest verbunden zu sein und die Gewißheit mitzunehmen, [] in der Verbannung wenigstens sicher des ihm nicht mehr zu weigernden Glückes zu bleiben – bis endlich halb verlockt, halb ermüdet, das unbesonnene Mädchen ihm unter der Bedingung nachgab, gleich nach der Trauung seine Reise anzutreten. Welche Feder vermöchte den Wonnetaumel seines Dankes wiederzugeben! Die Erinnerung daran hat oft Leontinens späteres Leben durchleuchtet wie ein Meteor des Glücks.
Nun aber ging zu ihrer Verwunderung alles in fliegender Schnelle. Kaum hatte der Geliebte ihr Ja, kaum hatte er sie wohlbehalten und unbemerkt den Ihren wieder zugeführt, so war auch der alte Domine gewonnen, die Trauung zu vollziehen, durch welche er die Seele seiner »lieben Frölen« dem einzig beseligenden Glauben zu sichern wähnte. Die zu dem italienischen Geschäft bereits früher ihm verschafften Papiere, welche Jean Carlo's Geburt, Rang, Vermögen und Identität bewiesen, waren [] zur Hand. Ehe Leontine zu klarer Besinnung kam, war der sie auf ewig fesselnde Schritt gethan.
Derselbe Freund, der Viatti im Hause eingeführt, ein geachteter Mailänder, der seit Jahren schon in Deutschland lebte und mit der Familie des Baron Lersheim verkehrte, ward unvermuthet, nebst noch einem unter dem Domine stehenden Geistlichen, zum Zeugen der Trauung gemacht; auch Babet wohnte ihr bei, sie war leicht zu bereden, denn Leontine war, wie wir wissen, einundzwanzig Jahre alt, folglich mündig.
Wenige Tage nach der Vermählung reiste Jean Carlo wirklich seinem gegebenen Worte gemäß ab; er schied zwar mit blutendem, aber auch mit hoffnungsreichem Herzen.
Leider aber scheiterten alle die ihn so beglückenden Hoffnungen beim Wiedersehen seines Oheims an beider Männer leidenschaftlich ihren [] früheren Projecten anhangendem Charakter. Jean Carlo und sein Oheim fanden es in dem so unglücklich gewählten Zeitpunkte unmöglich, sich der jetzt abermals schwer bedrohten Gemeinschaft ihrer ehemaligen Verbündeten zu entziehen. Die umsichgreifende Carbonaria hatte abermals unvorsichtige Schritte gethan, deren unselige Folgen nun auch Jean Carlo's Leben erfaßten.
Ein ganzes Jahr verging Leontinen in namenloser Angst, sie sah ihn nicht wieder! –
Ab und zu schrieb er ihr unter Babets Adresse, aber, ach! die nöthige Vorsicht machte seine Briefe unklar. Monate lang entbehrte sie jeder Nachricht, oft wußte sie sogar nicht, wo er war. Leontine litt; sie hätte weit mehr gelitten, hätte ihr leichter Sinn sie nicht über manchen Abgrund schauderhafter Möglichkeit hinweggetragen. Der Schritt war einmal geschehen, [] es lag nicht in ihrer Natur, mit sich selber darüber zu rechten.
Wenn sie dann und wann über jene Zeit nachdachte, mischte sich ein höchst peinlicher Vorwurf für ihren Gemahl in dies Nachdenken; er hatte sie einer unabsehbaren Reihe von Schmerzen preisgegeben, wenn ihre Eltern die unglückliche Uebereilung entdeckten; er hatte ihre Ehre sogar gefährdet, und leise, leise flüsterte sie sich's zu: er hatte leichtsinnig gehandelt, sie preisgegeben – aus nicht ganz edeln Gründen.
Leontinens liebenswürdige aber vielgestaltig bewegte Natur konnte vom Augenblick zu leidenschaftlichen Ergüssen sich hinreißen lassen, die eigentliche Macht einer Geist, Sinn und Willen überwältigenden Leidenschaft begriff Leontine nicht.
Die Herbstreise des Jahres zweiundzwanzig brachte sie wieder nach Baden, und die ferneren bereits mitgetheilten Ereignisse nach Bern, wo [] sie hoffte, Annen ihr Geheimniß entschleiern zu können, als ein Brief Jean Carlo's seine Rückkehr von der italienischen Grenze und seine nahe Ankunft in Bern meldete, wohin ihn der Wahnsinn der heftigsten Sehnsucht nach Leontinen zog, während eben eine Fremden-Verordnung publicirt wurde, welche unter die strengsten gehörte, die je bekannt gemacht wurden.
Während also alle nur einigermaßen in ihr betheiligten Fremden Bern zu verlassen eilten, langte Jean Carlo daselbst an. Das Uebrige ist unsern Lesern bekannt.
Josephinens plötzlicher Eintritt, der die so gewaltsam überraschenden Mittheilungen Leontinens unterbrach, brachte den Grafen Roderich augenblicklich zur Besinnung; die gewohnte Gastfreundschaft, die anerzogene Höflichkeit, die im Duell vor dem tödtenden Stoß den Kämpfenden [] den Gruß auferlegt, siegten auch jetzt, sogar der Schwester gegenüber. Er war der Erste, der auf sie zuging, sie mit wenigen herzlichen Worten bewillkommnete und sie bat, ihm eine unvermuthete Störung zu verzeihen, die sie Alle das Rollen ihres Wagens habe überhören machen.
Auch Anna wandte sich rasch der verehrten Frau zu und legte Leontinen aus ihren Armen an das Herz der Mutter, die, völlig arglos, dem ungeheuern Schlage, der sie treffen sollte, die heitere Stirne bot. Die Freude, ihre beiden Kinder wiederzusehen, wie sie die beiden jungen Frauen gern nannte, verblendete sie, der ganze peinliche Zustand ward nicht sogleich von ihr bemerkt, ja sogar dessen unwillkürliche Andeutung in ihres Bruders Worten vermochte nicht, sie aus dem Taumel von Glück aufzuschrecken, der sie beim Anblick der so lang entbehrten Theuern überwältigte. Sie hatte ja [] die Tochter überraschen wollen, so fiel ihr nicht einmal deren lauter Aufschrei besonders auf, sie maß ihn dem freudigen Erstaunen bei.
Die Gewalt des Augenblicks beherrschte Aller Zungen; Niemand hatte den Muth, den schneidenden Schmerz sogleich in die freudeschlagende Brust Josephinens zu senken, deren Hände die nun auch hinzugetretene Sophie mit Thränen und Küssen bedeckte, deren Hals die herbeigestürmten Knaben jauchzend umklammerten und dann von ihr weg und dem eben erblickten Vater zuflogen, den sie bereits unten im Wagen vergeblich gesucht.
Victor Hugo hat so schön gesagt: das Kind sei der Engel im Hause. Die Freude der Kleinen legte ihren reinen Himmel auf die Gewitterschwüle dieser Stunde; ihr Jubel war so hinreißend, ihr Fragen nach allen mitgebrachten Schätzen, all ihr überwältigendes Schwatzen, [] Kosen und Erzählen so lieblich, daß sie den Sieg davontrugen.
Erst als Josephine längst am Frühstücktische saß und plötzlich ganz unbefangen zu Annen sagte: Ich habe dir noch nicht gratulirt, zu Roderichs Avancement! Wenn ihr nach Wien kommt, wirst du Gelegen heit haben, deinem Hange zur Musik recht gründlich nachzugeben – da fiel das Unvermeidliche einer Erklärung wie ein Meteorstein aus klarer Luft Allen auf's Herz.
Niemand antwortete. Roderichs Züge umwölkten sich, krampfhaft verzogen sich seine Lippen zum Ausdruck eines fast hassenden Zorns – er gedachte Gotthards. Anna erbleichte. Die Zwischenzeit hatte indessen für jeden Einzelnen das Gute gehabt, daß Alle gleich deutlich empfanden: die Entdeckung des unseligen Geheimnisses müsse von Leontinen selbst ausgehen. Sie hatte die sie überkommene Schwäche bereits niedergekämpft; nur den Schmerz, den [] sie ihrer Mutter geben müsse, fühlte sie in unsäglicher Qual. Auf einen fast gebieterischen Wink ließ man sie mit derselben allein.
Keine von Beiden hat je über diese entsetzliche Stunde gesprochen; weder Leontine, noch die Generalin haben je die Art und Weise der Enthüllungen berührt, die das schöne klare Leben der Letzteren mit einem nie wieder weichenden Schatten der Sorge überdeckten. Umsonst versuchte es Leontine jetzt und später, die Aussicht auf eine wahrscheinliche und baldige Lossprechung Jean Carlo's als tröstendes Licht in das plötzliche Dunkel fallen zu lassen, das sie selbst in der Mutter Seele geworfen, umsonst nannte sie ihr den Rang, erwähnte sie die bedeutenden Vermögensumstände ihres Gemahls. So viel Mühe sich die arme Mutter gab, der Tochter Loos nicht durch unnütze Vorwürfe noch trüber zu machen, so wenig vermochte sie, die gewohnte Fassung zu erringen – ihr Muth [] schien plötzlich gebrochen. Theils war es das noch immer über Jean Carlo schwebende Beil des Henkers, das sie so entsetzte, theils mochten Erinnerungen an ihre früheste Jugend, an die Revolution und Waldau's Geschick ihr Gewicht an den ohnehin so schweren Augenblick hängen und die Elasticität ihres Wesens zerdrücken.
Als Leontine geendet und sie nicht mehr im Zimmer sprechen hörte, schlich Anna herein und mischte ihre Thränen mit denen, die langsam und schwer den starren Augen ihrer mütterlichen Freundin entrollten. Aber auch ihre zärtlichsten Worte vermochten es nicht, die Eisrinde zu schmelzen, die sich ertödtend über deren Züge und Herz gezogen. – Lange saßen alle Drei stumm und sinnend neben einander; ach, es ist etwas Furchtbares um dies endlose Herumwälzen eines räthselhaften Gedankens, dem Gott keine Lösung verliehen!
[] Roderich war sogleich zu Gotthard hinübergegangen, den er mit den Knaben beschäftigt fand.
Vergebung, Herr Graf! rief dieser, rasch aufspringend und Kronberg ehrerbietig entgegentretend, es wäre meine Schuldigkeit gewesen, Ihnen aufzuwarten; ich glaubte Sie aber noch bei den Damen.
Ein Wink des Grafen entfernte die Kinder. Sie wußten im Voraus um meine Ankunft? fragte er streng und kalt.
Ja, aber ich vermuthete sie minder bald.
Und konnten dennoch sie nicht erwarten, ohne vorher auf eine Art und Weise in die inneren Angelegenheiten meiner Familie, oder meines Hauses, einzugreifen, die, gestehe ich's Ihnen, so ungewöhnlich ist, daß man sie unbesonnen nennen muß.
Der Graf hatte sich in einen Lehnsessel geworfen, Gotthard stand ruhig vor ihm.
[] Es ist mir lieb, Herr Graf, daß man Ihnen sogleich meinen Antheil an einer Sache ausgesprochen, die zu berühren, ich kein Recht hätte; es erspart mir eine Art Geheimniß, die mir drückend wäre. Doch gestehe ich, nicht geglaubt zu haben, daß dies Wagniß mir Ihren Tadel zuziehen könne; wenigstens nicht, insofern Sie selbst dabei betheiligt sind.
Ich bitte, fahren Sie fort, sagte Kronberg sehr vornehm.
Ich hatte am Morgen die Nachricht bekommen, daß ich die Ehre haben würde, der Gesandtschaft nach Wien vom Ministerium als Commissarius beigegeben zu werden, und daß Sie, Herr Graf, Ihr Diplom bereits erhalten; ich hatte bis dahin nur unter der Hand diese Nachricht und noch keine übernommene Verpflichtung; Sie, Herr Graf, waren schon Gesandter. – Mich dünkt, setzte er mit einer leichten Verbeugung hinzu, daß Sie selbst fühlen [] müssen, daß mir ein innerer Zwang bereits gebot, die Interessen der Gesandtschaft, die ich begleiten soll, über die meinen zu stellen. Hier im Hause konnte nach Ihrer Ankunft der junge Mann weder verborgen bleiben, noch gefänglich eingezogen werden, so mußte er vor derselben Bern verlassen. Mir scheint, ich habe sehr einfach gehandelt; inwiefern Ew. Gnaden Familie dabei in's Spiel kommt, kann ich freilich nicht begreifen.
Erstaunt blickte der Graf den Hofmeister an. Woher kommt dem Menschen diese Sicherheit, dieser diplomatische Aplomb? Er biß sich in die Lippen, er war offenbar zu weit gegangen und Gotthard im Vortheil. Im Gefühl dieses von ihm verfehlten Schrittes ward er ärgerlich – im Aerger unbedacht, denn er setzte hinzu: Wenn, wie Sie sagen, das Interesse des Staates, dem wir nun beide angehören – er legte einen verbindlichen Ton auf die [] letzten Worte – Ihre Handlungen bedang, wenn Sie eine allerdings mich compromittirende Verhaftung des jungen Mannes mir ersparen wollten, wozu, fuhr er sehr ernst und gebieterisch fort, mußten denn die Damen in's Spiel gezogen werden?
Sie hat ihm alles gestanden! sagte sich Gotthard, aber er blieb unerschütterlich, obschon das Herz ihm in den Halsadern schlug und ein heftiger innerer Zorn sein sonst so blasses Gesicht röthete.
Sophie, die Kammerfrau Ihrer Frau Gemahlin, wußte um das Geheimniß, erwiderte er kalt, so schien mir es der Anstand zu erfordern.
Weiß er, wen er uns gerettet oder nicht? fragte sich der Graf. Hat Jean Carlo geschwiegen? –
Uebrigens, fuhr Gotthard fort, konnte die ganze Sache mislingen und ich selbst gefänglich [] eingezogen werden, auf diesen Fall wünschte ich meine Ehre gesichert und meine Papiere, die ich versiegelt der Frau Gräfin übergab, in besserem Gewahrsam, als sie in meinem Zimmer es sein konnten.
Diesen Umstand hat sie mir verschwiegen! dachte Roderich. Und bei meiner Frau, bei einer Dame, glaubten Sie dieselben gesichert?
Sie waren nicht der Art, der Frau Gräfin irgend einen Nachtheil bringen zu können –
Aber, unterbrach ihn der Graf, mit immer steigendem Aerger, ich werde dennoch nie begreifen, wie Sie hierin irgend ein Verhältniß zu meiner Nichte ahnen konnten?
Ahnungen begreift man wol überhaupt nicht, erwiderte Gotthard fast lächelnd, aber in durchaus höflichem Tone.
Der Graf stand auf, ging erst eine Weile im Zimmer auf und ab und stellte sich dann an's Fenster. Er bemerkte drüben seine Frau, [] die noch auf Leontinen wartete und in unbeschreiblicher Traurigkeit still vor sich hinblickte. Das verstimmte ihn noch mehr. Ich bitte Sie, Herr Gotthard, mir aufrichtig zu sagen, was Sie von dieser unglücklich-unklaren Geschichte wissen; die ganze Sache greift so traurig in unser Aller Dasein ein.
In Ihr Dasein? rief Gotthard erbleichend. Mein Gott, da liegt vielleicht ein zweites Geheimniß vor, dessen Fäden ich unbewußt erfaßt! – Ich halte den jungen Mann für geborgen. Durch besondern Zufall hatte ich den Paß eines verstorbenen Landsmannes, eines Architekten, der am Tage vor seiner Abreise von hier plötzlich erkrankte und verschied, er war mit mir vom Rhein hergezogen. Das Signalement paßte ungefähr, es mußte auch dem Glücke etwas zu thun übrig bleiben. Geld hatte der Graf. Ich war über des Nachbars Dach zu ihm geklettert, weil er auf mein wiederholtes [] Pochen an seine Kammerthür nicht öffnete und ich nicht Madame Sophiens Losungswort wußte. – Als ich an's Fenster klopfte, entschloß er sich endlich, mich zu hören, ließ mich aber nicht sogleich ein, sondern begann unsere nähere Bekanntschaft damit, mir ein Pistol auf die Brust zu setzen.
Den Teufelskerl amusirt die Gefahr! dachte Kronberg und seine Jugend flog ihm wie eine Lichtwolke vorüber.
Gotthard erzählte fort: Allmälig überzeugte ich ihn; wir verständigten uns, ich stieg durch's Fenster zu ihm ein; er gab meinen Gründen nach. Einen Hausschlüssel hatte ich, und wir verließen vor Tagesanbruch zusammen das Haus und er – die Stadt.
Und, fragte Roderich, und – er sagte Ihnen, wer er sei?
Gotthard zögerte einen Augenblick, dann [] erst antwortete er: Allerdings; es war der Jüngere der beiden Grafen Viatti.
Und wie erfuhr meine Nichte –?
Er schrieb ihr; ich machte die Aufschrift und legte das Blatt in die Stadtpost.
Und Sie wußten, daß ein Preis auf seinem und seines Oheims Kopf steht?
Wenn ich das nicht gewußt, was hätte mich dann vermögen sollen, meine eigne Existenz zu gefährden?
Herr Gotthard, sagte der Graf kurz, das Alles hätten Sie für mich als Gesandten gethan?
Gotthard ward todtenblaß, die directe Frage überwand ihn, er war nicht darauf gefaßt.
Kronberg maß ihn von Kopf zu Fuß; in den Triumph des mühsam errungenen Sieges mischte sich das Gefühl einer undeutlichen Qual und eines sich steigernden stolzen Widerwillens, er sprach nun sehr besonnen: Und wenn die [] Sache mislang, junger Mann? Und wenn Ihr unbedachtsam rascher Schritt den Grafen Viatti, dessen Verhältnisse nicht zu kennen Sie vorgeben, auf's Schaffot gebracht hätte, was dann? – Mit ihm sterben? Davon konnte keine Rede sein, ich mußte Sie retten, und hätte ich Sie für wahnsinnig ausgeben müssen, und hätte Sie gerettet; aber – brachte Sie das Ihrem phantastischen Ziel auch nur um eine Linie näher? Welche fabelhafte Brücke hofften Sie aus diesem Wagstück sich zu erbauen? Von der Sonderbarkeit des Mittels, sich bemerklich, ausgezeichnet oder gar vorgezogen zu machen, wollen wir gar nicht reden!
Jetzt verstand Gotthard wirklich nicht. Langsam wiederholte er: Bemerkt? vorgezogen? – Hatte denn der Graf eine Ahnung, einen Verdacht? Ihn überschlich eine schneidende Eiseskälte, die sein Blut erstarren machte. Er schwieg.
[] Es sollte mir unsäglich lieb sein, nahm Kronberg das Wort, wenn Sie mich wirklich nicht verständen!
Und doch, erwiderte der junge Mann, muß ich nun um eine Erklärung Sie ersuchen. Vor etwa vier Wochen begegnete Professor Schulz zuerst auf der Treppe Ihrer Etage dem Grafen; dasselbe geschah mir wenige Tage darauf bei einem Auflauf in der Gasse, den die Arrestation einiger Carbonaris veranlaßte; es ward mir nun die Gewißheit, daß mehre Mitglieder Ihres Hauses um seinen Aufenthalt in Bern wußten und vielleicht auf unvorsichtige Art denselben zu verbergen suchten. Eine Woche später, im Augenblicke der wiederholten Bekanntmachung einer sehr geschärften Fremdenordnung, die ihm die Flucht abschnitt, entdeckte ich sein Versteck. Gestern erfuhr ich Ihre Rückkehr und Ernennung zum Gesandten in Wien; es war leicht, die Unannehmlichkeiten zu [] errathen, welche Ihnen aus dieser Angelegenheit entstehen mußten. Die Verhältnisse, in denen Graf Viatti hier im Hause stand – oder mir zu stehen schien.
Also wußten Sie es doch?
Ich erwähnte ja wol schon, daß ich Sophiens Worte: ce n'est pas lui! zufällig gehört. Mir schien die einzige Lösung aus einem Gespräch mit ihm erwachsen zu können; ich bat ihn um Offenheit und gestand ihm, daß ich selbst –
Wie? Sie wagten? – Doch freilich, Sie wollten ihn retten! Aber um welchen Preis? (Also weiß er's nicht! setzte er innerlich hinzu.)
Um welchen Preis, Herr Graf? Jetzt verstehe ich in der That gar nicht – was wollen Sie sagen? Darf ich bitten –
Mein Gott, Sie sagen ja selbst, daß Sie ihm Ihre unsinnige Schwäche bekannt, und ich sehe, daß er diesen Wahnsinn benutzt hat. Es [] begreift sich allenfalls, was konnte ihm am Ende eine solche Rivalität schaden!
In diesem Augenblick verwirrten sich Gotthards Ideen wie vorhin die des Grafen, er hielt den Uebergang für eine Falle; daß Kronberg während des ganzen Gesprächs vorausgesetzt, Gotthard habe eine Neigung zu Leontinen gefaßt und deshalb ihn mit allem Stolze seines Ranges und seiner bisherigen Stellung behandelt, fiel ihm nicht entfernt ein. Er wurde verlegen und fand nicht sogleich eine Antwort.
Da es jetzt auf die Möglichkeit unseres Beisammenseins ankommt, da ich nur höchst ungern die Carrière eines talentvollen jungen Mannes störend unterbrechen möchte, so erlauben Sie mir schließlich noch eine Frage. Haben Sie je gewagt, sich auszusprechen? – irgend Jemanden eine Thorheit einzugestehen – die – weiß Leontine?
[] Das Fräulein? Wie kann ich das wissen, Herr Graf!
Nun, jedermann weiß doch, ob er sein Gefühl verräth. Haben Sie irgend Gründe zu glauben, daß das Fräulein Ihre Leidenschaft errathen hat?
Ich? eine Leidenschaft für das Fräulein? – Gotthards Augen wurden starr, er sah blaue und rothe Funken und keinen äußeren Gegenstand mehr.
Und für wen denn sonst? fragte der Graf.
Beide Männer schwiegen; sie standen plötzlich als Todfeinde einander gegenüber. Hier konnte kein Wort mehr ausgesprochen werden.
Wie bei vielen Männern, deren Eitelkeit an die Stelle einer Herzensforderung tritt, war in Kronbergs Seele ein wunder Fleck: das instinctmäßig errathende Gefühl, von seiner Frau nicht eigentlich geliebt zu sein. Der Quell dieser schmerzenden Empfindung war zugleich der [] eines stolzen Verbergens seiner geheimen, nagenden Eifersucht; lieber würde er Annen einem Abgrund von Schuld und Reue zugeschleudert haben, als daß er jemals diese Schwäche einer Leidenschaft eingestanden hätte, deren Aeußerung er auf's Tiefste verachtete.
Nach diesen Andeutungen wird man begreifen, wie er nach kaum minutenlangem Schweigen, ohne weiteren Uebergang, sogleich mit Gotthard von den Kindern zu reden begann, deren so höchst vortheilhafte Entwicklung er dankbar pries und zugleich sein höchstes Bedauern darüber aussprach, daß die neue Lebenswendung Gotthard natürlich nicht mehr erlauben werde, sich ferner mit der Erziehung derselben zu befassen, da ernstere und höhere Pflichten es ihm von jetzt an unmöglich machen müßten. Glauben Sie mir, schloß er im wohlwollendsten Tone, daß ich die Größe dieses Verlustes für meine Knaben schmerzlichst zu schätzen [] weiß. Indessen wäre es Thorheit, daran auch nur zu denken.
Gotthard stiegen die Thränen in die Augen. Er fühlte sich mit einem Male aus jedem Zusammenhange mit der Geliebten losgerissen, er empfand den trennenden Schnitt, der die Bande des heiligsten Vertrauens zwischen ihnen löste, er sah sich auf eine ganz einfach herbeigeführte Weise gewaltsam aus dem Hause in's Weite hinausgestoßen, verbannt; und doch geschah das Alles so natürlich; die Kinder, die seinem Herzen so nahe standen, mit deren Interesse jede Faser ihres Lebens ihm verwachsen schien, sah er durch ein einziges Wort sich geraubt – er vermochte keine Erwiderung zu finden.
Möchten Sie, junger Freund! fuhr Kronberg mit fast väterlicher Güte fort, seine schöne Gestalt hoch aufrichtend, indem er jetzt mit jeder Sylbe eine größere Herrschaft über sich errang, möchten Sie jede neue Lebensstellung so [] zu Ihrem Vortheil einnehmen, jede Forderung so völlig genügend erfüllen, als dies bei uns geschehen ist. Ich dringe nicht in Ihr Geheimniß in Bezug auf den Grafen, ich bitte Sie Ihrerseits, nicht erforschen zu wollen, welche Verpflichtung die Meinen hatten, ihn zu retten. Nehmen Sie meinen Dank für das, was Sie, wie ich jetzt einsehe, im Einklang mit unsern Empfindungen, ohne Kenntniß der näheren Umstände gethan. Sie haben, obschon unvorsichtig, dennoch edel gehandelt, und ich freue mich, Ihnen dies als Ergebniß unseres langen Gesprächs sagen zu können. Er wandte sich, freundlich mit der Hand grüßend, der Thüre zu.
Gotthard eilte ihm nach und versuchte dem fast an der Schwelle Stehenden auseinanderzusetzen, daß er wenigstens die Oberaufsicht über der Kinder Unterricht und den ferneren Gang ihrer Bildung für's Erste sich zu erhalten wünsche, und daß eine Stellung, wei[] die ihn erwartende, unmöglich seinen ganzen Tag in Anspruch nehmen könne. Er sprach beklommen.
O, bester Herr Gotthard, sagte lachend Kronberg, Sie kennen Wien nicht und möchten sich einen Atlas von Unbequemlichkeiten und Unthunlichkeiten aufbürden. Nein, nein; seien Sie überzeugt, daß ich und die Gräfin, die natürlich ganz einverstanden mit mir ist – Gotthard wurde wieder todtenbleich, der Graf sah es, aber kein Zug des triumphirenden Gesichts verrieth ihn – Niemanden lieber die Leitung der Erziehung unserer Kinder überlassen möchten; aber Sie werden bald sehen, daß es unmöglich ist.
Apropos, fuhr er fort, indem er die Hand auf den Drücker legte, Sie werden wohl thun, nach Berlin zu eilen, um sich den Herren dort zu präsentiren. Eigentlich wollte ich Ihnen das gleich sagen und vergaß es; ich wünschte aber, [] Sie reisten spätestens morgen früh, damit Sie mit uns zugleich in Wien eintreffen, am achten werde ich dort sein.
Als sich die Thüre hinter ihm schloß, stürzte Gotthard mit einem lauten Schmerzensschrei auf das Sopha und barg sein Gesicht tief in die Kissen – ihm war wie nach einer furchtbaren Operation, oder als sei ihm das Herz aus dem Leibe gerissen, als dehne sich das lange leere Leben unabsehbar weit aus vor ihm zu einer Ewigkeit der Pein und des Hasses. In diesem Augenblick hätte er kalten Blutes den Grafen zu ermorden vermocht.
Sie sehen! sie sehen, noch einmal sie sprechen! Keine Erdengewalt, kein Gottesfluch, kein Himmel und keine Hölle hätten ihn in dem Vorsatze wanken gemacht.
Er ging entschlossen und fast ruhig hinüber, denn wenn Leidenschaft und ein unerschütterliches Wollen zusammenstoßen, entsteht eine wunderbare,[] dämonisch über dem Leben schwebende Ruhe; er ging geradezu zu Sophien und ließ sich bei der Gräfin melden.
Und er sah sie. Welche höhere Natur hätte nicht im Leben eine solche Gipfelstunde höchster Qual und höchster Seligkeit gehabt, die ihr den Maßstab zu leihen vermöchte für die Minuten dieses wieder einander Gegenüberstehens.
Anna hatte fürchterlich mit sich gerungen, um sich den Vorsatz abzuzwingen, ihm Leontinens Vermählung zu verschweigen. Als sie ihn sah, drang ein solcher Strom der klarsten Lebenswahrheit in ihr Herz, daß sie nicht entfernt daran dachte, ihm irgend etwas zu verbergen. Als er von ihr ging, hatte er ihr ausgesprochen, daß er sein Leben ihrer würdig machen werde. Was Beide einander eigentlich gesagt, wußte keines von ihnen, es tönte kein einzelnes Wort ihnen nach von dieser Unterredung; was sie von einander wußten, war wie [] ein ursprünglich Angeborenes in die tiefste Tiefe ihrer Seele gesunken.
Als Gotthard aufstand, um zu gehen, fiel ein unermeßlicher Schreck, wie eine erdrückende Gewalt auf Annens Geist; sie starrte ihn sprachlos an und streckte unbewußt die Hand aus, als wolle sie ihn halten. Er faßte diese weiche Hand und küßte sie sanft. Gräfin, sagte er, die Augen fest in ihr Herz schlagend, als sollten sie auf ewig darin wurzeln, Sie haben einmal gefragt, ob ich ein lebenslanges Verstehen und Festhalten des Herzens zu begreifen, zu glauben vermöchte? Was der Mensch in das erwidernde Wort zu legen vermag, ist wenig – er ist ein Bettler, wenn er spricht, ein Bettler, der sich mit geborgten Lumpen kleidet, die seiner Seele nicht passen – dennoch habe ich geantwortet, weil Sie fragten. In dieser Stunde, die mich von Ihnen bannt, und doch zum ersten Mal, das fühle ich jetzt mit [] überraschender Gewalt, mich Ihnen frei gegenüberstellt, lassen Sie mich Sie auf die Antwort verweisen, die Ihnen mein Leben geben wird. Er schwieg einige Secunden, um das Beben seiner Stimme zu bemeistern, und wie eine plötzliche Jugend überflog die himmlische Schüchternheit der Liebe seine Züge, eine weiche, schmerzliche Zaghaftigkeit verwandelte den festen Mann wie durch Zauber zum Jüngling. Der Laut haftete fest auf den zögernden Lippen; endlich entrang sich ihnen ein leises, kaum hörbares: Leben Sie wohl! vergessen Sie nicht, daß ich meines Daseins Blüte und Frucht auf Ihren Weg gelegt, nicht als ein Opfer, o nein, – er schlug die Augen aufwärts, aber ohne den Muth, sie anzusehen, blickte er nur vor sich hin, in die Weite des blauen Himmels – nur als Ihr Eigenthum!
Was wollte denn Herr Gotthard? fragte eintretend der Graf.
[] Seine Papiere holen und mir Lebewohl sagen.
Kronberg bemerkte das convulsivische Zittern ihrer Stimme sehr genau. Er schwieg, setzte sich aber zu ihr auf's Sopha und blieb den ganzen Abend bei ihr. Sie sprachen von gleichgültigen Dingen; selbst Leontinens schwer bedrohtes Geschick wagte keines zu berühren. Josephine und ihre Tochter schrieben an Geiersperg.
Kronberg war entsetzlich aufgeregt, er litt tausendfache Qualen; mit angespannter Kraft beherrschte er jeden Blick, jedes Wort. Seine frühere Liebe für Anna war momentan erwacht in all ihrer Stärke; das Recht auf ihren Besitz, die Willenlosigkeit, mit welcher sie jeden Ausdruck desselben ertrug, und der ihm ganz fremde Anblick der Leidenschaft in diesen Augen, die für ihn stets nur Wohlwollen, Güte, einen freundlichen Blick gehabt, in jahrelangem Beisammensein, in jahrelanger Hingebung, drangen [] wie ein zweischneidiges Schwert in sein Herz. Roderich war eine heftig sinnliche Natur, aber poetisch dabei, poetisch und verfeinert bis zur Selbsttäuschung, umkränzte er den Becher des Genusses mit den Rosen der Phantasie. Wo keine Liebe ihm entgegenlachte, nahm er den Schein derselben in willkürlicher Uebertreibung dafür hin, aber er war dennoch viel zu klug, um die gewaltige, durchleuchtende Wahrheit des Daseins einer solchen Liebe, wie er sie empfunden zu haben wähnte und vergeblich in seiner Frau gesucht, in ihrer strahlenden Gegenwärtigkeit, in der ihn marternden Realität, die seine Eifersucht so peinlich stachelte, zu übersehen.
Es wird vorübergehen! sagte sich seine Eitelkeit. Aber was ist's? Sein Aeußeres? – er hatte das Gefühl, schöner zu sein, als Gotthard – also seine Jugend! – In dieses Analysiren ihres Gefühls mischten sich ihm die heterogensten Empfindungen des Stolzes, einer[] misachtenden Erinnerung an Annens frühere, denen Gotthards ähnliche Verhältnisse und ihrer Anhänglichkeit an dieselben mit der ihn vernichtenden Angst vor einem möglichen Ridicule.
Gegen Abend stürzte Egon, in Thränen gebadet, in's Zimmer und an Anna's Brust. Mutter! Mutter! laß mich mit Herrn Gotthard gehen, bei ihm bleiben!
Herr Gotthard kommt wieder, sagte Anna weich.
Ja, aber er wird in einem andern Hause wohnen, fuhr der Knabe fort, und uns keine Stunden mehr geben. Ich mag keinen andern Lehrer, wir wollen Beide mit zu Herrn Gotthard gehen.
Und Vater und Mutter verlassen? fragte Kronberg streng, indem er den Arm des Knaben ziemlich hart ergriff.
Du thust mir weh, Papa! schluchzte das Kind, ich will dich und Mama alle Tage besuchen; [] aber ich kann nichts lernen ohne Herrn. Gotthard; und wer soll mit uns gehen und uns alles zeigen? Laß mich mit ihm, Vater!
Kronberg schleuderte zornig den weinenden Knaben von sich, der wieder hinüberlief.
Herr Gotthard scheint eine Art Hexenmeister, sagte er scharf und kalt; ich hasse dergleichen Uebertreibungen. Hast du dich denn gar nicht um die Kinder bekümmert, daß diese Albernheit so tiefe Wurzeln schlagen konnte?
Herr Gotthard ist dieser Liebe völlig werth, erwiderte Anna stolz; er hat unsäglich viel für die Kinder gethan.
Roderich lächelte verächtlich. Diese Magnetiseurs-Eindrücke sind de mauvais goût. Ich bin ganz froh, den Menschen los zu sein, obwol er ein vortrefflicher Arbeiter scheint und mir in Wien von bedeutendem Nutzen sein wird.
Mit großer Anstrengung hatte er dem Anfang [] seiner Phrase das Ende angeknüpft. Er verließ das Zimmer.
»Ich vermag es kaum mehr, an die Wirklichkeit meines Glückes zu glauben, lieber Otto!« schrieb Vrenely. »Seit Anna und Leontine und Alle fort sind, ist mir, als habe mir nur wunderschön von dir geträumt, wie in den ersten Wochen unserer Bekanntschaft, wo ich kein Auge schloß, ohne dein liebes Gesicht sogleich vor mir zu sehen. Es kam Alles so entsetzlich schnell. Die Generalin und meine Leontine schien ein mir unverständlicher, tiefer Gram zu beugen; auch Anna hat grausam gelitten. Ich ahne wol einen Theil, doch nicht den ganzen Umfang ihrer Schmerzen; aber wenn ich die edle Frau und ihre Verhältnisse betrachte, muß ich die Augen niederschlagen, sie steht so einsam mitten unter den Ihren; – wie ist mir [] doch das Glück, einem vollen Blütenkranz gleich vom Himmel auf die Stirn gefallen!
Du könntest Annen noch in einem der Nachtquartiere sehen, da sie der Pferde wegen so gar kurze Tagereisen machen; jedoch das Alles schreibt sie dir selbst – ich möchte dich nur leise bitten, dir die Freude nicht zu versagen, meint' ich nicht, dein liebes Herz sei der beste Berather. Ach, mein Otto! ich möchte um die Welt nicht, daß du Annen jemals vergäßest, kann ich gleich nicht recht ausdrücken, warum.
Laß uns vereint unsre Kraft anwenden, ihr den dornenreichen Weg zu erleichtern – diese Wege über die sogenannten Höhen des Lebens sind so öde, so traurig! Man verarmt im Steigen und verliert alle Kleinode und Blütenschätze, die man in den stillen Thälern errungen; sie haben den Glanz und das Eis unserer Alpenpfade, aber sie scheinen mir gefährlicher [] und grausamer, als unsere Gletscher mit all ihren drohenden Schrecken.«
Es war ein trüber, kalter Samstagsmorgen, als Otto dies und Annens Abschiedszeilen erhielt. Er hätte hin gekonnt; er ließ sich ein Pferd satteln und ritt es auf halb ungebahnten Wegen todtmüde, übernachtete in einer Dorfschenke im Gebirg und kehrte erst am Sonntag, Abends, spät nach Basel zurück, als ihn die Montags-Collegien zwangen, jeden Gedanken an ein nochmaliges Wiedersehen – wieder Scheiden Anna's aufzugeben.
Nach vierundzwanzig Stunden lag er an einem nervös-rheumatischen Fieber darnieder; doch seine kräftige Natur überwand es bald. Er stand auf, ermannte sich gewaltsam, las seine Collegien, arbeitete im Laboratorium und lebte so von einem zum andern Tage.
Vrenely hatte entsetzlich gelitten durch sein Schweigen, aber nicht zum zweiten Male geschrieben. [] Endlich schrieb er ihr auch, daß er krank gewesen, Annen aber erwähnte er mit keinem Worte.
»Ich danke dir«, schloß sein Brief, »damit begann mein Verhältniß zu dir, damit laß mich fortfahren bis zum Ende. Ich danke dir, daß du bist, wie du bist, daß du mich kennst und mich verstehst. Vertraue mir ferner und laß mich gewähren, reden, schweigen, wie es das Herz in mir verlangt; auch ohne Laut, Theuerste, wird es dem deinen immer antworten.«
Balsamisch weich legte sich das Frühjahr auf die ermüdete, aus manchen Wunden noch blutende Erdenwelt; im größeren Theile Europa's war eine momentane politische Ruhe eingetreten; in Wien bereitete sich König Johanns Uebergabe des brasilianischen Throns unter den [] Diplomaten vor; in der Gesellschaft wogte das gewohnte Kunst-, Liebes- und Intriguenwesen wie immer. Es war noch früh im Jahr, im Salon war es noch Winter, draußen jubelten die Lerchen auf, die goldnen Sonnenstrahlen küßten die Blütenknospen der Veilchen, Marien- und Sternblümchen wach. Seit den auf den vorigen Seiten erzählten Ereignissen war über Jahr und Tag vergangen. Die Einzelnen des früher in Bern versammelten Kreises waren auseinandergerissen, andere neue Glieder an deren Stelle in der Kette jener scheinbar so eng verbundenen Existenzen eingefügt, das Wechselspiel des Lebens hatte in mancher Beziehung sein Recht geltend gemacht.
Anna's Herz war nicht heiterer geworden; gleichgültigen Auges sah sie auf die belebten Straßen und glänzenden Equipagen, auf das anmuthig-laute wohlhäbige wiener Volksleben nieder, das durch dieselben hinwogte und an [] welchem ihr leichter Wagen sie vorübertrug. Sie hatte nach beendeten Ferien ihren Egon in sein Institut zurückgebracht – nun war es wieder leer um sie, wohin sie auch blickte.
Jetzt fuhr eine glänzende Stadtequipage heran. Anna schreckte zusammen und entfärbte sich, ihr Blick ruhte eine Secunde lang fast ängstlich auf den spiegelhellen Scheiben des Wagenfensters, es ward rasch niedergelassen. Kronberg grüßte sie freundlich – verbindlich, fast wie ein Fremder – und sie flogen einander vorüber.
Als sie in ihr Cabinet trat, um vor der Soirée noch ein Stündchen zu ruhen, saß ihr alter invalider Freund St. Luce bereits in demselben. Sie schon hier, lieber General? Das ist freundlich von Ihnen, daß Sie mich erwarteten, sagte sie leichthin.
Sie wissen, verehrte Freundin, daß ich mich gar nicht gern so rottenweise mit dem ganzen [] Trosse Ihrer Anbeter zugleich begrüßen lasse, erwiderte er, indem er ihr seine einzige Hand bot – ihm fehlte ein Arm – auch habe ich auf ein Plauderstündchen in Ihrem Boudoir gerechnet, wenn Sie nicht noch Toilette machen.
Nur eine fertige Coiffure drücke ich mir auf den Kopf; ich bin sogleich wieder bei Ihnen. Sie verschwand durch eine Seitenthür und kehrte nach wenigen Minuten im schwarzen eleganten Gesellschaftskleide und dem zierlichen, ebenfalls schwarzen, Aufsatz zurück. Nun, General! was haben Sie mir Neues mitgebracht?
Une pensée, erwiderte lachend der Gefragte, und zwar in Stiefeln und Sporn. (Das Gespräch wurde französisch geführt.) Ich sagte besser noch auf deutsch: »ein Vergißmeinnicht!« ich habe den ehemaligen Besitzer Ihres Posthörnchens, Ihren Monsieur August, aufgefunden.
[] Ach! Sie sind wahrhaftig eine Art Hexen-Schatzgräber und höchst glücklich im Finden.
Dies Mal nicht ganz. Rathen Sie einmal, wer es ist?
Wie kann ich, lieber General!
Mein alter Bediente und ehemaliger Reitknecht August, der mich seit zwölf Jahren nicht verlassen hat, und dem unzählige Mal die Gnade geworden, Ihnen in oder aus dem Wagen zu helfen!
Ist's möglich? das freut mich ungemein. Aber daß mir das nie geahnt!
Zwölf Jahre ist der alte Kerl in meinem Dienst, ihm fehlt glücklicherweise nur der Gebrauch des linken Armes; aber das Ding bammelt ihm noch zur Seite, er hat nicht, wie ich, blos einen armen Stummel aufzuweisen – kurz, wir helfen einander eben aus; das Schicksal hat uns ja Beide auf einem Felde in einer Stunde getroffen. Zwölf Jahre schweigt [] der Narr, und heute, erst heute, erzählt er mir, daß er die Frau Gräfin, wie er Sie par excellence nennt –
Das ist eine Artigkeit für Sie, General! weil Sie mir die Cour machen!
Es war eine bis heute, wo er mir sein älteres Recht, Sie zu verehren, bewiesen.
O, schicken Sie mir ihn, lieber Freund! sagte Anna innig und weich, ich bin ihm noch ein Gegengeschenk schuldig. Sie zeigte auf eine kleine Uhr über ihrem Schreibtische, an welcher die ihr von August geschenkte Berlocke hing. Leider ist Monsieur August ein Prophet gewesen, und das Posthorn bläst die obligate Begleitung zu allen Hauptmelodien meines Lebens.
Wissen Sie auch warum?
Vermuthlich, weil ich nicht mehr gern reise und allzugern gereist habe. Was man in der Jugend wünscht, hat man im Alter die Fülle.
[] Geht noch, das Alter zu ertragen, wenn man sechsundzwanzig Jahre zählt.
Sie müssen nun nicht mehr so bestimmt von mei nem Alter sprechen, General! nicht eher, als bis mein ältester Sohn erwachsen ist, dann bin ich nach Ihren französischen Grundsätzen der Galanterie stets ein Jahr älter als er, also positiv jünger, als jetzt. Aber was meinen Sie wegen der Prophezeiung?
Daß Sie uns schwankenden, unsicheren Naturen das Bild der Stabilität in der ewig wechselnden Umgebung zu geben bestimmt sind – Sie bleiben überall Sie selbst. Er sah sie mit tiefem Wohlwollen an, es überflorte eine Art Wehmuth seine heitere, mit Narben verzierte Stirn.
Sophie brachte auf einem silbernen Präsentirteller ein Paar weiße Handschuhe, ein Batisttaschentuch und Trauer-Armbänder von Lava. Anna reichte ihr den wunderschön geformten [] Arm, um dieselben zu befestigen; St. Luce sah mit heimlich vergnügter Bewunderung zu, aber er wagte kein Wort. Noch immer in Trauer? fragte er endlich.
Kronberg fürchtet die Todten nicht, erwiderte Anna schwermüthig, nur die Lebenden sind ihm – unbequem.
Ist Ihr Bruder noch in Wien?
Leider!
Kann ich etwas für Sie thun?
Sie schüttelte traurig das Haupt. Morgen, lieber Freund! jetzt muß ich mir die Augen hell erhalten. Sophie hat das Zeichen zum Aufbruch gegeben. Ihren Arm, General!
Sie traten in den Gesellschaftssaal und fanden dort bereits einige Herren versammelt, die der Gräfin Ankunft erwarteten. Bald vergrößerte sich der Kreis; Duguet machte den Maître d'hôtel und führte die Aufsicht über eine glänzende zahlreiche Dienerschaft. Es war [] eine Reihe Zimmer geöffnet, in der eine sehr verschiedenartige Menge sich hin und her bewegte, denn die Gesellschaft war keine besonders für diesen Abend eingeladene, sondern einer der gewöhnlichen Empfangstage der Kronbergs hatte den bunten Kreis gebildet. Anna machte unvergleichlich die Honneurs, sie vergaß Keinen, hatte für Alle Blicke, Worte, Aufmerksamkeit; sie störte keine einzige Coterie, keine partie carrée, keine Unterhaltung Zweier, die unter funfzig Menschen allein zu sein glaubten; sie übersah keinen von Langeweile Bedrohten, kein erstes Auftreten, keine schüchterne Unsicherheit, und that das Alles so leicht, so ganz ungezwungen natürlich, daß jedem Einzelnen war, als bescheine gerade ihn die Sonne ihres Wohlwollens. Die jungen Männer umdrängten sie mit ungeheuchelter Bewunderung, die hübschesten Frauen vergaben es ihr; nur konnte Niemand von ihnen begreifen, daß sie, [] die so allgemein Ausgezeichnete, kein einziges der ihr von allen Seiten gebotenen Herzen annahm, daß man nirgends die Anknüpffäden eines werdenden Verhältnisses gewahrte, obschon ihr aus manchem Auge mehr als gewöhnliche Theilnahme entgegenleuchtete, obschon unter dieser Männerschar mehre einer mühsam gezügelten Glut der Leidenschaft für sie beschuldigt wurden; die anmuthige Frau nahm das Alles hin, als müsse es so sein, es überraschte sie nicht, – vielleicht war ihr darum auch gar nichts gefährlich.
St. Luce schien in ihre Nähe gebannt, er hing an ihrem Auge, am flüchtigsten Ausdruck ihrer Züge; er bewachte sie wie ein geliebtes Kind und suchte den kleinsten ihrer Wünsche zu errathen. Es hatte etwas seltsam Rührendes dies stille um sie Hergehen ohne allen Anspruch. Er stand noch im kräftigen Mannesalter, aber die schweren, schlecht geheilten Wunden, der bei [] Montmartre zurückgelassene Arm, das steif gewordene, gelähmte Bein hatten ihn fast zum Greise gemacht, sie ließen ihn um zehn bis zwölf Jahre älter erscheinen, als er war. Daß ihn ein sehr warmes Freundschaftsgefühl zur schönen Deutschen hinzog und ihn an ihre Schritte fesselte, ließ sich leicht bemerken, doch lag in der sonderbar verlassenen Stellung der jungen Gräfin eine wunderliche Entschuldigung; daß sie eines führenden Arms, eines freundlichen Beachtens bedürfe, sah Jedermann, und somit schien die Wahl des ältesten ihrer Verehrer zum steten Begleiter ihr nur den allgemeinen Beifall sichern zu können.
Seit vielen Monaten schon stand Anna wirklich allein in der Gesellschaft, wie im Leben. Ohne das Gefühl einer ihn peinlich nagenden Eifersucht verloren zu haben, hatte Roderich damit begonnen, ihr eine volle, ja vielleicht übertriebene äußere Freiheit aller Handlungen [] gewaltsam aufzudringen. Nach und nach hatten sich dem heimlichen Ingrimm dieser sorgfältig verhehlten Leidenschaft noch andere Gründe zugesellt, seine Frau auf eine Weise zu vernachlässigen, die weder mit seiner öffentlichen Stellung, noch mit den damaligen wiener Gewohnheiten und Sitten der großen Welt im Einklange stand, so leicht dieselben auch waren.
Daran thut er indessen nicht besonders Unrecht, sagte Baron Luthbert; man kann doch wahrhaftig nicht Zeitlebens in seine eigene Frau verliebt bleiben! Und übrigens ist ihr alter Verehrer St. Luce auch nur – eine Uebergangsperiode.
Die kleine Capacelli ist allerliebst! Man sagt, Kronberg wird sie gar nicht wieder auftreten lassen.
Ganz gut, erwiderte Herr von Feldenau, aber man muß die Dehors beobachten! Daß [] er die Sängerin in seiner eigenen Equipage fährt, ist unverantwortlich, er kann ihr ja ihren besondern Wagen halten!
Sie meinen, weil sie keine Frau von Stande ist?
Ja, schauen's, mein bester Baron, Verhältnisse der Art wird es geben, so lange die Welt steht. Aber jede Dame aus unserem Kreise kann uns die Gnade erzeigen, unserer Equipage sich zu bedienen, das fällt nicht auf, da ist nichts dagegen zu sagen; aber so ein hübsches Weibchen sie ist, die Capacelli – Das Gespräch ging in leises Flüstern über. Ach, was, sagte endlich Luthbert, wir haben es Alle nicht besser gemacht!
Es schlug zehn Uhr; Kronberg trat eben mit einigen Herren vom Diplomatencorps in den Saal. Die Theater waren zu Ende, die Gesellschaft vergrößerte sich und wurde lebendig. Es ward Musik gemacht und in einem Nebensaal tanzten die jungen Leute.
[] Nein, sagte eine schöne blasse Frau mit tief blauumringelten Augen, ich mag dies kalte Feuer nicht; man hat keinen solchen Blick ohne innere Empfänglichkeit! Die Gräfin Kronberg spielt Komödie und täuscht uns Alle; ich mag dies Andersscheinen, als man ist, nicht.
Mein Gott! erwiderte ihre Nachbarin, sieht denn Niemand, daß diese arme Frau nur kalt scheint, weil sie an innerer Glut zusammenbricht?
Die Meisten sehen es wirklich nicht; ich möchte aber das Zauberwort kennen, das ihr inneres Leben löst, ich lese es auf keiner dieser Stirnen.
Geben Sie Acht, da ist er! bemerkte hinter ihnen eine Stimme.
Aus der Thüre des Nebensaals trat Gotthard! sein fragender Blick suchte Annen.
Ein interessanter Kopf! sagte die blasse Frau. Wer mag das sein?
Gotthard war eine halbe Stunde früher von Berlin zurückgekommen, wo er mehre Monate [] zugebracht. Kronberg hatte Annen noch gar nicht wieder gesprochen und ihr folglich kein Wort von dessen Ankunft gesagt. Mitten in der ernstesten Unterhaltung mit einigen Koryphäen jener Tage hatte er den Kopf so gewendet, daß er Beide beobachten konnte.
Gotthard sah es im Spiegel; aber er hatte sie drei volle Monate nicht gesehen, seine Züge drückten das Aufjubeln seines Herzens aus. Anna's Gesicht überflog ein brennendes Roth. Beide grüßten sich zugleich und begannen schon nach den ersten Bewillkommnungsformeln ein langes Gespräch, in dem sie eigentlich nichts sagten und dennoch Jedes von ihnen unendlich viel zu verstehen meinte.
Den liebt sie? fragte die blasse Frau. Aber wer ist es? wiederholte sie.
Ein junger Envoyé des preußischen Hofs, nicht eigentlich der Gesandtschaft attachirt, aber doch mit ihr in Beziehung; er soll bereits im [] Ministerium als Geheimer- und Cabinetsrath Sitz und Stimme haben, erzählte Gräfin Schlichten. Man sagt, er sei ein – sie flüsterte ihrer Freundin einen Namen in's Ohr – und werde eine enorme Carrière machen.
Jetzt sieht er sie – jetzt redet er sie an! Die blasse Frau seufzte und versank in wahrscheinlich düstere Träume und Erinnerungen, denn sie wurde noch starrer und bleicher, und sagte kein Wort mehr.
Da ist der junge Gotthard wieder, bemerkte ein ungarischer Offizier seinem Nachbar. Sehen Sie doch, welche plötzliche Veränderung in der Kronberg! Ein solcher Blick und ich würfe ihm mein Leben nach, wie eine ausgepreßte Orange.
Bah! bah! Seien Sie nicht so excentrisch, mein guter Fritz! Befehlen Sie Ananas-Eis? Die Frau ist bildschön! Nach ihm wird sie accessible werden; warten wir's ab!
[] Sie vergessen, daß Sie von der Gräfin Kronberg sprechen, sagte fest und scharf St. Luce, der hinter den beiden Herren gestanden.
Der Offizier maß ihn von Kopf zu Fuß und drehte ihm, wie zufällig, den Rücken, um dem Tanz im Nebenzimmer zuzusehen. Der alte Narr ist auch in sie verliebt, murmelte er vor sich hin.
Was thut denn hier ein französischer Ehrenlegionist? fragte ein Anderer.
Er sitzt als Niobe neben dem Herzog von Reichstadt. Früher war er eine Creatur Napoleons, aber eine der unschädlichen; als man den Herzog von Reichstadt herbrachte –
Das arme Kind! Ihm sieht der Tod aus den Augen! Schon jetzt fühlt er das Entsetzliche seines Geschicks!
Ich bitt' Ihnen, er ist ganz vergnügt! sagte ein dicker, behaglicher Major.
St. Luce ist dem französischen Kaiser sehr [] attachirt gewesen, fuhr der Erste fort; nachdem er ihm in den Schlachten von Leipzig und Montmartre seine Gliedmaßen geopfert, ist ihm nur das Herz geblieben, das ihn dem Knaben nach, hierher gezogen hat. Man hat ihn anfangs beobachtet, aber – Das Gespräch verschwamm wieder im allgemeinen Stimmengebrause.
Unterdessen standen Anna und Gotthard noch mitten im Saale; sie hatten die Außenwelt vergessen.
Wie anders hatten die anderthalb Jahre Gotthard zur Welt und zu Annen gestellt! Sein ungewöhnliches Talent hatte ihn dem Ministerium nach so kurzer Zeit schon unentbehrlich erscheinen lassen. Noch hatte freilich seine Lage durch die Vielseitigkeit seiner Arbeiten, welche wiederholte Reisen zwischen Wien, Berlin und den älteren Provinzen veranlaßten, keine äußerlich bestimmte Form erhalten können. Er hatte[] den Titel als Geheimerrath nur bekommen, weil man ihm einen Rang geben mußte; er schien zu jung, um ihn zum wirklichen Cabinetsrath zu machen; was jedoch irgend mit dem gewohnten Hergang verträglich, war für ihn geschehen, und die eiserne Consequenz, die er in den schwierigsten Angelegenheiten der Verwaltung und Gesetzreformen mit der klarsten Auffassung einte, hatten ihn längst mit Kronberg in gleiche Linie gestellt, dem diese Superiorität allmälig immer lästiger zu werden begann.
In der ersten Zeit ihres wiener Aufenthalts hatte Anna Gotthard öfters im Hause gesehen; er hatte es versucht, wenigstens durch Gespräche mit ihr der geliebten Kinder Unterricht noch eine Weile fortzuleiten, aber mit der ihm eigenen gewandten Hartnäckigkeit war es Kronberg dennoch gelungen, ohne irgend ein Dehors zu verletzen, ihn nach und nach immer ferner zu stellen. Anna hatte die nicht zu bergende Abneigung [] ihres Gemahls gegen ihn für gekränkten Ehrgeiz gehalten und schwer, aber geduldig getragen.
In dem Kreise eleganter, aber ihr nicht gefährlicher junger Männer, mit denen Kronberg seine Gemahlin umgab und aus welchem er Gotthard möglichst auszuschließen suchte, begann deren Schönheit ein immer größeres Aufsehen zu erregen. Unter den eigentlichen Diplomaten hatten Gotthards meisterhaft in die seinen eingreifenden Arbeiten dem Grafen längst den Ruf eines ausgezeichneten Staatsmannes erworben, die ausgesuchte, elegante Bewirthung seiner zahlreichen Gäste hatte ihm den Namen eines Millionärs verschafft, und seiner stets unruhigen Eitelkeit war demnach für den Augenblick eine äußerst seltene, volle Befriedigung geboten.
Nur im tiefsten Innern seines Herzens nagte unausgesetzt der Wurm der sich stets erneuenden [] qualvollen Ueberzeugung: daß diese schöne, geistreiche, von der ganzen sie umflatternden Männerwelt ihm beneidete Frau ihn nicht liebe, nie ihn geliebt habe, und daß ein Mensch ohne Rang und Namen den kostbaren Schatz erhoben, zu dessen Hüter ihn das Geschick, wie zum Hohne, eingesetzt.
In diese Periode fiel des Generals Bekanntschaft. St. Luce gehörte zu den alten Anhängern Napoleons, die ohne Eingriffe in den von ihnen als unvermeidlich erkannten Gang der Ereignisse, in stiller Trauer überall am Grabe ihres Kaisers zu stehen scheinen: ein wandelndes Mausoleum seiner einstigen Größe, das noch lange ihn überdauern wird.
St. Luce war ein Arm abgenommen, ein Fuß gelähmt; an unbefugte Einmischung in die durch Bonaparte's Tod ihm gleichgültig gewordene Politik des Tages war nicht zu denken. So ließ man ihn, da er ohnehin mehren [] fürstlichen Familien Oesterreichs als unverdächtig bekannt war, ruhig sein kleines Erbtheil in Wien verzehren, wo seine Seele aus dem Anblick des geliebten Kaiserkindes eine Art innerer Lebenskraft einzusaugen schien.
Anfangs hoffte er viel für dessen Zukunft; Blüte um Blüte streiften die Jahre diesen geheimen Hoffnungen ab! St. Luce mußte den Keim des Todes langsam das junge Leben überwachsen sehen, doch hoffte er immer, selbst noch früher als der geliebte Knabe zu sterben, und konnte sich nicht entschließen, die Stätte des sich langsam öffnenden Grabes vor dem gefürchteten Augenblick zu verlassen. Da kamen Kronbergs nach Wien. Die Episode in Frau von Waldau's Hause, die dem jungen Manne eine so freundliche Erinnerung hinterlassen, tauchte mit erneuter Lebendigkeit vor seinem halb erstarrten müden Geiste auf – er sah Annen wieder und das ganze Herz ward ihm wach.
[] Der alte Krieger liebte die schöne Frau mit aller Kraft, die ihm geblieben, aber er hätte selbst den Saum ihres Gewandes vor jedem Flecken hüten mögen; er ward ihr treuester Freund, folgte ihr wie ihr Schatten, war ihr Cavalier sans consequence – helas! wie er selbst zu sagen pflegte, und Kronberg that alles Mögliche, diese ihm sehr bequeme Anhängligkeit des alten Verehrers zu beschützen und zu proniren.
Als Gotthard sich mit der feinsten Berechnung aus dem Hause, ja so viel wie möglich sogar aus dem Gesellschaftskreise verwiesen fühlte, der Annen umgab, erwachte ein furchtbarer Zorn in seiner Seele. Anfangs kochte und tobte nur der wilde Wunsch nach Rache in ihm; er war entschlossen, den ihm an Talent weit untergeordneten Kronberg sinken zu lassen, ihn zu Grunde zu richten, ihn fühlen zu machen, welche Gewalt er über Anna's Herz habe, [] was er thun könne; ihn brannte das Bewußtsein des so ganz unverdienten Mistrauens, das ihn getroffen, wie eine glühende Kohle fortglimmend in immer wachsender Glut. Bald aber siegte seine edlere Natur. Mit erneuten Kräften begann er auch in der ihm aufgedrungenen Ferne Anna's Geschick in Kronbergs Händen zu bewachen und, wo irgend die Umstände es gestatteten, zu erleichtern. Und leider bot gar bald von zwei Seiten zugleich sich hierzu die Gelegenheit.
Kronberg hatte sich, durch die immerwährende Anstrengung, seine Eifersucht zu verbergen und sich anders zu geben, als er in diesem Augenblicke wirklich war, in eine so grimmig Alles negirende Stimmung versetzt, daß ihm jedes längere Zusammensein mit Annen unerträglich ward. Sah sie ernst oder traurig aus, so schien sie ihm in Liebesgram sich zu verzehren; war sie heiter, so glaubte er sich betrogen und[] sein klarer Geist ertappte sich selbst auf den abenteuerlich-lächerlichsten Vermuthungen. – Als ihm gelungen war, Gotthard fast ganz aus ihrer Nähe zu verdrängen, ward jedes unnöthige Gespräch mit ihr ihm doppelt peinlich, denn zu seinen übrigen Qualen gesellten sich die eines unreinen Gewissens und der Erkenntniß eines durchaus verfehlten Schrittes. Sehr bald bemerkte er den innern Kampf seiner Frau und die aus einer unnöthigen Beschränkung erwachsende gesteigerte leidenschaftliche Stimmung derselben; er fühlte, daß er das Feuer nur heller angeschürt, und in einer plötzlich ihn befallenden Art Muthlosigkeit versuchte er sich gewaltsam zu zerstreuen.
Unglücklicherweise reizten ihn gerade in diesem Augenblicke einige Neckereien seiner Bekannten; Baron Ruthberg klagte ihn der Eifersucht an, die ihn zu Hause festhalte. Kronberg begann, Annen zu vernachlässigen, sie seltener zu [] begleiten und an Ruthbergs Seite eine Menge etwas zweifelhafter Vergnügungsorte und Arten aufzusuchen.
Er spielte, obgleich nur in guter Gesellschaft, hatte abwechselnd Glück und Unglück und schadete sich nicht bedeutend; er unternahm eine Art Touristenronde durch alle Theater und Volksgesellschaften, blieb aber insgeheim gelangweilt. Endlich machte er bei Ruthbergs Geliebter die Bekanntschaft einer spanischen Sängerin, die ihn anzog und amusirte. Dies Verhältniß, dessen lockere Fäden der innere Ueberdruß geknüpft, ward bald ein ihn fesselndes, was trotz momentanem Selbstvergessen bisher seit seiner Heirath nie der Fall gewesen. Und dennoch blieb er – eifersüchtig.
Anfangs erfuhr Anna nichts von dem Allen; erst als sie Kronberg im Theater einer Dame in eine grillirte Loge folgen sah, als sie derselben Dame in seinem mit dem Wappen [] seiner Familie gezierten Wagen begegnete, erschrak sie, weit mehr vor dem Unpassenden seines Betragens und dem möglichen Aufsehen, als vor dem Gedanken seiner Untreue, vor dem Vergessensein da, wo sie so sehr geliebt gewesen. Ein unsäglich betrübtes Gefühl des Irrens im menschlichen Gemüth, eine bange Scheu vor der Vergänglichkeit seiner Empfindungen paarte sich der mildesten Anerkennung, daß sie ihn ja nicht durch Liebe an sich gefesselt. Und wiederum mischte sich dieser edleren Empfindung ein erleichterndes Aufathmen; sie fühlte sich im Innern minder schuldig, wohl aber sich und ihn tief beklagenswerth! – Denn ein ernsteres Nachdenken rief das Bild ihrer Knaben ihr in die Seele, eine solche Liaison mußte die Kinder ihr und Kronberg entfremden und sie zwischen die Eltern stellen. Sie beschloß, sich von Egon loszureißen und ihn in eine Pensionsanstalt [] zu thun, und trug Gotthard auf, ihr eine passende zu finden.
Aus diesem Hinzuziehen des Freundes entwickelte sich die Nothwendigkeit, ihrem Gemahl zu verbergen, daß jener ihr noch in Rath und That beistehe, und somit hatte Kronberg abermals selbst den ersten ihm verheimlichten Schritt des erneueten Einverständnisses herbeigeführt.
Gotthards Klugheit verstand ihn zu decken. Kronberg ahnte nicht, wer ihm das Erziehungshaus empfohlen, in dem er seinen Knaben untergebracht. Gotthard aber sah nun das Kind täglich. Josephs Nähe glaubte Anna sich noch eine Weile gönnen zu dürfen, der Kleine war jünger und schwächer als Egon.
St. Luce hatte den jungen Geheimrath kaum zwei-oder dreimal in Kronbergs Hause getroffen, so war er im Geheimniß, obschon keines von ihnen eine Sylbe ihm anvertraute. Er sah sehr bald ein, daß Anna zum ersten Male liebe, [] und trotz des unleugbaren neidischen Verdrusses darüber überflog ihn eine stille wehmüthige Rührung und ein fernes Erinnern der eigenen Jugend.
St. Luce war von guten bürgerlichen Eltern in der Normandie geboren. Die blutigere Revolutionsepoche fiel noch in seine Kindheit, sie hatte ihn nicht verhärtet; ihm war etwas von dem geblieben, was die Franzosen in der Provinz enfant de famille nennen, das ihn, trotz manchem leichtsinnigen Streich seiner eigenen früheren Jahre, an ein einfaches rechtliches Gefühl, auch in Männern Frauen gegenüber glauben ließ.
Es ist traurig, daß in einer Menge an Erfahrung reichen Männern der höheren Stände ein Unglaube entsteht, der sie ihr eigenes Geschlecht in Bezug auf das unsere fast unbedingt des Egoismus und der Unwahrheit anklagen macht, noch trauriger aber, daß unzählige Beispiele [] dies Urtheil rechtfertigen, und zwar gerade da rechtfertigen, wo eine Menge höchst ehrenwerther Eigenschaften die Beschuldigung fast unbegreiflich erscheinen läßt.
St. Luce traute also Gotthard zu, daß ihn keine unlautere Absicht zu Annen zog, aber ihr Ruf, ihr Glück, ja selbst ihre Frauenehre schienen ihm deshalb nicht um ein Haar breit weniger gefährdet.
Kronbergs Verhältniß zur hübschen Spanierin war eben bekannt geworden, es war dem alten Freund höchst widerwärtig. In einem andern Augenblicke würde er es leichter genommen haben, jetzt aber erklärte er es für eine franche bêtise, welche Annen einem Abgrund zustoße. Und dann il n'y avait pas regardé de près! denn die Spanierin war dem Grafen untreu, das schien nun St. Luce nicht des Spektakels werth, den die alberne Geschichte machte, [] und gar unwerth der kleinsten Thräne seines Lieblings.
Kronberg fühlte sein Unrecht auch, aber um so mehr trieb ihn die innere dämonische Gewalt, darin zu beharren. Was hätte er dagegen nicht um eine einzige Thräne Annens gegeben, wie theuer wäre ihm der Ausdruck der erwachenden Eifersucht, des Schmerzes in ihren Zügen gewesen! Ihre sanfte, würdige Haltung empörte ihn – gerade weil er sie billigen mußte. Ihm fiel ein Stein vom Herzen, als während Gotthards Abwesenheit ein unangenehmer Vorfall ihn Annen gegenüber in Vortheil setzte und ihm eine ganz neue, mit jenen Empfindungen durchaus nicht in Verbindung stehende Ursache zur Misbilligung und Unzufriedenheit mit ihr gab.
Anna trug die Trauer um ihren Vater, der sanft und ohne alle Leiden seiner Frau in's Grab gefolgt war.
Ihre beiden Brüder, von denen der eine [] vier Jahre, der andere um eines älter war, als sie, hatten, nachdem sie mit der Generalin Geiersperg ihre Heimat verlassen, die schon früher gewählten Lebenseinrichtungen festgehalten: der ältere war Militär, der jüngere Kaufmann geblieben. Unglücklicherweise aber war der erste, durch Verwendung und Rath eines jungen Verwandten verleitet, in ein preußisches Regiment eingetreten, und als es später zum Offiziersexamen kam, fand man ihn unfähig, dasselbe zu machen. Das Nachstudiren, zu welchem ihn Vater und Freunde mit wohlmeinendem Rath anhielten, wollte dem bereits über die eigentliche Lernzeit hinaus Gewachsenen nicht schmecken, im Ueberdrusse des Mislingens wandte er sich dem praktischeren Artilleriedienst zu und ward endlich Unteroffizier und Feuerwerker.
In einer kleinen schlesischen Grenzstadt vergingen ihm nun mehrere Jahre, ohne irgend eine Spur in Herz oder Gemüth zu hinterlassen
[] Bei Gelegenheit einer ernstlichen Krankheit, die ihm eine Unvorsichtigkeit beim Manoeuvre zugezogen, lernte er die Tochter seines Hauswirths, eines ehrsamen Bäckermeisters, näher kennen. Er gewann das frische, hübsche Mädchen lieb und sie erwiderte seine Liebe. Die im jetzigen Bürgerstande leider etwas leichter gewordenen Sitten begünstigten ein Verhältniß, dessen allzugroße Vertraulichkeit den jungen, durchaus nicht unredlichen Mann zu einer Verlobung zwang. Das Mädchen war nicht ganz arm, auch Louis hatte etwas Vermögen zu hoffen, die Einwilligung der Militärbehörde fand mithin keine Schwierigkeit; der alte Bürgermeister dagegen verweigerte die seine aufs Bestimmteste und Hartnäckigste. Er erklärte sehr ruhig seinem Sohne, daß seiner Ueberzeugung nach kein Mann eher heirathen solle und dürfe, als bis er eine Frau unabhängig zu ernähren im Stande sei, könne mithin Louis [] nicht ohne den Theil seines Vermögens auskommen, den er, der Alte, noch selbst zum Weiterleben bedürfe, so könne von dieser Verbindung vorläufig keine Rede sein; wenn jedoch der Soldatensold und die Mitgabe der Braut ausreiche, werde er ihm sein Jawort nicht versagen; freiwillig dazu beitragen, daß ein Paar unvorsichtige Menschen sich in's Elend stürzten, wolle er nicht. Im Hintergrunde der Weigerung lag freilich noch der Umstand, daß der Katholicismus der in Schlesien wohnenden Braut dem alten Lutheraner zuwider war.
In dieser peinlichen Verlegenheit – denn er hatte das Mädchen wirklich lieb – wandte sich Louis an seine Schwester. Als auch ihre Fürbitten beim Vater nichts fruchteten und Brief auf Brief ihr die traurige Lage des Mädchens schilderten, bei deren Eltern der junge Mann bereits angehalten, versprach sie ihm ohne Kronbergs Vorwissen bis zum Tode des Vaters[] einen bestimmten Beitrag zu seiner Wirthschaft, den sie ihrem sehr reichen Nadelgelde entnahm.
So weit war Alles gut. Die jungen Leute heiratheten und der Vater gab, obschon widerstrebend, seine Einwilligung, weil kein gerichtsgültiger Grund vorlag, sie zu versagen; auch würde die ihm eigene Art Aengstlichkeit den öffentlichen Widerspruch immer gemieden haben.
Einige Jahre gingen ungetrübt, ohne besondere Ereignisse den Eheleuten vorüber; Annen führten sie nach Wien. – Louis' Erstgeborenem hatte sich ein Schwesterchen zugesellt; er lebte zufrieden mit seiner jungen Frau, ihre Verhältnisse blieben kleinbürgerlich, was bei seiner Stellung und der Unbedeutendheit des Städtchens nichts auf sich hatte.
Da ward plötzlich das Regiment nach Glatz verlegt und nun reichte das Einkommen nicht mehr. Die Schwiegereltern thaten das Möglichste, [] denn die Tochter wollte ihren Mann nicht verlassen, sie kehrten jeden Pfennig um, sparten sich's am Munde ab, vergebens! In der größeren Stadt, ohne den Beistand der Mutter, unter den ihr wildfremden Leuten, verstand das arme junge Weib die kleine Wirthschaft nicht so vortheilhaft zu führen, als daheim. Louis ärgerte sich, schalt sie, wenn sie weinte und lamentirte, wurde heftig, grob; auch in ihr traten die Mängel der Erziehung ihres niedern Standes vor: es ward ganz ernstlich schlimm und mußte doch getragen werden, denn die ärmeren Classen denken nicht so leicht an Scheidung, Katholiken nun gar nicht.
Da starb der Bürgermeister. Louis erhielt Urlaub, seine Angelegenheiten zu ordnen, und eilte nach Thüringen, die ihm zugefallene Erbschaft in Empfang zu nehmen. Aber, ach! des Alten kleines Vermögen, in drei Theile getheilt, zeigte sich an Ort und Stelle weit geringer, [] als er vermuthet. Der zweite Bruder, der unterdessen in der kleinen Stadt, in welcher er in Condition gestanden, auch geheirathet hatte, bedurfte der ihm hinterlassenen Summe, um sein Geschäft zu vergrößern und Compagnon seines Schwiegervaters zu werden, mithin konnte ihm gar nicht einfallen, an Unterstützung seiner Verwandten zu denken.
Louis beschloß, seinen noch nicht abgelaufenen Urlaub zu einer Reise nach Wien anzuwenden, um Annen nicht nur zur Fortdauer seiner Pension und zur Entsagung ihres Antheils von der Erbschaft zu seinen Gunsten zu vermögen, sondern auch, um, wie er sich ausdrückte, seinen vornehmen Schwager zur Anleihe einer namhaften Summe »breitzuschlagen«. Er hielt sich zu all diesen Anforderungen vollkommen berechtigt: je enger die Gemüther, je größer die Ansprüche, das fehlt nie!
Anna saß nach einem ganz kleinen Diner [] mit Kronberg, St. Luce und noch ein Paar Herren am Kaffeetische, den sich ersterer en petit comité nicht gern nehmen ließ. Geheimnißvoll neigte sich Duguet, indem er die silbernen Kannen auf den Tisch stellte, wie zufällig etwas tiefer als nöthig, und flüsterte ihr zu, wo möglich auf einige Minuten in das Nebenzimmer zu treten. Das war noch nie geschehen; sie erschrak und eilte unter einem Vorwande hinüber. Hier fand sie den soeben den Händen der Mauth entronnenen, mit dickem Staub bedeckten Reisenden, dem sie in ihrer Herzensfreude laut aufjauchzend in die Arme flog.
Ach! nach wenigen Minuten schon ward diese reine Freude der Schwester getrübt! Louis war zu sehr mit dem Drange seiner eigenen Angelegenheiten beschäftigt, um andern Gedanken Raum geben zu können. Die durchaus eigennützige Absicht seines Besuchs trat sogleich in das grellste Licht. Des Vaters Tod schien [] als Verlust gar keinen Eindruck ihm hinterlassen zu haben, die Enttäuschung in Hinsicht auf das geerbte Vermögen sprach sich scharf aus; Klagen über sein Geschick und die sehr bestimmte Bitte, ihm nicht nur die Pension zu lassen, sondern zu seinem Vortheil der Erbschaft ganz und gar zu entsagen, folgten einander so schnell, daß Annen kaum Zeit blieb, eine Frage oder ein erwiderndes Wort einzuschalten. Die kleine Summe, meinte Louis, sei ihr ganz gewiß entbehrlich, er sähe jetzt recht ein, wie sie mitten im Golde sitze, und auf der Post habe ihm auch schon Jemand mitgetheilt, daß sein Schwager, den er übrigens noch nie gesehen, Millionär sei.
Anna fühlte sich wie betäubt von dem Allen, sie war durchaus noch zu keiner klaren Auffassung der Umstände gekommen, als unglücklicherweise Kronberg, dessen unsinniger Argwohn [] durch ihr ungewohntes Verlassen der Gesellschaft geweckt worden, in's Zimmer trat.
Es folgte eine für Anna sehr schwere halbe Stunde. Der junge Unteroffizier, seit Jahren an ganz untergeordnete Kreise gewöhnt, verletzte mit jedem Worte des Grafen Eitelkeit.
Abwechselnd verlegen durch die vornehme Haltung und sichtliche Ueberlegenheit desselben, und familiär mit dem Manne seiner Schwester, trug er seine Geschichte augenblicklich, ohne weitere Einleitung, auch ihm vor.
Kronberg wandte sich, ihn unterbrechend, zu Annen, die ihm leid that, und bat sie an seiner Statt auf ein Paar Minuten zu den Herren hinüberzugehen, um ihre längere Abwesenheit zu entschuldigen, zugleich aber Erfrischungen für ihren Bruder zu senden, der gewiß nach der Reise derselben bedürfe. Er winkte ihr freundlich mit den Augen und versprach, daß er sie gleich wieder ablösen werde.
[]Anna hätte natürlich lieber gesehen, daß Kronberg drüben den Wirth gemacht hätte; es lag aber nach langer Zeit wieder einmal die edle, milde Güte in seinen Zügen, die ihn immer ihr gegenüber den Sieg davontragen ließ; und da dem vollströmenden Redefluß des jungen Kriegers ohnehin kein Einhalt zu thun möglich schien, ergab sie sich in das Unvermeidliche und ging. Sehr anmuthig sagte sie den noch um den Kaffeetisch versammelten Freunden, daß ein lieber unerwarteter Besuch aus der Heimat sie heute um die Freude ihrer Gesellschaft bringe und sie Kronberg allein das Vergnügen, sie zu unterhalten, überlassen müsse. Sie hatte kaum den Glückwünschen und Bedauern ihrer Gäste Genüge gethan, indem sie auf einen der nächsten Tage sie wieder einlud, um sich zu entschädigen, als Kronberg wirklich schon kam, um sie zu befreien. Aber, ach! der schöne Strahl des Wohlwollens in seinen Zügen war [] erloschen, und sein convulsivisch zusammengekniffener Mund, sein ganz verändertes Aussehen erschreckten sie bis in das tiefste Herz.
Drüben fand sie ihren Bruder in der Aufregung des heftigsten Verdrusses. Er war im Sprechen mit Roderich immer vertraulicher geworden, hatte nicht nur die von Annen ihm zugestandene Summe jährlicher Rente erwähnt, sondern auch geäußert, er habe ihr das eigentlich viel zu hoch angeschlagen; wenn er gewußt hätte, wie reich sie sei, wie kostbar sie wohne und wie alles um sie her von Gold strotze, so würde ihm doch sehr schwer geworden sein, sich nicht mit größeren Ansprüchen an seine Schwester zu wenden. Es sei freilich einmal die schlimme Einrichtung in dieser Welt, daß der Eine in Sammt und Seide einhergehe, während der Andere barfuß laufe; aber Geschwister sollten doch immer an einander halten, und was ihn beträfe, er sei nur ein armer Schlucker, [] würde aber, wenn Noth an den Mann gekommen, nie einen Augenblick angestanden haben, mit Schwester und Schwager sein bischen Salz und Brod zu theilen.
Statt Salz und Brod verzehrte er im Eifer eine kalte Rebhühnerpastete und trank starken Ungarwein und Burgunder durcheinander, die ihm Duguet zur Auswahl hingesetzt. Der ungewohnte Wein stieg ihm zu Kopfe und raubte ihm die Besinnung.
So, fuhr er fort zu peroriren, sollte Anna auch denken, und wenn sie ein rechtschaffenes Herz im Leibe habe, könne sie ihre Geschwister nicht in Schulden und Mangel versinken lassen; und dasselbe Vertrauen habe er auch zu seinem Herrn Schwager, darum rede er so offen, frischweg von der Leber. Er und seine Frau wären freilich nur arme, geringe Leute und ihre Freundschaft keine gräfliche, sie gehöre aber zu einem ehrsamen, achtbaren Handwerk, das seinen [] Mann redlich und nothdürftig nähre. Daß ihn und seine Marie das Unglück betroffen, sei nicht ihre Schuld, sein Weib sei brav; aber der Herr Schwager könnten sich's ja leicht selber denken, denn er habe solchen Wohnortswechsel ja auch durchgemacht. Seine Frau verstehe in Glatz die Wirthschaft nicht so knapp und vortheilhaft zu führen; Annen werde es anfangs wol auch sauer geworden sein an fremden Orten.
Kronberg lächelte; in seinem ganzen Leben hatte er noch nicht mit Annen von der Wirthschaft gesprochen.
Louis trank ein Glas nach dem andern, wurde immer verworrener und steigerte sich in's Absurde. Allmälig siegte, trotz der feinen und gewandten Weise, auch in Kronberg die rohere Natur, er ward ärgerlich; ihn verdroß Annens Heimlichkeit, ihn verdrossen die auf nichts basirten Ansprüche des Schwagers, der nichts gelernt [] hatte, und nichts gethan, als heirathen und Kinder in die Welt setzen, die er nicht ernähren konnte, und der nun herkam, um sein, Kronbergs, von seinen Ahnen und ihm selbst wohlerworbenes Gut mit ihm zu theilen, und zwar blos, weil er der Bruder einer Frau war – wieder hob die innere Schlange ihr Haupt – einer Frau, die ihren Mann nicht einmal liebte!
Der eine Gedanke war in Kronberg zur fixen Idee geworden, vielleicht gerade, weil er ihn nicht eingestand.
Sehr gemessen und ernst erklärte er Louis, daß er von dem ihm von Annen gewährten Zuschuß nichts gewußt, daß Niemand seinen Geldbeutel zu taxiren habe und er auf keinen Fall zugeben werde, daß Anna zu seinen Gunsten ihres Erbrechts sich begebe, weil es gegen sie selbst, dann aber auch gegen ihren jüngeren Bruder Franz unrecht sein würde. Ob er ihr [] ferner überhaupt noch gestatten werde – er erschrak über das Wort, was ging denn ihn ihr Nadelgeld an? – oder rathen könne, fügte er sanfter hinzu, die mit so wenig Dank anerkannte Zahlung der Pension fortzusetzen, könne er für den Augenblick nicht bestimmen.
Nun brach der Ingrimm des vom ungewohnten Wein Erhitzten mit doppelter Gewalt los; er sprach von einem goldenen Bauer, in den freilich nicht immer Glück zu finden sei, äußerte, daß, wenn seine Schwester, die recht wohl wisse, welchem ihrer Brüder ihre Hülfe nöthig, nicht einmal den freien Gebrauch ihres Reichthums haben sollte, dann freilich sei die reiche vornehme Dame nicht besser daran, als seine eigne Frau; sie wären Beide arm, das sei wahr, er aber lege das Geld in eine Schieblade, über welche sie und er gingen. Er sähe freilich nun wol ein, bei den Adeligen sei Alles das anders; er habe oft seinen seligen Vater [] innerlich angeklagt, daß er die Mutter zu knapp gehalten, und sie habe ihn oft gejammert, aber nun, wenn er's recht überlege, ginge es ja bei den Vornehmen nicht um ein Haar besser zu, die es obendrein nicht einmal brauchten, die das Geld haufenweise zum Fenster hinauswürfen, es verspielten oder zu allerlei liederlichen Streichen anwendeten, und das oft auf noch schlimmere Art, als der Soldat, der doch immer in den Augen der fein Gebildeten für den Aergsten gelten müsse, während jene mit Comödiantinnen und Tänzerinnen Alles vergeudeten.
Das traf einen wunden Fleck in Kronbergs Brust. Der ganz absichtslose Ausdruck – denn Louis hatte ja keine Ahnung vom Dasein der Capacelli – fachte eine furchtbare Flamme des Zorns in ihm an. Nach wenigen schonungslosen, durch Eiseskälte und Schärfe des Tons gleich vernichtenden Worten verließ der Graf[] das Zimmer und begab sich wieder zur Gesellschaft.
Dies Alles erfuhr oder vielmehr errieth Anna aus den rhapsodischen Ausbrüchen der Empörung, in welcher sie ihren Bruder fand. Ohne auf ihre Bitten oder mildernden Erörterungen zu hören, ergriff Louis seinen Tschako und rannte hinaus, sie hatte eben noch Besinnung, Duguet ihm nachzuschicken. Duguet, der immer wortlos die Stimmung und den Zustand seiner Gebieterin zu errathen verstand, folgte dem jungen Manne, führte ihn höflich in ein anständiges Gasthaus, besorgte sein Ränzel hin, bediente ihn und stand am frühesten Morgen mit einem Magazinschneider vor ihm, der einen äußerst anständigen Civilanzug ihm präsentirte.
Wer irgend Wien kennt, muß begreifen, daß Anna ihrem Gatten die möglichste Rücksicht auf Louis, des Unteroffiziers, äußere Erscheinung [] schuldig war. Sie durfte Kronberg nicht den spottenden Fragen und Blicken der Ein- und Ausgehenden preisgeben, und gestern hatte doch auch ihr ein wenig vor der staubbedeckten Montur ihres Bruders, vor dessen sonneverbranntem Angesicht und harten Händen gegraut. Ohnehin mußten die in der kleinen Grenzstadt nicht feiner gewordenen Manieren desselben Kronberg störend sein, das war nicht zu ändern. Sie bewilligte alles, was Duguet für ihn verlangte; als sich aber die Thür hinter ihm schloß, schossen ihr ein Paar sehr bittere Thränen in die Augen.
Man gibt der menschlichen Charakterbildung allgemein klimatische und nationale Färbung zu; Niemand wundert sich, einen Italiener heftig, einen Spanier rachsüchtig, einen Holländer ruhig oder gar phlegmatisch zu finden, das alles ist als traditionell längst in die allgemeine Volksansicht übergegangen; aber an den nicht kleineren [] Unterschied, den die äußere Stellung, die früheste Umgebung, der Umgang unserer ganzen menschlichen Entwicklung aufdringt, an die Modificirung der Ansichten und Begriffe, die sie erzeugen, denken Wenige, und doch steht diese Einwirkung der klimatischen noch immer wenigstens gleich.
Im Grunde hatten Beide, der Graf und der Unteroffizier, jeder von seinem Standpunkte aus, Recht, Beide mischten nur ihrer Selbstbeurtheilung einen Theil Selbsttäuschung zu. Der Cavalier hätte nicht vermocht, einem so hoch über ihm stehenden Verwandten mit solchen Anforderungen sich an den Hals zu werfen, aber Unterstützung, Avancement, Avantagen hätte er ohne Scheu von ihm erwartet und angenommen; seine edlere Natur würde vielleicht dabei mehr gelitten haben, aber die Noth hätte ihn wie jenen gezwungen.
Der kleine Bürger dagegen ging directer zu [] Werke, ihm war die reiche Verwandtschaft eine bloße Fundgrube, die Delicatesse drückte ihn durchaus nicht. Als reicher Fabrikant würde er ähnliche zudringliche Ansprüche, wie er selbst sie an Kronberg machte, auf's Gröbste abgewiesen haben, dagegen aber, auch ohne Aufforderung, seiner armen Freundschaft beigesprungen sein in kurzer drängender Verlegenheit; einem reichen Verwandten hätte er vielleicht noch lieber beigestanden und hätte dann die Selbstbefriedigung geschmeichelter Eitelkeit mit in den Kauf genommen. Von welchem Standpunkte aus sollten oder konnten sich nun wol diese Beiden verstehen? Wem saß das brennende Nessuskleid frühjähriger Gewöhnung fester um Sinn und Seele?
Und auch im zarteren Charakter Anna's hafteten die ersten Erfahrungen des noch kaum in die Außenwelt blickenden Kinderauges. Sie fühlte sich in ihren Erinnerungen verletzt, zerspalten [] und weinte – um ihren Bruder. Sie gedachte der übersehenden nichtachtenden Gleichgültigkeit, mit welcher Kronberg stets ihre Familie betrachtet; sie schaute weit zurück in ihrer Mutter Herz, die für jeden noch so entfernten Vetter Trost und Theilnahme in sich trug; sie gedachte Otto's und ihres Oheims Ankunft am Neujahrstage, und es kam ihr vor, als ertrage doch Kronberg ihre bürgerliche Abkunft sehr schwer.
Sonderbar, daß ihr nicht einen Augenblick beifiel, daß auch Gotthard ein Bürgerlicher sei! Es ist aber unleugbar, daß in unseren Tagen dem wirklich eminenten Talent überall Bahn bereitet ist und die Aristokratie des Geistes jede andere weit überflügelt, bei Männern und Frauen. Daß bei den letztern an den Fühlfäden des Gemüths, wie an den Wurzeln einer schönen Blume, der Heimatsboden fester haftet beim Verpflanzen, liegt an der innern Poesie, [] mit welcher sie der Gegenwart überhaupt selten gestatten, der schönen Vergangenheit es gleich zu thun.
Vermöchten wir daher nur in dem jetzigen Ringen befugter und unbefugter Weltverbesserungen, Jeder in sich selbst die große Revolution zu bewerkstelligen, die das individuelle Urtheil von den Banden aller Gewöhnung und des eigenen Standpunktes erlöste, dann wäre wirklich dem intellectuellen Sein ein schöner Tag erschienen, es feierte dann seine goldne Zeit!
Aber als Louis nun nach vollendeter Umwandlung zu Annen sollte, erklärte er ihr schriftlich, sie müsse irgendwo mit ihm zusammenkommen, zu seinem vornehmen impertinenten Schwager setze er keinen Fuß mehr. Anna traf ihn auf der Promenade, fuhr mit ihm um ganz Wien herum, stieg am Glacis aus und ging mit ihm spazieren. Die gestrige Scene erneute sich. Anna versprach, die Pension ferner zu [] zahlen, zu Abtretung des Erbtheils verstand sie sich aber nicht – ein dunkles Gefühl warnte sie. Als sie ihn verlassen mußte, um sich zum Diner zu kleiden, bat sie ihn, mit ihr den Abend in's Burgtheater zu gehen, sie wolle ihn abholen.
Mochte ihn ihre abschlägige Antwort verdrossen oder er vergessen haben, daß er selbst am Morgen sich geweigert, Kronbergs Wohnung zu betreten, er ward abermals heftig und meinte, vermuthlich dürfe sie ihn nicht in's Haus bringen, ihr Mann wolle den geringen Soldaten gar nicht einmal sehen, er werde ihn wol durch seine Lakaien zur Thür hinauswerfen lassen? Anna litt unsäglich. Im nämlichen Augenblicke rollte Kronbergs Equipage heran. Die Spanierin kannte Annen, sah sie mit einem stattlichen, sogar schönen jungen Manne gehen und lorgnettirte das Paar aufmerksam und dreist. Auch Kronberg sah schärfer [] hin, trotz seiner Verwandlung erkannte er Louis; natürlich grüßte keines von Beiden.
Wer war das? Wer ist die? fragte Louis?
Ich weiß nicht, stotterte Anna verlegen und wurde abwechselnd bleich und roth.
Aber ich weiß es! Kreuz, Bomben und Granaten! Armes, armes Weib! – Er drohte ihnen mit der Faust nach. Ohne ein Wort weiter zu reden, führte er Annen an ihren Wagen, hob sie hinein, warf den Schlag zu und war verschwunden. Anna zitterte heftig, sie konnte kein Auge aufschlagen.
Wild wogte das Blut in Louis' kochender Brust, er glaubte, den Wagen einholen zu können, um zu erfahren, wohin der Graf mit seiner Geliebten fahre, aber die Pferde entschwanden ihm nach wenig Secunden. Betäubt, nach Entschluß ringend, trat er in ein Weinhaus. Er trank hastig, er wußte nicht wie viel, noch was. Am Morgen hatte er in [] seinem Hotel allerlei Erkundigungen eingezogen und die widersinnigsten Uebertreibungen hatten ihn gegen den Grafen aufgehetzt; in seinem halben Rausch hielt er Kronberg für einen Schlemmer und niedrig schlechten Menschen, seine Schwester für eine arme verlassene Frau. Seine eignen Nodomantaden befeuerten ihn mehr und mehr, und ehe er selbst sich dessen klar bewußt worden, hatte der Portier, der ihn erkannte, ihm geöffnet und er war ungesehen in's Haus bis zu Kronbergs Zimmer vorgedrungen, woselbst er Posto faßte und ihn zu erwarten beschloß.
Unterdessen war Anna im Nachhausefahren St. Luce begegnet, den sie sogleich in ihren Wagen zu steigen und mit ihr nach Hause zu fahren bat. Der alte Freund erschrak, als er ihre heftige Erregung gewahrte. Halb verwirrt vor Angst, erzählte sie ihm den gestrigen Vorfall und daß Louis mit Kronberg hart an einander [] gerathen; sie bat ihn, einen von Beiden zu bewachen, um ein noch schlimmeres Zusammentreffen zu verhindern. Wir haben Kronberg eben auf der Promenade begegnet, schloß sie verlegen, er fuhr an uns vorüber.
Das eine Wort war dem gewandten Franzosen genug, er wußte sogleich mit wem, und errieth das Uebrige. Nach wenigen Minuten verließ er seine schöne Freundin, um Louis zu besuchen, ging aber statt dessen zu Kronberg, drückte dem Bedienten, der ihn melden wollte, einen Gulden in die Hand und trat in dem Augenblicke in's Zimmer, als Kronberg eben seinen Schwager bei der Schulter ergriff und heftig auf ihn eindringend, wiederholend ausrief: Wer ist der Elende? Wer hat es gesagt?
Pardon, cher Comte! sagte der alte General und ließ im Eintreten seinen Stock fallen, den er, mit dem Rücken jenen zugewendet, äußerst mühsam aufhob. Auf diese Art gehindert, [] irgend etwas von dem zu sehen, was vorging, fuhr er fort: Ich kam, Sie zu bitten, mich meinem jungen Freunde Müller vorzustellen, der freilich den brillanten Offizier von Anno 8 schwerlich in mir erkennen wird.
Kronberg hatte im Augenblick seines Eintritts die Hand von Louis' Schulter zurückgezogen, ihm standen die Schweißtropfen glühender Beschämung auf der Stirn, er hatte ja seinen Schwager beinahe wie einen Bedienten behandelt!
Louis faßte sich schneller, weil das Erkennen des Generals seine Aufmerksamkeit gewaltsamer in Anspruch nahm. St. Luce ließ sich innerlich von Beiden zu allen tausend Teufeln wünschen, hielt aber Stich und ruhte nicht eher, bis er Louis' Stimmung beschwichtigt hatte. Die außerordentliche Freundlichkeit des alten Mannes, der ihn wie einen Sohn an's Herz drückte, überwältigte ihn. Mit Bitten bestürmt, [] den General zu begleiten, der ihm durchaus Wien zeigen wollte, wandte sich der junge Krieger etwas verlegen, doch jetzt in durchaus würdiger Weise, zu Kronberg: Ich stehe Ihnen morgen zu Dienst, sagte er kalt.
Auf Kronberg, der augenblicklich des schlauen Invaliden Spiel durchschaute, machte die Sache einen allmälig fast komischen Eindruck. Der alte Fuchs, dachte er innerlich, er hat ganz Recht! Mit einem Unteroffizier kann ich mich doch nicht schlagen! Und wegen der Capacelli! ich! Er reichte, plötzlich ent schlossen, seinem Schwager die Hand. Vergeben Sie mir, ich bin zu rasch gewesen! sagte er mit anmuthiger Höflichkeit; Sie sind im Recht! Ist's aber irgend möglich, so nennen Sie mir nun endlich den Namen des Verleumders, ich bitte Sie dringend darum! Der Graf sah vollkommen beruhigt aus, und doch wogte das Blut noch in ihm, als wolle es seine Adern sprengen. [] Ich habe vor meinem Freunde St. Luce kein Geheimniß! fuhr er bittend fort.
Louis schwieg immer noch. Er schämte sich, die Namen des Wirthes und einiger untergeordneten Personen zu nennen, ein inneres Zartgefühl hielt ihn zurück; er wußte, der reiche Graf würde solche Stimmen nicht gelten lassen. Morgen! wiederholte er entschlossen.
Nach secundenlangem Nachsinnen ließ ihn Roderich ruhig mit St. Luce sich entfernen.
Ein ungeheurer Schmerz hatte ihn ergriffen, es war ihm klar, Anna, Anna hatte über ihn geklagt! Anna hatte Geheimnisse vor ihm. Ein fressendes Mistrauen drängte sich in seine Seele und zwischen ihn und sie. Er ward rauh, unfreundlich, höhnisch gegen seine Frau, die diese neue Wendung seiner Laune nicht begriff und in der die Sehnsucht nach Gotthard mit jedem Tage fürchterlicher arbeitete und bohrte, wie[] das tödtende Eisen, das man langsam in die verwundete Brust senkt.
Louis aber war wenige Stunden, nachdem er den Grafen verlassen, plötzlich heftig erkrankt; der klimatische Wechsel oder die ungeheure innere Aufregung, die das Gespräch mit demselben erzeugen mußte und die der nur an körperliche Strapazen Gewöhnte nicht in sich zu verarbeiten vermochte, zogen ihm ein Wechselfieber zu. Anna und St. Luce besuchten ihn täglich; Letzterem gelang es, ihm allmälig etwas ruhigere Ansichten einzuflößen und sein Betragen gegen den Grafen zu regeln. Kronberg ließ sich alle Morgen nach ihm erkundigen, ging aber nicht hin. Schweigend verdoppelte er Annens Nadelgeld. Sie muß doch anständig erscheinen können, sagte er bitter; aber sein Benehmen blieb folternd ungleich, hart und voller Mistrauen. Jedes Gefühl seines eigenen [] Unrechts gegen sie war plötzlich aus seiner Seele geschwunden.
So standen die Dinge, als unerwartet, wie ein Trost des Himmels, Gotthard von Berlin zurückkehrte.
Am nächsten Morgen erwachte sie mit dem Gefühl: Er ist da, du wirst ihn sehen! Und in den Vormittagsstunden kam er. Sie durchsprachen in hieroglyphenartigen Worten Alles, was während jener tödtenden Trennungszeit an Beiden vorübergezogen; sie berührten es kaum und nur andeutend, denn bei solchem Ineinanderwachsen der Seelen bedarf es keiner langen Rede; jeder Blick, jeder Hauch, jedes Schweigen wird verstanden. Das eben ist ja das eigentliche Glück der höheren Liebe, daß sie zwei Menschen frei macht von all den kleinen Qualen und Fesseln des Nichtverstehens und der Seeleneinsamkeit.
Sie erzählte ihm auch von Louis, von seinem [] Betragen und seiner Krankheit und daß er nun heimzureisen gedenke, doch seltsam mit dem Entschlusse dazu zögere von Tag zu Tag, ohne eigentlichen Grund. Als er sie verließ, begegnete ihm im Hinausgehen St. Luce.
Sonderbar, sagte dieser, ich bringe den jungen Müller durchaus nicht fort. Der Arzt findet ihn genesen; sein auf unser Schreiben verlängerter Urlaub ist fast abgelaufen; seine Rechnungen sind in unsern Händen, der Wirth, der Arzt, der Schneider – –
Und alles das muß die Gräfin zahlen? fragte Gotthard.
Leider! Sie besucht ihn alle Vormittage, er nimmt jedesmal halb und halb von ihr Abschied, versichert, ein förmliches Lebewohl sei ihm unerträglich, und am nächsten Morgen findet sie ihn wieder. Was kann das sein, er kann uns doch nicht immer so in Wien auf[] dem Halse bleiben wollen! Sollte er verliebt sein oder heimliche Schulden gemacht haben?
Er hat gespielt, erwiderte Gotthard, wie durch plötzliche Eingebung. Ich will sogleich zu ihm.
Gotthard hatte die Fessel richtig erkannt, welche den Unglücklichen von seinem Krankenlager nicht sich lösen ließ. Louis war einem Stube an Stube mit ihm wohnenden Glücksjäger in die Hände gefallen und alles Geld, das er von Anna erhalten, jenem bereits zur Beute geworden.
Die Art und Weise, durch welche es Gotthard gelang, den Unbesonnenen zum Geständniß zu bringen, kann für uns kein sonderliches Interesse haben. Als die Summen berechnet waren, reichte Alles, was Louis an baarem Gelde besaß, nicht hin, die Hälfte der Schuld zu decken. Des ganz Unbemittelten Aufenthalt in einem Hotel, seine Krankheit, seine verschiedenen [] Bedürfnisse hatten Annens Hilfsquellen erschöpft; sie hatte es nicht geradezu gesagt, Gotthard hatte es im Gespräch mit ihr durchfühlt, er übernahm sogleich einen Theil der Zahlung, für den andern sagte er gut und verließ Louis erst, nachdem er eine lange Unterredung mit dem Spieler gehabt und jenen zum Posthofe begleitet hatte.
In den letzten Momenten seines Aufenthalts, während Gotthard zu seinem Nachbar hinüberging, nahm Louis in einigen Zeilen Abschied von seiner Schwester und übergab den Brief dem Lohnbedienten des Hotels.
Nachdem auf diese Weise alles geordnet und Louis abgereist war, glaubte Gotthard Annen beruhigen zu müssen, ohne ihr jedoch von der sich auf einige und fünfhundert Gulden belaufenden Summe etwas zu sagen, die zu zahlen er übernommen, und von welcher er hoffte, sie solle ganz unerwähnt bleiben, um der theuern [] Frau nicht auf's Neue eine Ursache zu geben, über ihren Bruder zu klagen.
Als er Annens Zimmer betrat, fand er sie in Thränen, sie hatte ihn angenommen, weil sie sich's nicht zu versagen vermochte. Es war die erste Unbesonnenheit ihrer Liebe, der erste Fehltritt. Louis hatte ihr alles geschrieben.
Zu redlich, einen ihm ganz Fremden um eine ihm bedeutend erscheinende Summe zu bringen, zu leichtsinnig, um die möglichen Folgen der Uebertragung seiner Anleihe zu bedenken, schien ihm der natürlichste Ausweg der, seine Schwester zu Gotthard's Schuldnerin zu machen. Kahl und nackt, ohne alle Selbstentschuldigung, hatte er ihr die Sache hingestellt, wie sie eben war; ja, er hatte sogar den aufgeregten fieberhaften Zustand, während welchem er dem Hazardspieler in die Hände gefallen, dem unverantwortlichen Betragen Kronbergs gegen sich und Annen zugeschrieben.
[] Es lag wenig Liebe und gar keine Hingebung in diesen herben Abschiedsworten an seine Schwester, und dennoch schlossen sie mit der Voraussetzung, daß sie um seinetwillen den Verlust der paar Thaler leichter verschmerzen werde, als er, der freilich nur zerstörte oder halberfüllte Hoffnungen seinem armen Weibe heimzubringen habe.
Anna weinte bittere Thränen, Louis' Egoismus schnitt ihr in's Herz, sie fühlte sich zwischen Gatten und Bruder so fürchterlich allein, so fremd, wie in einer endlosen Wüste. Louis' Anklage ihres Mannes war schonungslos scharf, das Aussprechen seiner Treulosigkeit gegen sie that ihr aus ihres Bruders Munde weher, als in all den Bemerkungen der frivolen Gesellschaft, welche am Ende nur lachte, spöttelte und – vergaß.
Auch Gotthard, dem ganz unbegüterten Freunde, eine neue Last aufgebürdet zu sehen, [] schmerzte sie – da hörte sie den ihn meldenden Bedienten. Als er aber nun eintrat mit dem milden freudigen Ausdruck in den geisteshellen Zügen, ward ihr, als senke sich plötzlich die Heimat um sie nieder, aus dem Himmel in ihr Herz.
Gotthard setzte sich diesmal neben sie, statt wie sonst ihr gegenüber. Ihm war so unsäglich wohl und leicht; war doch nun diese Sorge der theuern Frau entnommen.
Er sprach sogleich von Louis, ging freimüthig in dessen Lage und Ansicht ein, erst ihn beklagend, dann heiter ihn vertheidigend. Er schilderte ihr Schlesien, Glatz, das er kannte, das gemüthliche, etwas beschränkte Bürgerleben des Städtchens; sprach über manche kleine Vortheile und Annehmlichkeiten, die ein längerer Aufenthalt Louis und den Seinen dort gewähren müsse. Mit jedem neuen Abschnitt lichtete er die Farbe seiner Darstellung.
[] Zuletzt erzählte er von sich, daß er selbst früher gern sein Glück auf einen raschen Wurf gesetzt und schwer dem Spiel entsagt. Er lobte Louis' sanftes Hinnehmen seines Eingriffs in eine ihm ganz fremde Angelegenheit; er breitete eine lange bunte Scenenreihe vor dem geliebten Blicke aus, wie man einem kranken Kinde ein Bilderbuch aufschlägt und mit ihm es durchblättert, und lockte so aus allen Tiefen ihrer Seele die Schmerzen und dunkeln Gedanken hervor, um sie wie mit einem balsamischen Zauber zu umweben. In diesem Augenblicke lag nicht die mindeste Leidenschaft in seinem Thun zu Tage; es war die Wundermacht des tief sein ganzes Sein durchdringenden Gefühls eines schonenden tiefen Wohlwollens, das er bewußt und sanft anwendete, wie ein Arzt die ihm inwohnende heilende Kraft.
Anna war, als habe sie noch nie Jemanden zugehört, oder als tauche ihre Kindheit wieder [] auf, als säße sie noch auf Sophiens Schoos und lauschte emsig deren Erzählungen. Wie eine Blütendecke legten sich seine Worte auf die unruhige Qual ihres Innern. Mit einem unaussprechlichen Dankgefühl blickte sie zu ihm auf, der Widerschein ihrer Stimmung in seinem Antlitz rührte sie fast noch inniger, als sein Handeln. Wie selten war ihr wohlgethan worden in ihrem so beneideten und brillanten Leben! Und Er war ihr noch dankbar dafür, daß sie es annahm.
Die kleine irländische Ballade, welche Leontine am ersten Abende des Zusammenseins mit ihm gesungen, war Beiden eine Art inneren Palladiums geworden. An jenem Abend hatte Gotthard zuerst sich ihr ausgesprochen. Seitdem hatte er die Verse in Musik gesetzt und oft gesungen. Wenn Kronberg Annen ganz unverständlich wurde, spielte sie die Melodie; seltsam genug liegt diese Art Doppelempfindung [] in der weiblichen Natur: sie wollte Roderichs früheres edles Bild sich hervorrufen, es festhalten, trotz den entsetzlichen Verzerrungen des Lebens, und dennoch blickten Gotthards ernste stetige Augen so tröstlich zwischen den Notenreihen sie an.
Anna saß in der Nähe des Fortepiano, auf demselben lag die Ballade aufgeschlagen; unwillkürlich fiel ihr Blick darauf, er umflorte sich, sie ward sehr düster.
Gotthard war ihr im Sprechen näher gerückt, sein Stuhl berührte die Sophaecke, in welcher sie ruhte. Sein Auge folgte dem ihren, aber er verstand den Zug ihrer Gedanken nicht sogleich; es trat eine jener gefährlichen Gesprächspausen ein, in denen die Gewalt des sich insgeheim entwickelnden Gefühls verrätherisch der Erwiderung im Augenaufschlag des Geliebten begegnet – Beide errötheten. Gotthard [] ergriff ihre Hand und küßte sie unbewußt leise; sie ließ sie ihm eben so unwillkürlich.
Zum ersten Mal versagten sich ihnen Wort und Gedanken, die innere Flut der Empfindung und einer plötzlich sie überkommenden namenlosen schmerzlichen Ahnung überwältigte Beide. So saßen sie schweigend neben einander, dicht zu einander gebeugt, lautlos das Glück der Geliebten Nähe fühlend, scheu vor jeder noch näheren Berührung zurückbebend.
Da sprang die kleine Tapetenthüre auf, die aus dem Cabinet zu einer obern Zimmerreihe führte, Kronberg trat in dieselbe, er schleuderte den kleinen Joseph vor sich her, den er an der Hand herabgeführt.
Kannst du mir erklären, Anna! – begann er und blieb verstummend, staunend an der Schwelle stehen – er gewahrte Gotthard, der aufgesprungen war, der Knabe aber stürzte in des geliebten Freundes Arme, der ihn zärtlich [] an sich zog und liebkoste. – Joseph, fuhr Kronberg nach einem höflich kalten Gruße fort, hat mich soeben gebeten, ihn zu seinem Bruder in's Institut zu thun, weil er dort Herrn Gotthard wieder alle Tage sehen würde. Er klagt über seinen Lehrer, daß er ihn geschlagen; wolltest du die Gnade haben, mir diesen Gallimathias zu erklären? In der That kann ich auch nicht begreifen, wie es zugehen mag, daß Sie, Herr Gotthard, meine Kinder täglich sehen?
Gotthard fühlte lebhaft, es gälte, die Geliebte vor einer neuen Form der Eifersucht zu schirmen, die Kronberg verzehrte. Beide Männer verstanden vollkommen einer den andern: Anna's Name durfte nie unter ihnen genannt werden. Sie saß beklommen, schwer athmend, still in ihrer Sophaecke.
Gotthard erwiderte stolz aber besonnen, daß der Director des Instituts sein Jugendfreund sei, den er allerdings während seines kurzen [] Aufenthalts in Wien täglich besuche und bei welchem er den Knaben öfters treffe, zu dem ja immer noch die herzlichste Neigung ihn hinziehe.
Herr Gotthard, unterbrach ihn der Graf, als die Kinder noch das Glück hatten, Ihrer Obhut anvertraut zu sein, habe ich, der Vater, mir nie die kleinste Einmischung in Ihre Ansicht und Erziehungsart erlaubt. Sie würden mich verbinden, obgleich ich Ihre Theilnahme dankbar anerkenne, dasselbe jetzt für mich zu thun. Doch habe ich ohnehin mit Beiden andere Pläne und kam, sie mit der Gräfin zu besprechen. Vergeben Sie, daß ich Ihre Gegenwart in meinem Eifer nicht augenblicklich bemerkte; die Sache hat Zeit.
Mit gewohnter Leichtigkeit begann er ein Gespräch über ein von Gotthard verfaßtes Memoire, blieb eine halbe Stunde und verließ dann das Zimmer mit der Bitte an Gotthard, [] mit Annen noch ein wenig Musik zu machen, indem er die auf dem Flügel liegenden Musikalien bemerkte; das Kind ließ er in dessen Armen zurück. Ernst blieben die Liebenden vor einander stehen: die dunkle Ahnung war schon Wirklichkeit geworden.
Anna, sagte endlich Gotthard, indem er den Knaben, der in seinen Armen eingeschlafen war – es war Abend geworden – auf's Sopha legte, Anna! wir müssen scheiden. Auf welche Weise ist mir selbst noch nicht deutlich, aber es gilt, Ihnen die Knaben zu erhalten, deren Verlust Sie zerstören würde. Gott weiß, ob ich Sie je wieder allein spreche, darum heute eine Bitte, für welche ich Ihre Verzeihung innigst erflehe.
Er blickte auf Joseph, das Kind schlief fest und sanft. Anna war in einer furchtbaren Stimmung, Gotthards volle bewegte Stimme [] vibrirte in jedem Nerv ihrer bebenden Gestalt; sie konnte nicht reden, es erstickte sie.
Der Graf wird meine Einmischung in seine Verhältnisse unter keiner Form jemals vergeben, Sie würden immer dafür büßen. Sie wissen, Anna, daß mein Leben hier, wie in der Ferne Ihnen angehört. Ich werde Wien gleich nach der geschlossenen Uebereinkunft mit Metternich verlassen, mich ganz den Geschäften in den älteren Provinzen widmen. Der volle, tragende Strom der Zeit – Anna, er wird auch uns wieder zusammenführen und – es übermannte ihn, er schwieg einige Secunden – durch alle Verwandlungen der Tage hindurch werden wir einander erkennen. Nicht wahr, immer, überall?
Ich hoffe es, sagte sie, zusammenbrechend.
Nein, o nein, Anna! Sie müssen es wissen, unumstößlich gewiß, wie Sie wissen, was Ihnen das Höchste ist, wie Sie von Gott wissen, von der Fortdauer, tief aus dem Innern [] der Seele heraus – sonst wäre mein Dasein eine Hölle! schloß er dumpf.
Ich weiß es! sagte sie fest. Er ließ sie los und ging nach seiner alten Art einige Male hin und wieder, um sich zu sammeln.
Es bleibt keine Zeit mehr, Wort und Ausdruck zu messen, wir haben kaum noch nach Minuten zu zählen; also meine Bitte.
Anna weinte, Gotthard trocknete leise ihre Thränen; aber er berührte ihre Augen nur mit dem Tuche. Hören Sie mich, fuhr er immer trauriger fort, jede kleinliche Rücksicht einer engherzigen Delicatesse muß in diesem Augenblicke schwinden! Ihr Gemahl darf nie, unter keiner Bedingung, auf keine Weise erfahren, was zwischen mir und Louis vorgefallen; die Verpflichtungen, die er und ich als Männer gegeneinander übernommen, müssen unberührt zwischen ihm und mir allein bleiben – das, [] Gräfin, versprechen Sie mir! Es ist wichtiger, als Sie ahnen.
Louis hat mir alles geschrieben –
Unmöglich!
Ich weiß, welche Summe Sie für ihn übernommen. Er hat mir das Geld zu zahlen –
O Anna! rief Gotthard, schmerzlich ergriffen, indem er ihre Hände einen Augenblick an seine Brust zog, mußten Sie es aussprechen? Mußten Sie das elendeste Wort in dieser Stunde sich eindrängen lassen, die wahrscheinlich für uns keine Schwestern auf Erden hat? – Doch wie Sie wollen! Gleichviel; meine Bitte bleibt fest: kein Vorwurf, keine Scene, kein Misverstehen darf Ihnen das Geheimniß entlocken; Kronberg darf nie erfahren, was zwischen mir und Louis abgehandelt! O Freundin! versprechen Sie mir, was Sie nicht begreifen, ich bitte, ich beschwöre Sie darum!
Ich verspreche es! sagte Anna; und glauben [] Sie mir, es ist kein Kleines, was ich thue, daß ich verspreche, was ich nicht übersehen kann!
Mutter! Gotthard! schrie das Kind im Schlaf. Beide eilten zu ihm. Gotthard küßte seine blonden Locken, die über die Sophalehne herabhingen – er sah traurig aus, wie van Eyks richtende Engel. Gott erhalte Ihnen den Knaben! rief er gepreßt, dann wandte er sich, um zu scheiden. In Beiden wogte der Kampf einer mit jedem Moment sich steigernden verzweifelnden Leidenschaft und seine schmerzliche Gewalt riß Herz an Herz. Gotthard drückte die zitternden Hände auf seine Augen. Nein! nein! rief er mit wachsender Heftigkeit, auch nicht den Schatten eines Fleckens auf diese Stunde! Er bog sich leicht zu Annen nieder und küßte ihr Gewand. Bleibe meine Heilige! flüsterte er und stürmte fort.
Anna sank weinend neben ihrem schlafenden Knaben in die Knie und betrachtete ihn lange; [] sie dachte nicht deutlich, sie fühlte nur dumpf eine unsägliche Pein; und wie ganz von fern in Nebel eingehüllt, zog ihrer Erinnerung die erste Stunde ihres Kampfes vorüber, als ihr klar geworden, daß sie Gotthard liebe. Wenn ich nur nicht wahnsinnig werde! seufzte sie. Endlich küßte sie ihren Joseph wach, um ihn zu Bett bringen zu lassen.
Nach fünf Minuten hörte sie Kronbergs Schritt im Vorzimmer. Er sah erhitzt und unglücklich gestimmt aus; er kam von der Capacelli, die ihm irgend eine Scene gemacht haben mochte. Dem Aerger über sie gesellte sich die Entrüstung über Gotthards unverschämte Eingriffe in alle Rechte, die ihm die Natur und die bürgerliche Gesellschaft verliehen.
Anna, sagte er, ich hatte gehofft, die unglückselige Geheimnißkrämerei, die so traurige und ernste Folgen in Bezug auf Leontinen gehabt, würde in unserer Familie wenigstens nicht [] Wurzel schlagen; ich habe mich geirrt! Je ne suis pas le dupe des phrases de Monsieur Gotthard! Wie er bei unserm Fortzuge von Bern mit Gewalt sich in die unselige Geschichte Viatti's eindrängte –
Mich dünkt, sagte Anna, wir verdanken ihm die Freiheit unseres Schwagers. Hast du vergessen, daß am Tage nach dessen gelungener Flucht Haussuchung die ganze Straße entlang gehalten wurde? Sie trat zu ihm und legte sanft die Hand auf seinen Arm. Beflecke dich nicht durch Undankbarkeit, Roderich!
Eben so, fuhr Kronberg fort, ohne auf sie zu hören, möchte er nur ohne Recht und Befugniß die Leitung des ganzen Bildungsganges unserer Söhne sich erhalten! Ich glaube nicht an Infallibilität, nicht einmal an die des heiligen Vaters.
Was soll das Alles? fragte Anna.
Du hast mir schmerzlich-klare Gründe gegeben,[] vorauszusetzen, daß dieser Gotthard die Hand bei allen bedeutenderen Ereignissen unseres Lebens im Spiele hat; ich hätte aber wenigstens erwarten können, persönlich von seinen Einflüsterungen und Zwischenträgereien verschont zu bleiben!
Anna schwieg; wie eine Königin stand sie ruhig und ernst vor ihm. Ich verstehe dich nicht, sagte sie endlich.
Leider sind mir seine Beweggründe keine Räthsel mehr! Aber bedenke, fuhr er, immer heftiger aufbrausend, fort, bedenke genau, was du thust! Ein unedles Erspähen meiner Tritte und Schritte ertrage ich nicht! – Ich habe dir volle, unbegrenzte Freiheit in allen Handlungen gelassen – laß sie nicht in Beherrschung der meinen ausarten! Armes Kind! was hoffst du zu erreichen? setzte er, immer mehr sich steigernd, höhnisch hinzu. Meinst du, der Satan lasse mit sich handeln und sich einen Rest des einmal von [] ihm ergriffenen Menschenglückes abdingen? Er hält fester, als Liebe und Glück.
Er warf sich auf das Sopha und blieb schweigend, als erwarte er ihre Antwort, mit verhülltem Gesicht vor ihr sitzen. Seine Brust arbeitete fürchterlich, er schien fassungslos. Hand und Schnupftuch verbargen ihr seine Züge.
Ich verstehe dich durchaus nicht, Roderich! wiederholte sie mit trauriger, aber fester Stimme. Meinst du jedoch eine Einmischung des Geheimraths, so ist deine Besorgniß grundlos, denn er steht auf dem Punkte, Wien auf lange zu verlassen.
Das ist nicht wahr! fuhr Kronberg auf, das wäre in seiner Lage Wahnsinn, Raserei! – Was will er damit? Hält er mich – er zitterte vor Wuth, seine Zähne schlugen aneinander – hält er mich etwa gar für eifersüchtig?
In diesem Augenblicke brachte der Jäger [] des Grafen ein Billet. Roderich erbleichte; er las es mehre Male und verließ mit dem Jäger das Zimmer.
Nach wenigen Secunden kam er zurück und nahm seinen Platz wieder ein. In dumpfes Sinnen verloren, saßen die Gatten einander lange gegenüber. Endlich sprach Kronberg weiter: Unser Egon ist der ausgezeichnetste Knabe, den ich je gesehen –
Dank sei Gotthard, der seine Anlagen erweckte! dachte Anna.
Ich hoffe, er wird einst unter den Bedeutendsten seines Vaterlands zählen, darum will ich ihm keine berechnenden Erziehungsfesseln angelegt wissen, wie sie mich während meiner Jugend gedrückt –
Anna seufzte und schwieg.
Herr Gotthard und Consorten vermögen kaum, den Standpunkt zu erfassen, von welchem aus der junge Aar seinen Flug beginnen soll. [] Ja! fuhr er plötzlich, wie in's Weite blickend, aber sehr trübe fort, er mag die Flügel ungebunden entfalten und des Vaters Beispiel soll ihn wenigstens vor einer sentimentalen Störung seiner Carrière bewahren, zu welcher auch ihn die Umstände stoßen könnten, und der in unsern Tagen überall nur die krasseste Lebensironie entgegentritt.
Um Gottes willen, Roderich! fuhr Anna bebend auf, was hast du über die Kinder beschlossen?
Die Knaben kommen sogleich nach Berlin unter Geierspergs Aufsicht, der sie in ein bedeutendes adeliges Institut thun mag.
Anna starrte unbeweglich vor sich hin, der Gedanke an diese Trennung lähmte ihre Sinne.
Kronberg sah nach der Uhr, dann sprach er fort: Geiersperg hat mit bewundernswerther Consequenz Viatti's Sache geführt; zweimal ist er in Mailand und Neapel gewesen. Graf [] Gonfalonieri büßt mit lebenslänglichem Gefängniß, was hier, in schonender Milde, mit Verbannung und einem gegebenen Ehrenwort abgemacht wurde. Noch in diesem Monat hoffe ich meiner Nichte Ehre gesichert und die Folgen dieses tollen Schrittes ausgelöscht zu sehen, noch vor Ablauf des Sommers sie dem Kaiser als Gräfin Viatti vorstellen zu dürfen. Nun so viel gelungen, steht mehr zu hoffen! Und merke wohl, das danken wir Geiersperg! Geiersperg, dem Realisten. Mitten im Sprechen hatte Kronberg wieder nach der Uhr gesehen. Der zweite Act der Medea, sagte er plötzlich in ganz anderem Ton. Darf ich dich hinfahren? Mein Wagen wird bereits halten. – Eben meldete man St. Luce. Kronberg ließ ihn nicht zum Worte kommen, er mußte mit.
Und die Unglückselige, von tausend räthselhaften Empfindungen und Sorgen Beängstigte mußte in die Oper und das Ballet sehen, von [] welchem seit drei Wochen die Rede war, und die Cavatine der Capacelli hören, die alle Welt entzückte. Kronberg brachte sie in ihre Loge, in welche auch St. Luce ihr folgte, dann verließ er sie. Sie wußte ihn auf der Bühne oder in der Capacelli Garderobe, aber sie machte eine glänzende Conversation mit einer Menge sie in der Loge umgebenden Herren, und war eine brillante, schöne, bewunderte Frau, deren türkischer Shawl und Schmuck unzählige neidische Blicke auf sich zogen. Das ist das Leben!
St. Luce wußte um Louis' Abreise, er flüsterte es ihr zu und sah bewegt aus dabei. Woher konnte er es schon wissen? In Anna's Seele flackerten die Gedanken, wie Irrlichter auftauchend und schwindend, sie vermochte keinen einzigen festzuhalten. Gotthard war nicht auf seinem Platze ihr gegenüber. Erst in der vorletzten Scene gewahrte sie ihn, sie sah, daß er nur kam, um zu erfahren, ob sie im [] Theater sei. Nach wenigen Minuten, noch ehe der Vorhang fiel, war er verschwunden.
Kronberg ließ am folgenden Morgen Annen wissen, er komme nicht zu Mittag nach Haus. Den ganzen Tag über hieß es: er sei aus. Der heutige Abend war einer ihrer Empfangsabende, es kamen eine Menge Leute; aber weder Gotthard noch Kronberg erschienen. Anna war in tödtlicher Verlegenheit, sie ersann eine Entschuldigung um die andere. St. Luce, der ihre Angst sah, verließ die Gesellschaft, wie er sagte, um Gotthard zu sprechen. Einen Moment athmete sie leichter auf, als sie seinen Wagen aus dem Thor rollen hörte; vergebens, er kehrte zurück, Gotthard war nicht zu Hause.
Gegen halb elf Uhr kam endlich Kronberg; er entschuldigte sich leichthin mit der Abreise des hessischen Gesandten, den er in seinem Hotel habe aufsuchen müssen; er schien aufgeregt, mit Annen sprach er kein Wort.
[] In einem Seitencabinet saß ein kleiner Männerkreis, einer unter ihnen erzählte etwas, worüber alle andern laut auflachten.
Ruthberg gesellte sich ihnen zu; sie begrüßten ihn immer noch lachend als Mephisto und fragten, ob er seinen Mantel zur Luftreise bereit halte? Ruthberg lachte auch; er schien den Scherz zu verstehen.
Ob die eigentliche Herzenskönigin ein Gretchen oder eine Helene sei, fragte man weiter. Ob der tugendhafte Bruder sich zufrieden gegeben habe?
Gar nicht! fuhr eine Stimme aus der entferntesten Ecke dazwischen, der eine Bruder hat den andern Bruder auf Ruthbergs Anstiften rein ausgeplündert!
Auf mein Anstiften? fragte Ruthberg halb erzürnt, halb belustigt.
Nun, das heißt auf des Mephisto Anstiften.
Hat denn Gretel-Helene zwei Brüder?
[] Ach nein! der eine andere Bruder – ist der Bruder einer Heiligen, die wir Alle verehren.
Der Name wird hier nicht genannt, meine Herren! rief ein blonder Offizier.
Nicht einmal gedacht, bei solch einer Gelegenheit! setzte ein zweiter hinzu.
Zum Teufel, so erzählt mir's doch auch!
Nun also, Helene hat aus früheren Zeiten einen – Bruder.
Ah so!
Der Bruder ist natürlich ein Heide und seine Schutzgöttin die Fortuna. Da aber in der Mythologie immer eine gewisse Identitäts-Confusion vorherrscht, so hatte Venus früher als Fortuna –
Anastasius! wenn du uns die Sache ohne Mythologie vortragen möchtest?
Meinetwegen! Wir haben gestern, wie wir hier sitzen, zusammen im goldenen Löwen dinirt, den Nachmittag wollten wir ganz unter uns [] ein Spielchen machen. Hubert suchte also den Bruder der Capacelli auf, damit er eine kleine Bank eröffne. Gondi kam; als aber hinter ihm die Thüre abgeschlossen werden sollte, erschien Ruthberg mit seinem Pylades.
Ohne Mythologie! schrie Ruthberg.
Nun, der Graf that erst etwas scheu und sah uns blos zu. Ruthberg pointirte. Die Bank verlor; als sie zahlte, legte sie markirte englische Banknoten auf, die der Graf erkannte.
Wie denn das?
Er hatte sie markirt aus England empfangen und die Nummern notirt, wie das oft geschieht, und gerade diese nämlichen Banknoten am selben Morgen dem weisen Solon ausgezahlt.
Der bittere Kelch dieser Erkenntniß verjüngte den Faust, den du Pylades nennst, er wurde zornig, als wäre er zwanzig Jahre alt.
[] Aber Solon rührt ja keine Karte an, er spielt nie!
Eben darin lag die Affaire! Dem Solon hatte er sie gezahlt, wie kamen sie denn nach Verlauf so weniger Stunden alle in die Hände des – Bruders?
Das sieht einer abgekarteten Zufälligkeit so ähnlich, wie ein Ei dem andern, sagte der Blondin. Glaubte er denn an den Bruder?
Den Zusammenhang habe ich nicht weg, versicherte ein Anderer.
Die Frage war: ob der Bruder von seiner Schwester die beiden Noten, die sich auf etwa vierhundert Florins beliefen, erhalten habe, und für was man sie ihr gegeben.
Alle lachten. Ruthberg, nun erzähle uns die Geschichte weiter! Du gingst ja, nachdem Ihr verloren, mit ihm und Gondi fort.
Was ist da viel zu erzählen! Es fand sich eben, daß noch eine Sorte Bruder im Spiele [] sei und sich heimlich aus dem Staube gemacht habe.
Und nun breitete sogleich Mephisto seinen Mantel aus und ihr flogt nach? –
Bah! rief Ruthberg, wir haben Wien nicht einen Augenblick verlassen!
Darüber schweigt die Geschichte; die Capacelli aber war unschuldig diesmal, nicht wahr?
Eben traten mehre Herren und Damen in das Cabinet, die Offiziere standen höflich von ihren Sitzen auf, das Gespräch hatte ein Ende.
Begreifst du, sagte der blonde Offizier im Hinausgehen zu seinem Freunde, was dieser Satan von Ruthberg mit Kronberg vorhat? Die ganze Ueberraschung scheint verabredet, weshalb hätte sonst Gondi in englischen Papieren gezahlt, die konnte er ja in fünf Minuten umsetzen? Es steckt irgend eine Teufelei dahinter.
Es ist ein großer Irrthum, zu glauben, daß nur in kleinen Städten geklatscht wird; beinahe [] alle Männer in Annens Salon wußten einen Theil dessen, was ihr so räthselhaft blieb.
Paola Capacelli war in einem Punkte nicht um ein Haar anders, als die meisten ihrer Kunstgenossinnen; sie nahm die Auszeichnung, die ihr in vollem Maße ward, dankbar hin, sie freute sich der berauschenden Huldigungen, die ihr das Publicum zu Theil werden ließ, aber sie würde sie dennoch gern mit den minder geräuschvollen vertauscht haben, welche die Gesellschaft der schönen Frau aus höheren Ständen beut.
Kronbergs Betragen gegen sie, obschon er die reizende Spanierin nicht liebte, hatte durch die entsetzliche Qual, die ihm seine in einer Andern so tief gekränkte Eitelkeit verursachte, fast immer etwas Leidenschaftliches; sein Mistrauen, die täglichen Ungleichheiten seines ganzen Wesens, seine Heftigkeit, seine Unruh [] konnten von einer Frau wie die Capacelli sehr leicht als glühende Liebe gedeutet werden.
Die unselige Spazierfahrt, auf welcher sie Louis neben Annen gesehen, erweckte zuerst in Paola's Brust den Gedanken, daß auch die Gräfin einen Liebhaber begünstige, daß Kronberg um seiner Ehre willen eifersüchtig sei und die Trennung einer Ketzerehe nicht zu den Unmöglichkeiten gehöre.
Die schöne Paola war nicht immer in einer so glänzenden Lebenssphäre gewesen, als die, zu welcher jetzt ihr Talent sie erhoben. Sie hatte traurige Tage der Armuth und Verlassenheit durchlebt. Das natürliche Kind des elenden Wirthes einer Posada im Gebirge, ward sie dem armen Flecken, in welchem sie geboren, schon als Kind von einem durchreisenden Italiener entführt, dem ihre schöne Stimme aufgefallen. Capacelli war sein Name; er hatte sie unterrichtet, erzogen, benutzt, verführt – [] am Ende geheirathet, als sie kaum den Kinderschuhen entwachsen, um den Gewinn ihres Talents um so gewisser sich zu sichern.
Sehr natürlich war der alternde Maestro di Capella nicht der Einzige geblieben, den ihr Gesang und ihre Schönheit anlockten; noch ehe sie die Bühne betreten, hatte sich ein bisher durch ihr ganzes Lebensgewebe fortlaufendes Verhältniß zu einem bildschönen italienischen Vagabonden geschürzt, der in allen Hauptstädten Europas, in denen sie verweilte, bald als vornehmer Reisender, bald als Glücksritter und Spieler auftrat und wie ihr Planet, obschon minder oft sichtbar, um seine schöne Sonne sich drehte.
Seit einem Jahre hatte der Tod die Fessel ihres Ehestandes gelöst und die Zeit die der Liebe gelockert. Paola und ihr Geliebter waren darüber einig geworden, daß an eine engere, dauernde Verbindung unter ihnen Beiden zu [] denken, eine Thorheit sei. Der Bequemlichkeit wegen hatte er sich in Wien für ihren Bruder ausgegeben. Seine ganz erschöpften Geldkräfte hinderten ihn für den Augenblick, in der höheren Gesellschaft aufzutreten; er hielt insgeheim in kleinen freundschaftlichen Cirkeln Bank und erntete im Whist und Ecarté die nöthigen Hülfsmittel dazu.
Gleich nach ihrer Heimkehr hatte ihm Paola das Begegnen der Gräfin Kronberg mitgetheilt und ihm befohlen, Nachricht über den Namen und Stand des jungen Mannes einzuziehen, den sie bei ihr gesehen, was, da Louis und Gondi dasselbe Hotel bewohnten, keine Schwierigkeiten fand.
Mehre Tage vergingen indessen doch, ehe er erfuhr, daß Louis Annens Bruder sei. Paola benutzte während derselben blindlings ihre Macht, Kronbergs Eifersucht auf die Gräfin zu steigern; das Misverstehen lag nur darin, [] daß sie dabei den Fremden im Auge hatte, während jener alle ihre andeutenden Worte auf Gotthard bezog und sich bereits die Zielscheibe der öffentlichen Aufmerksamkeit wähnte.
In der heftigen Scene zwischen Kronberg und Louis, welche den Ausbruch seiner Krankheit veranlaßte, war Gondi ein unbewußter Hauptagent gewesen; seine sanguinischen Hoffnungen, eine Scheidung des Grafen von dessen Gemahlin herbeizuführen und Paola einst deren Stelle einnehmen zu sehen, hatten ihn zu sehr gewagten Uebertreibungen verleitet. Er hatte des Grafen Leidenschaft zur Capacelli mit glühenden Farben geschildert und Louis dadurch noch mehr erzürnt und verwirrt. Gotthards Dazwischenkunft löste endlich alle die Misverständnisse, indem sie zugleich Louis' augenblickliches Verlassen Wiens erzwang.
Seit dem letzten Ereignisse waren erst wenige Stunden vergangen, als Gotthard Annen von [] der Abreise ihres Bruders benachrichtigte und Kronberg an Gondi's Spielbank saß. Er verließ mit diesem und Ruthberg den Saal. Ohne Umstände hatte ihm der Spieler gestanden, daß, obschon er die Noten aus Louis' Händen empfangen, dieselben von Gotthard stammten, und ihm eine Schuldverschreibung auf zweihundert Florins gezeigt, welche den Rest der verspielten Summe ausmachte.
Sehr natürlich nahm Kronbergs Gefühl sogleich eine andere Richtung; abermals trat ihm ja des Verhaßten Einfluß in Bezug auf Anna entgegen! Er eilte mit seinem Freunde in das Hotel, von da zur Post; Louis war wirklich abgereist. Fast wäre er auf den Gedanken gekommen, mit Courierpferden der Post nachzujagen. Ruthberg begleitete ihn überall hin, war aber hinterdrein indiscret und erzählte die Geschichte einigen guten Freunden, die sie weiter beförderten – und commentirten.
[] Ruthbergs Benehmen hatte gar keinen besondern Grund, die Sache amusirte ihn; vielleicht regte sich die geheime Hoffnung in ihm, durch einen ohnehin unvermeidlichen, etwas schneller erweiterten Bruch des Grafen und Anna's irgend einen Vortheil zu ziehen – vielleicht trieb ihn der instinctartige Haß gegen Gotthard; er dachte nicht darüber nach.
Indessen führte er selbst die Klätschereien herbei, denen wir im Salon vierundzwanzig Stunden später zugehört; aber alle Anwesenden, die sie belustigten, bezogen Kronbergs unruhigen Zorn auf die Capacelli, Annens gedachte Niemand dabei; und geschah es ja, war es nur, um die schöne, liebe Frau zu beklagen.
Nachdem ihm am Abend alle Versuche mislungen, seinen Schwager zu erreichen und ihn noch um eine Erklärung zu bitten, hatte Kronberg, wie wir wissen, zu Hause in dem Anliegen seines Knaben einen neuen Grund der Erbitterung [] gegen Gotthard gefunden; im Cabinet seiner Frau war sein erster Blick abermals auf den Verhaßten gefallen. Ein Billet Paola's hatte ihn während des Gesprächs mit Annen dringend auf die Bühne und nach der Oper zu sich beschieden, wo sie ihm einige sonderbare Mittheilungen versprach.
Gotthards so entschiedenes Verfahren gegen den ihm als Abenteurer bekannten Spieler und Louis' fast gewaltsam erscheinende Entfernung hatte Paola und ihrem Freunde Gondi viel zu denken gegeben. Der weibliche Instinct ließ sie vollkommen richtig rathen und sogleich wandten sich ihre Machinationen gegen Gotthard. Die Art und Weise, in welcher sie Kronberg die Sache vorstellte, die höchst gewandten Fragen, welche sie einer Wiederholung der Erzählung ihres Bruders verwebte, reiften in ihm einen Entschluß, dessen ganze Thorheit er fühlte, ohne die Kraft zu haben, ihn in sich zu ersticken.
[] Als er am frühesten Morgen vor Gotthard stand, fiel ihm ein, daß er ihn im Grunde gar nichts zu fragen habe – was gingen ihn die Zahlungen des Geheimraths an? –
Gotthard saß, von einer Menge Acten und anderen Schriften umgeben, in seinem Arbeitscabinet. Ein tiefer Ernst umwölkte seine hohe Stirn; er sah den. Lenz nicht, der aus dem Gärtchen mit Rosenaugen in seine stille Zelle schaute, er hörte die Mahnung all der kleinen zwitschernden Vögel nicht, die' so dringend bittend den Frühlingston der Menschenbrust, das leise sehnende Flehen um Liebe in seinem Herzen wach zu rufen schienen; er sah das Schattenspiel der Blütenranken nicht, das auf seinen Papieren phantastisch auf und niedergaukelte – jeder Sinn war der Außenwelt verschlossen und nur im tiefsten Innern wuchs ein einziger schmerzlicher entsetzlicher Gedanke riesenhaft, wie eine unermeßliche Nacht, und überdeckte wachsend [] mit seinem Dunkel das reiche vollquellende Leben in und um ihn her, bis es zum Nichts zusammenschrumpfte.
Es ist grauenhaft, wenn die höchsten Steigerungen des Gefühls und des sichtenden Gedankens mit einem Male in einer unausweichbaren Ueberzeugung zusammenfallen, die wie durch einen Brennspiegel mit den Strahlen des Erhabenen, Ewigen über uns das kleine Hoffnungsleben des armen Menschenherzens verzehrt! Wenn seine ganze reiche Vergangenheit, all die bunten Elemente des Glücks seiner Zukunft, plötzlich wie ausgebrannt, schwarz verkohlt vor ihm da liegen, wenn in Minutenenge lange Jahre einer ganz leer gewordenen und doch noch zu durchlebenden Zeit drohend aneinander sich drängen! – solche innere Erlebnisse, solche Vernichtung des Erdenmaßes, mit dem wir sonst unsere Tage messen, hat manch braunes Haar in unbegreiflicher Geschwindigkeit gebleicht, manch [] glanzlichtes Auge ausgelöscht, daß es fortan ganz farblos die Gegenstände zurückstrahlte, manch junges Blut haben sie stocken gemacht, als habe es der Eisfinger des Alters berührt, – aber, ach! getödtet haben solche Augenblicke nie.
Gotthard hatte die ganze Nacht hindurch über seine Stellung zu Kronberg nachgesonnen; es war ihm klar geworden, daß diesem sein sich stets wiederholendes Entgegentreten in allen engeren Lebensbeziehungen unleidlich qualvoll sein müsse, daß eine fast übermenschliche Kraft dazu gehöre, es zu dulden, nachdem Roderich seine und Anna's Neigung zu einander erkannt – und konnte Gotthard zweifeln, daß dem so sei?
Unbarmherzig riß er den Schleier selbst mitleidiger Täuschung entzwei; er war entschlossen, seiner Carrière eine andere, neue Richtung zu geben, von Annen sich zu trennen.
Seit gestern schauderte ihm vor der Tiefe seiner eigenen Leidenschaft; er hatte die Unmöglichkeit [] empfunden, sie in jedem Augenblicke zu zügeln. Anna's Kummer hatte ihn der Kraft beraubt, sich selbst zu widerstehen. Er wußte, daß Kronbergs Charakter kein unedler, daß dessen Eitelkeit und Wankelmuth die Folge eines gewaltsam aus seinen Fugen herausgerissenen frühen Gefühls sei; er fühlte alle diese Gedanken, diese ernsten stillen Mahner mit tödtendem Entsetzen, denn sie verurtheilten ihn. Er konnte sich's nicht leugnen, dem Grafen das Unerträgliche aufgebürdet zu haben: die Superiorität eines Nebenbuhlers.
Und plötzlich, wie eine Verkörperung des eigenen Innern stand Kronberg selbst vor ihm, ruhig, edel in Anstand und Ausdruck.
Gotthard war einen Augenblick zu Muthe, als komme jener, ihn zu fordern auf Leben und Tod. Der Graf hatte sich gefaßt; er fragte ihn ganz einfach nach dem ihm vielleicht bekannten Zusammenhang der Zahlung einer [] Spielschuld seines Schwagers, die dessen Mittel zu überwiegen scheine und dennoch abgetragen sei. Sie fühlen, setzte er hinzu, daß ich der Gräfin einen großen Schreck verursachen würde, wenn ich sie direct darum befragte.
Ich zweifle, daß sie um die Sache weiß, erwiderte Gotthard. Er erzählte eben so einfach, wie St. Luce erwähnt, daß Louis, obschon genesen, von Tag zu Tag seine Abreise verschoben hätte, wie er selbst darauf ihn besucht, des jungen Mannes Vertrauen gewonnen und mit ihm zu Abtragung der Schuld eine Uebereinkunft getroffen.
Ich brauche Ihnen, Herr Graf, setzte er verbindlich hinzu, nicht erst zu sagen, daß eine solche von Männern gegeneinander übernommene Verpflichtung kein Gegenstand des Gesprächs mit einem Dritten sein darf.
Kronberg schwieg; an der Marmorglätte dieses reinen festen Willens brach abermals seine Kraft.
[] Aber, fuhr Gotthard fort, fürchten Sie keinen Flecken auf Ihres Herrn Schwagers Ehre; alles Nöthige ist von ihm selbst im Voraus besorgt und die am Total fehlende Summe wird noch heute in Gondi's Händen sein.
Kronberg stutzte. Gotthard sah völlig gleichgültig aus. Hier war nur eine Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: Gotthard war mit seiner Gemahlin im tiefsten, innigsten Einverständnisse, oder Louis hatte in rasendem Stolz sein Erbtheil verpfändet; es konnten aber Monate, Jahre vergehen, ehe das aufzuklären war. Sie haben Sicherheit? fragte er kurz.
Vollkommne, erwiderte Gotthard. Aber nun, Herr Graf, gestatten Sie mir die Gunst Ihres frühen Besuchs zu benutzen. Mich hat ein Vorschlag, eine Bitte nach Wien zurückgeführt, deren Erfüllung ich Ihnen sehr ernstlich danken würde. Seine Unterlippe bebte convulsivisch, seine Stirn blieb klar. Die Hauptfragen [] beim hiesigen Gouvernement sind erledigt, dem eigentlichen Juristen bleibt für den Moment wenig Bedeutendes mehr zu thun. Man hat uns hier den größern Theil der gewünschten Aenderungen zugestanden, in den alten Provinzen fordern dagegen die Gesetzentwürfe zu Einführung ständischer Verfassungen meine Gegenwart und der Vorschlag des Vertrags mit Rußland bedarf einer strengen Revision – ich kam hierher, Sie zu bitten, Baron Stein vorläufig an meiner Statt die hiesigen Arbeiten zu übertragen, die etwaigen Memoires aber nach Berlin oder dahin mir nachzusenden, wohin das Ministerium mich beordert, wenn wir meine hiesige Aufgabe als vollendet ihm melden.
Mit unnachahmlicher Klarheit und unsäglich wehmüthiger Ruhe legte nun Gotthard dem Grafen seine zum Beschluß gereiften Geschäftspläne für sich und seinen Stellvertreter vor. Es lag ein fast heiliger Ernst in seinen Worten [] und eine so tiefe Besonnenheit, daß Roderich, zur unwillkürlichsten Bewunderung hingerissen, zauderte, ihm zu antworten. Dies Anerbieten des edeln jungen Mannes überraschte ihn mit zermalmender Gewalt; er fühlte, daß, was auch Gotthard sagen möge, die Willkürlichkeit seiner Entfernung von Wien ihm künftig unübersteigliche Schwierigkeiten bereiten und hemmend in seine Thätigkeit eingreifen könne.
Noch schwieg er, da öffnete sich die Thür, St. Luce trat aus einem Nebenzimmer herein. Ohne aufzusehen, reichte ihm Gotthard die Hand. General, sagte er, ich habe bereits dem Grafen meine Wünsche eröffnet. Eine ungeheure Erschöpfung breitete ihr fahles Grau über seine Züge, es war eine Leichenfarbe, als habe der Tod ihn berührt.
Als endlich Roderich ihn verließ, stürzte er an des alten Freundes Brust; die innere Erschütterung hatte ihn jedes Ausdrucks seines [] Schmerzes beraubt. Der General blieb den ganzen Tag bei ihm, pflegte ihn und sprach ihm zu, wie ein Vater seinem Sohne; aber all seine Beredsamkeit scheiterte an diesem stillen, stummen Weh.
Wahrlich, Eins des Andern werth! seufzte St. Luce.
In Kronberg stürmten indessen Schmerz und Gedanken nicht minder heftig; es war ihm unmöglich, jetzt seine Frau zu sehen. Tappend, unsicher, wie geblendet, durchirrte er die Straßen, sah die Menschen nicht, die ihm begegneten, vernahm nicht, was sie zu ihm sagten, es war, als habe ein unruhiger Wahnwitz ihn ergriffen. Nach stundenlangem Umhertreiben in Wiens Straßen ging er zur Capacelli, dort hatte man ihn bereits gesucht. Geschäftliche und gesellige Anforderungen bemächtigten sich seiner, umdrängten ihn, rissen ihn mit Gewalt in das Gewirr platter Alltäglichkeit.
[] Mit unbeschreiblicher Sorge folgte Paola's Auge jeder seiner Bewegungen; bebend gewahrte sie die Macht einer Andern auf sein Herz, und ein glühender Haß, ein unvertilgbarer Wunsch nach Rache an der Gräfin begann sein geheimes Leben in ihrer Brust zu regen.
Sie saß zu Roderichs Füßen, küßte seine Hände, umwickelte ihn mit ihrer Zärtlichkeit, wie mit einem Zauberschleier, all seine Gedanken umrankte, umwob sie; mit all seinen Sinnen im Bunde, stritt ihre Leidenschaft gegen seinen Schmerz; abwechselnd launisch, weich, gewaltsam, ließ sie nicht ab von ihm, bis ihr endlich gelungen, ihn mit in den wirbelnden Strudel ihrer eigenen Empfindungen zu ziehen, und er ermattet, wehrlos an ihrem Busen lag.
Dann ward sie amusant, tändelnd, fast drollig, was ihrer hohen Gestalt, ihren markirten Zügen durch den Gegensatz einen Reiz wunderlichster Art verlieh; leise, leise weckte sie das [] Leben wieder, das sie erst, wie vernichtend, in sich gesogen, sang ihm ihre Sirenenlieder vor und wendete in diesem seltsamen Spiel, das man eine Gefühlsorgie nennen könnte, das Herz ihm in der eigenen Brust, bis er willen- und bewußtlos die ganze übrige Welt in ihren Armen vergaß.
Gotthard hatte sich daheim still in sich beruhigt, der Abend war herangekommen, er rang mit dem Entschluß, zu Kronbergs Soirée zu gehen – sie zu sehen.
Gebe Gott, sagte er ernst, daß der Graf nicht allzulange zögert; die Hauptschritte zu meiner Versetzung müssen wir Beide zugleich thun. Ohne Bewilligung des Cabinets kann ich nicht abreisen, diese nicht er halten, ohne seine officiell ausgesprochene Zustimmung.
Wenn er ihr wenigstens die Knaben ließe, murmelte der alte St. Luce trübsinnig vor sich hin; er will sie nach Berlin schicken.
[] Das wird er nicht, erwiderte Gotthard sehr bitter, wenn ich hingehe.
St. Luce verließ ihn, um nach Annen zu sehen. Gotthard hatte versprochen, ihm zu folgen; aber als er gehen wollte, vermochte er es nicht, es war ihm mit einem Male unmöglich geworden, gerade heute, unter so vielen fremden Gesichtern sie zu sehen; als St. Luce zurückkehrte, um ihn zu holen, fand er ihn nicht mehr zu Hause.
Anna verging der Abend in tödtlich beklemmender Sorge. Als die letzten Anwesenden sich entfernten, war Kronberg schon wieder verschwunden, ohne auch nur ein Wort an sie gerichtet zu haben.
Ihm war zu Muthe, als habe er eine Art Hinterlist gegen sie gebraucht, er schämte sich, ohne deutlich zu wissen, weshalb. Das ritterlich Loyale seines Wesens empörte sich gegen [] den Wunsch, Gotthards Anerbieten anzunehmen, und machte ihn verwirrt und befangen.
Am nächsten Morgen lag Anna an einem nervös-hitzigen Fieber gefährlich krank darnieder. In ihren Phantasien rief sie stundenlang Gotthards Namen, dann wieder die ihrer Knaben; waren diese bei ihr, so ward sie stiller, ließ aber keinen derselben los, wenn ihn ihre Hand erfaßte. Eine unsägliche Angst schien sie zu verzehren.
Jetzt war Kronberg wahrhaft beklagenswerth. Sophie wandte die höchste Sorgfalt an, das Verletzende zu bergen, ihn während der wilden Ausbrüche ihres Deliriums von Annens Lager entfernt zu halten, vergebens! In wüthend wahnsinnigem Schmerz klagte er nicht sie, sondern sich selber an, als suche er mit übertreibender Heftigkeit an der eigenen Qual sich zu weiden, und verließ kaum ihr Zimmer. Zur Capacelli ging er gar nicht in diesen Tagen.
[] Als er aber einmal während eines etwas beruhigteren Schlummers der Kranken in seine Stube trat, fand er drüben Paola, in Thränen aufgelöst, am Boden kniend, vor einem seiner Fauteuils; sie betete und mischte unwillkürlich in die Worte ihres Rosenkranzes wilde Drohungen und Verwünschungen gegen ihn. Der spanische, etwas fanatische Charakter der Schönen sprach sich herb und bitter aus, fast war's Verachtung, die sie Roderich zeigte; als sie ihn aber genauer ansah, stürzte sie mit lautem Aufschrei in seine Arme. Unwillig drängte er sie zurück und begegnete ihr hart; weder ihr Mitleid mit seinen eingefallenen Zügen, noch ihr Zorn vermochten es, ihn zu rühren.
Duguet saß Tag und Nacht im Vorzimmer, dicht an der Thür des Cabinets seiner Gebieterin und harrte irgend eines Befehls; waren sie nicht bei ihr, hielt er die beiden Knaben auf dem Schoose, die mit ihm weinten.
[] Gotthard kam wol zwanzig Mal des Tages zu Sophien, um Nachrichten einzuziehen. Mehre Mal fand ihn Kronberg in deren Zimmer; er saß gebeugt, in starrem Schmerz still vor sich hinblickend, so versteinert da, daß er den vor ihm stehenden Grafen nicht einmal gewahrte.
Als aber nach zehn, zwölf Tagen die Lebensgefahr vorüber war, reichte Gotthard sein Gesuch um vorläufige Entlassung an das Ministerium beim Grafen ein und forderte ihn auf, demselben seine schriftliche Zustimmung beizulegen.
Während man einer Antwort von Berlin aus harrte, übernahm St. Luce, welchem man den Zutritt nicht länger zu weigern vermochte, die Kranke, die nun außer Bett in ihrer Chaise longue lag, auf Gotthards mögliche Entfernung vorzubereiten. Wehmüthig reichte sie dem alten [] Freunde die Hand. Ich wußte es! war Alles, was sie sagte.
Kronbergs Stimmung hielt nicht Stich, sie verwandelte sich, wie Annens Genesung vorschritt, mit jedem Tage mehr und mehr. Der Bruch mit der Capacelli war zu grell zur Dauer, er sah sie wieder und versöhnte sich mit ihr. Schon jetzt nahm er Gotthards Entfernung von Wien als etwas hin, das sich gebühre, daß seiner und Anna's Ehre wegen unvermeidlich, folglich kein Opfer sei; er war wieder der vornehme, vom Glück verwöhnte Aristokrat, der des Untergeordneten Dasein kaltblütig verbraucht.
Noch einmal sah Gotthard sie wieder, aber nicht allein; St. Luce begleitete ihn hin. Anna saß zwischen ihren Kindern; sie und Gotthard waren Beide überzeugt, daß vor der Hand von keiner Trennung der Knaben von ihr die Rede sei. Sie kannten Kronbergs Charakter und [] verrechneten sich nicht; ihm war zu Muthe, als sei das Bleiben Egons der Kaufpreis für Gotthards Entfernung; obgleich er sich überredete, er würde dieselbe mit Gewalt erzwungen haben, wenn der junge Mann nicht von selbst den Forderungen der Umstände nachzugeben sich entschlossen, so fiel ihm doch nicht im Traum ein, an diesem Preise zu mäkeln. Alles Markten und Feilschen war ihm von Grund der Seele aus zuwider. Es mag so bleiben, sagte er sich, bis über's Jahr; der Kinder Anwesenheit wird sie für jetzt beruhigen und ich bringe dann später die beiden Knaben zugleich zu Geiersperg.
Gotthard schrieb Annen einige Abschiedszeilen; es waren wenige Worte, aber wie mit seinem Herzblut geschrieben. Sie weinte so heimlich, daß nicht einmal St. Luce ihre Thränen gewahrte. Ueberhaupt war Anna seit der Krankheit sehr verändert, die Trennung zerdrückte ihre noch nicht wieder erstarkte Körperkraft.
[] Trennung! ein Wort, das man tausendmal hört und ausspricht, das man in tausend verschiedenen Gestaltungen in's Leben treten sieht und doch niemals in seinen Folgen im Voraus richtig begreift! dem Einen ein Ballast, der sein Lebensschiff im Gleichgewicht erhält, dem Andern der Stein, der ihn in die Todestiefe des Stromes hinabzieht; Jenem ein Hauch, ein Nichts, das er vergißt, indem er kaum es ausgesprochen, Diesem ein schweres Dunkel, das ihn lebenslang umgibt, in welchem er sich selbst verliert; – Ihr war's Erstarrung, Winterseelenschlaf. Sie vergaß der Trennung nie, in keiner Zerstreuung, in keinem Interesse, keiner Arbeit, ja sogar in keinem andern Schmerz. In jeder Secunde fühlte sie Gotthards Entfernung, wie man ein abgetrenntes Glied des eignen Körpers fühlt, immerfort es entbehrend, immerfort im Entbehren die Gegenwart seines Schattenbildes dunkel empfindend. – Sie [] schrieb ihm nicht, sie fragte selten nach ihm; wenn ihr St. Luce zufällig eine Nachricht brachte, kostete das kleinste Wort derselben ihr einen ganzen Tag, sie konnte sich dann auf nichts mehr besinnen und ging umher wie ein Automat.
In der Gesellschaft sagte man: das Nervenfieber habe sie sehr stark angegriffen, und der diesjährige Sommer sei zu heiß.
Aber der Sommer und sein Siroccohauch verflogen – ihr Zustand war der nämliche geblieben: da brachte der October mit seinen bunten Blumen, die alle »Rosens spielten« und den Frühling nachäfften, die eine wahrste duftigste Frühlingsblüte, Leontinen.
Leontinens Lebenssonne stand im Zenith. Jean Carlo war begnadigt, das heißt, er war verbannt – verbannt auf zwanzig lange Lebensjahre, mit dem Vollgenuß seiner Einkünfte.
[] Der Marchese Viatti trat in Wien mit solchem Glanze auf, daß Kronberg erschrak; er fürchtete, man werde einen Theil der schon gewährten Concessionen zurücknehmen. Er irrte; Oesterreich liebt die Pracht und den Reichthum, wie es die Wohlthätigkeit liebt und dem Hochstehenden wie dem Gemeinen gern den Genuß gewährt und bereitet, den materielles Wohl verleiht.
Das junge Paar miethete sich ein schönes Hotel, sah viele Leute bei sich; und da eine so nahe Verwandtschaft jede Rivalität aufhob, erhöhte sein brillanter Haushalt den Nimbus, der Kronbergs Gastlichkeit umgab. Die beiden Familien erhielten ein ungeheures Uebergewicht in der höhern Gesellschaft.
Sophie war fast immer auf dem Wege zwischen beiden Häusern. Bei Annen hielten sie die Kinder, und dann bedurfte ja die Kleine, wie sie insgeheim immer noch die Marchesin [] nannte, ihrer nicht – die war so glücklich! – Duguet war nicht recht zufrieden mit dem Allen. Leontine hatte dem Dringen Jean Carlo's und der innern Unruhe ihres Gemüths nachgegeben – sie war zum Katholicismus übergetreten! Ob sie den so oft und schwer vermißten Frieden dadurch errungen, war in diesem Augenblick der vollen Blütenzeit ihrer äußeren Verhältnisse schwer zu entscheiden; kam sie doch kaum zur Ruhe des Nachdenkens über das Allernächste.
Duguet also war sehr unzufrieden mit diesem Schritt. A quoi bon ces bêtises? sagte er in seiner Revolutionsweisheit; er war nicht mit dem neuentstandenen Kaiserthum Bonaparte's zur alten Religionsform zurückgekehrt, die Déesse de la raison, die zu seiner Zeit ein sehr schönes Mädchen und später ein altes garstiges Aepfelweib in Bonn war, steckte ihm noch im Kopfe.
[] Sophie gehörte dem Realismus an: sie fand den Schritt nöthig, der künftigen Kinder der Marchesin wegen. Kronberg kümmerte sich gar nicht darum; Anna blieb, wie immer, mild in ihrem Urtheil, sie begriff das Abschwören nicht, sie vermochte nicht an dessen absolute Aufrichtigkeit und Wahrheit zu glauben. Geiersperg, der das Ehepaar nach Wien begleitet hatte und so viel für dessen Vereinigung gethan, war, als er es erfuhr, mit Leontinen gleich zerfallen; er war ein eben so echter Protestant als loyaler Legitimist, der Religionswechsel schien ihm sündlich.
Selbst Annen gelang es nicht, ihn milder zu stimmen.
Wenn sie nur Jean Carlo genug liebt, um nie zu bereuen, sagte sie ihm, so ist's ja gut! Gott ist zu groß, um in der Wandlung der bloßen Form eine Sünde zu sehen; seit Ewigkeiten schaut er dem Wechsel alles Menschenwesens [] zu, er wird auch hierin das Unabwendbare seiner gegebenen Naturgesetze gelten lassen. Sind denn die Veränderungen, welche Alter, Krankheit, Schmerz oder Glück oft plötzlich in unserer ganzen Sinnesart hervorbringen, kleiner? Schwört nicht der Greis die edeln Träume seiner Jugend ab? Und ist der Tod nicht vielleicht ein weit größerer, auf eignes Wollen erbaueter Uebertritt zu einer neuen Form der Anschauung des Höchsten?
Aber der Alte küßte sie und erwiderte: Wenn ich Gott meinem Herrn zwanzig Jahre als Cuirassier gedient, warum soll ich denn im einundzwanzigsten mein Regiment verlassen, die Uniform changiren, um ihm als Infanterist das Gewehr zu präsentiren? Du meinst es gut, Kindchen, aber du glaubst selbst nicht daran.
In einzelnen Minuten flog eine Wolke durch Leontinens reines Blau der Gegenwart; der [] eine Schritt hatte sie all den Ihren, vielleicht sogar ihrem Vaterlande entfremdet.
Daheim in Berlin saß Josephine in stillem, sorgendem Kummer versenkt, täglich Briefe aus Wien erharrend oder schreibend. Ihre alte, schöne Heiterkeit, ihr Vertrauen auf das Glück ihrer Leontine kehrten nicht wieder. Der Glanz, der ihre Kinder in der Kaiserstadt umgab, freute sie wenig, sie war noch aus der Zeit, wo Comfort, Häuslichkeit und eine gemüthliche Gastfreundschaft höher galten, als eigentlicher Luxus; war nur immer Alles um sie so elegant, sauber und genügend für die sie Umgebenden, so vermißte Josephine nichts.
Leontinens Uebertritt hatte sie tief verletzt, auch sie vermochte nicht an die Dauer einer so im Fluge gewonnenen Ueberzeugung zu glauben, eben so wenig traute sie Jean Carlo's Trennung [] vom Carbonarismus und den mit seiner ganzen Individualität so eng verwachsenen italienischen Verbindungen.
Fiel ihr Blick in die Zukunft, so bangte ihr noch mehr; sie fürchtete, Leontinen könne viel Trauriges bevorstehen; woran sollte ihr Gemahl in Preußen seine Interessen knüpfen? Deutschland war ihm fremd, keine Art fester Beschäftigung verband ihn mit demselben. Niemand nahm an seinem Streben Antheil, sogar die Gegenstände seiner Bewunderung in Kunst und Wissenschaft hatten eine der deutschen Ansicht fremdartige Färbung. Die neuere, meist didaktische italienische Poesie kann bei uns kein Element der allgemeinen Bildung werden; der Ausdruck seiner Vaterlandsliebe konnte leicht eben so wenig Anklang finden, denn seine excentrisch-grandiosen, auf Traditionen versunkener Größen erbaueten Lebensanforderungen mußten diesen durch lange herbe Erfahrungen gereiften [] Männern, all den Professoren, Beamten und Offizieren, welche den Kern unserer Gesellschaft bilden, im Vergleich zu dem, was in Neapel wirklich geleistet worden, ein Lächeln ablocken, während sie den Staatsmännern strafbar erschienen. Und doch lag eine so tiefe Wahrheit in der Glut dieser Jünglingsseele, ein solcher Muth der Selbstaufopferung in diesem festen Glauben an eine mögliche bessere Zukunft. Josephinen traten die Thränen in's Herz. Wie lau erschien das allgemeine Mitleid, wie arm das Wort der Theilnahme an all den Qualen, die Jean Carlo durch Wiens brillantes Gesellschaftsleben hindurchtrug, unter dessen Glanz er schweigend das einmal Uebernommene mit verbissenem Ingrimm, einem Gefangenen gleich, der die Kette nachzieht, mühsam und schwer durch seine Tage schleppte.
Und nun sollte und wollte der Verbannte künftig in Berlin leben und Ruhe halten und [] in den einmal angenommenen Formen und Grenzen der staatsgesellschaftlichen Zustände ausharren, ein langes Menschenalter hindurch!
Josephine seufzte recht schwer; fast scheute sie diesmal Geierspergs Rückkehr, der gewissermaßen durch seines Schützlings Aufenthalt in Wien die früher für diesen gethanen Schritte rechtfertigen mußte, und plötzlich durch den erst hier ihm bekannt gewordenen Religionswechsel Leontinens beleidigt und schmerzlich erregt, Wien selbst verließ, weil er durchaus mit seiner Frau fort und auf seine Güter ziehen wollte, um den Scandal nicht mehr zu sehen, daß ein Freifräulein des alten protestantischen Geschlechts der Waldau katholisch geworden!
Am Lager einer schönen blühend jungen Frau stand reisefertig ein kräftiger, auch noch junger Mann und suchte sie sehr sanft durch einen [] leisen Kuß zu wecken. Die schöne Schläferin hatte eine ungemein zierliche Hand auf das seidne Deckbettchen einer dicht neben ihr stehenden Wiege gelegt, deren leisestes Schwanken sie wach rufen mußte. Sie mochte spät eingeschlafen sein, denn die ganze Einrichtung des Gemachs deutete auf bürgerlich frühe Stunden; die Sonne aber stand schon hoch und sie schlief noch so sanft und fest, als wäre das ihr erster Schlaf vor Mitternacht. Das kleine Mädchen in der Wiege sah dem Vater ähnlich, nur war es lichtblond, und auf dem weißen Kopfkissen lagen die klaren Löckchen wie Goldfädchen einer Stickerei und duldeten in ihrer Fülle das Mützchen nicht, das sie nach hinten zurückgeschoben.
Im Zimmer sah es ungemein friedlich und wohnlich aus; von Luxus war nicht viel zu bemerken, die Möbel waren derb und doch zugleich geschmackvoll, von Eichen- und Nußbaumholz; [] in den Ecken und wo eben ein freier Platz sich gefunden, hatten sich recht gelehrt aussehende Bücherschränke eingenistet, auf welchen Prachtexemplare von Mineralien, Glasretorten und allerlei physikalische Instrumente so zierlich aufgestellt waren, daß sie beinahe einen Schmuck bildeten. Das Wohnzimmer, das sich an diese geräumige Schlafstube schloß, war ganz morgensonnenhell, die weit zurückgelegten grünen Jalousien ließen das Auge zum Fenster hinaus über den Garten in eine Schweizergegend zu weit entlegenen Bergen hinschweifen; seitwärts lag eine graue Stadt, es war Basel.
Endlich schlug die junge Frau ein Paar wunderschöne, dunkle Augen auf und ein lichtes Freudenroth röthete ihre Wangen; sie begrüßte mit dem frohen Blick zugleich den Tag, ihr Kind und ihren Mann, pfeilschnell von dem einen zum andern fliegend, so daß sie nicht einmal sogleich seine Reisetracht gewahrte. Vrenely, [] sagte Otto, indem er sich neben das Bett und die Wiege setzte und seiner Frau herzlich die Hand zum Gutenmorgen bot, während du die Angst der stürmischen Nacht ausschliefst, hat sich mein innerer Horizont stark umwölkt. Ich habe einen Brief von Duguet bekommen und werde in einer Stunde zu Annen reisen. Sie hat Kronberg verlassen. Ich möchte dir das Alles gern unter Gottes freiem Himmel erzählen. Steh' auf, mein Kind, und komm' mir nach in den Garten!
Noch einen Augenblick stand er an der Wiege, wie innerlich Abschied nehmend von dem süßen Kinde, und sah, still gerührt, dessen rosiges Gesichtchen sich an; zu küssen wagte er es nicht, aus Sorge, es zu wecken.
Vrenely nickte ihm ihre Beistimmung zu, sie sprach fast weniger noch als sonst, aber nach zehn Minuten schon saß sie neben Gotthard auf der Rasenbank und las, über seine Schulter [] hingelehnt, den traurigen Brief mit ihm zugleich.
»Lieber Herr! schrieb Duguet, ich muß Ihre Hoffnungen leider alle auf einmal zerstören. Es ist gar nichts besser geworden, seit uns die Familie des Grafen Viatti verlassen. Schlimm, ganz schlimm ist es geworden. Schon im vorigen Jahre, nachdem dieselbe im Februar nach Berlin gereist war, lebte unsre Frau Gräfin sehr still; sie blieb des Tages über fast immer allein, ging selten in Gesellschaft, sah deren aber zu Haus an den vier Empfangsabenden, weil es der Herr so wollte. Monsieur de St. Luce kam alle Tage zu ihr – ach! was hat er oft im Stillen gelitten um sie! – aber sie klagte nie; man sah ihr nur den heimlichen Kummer an.
Im vorigen Herbst hatte der Herr Graf der Mad. Capacelli ein schönes Landhaus gekauft und es sehr kostbar einrichten lassen, da [] brachte er meistens seine Abende, oft auch die Mittagsstunden zu. Es war etwas wie eine gläserne Wand zwischen unserm Herrn und der gnädigen Gräfin. Seit Herrn Gotthards Abreise von Wien hatte sie keinen Muth mehr; und nachdem einmal ein Brief des Herrn Louis Müller an den Grafen gekommen, schien dieser innere Zwiespalt noch um Vieles zugenommen zu haben. Der Herr Graf machten der gnädigen Gräfin eine furchtbare Scene, in welcher sie, wie es mir vorkam, mit großer Festigkeit antwortete, sie wisse um diese Sache nicht.
Von da an ging es immer schlimmer; so lange aber der kleine Joseph im Hause blieb, sorgte sie für das Kind, das leider sehr kränklich ist, das zog sie von sich ab. Als jedoch Joseph in Pension zu seinem Bruder kam, lebte sie eigentlich nur an Sonn- und Festtagen, wo sie die beiden Knaben sah.
Unser Egon ist so wunderbar entwickelt, [] daß er mit zwölf Jahren einem Jüngling von sechszehn gleicht; er hat in allen Classen die ersten Preise davongetragen, ist fest und entschlossen wie ein Mann. Vor etwa acht Tagen hieß es plötzlich, nun sollten Beide nach Preußen, Joseph in ein Cadettenhaus nach Berlin, Graf Egon nach Brandenburg in die Ritterakademie, um zu einem vollkommenen Cavalier erzogen zu werden. Nun, das muß man unserm gnädigen Herrn lassen, er ist selbst tapfer und ritterlich und voll feiner Sitte, wie ein Marquis aus der alten guten Zeit.
Unglücklicherweise soll jedoch unser Egon schon so viel gelernt haben und ein so großes Genie sein, daß er über ganz Brandenburg und die Ritterschule weg ist; ich glaube auch selbst, daß er mit zwanzig Jahren Minister werden könnte. Es sei rathsam, ihn in Berlin zu lassen, meinte die Familie. Das gab viel Streit, es wurden sehr viele Briefe geschrieben [] und ich weiß nicht, wovon eigentlich die Rede war; der Herr Graf wurden aber mit einem Mal sehr heftig, was sie sonst selten in so hohem Grade sind, und befahlen, der Knabe solle gleich am folgenden Tage mit Mad. Capacelli, die zum Gastrolliren nach Berlin ging, dahin abreisen. Ich glaube immer noch, daß dem Herrn das Gastrolliren fatal war, denn er hat gewünscht, die Spanierin möge die Bühne ganz verlassen; sie aber soll geäußert haben: nur eine Heirath könne ihr diese Pflicht auferlegen.
Stellen Sie sich vor, bester Herr Professor! daß nun plötzlich unser Egon erklärte, er wolle lieber zu Fuß nach Berlin gehen, als mit Mad. Capacelli fahren, unter dem Schutze einer fremden Comödiantin reise ein Graf Kronberg nicht! Unser Herr schäumte vor Wuth – die Capacelli mußte es wol verlangt haben, um ihr Ansehen an den Tag zu legen! – nun sollte die Gräfin Schuld sein an des Knaben [] Weigerung. – O lieber Herr! was für ein Auftritt! Als endlich die Saalklingel fünf bis sechs Mal heftig angezogen ward, stürzten wir, der Jäger, meine Frau und ich, Alle hinein – da lag unsere liebe, schöne Gräfin, todtenbleich und ohnmächtig auf der Erde in ihres Sohnes Armen. Er kniete neben ihr und sah aus wie der richtende Erzengel Michael. Der Graf befahl uns, seine Gemahlin, die unwohl geworden, sogleich zu Bette zu bringen, und verließ das Zimmer, ohne Egon eines Blickes zu würdigen.
Diesen Abend ward Niemand vorgelassen, nicht einmal Herr von St. Luce. Gegen Mitternacht rief die Gräfin meine Frau und befahl, Alles zu einer Reise Nöthige für sich und Graf Egon zu packen; sie wolle nach ihres Gemahls Wunsch und Befehl ihren Sohn selbst nach Berlin und Brandenburg geleiten; Niemand anders solle ihn hinbringen.
[] Sie schrieb noch einige Zeilen an den Herrn, die ich, so spät es war, selbst hinübertrug zur Madame Capacelli. Drüben hatte es auch Verdruß gegeben; die Erzherzöge und andere hochgestellte Personen hatten sich bei dem Herrn Grafen nach dessen Gemahlin dringend erkundigt und eine so große Verehrung und Liebe für sie ausgesprochen, daß der unvermeidliche éclat dem Grafen steinschwer auf's Herz gefallen, was nun freilich die Sängerin entgelten mußte, obschon sie unschuldig daran war. O, lieber Herr Professor, wie sehr hat sich unser Herr verändert! Wer hätte das für möglich gehalten! Er war sehr hart gegen Beide; mir aber befahl er sogleich, am frühesten Morgen solle Egon bei ihm sich einfinden, dann werde er das Uebrige bestimmen.
Wir fuhren in unsern Reisevorbereitungen fort. Graf Egon war immer noch am Bett seiner Mutter. Als sie unsere Antwort vernahm, [] verlangte sie aufzustehen, um noch Einiges selbst zu ordnen; Sie wissen, sie hat immer späte Stunden geliebt.
Als wir aber nach einer Weile den Grafen Egon wieder im Zimmer seiner Mutter hörten, liefen Sophie und ich an die Thüre desselben. Ach Gott! in meiner Angst beging ich etwas – qui est indigne! – ich sah durch's Schlüsselloch – da lag die Gräfin mit gefalteten Händen und strahlendem Gesicht, es leuchtete wie das einer Heiligen; mit gebogenen Knien lag sie vor dem zürnenden Kinde, das, wie wir gar wohl aus seinen Worten vernommen hatten, den Vater anklagte, daß er die Mutter zu Tode kränke. Alle ihre Vorstellungen hatten ja nichts gefruchtet. Egon fing die angebetete Mutter in seinen Armen auf, drückte sie mit tausend Liebkosungen an's Herz und schwur ihr, fromm und sanft wie ein Lamm den Vater anzuhören und ihm zu gehorchen. Wie [] Diamanten standen die Thränen in seinen blitzenden, zornigen Augen, aber er zwang sich zum Gehorsam und hielt auch am nächsten Morgen Wort.
Noch einmal kam der Herr Graf zu seiner Gemahlin, was aber unter ihnen verhandelt worden, erfuhren wir nicht. Nach dieser Unterredung beschied sie Sophien und mich zu sich und befahl mir – nein, der Engel bat mich sogar – beim Grafen zu bleiben, damit der Herr einen treuen Diener um sich habe, die Reise sei ja von nicht langer Dauer; da wußte ich aus ihrer Verlegenheit, woran ich war. II faut respecter toujours les dehors! Ich blieb. Monsieur de St. Luce gab ihr seinen alten Diener August mit, der gewiß meine Stelle ganz ausfüllen wird. Der General ist auch ein Stück mitgereist; läge der Herzog von Reichstadt nicht darnieder, hätte er sie bis hin begleitet. Ganz spät Abends sind sie Alle [] abgefahren. Der Graf war ausgeritten, um ihr auf der ersten Station wieder zu begegnen, hieß es. Ja, sie hat ihn nicht wieder gesehen; aber die Sache ging still und ohne Aufsehen ab.
In meinem Herzen aber ist eine unsägliche Angst; in Berlin wird sie nicht bleiben. Herr Gotthard ist in Paris, ich wage nicht, ihm zu schreiben. – Was General Geiersperg zu der Geschichte sagen wird!
An Sie, mein Herr Professor, glaubte ich, schreiben zu müssen; vielleicht gibt Ihnen das Herz etwas ein, das traurige Geschick unserer lieben Gräfin zu erleichtern.« etc. –
Ja wohl, lieber Otto, mußt du hin! sagte Vrenely. Wie ich gesehen, läßt du das Lisely auch schon einpacken; ich will ihm helfen. Und – fuhr sie, auf halbem Wege umkehrend, fort, indem sie dicht an ihn trat und ihre kleinen Hände auf seine hochschlagende Brust legte, so lege du ihr unser Glück an's Herz, wie ich mich [] an das deine, als einen stillen Trost! Es hat mir lange geahnt, daß sie es nicht aushalten werde; daß aber Egon die Trennung herbeiführen mußte, ist hart. Denke ich mir die Möglichkeit, daß je unsere kleine Anna zwischen dich und mich treten könne, möchte ich lieber die Welt verlassen, in der ich doch so himmlisch glücklich bin.
Otto zog sie schweigend in seine Arme. Aber er war schon halb auf der Reise. Hältst du, fuhr er mit einem Male auf, die Trennung für eine dauernde?
Ja, Otto, erwiderte sie fest. Anna thut nichts halb. Nun laß mich einpacken gehen.
Und abermals blieb sie stehen. Otto, du wirst reiche Stunden haben, schöne und schwere. Versprich mir – sie stockte. – Was, mein Engel? – Sie von Grund aus rein zu genießen, wie Gott sie gibt, ohne Vor- und Rückblick, ohne gemachte Gewissenssorge, die [] unnütz ist, denn ich traue dir! Und Gott traut dir auch, sonst würde er dir nicht die wunderliche Aufgabe senden. – Sieh', mein Liebster, fuhr sie fort, und schlang wieder den Arm um seinen Hals, ich bin so ruhig, weil ich weiß, – blühte dir dort ein eignes Glück, so liebe ich dich genug, – um deinetwillen den herbsten Schmerz zu ertragen und dir meines hinzugeben; aber dem ist nicht so; du bist der Gärtner nur, der einem Andern die schöne Blume pflegt. Ob der sie jemals blühen sehen wird – ja das ist eine andere Frage.
Otto erröthete. Du aber, sprach sie freundlich weiter, pflege die Blume; weißt du gleich nicht, wem Gott sie schenken wird, dem Tode – dem Leben – dem Glück? – Alles gleichviel! Pflege die Blume, wie die Parsen, von denen du mir erzählst, die Quellen in Kanäle fassen zu seiner Ehre.
Als sie fort war, fuhr Otto ein paar Mal [] krampfhaft nach seinem Herzen; eine dunkle, trübe Stimmung, eine schaudernde Erinnerung vergangener Schmerzen ergriff ihn. Gewaltsam strich er die dunkeln Locken aus der Stirn und biß die Lippen fest zusammen, dann aber ermannte er sich rasch und ging zu Vrenely. Heiter ordnete das schöne Paar Alles zur Abreise und nach einer Stunde flog sein Char-abanc durch's Thal.
Nachmittags kamen die Nachbarinnen, sie hatten ihn fahren gesehen. Was ich froh bin, sagte Vrenely, ich hab' den Otto zu seinen Verwandten persuadirt, ich wollte seine Stube während den Ferien malen lassen. Bei so was taugt der Mann nicht im Haus; kehrt er zurück, ist Alles schmuck und sauber.
Die Thränen, die Vrenely die halbe Nacht hindurch vergoß, sahen weder Otto, noch die Nachbarinnen.
[] Es ist eine sonderbare Erfahrung, daß fast jedes irgend bedeutende Menschenleben seinen tragischen Zeitpunkt hat; alltägliche Verhältnisse, deren Druck man Jahre lang ertragen, überwachsen mit einem Male, exotischen Gewächsen gleich, unser Streben, unsern Charakter, unsere Umgebung. Die bittere Aloeblüte einer solchen Erhöhung unseres Zustandes ist leider darin von ihren Schwestern verschieden, daß sie häufiger ihren Kelch entfaltet; indessen hat dennoch meistens das Menschenleben nur eine einzige solche Periode, deren Steigerungen alle zum nämlichen Ziele führen und dem Rest der Tage die Grundfarbe geben. –
Leontinens Wagen hielt in Brandenburg vor dem bescheidenen Hause, das Anna bewohnte. Sie sprang aus demselben und eilte hinauf. Ich konnte es nicht mehr aushalten, ohne dich! rief sie der Freundin entgegen. Es ist seelentödtend, Papa und Mama Domino[] und Piquet spielen zu sehen, in der Gesellschaft leere Floskeln über Navarin zu hören und dabei Jean Carlo's tiefe Herzensglut auf unserem Herde Kartoffeln sieden zu lassen! O, wäre der Unglückselige unerweckt auf dem Felde der Ehre gebettet geblieben, nachdem er den kurzen, schönen Freiheitstraum geträumt!
Vergebens versuchte Anna ein Paar tröstende, mildernde Worte; Leontine schüttelte wehmüthig das Haupt und fuhr fort: das ist es eben, er verschweigt mir, wie den Andern, aus Schonung seinen Gram, aber ich sehe ihn – und doch, Anna, langweilt er mich auf's Entsetzlichste. Ich möchte ihn lieber Gift und Dolch handhaben sehen, als dieses Nichtsthun und sich so durch die Tage Hinschleppen an ihm erleben! Dieses Verdämmern der tiefsten Seelenkräfte in dumpfem Hinbrüten, und dann das Spielen mit Kleinigkeiten, großer Gott! [] wie kann ein Mann – ich bin ganz matt und müde davon, darum komme ich zu dir.
Und glaubst du denn, fragte Anna, daß ihn die so gesunkene Carbonaria noch interessirt, daß er sein Wort gebrochen und neue Verbindungen mit ihr angeknüpft hat?
Ja und nein! Er ist nicht aus einem Guß; das ist ja eben das Elend! Da er heilig gelobt hat, sich nicht mehr in diesen Wust schwächlicher Freiheitsversuche hineinziehen zu lassen, wird er Wort halten, das heißt, auf seine Art: er wird zu jenen Zwecken nur sein Vermögen den Einzelnen zuwenden, Geld auf Geld verschleudern, aber keine Details anhören. Drängen sie jedoch jemals gewaltsam an sein Ohr, so ist wol kein Zweifel, daß er mich verlassen würde im ersten als wichtig sich ankündenden Moment, um vielleicht nutzlos sein Haupt dem Beile preiszugeben. Die ganze Sache ist allmälig fixe Idee in ihm geworden.
[] Mir scheint, du vergißt seine Nationalität. Hat er dies unermüdete Wiederauffangen abgerissener und verlorener Fäden seines Gewebes, dieses taumelnde Entzücken beim Klang des Wortes »Freiheit!« nicht mit den Edelsten seines unglückseligen Volkes gemein?
Mag sein. Aber lebe nur erst den ganzen langen Tag mit einer personificirten Idee, die nirgends ihren Anknüpfungspunkt in der Wirklichkeit findet; sieh diese tausendfach zerstückelten Fäden in der klaren Luft der Alltäglichkeit zerflattern wie den alten Weibersommer, der uns auch den schönen Frühling niemals wiederbringt, Anna! – Um einer begeisterten Ansicht Alles zu opfern und um sie, allen Umgebungen und Gegenwirkungen zum Trotz, zum Wirklichwerden zu zwingen, zum fruchttragenden Baum sie zu machen, um, mit einem Wort, die Basis einer Volksfreiheit aus seiner Persönlichkeit herauszubilden, gehört ein eiserner Wille [] und Charakter, dann beugt sich ihm, dem Wollenden, die Welt, gleichviel, ob in starrer Demuth, oder lebendigem Gehorsam, gleichviel, ob zum Bau einer Republik oder eines Kaiserthums. Ein Napoleon oder ein Washington würden es vollbringen und höchstens hinterher in sich zu Grunde gehen, nachdem das ungeheure Ich mit dem äußern Stoff fertig geworden und seinen Höhepunkt erreicht hätte. So ein besonnen verharrender, fester Sinn, wie etwa Gotthards, vermöchte das vielleicht. – Sonderbar, daß ich ihn nie vergesse!
Anna schwieg verlegen. Leontine bemerkte es nicht und fuhr fort: Gut, daß ich Muth habe! Gib Acht, Jean Carlo endet auf dem Schaffot, ohne irgend etwas geleistet zu haben. Erschrick doch nicht so! Das habe ich bedacht, ehe ich meine Hand ihm gab. Ja, ihm fehlt Charakter, wiederholte sie flüsternd halblaut vor sich hin, und doch will er ihn einer Nation [] verleihen und meint die Zustände des Volks wie aus einem Gefäß in's andere auszugießen zu einer neuen Gestalt. Gäbe es eine Allgemeinheit der Gesinnung, dann möchte dem Einzelnen das Große gelingen, es könnte den Tropfen bilden, der den Becher überfließen macht. Aber so! – Unsre Zeit fordert ja umgekehrt vom Einzelnen, was sie in solchem Falle von der Allgemeinheit verlangen sollte, eine Thatkraft, die in's Unermeßliche reicht: ein Regeneriren all der schlaff gewordenen Gemüther. Und der das könnte, ist, glaube mir, jetzt gar nicht auf der Welt. – Nach der Oekonomie der Natur, setzte sie heiterer hinzu, die eine gute Hausfrau ist, wird er auch wol kaum in unserm Säculum mehr geboren.
Einem Manne, wie Otto zum Beispiel, traust du also eine solche Gewalt nicht zu?
Nein, o nein! rief fast heftig Leontine; er [] hat zwar Kraft, auch das Bewußtsein alles Einzelnen, aber nicht das Genie. Er hat ein friedliches Gemüth und neigt sich weit mehr dem Universum, als dem kleinen Vaterlande zu. Doch was fragst du mich? Gotthard ist vielleicht der Einzige, den wir kennen, der – Aber wo ist er jetzt?
Noch immer in Paris. In den paar Jahren unserer Trennung hat er seine Bahn zu einer Höhe gehoben –
Kind, ich sagte dir ja immer, daß er Minister werden würde!
Das sagt Duguet auch von mir, liebe Tante! rief lustig auflachend Egon, der aus dem Nebenzimmer eingetreten war, aber ich fürchte, du hast es sicherer getroffen. Herzlich willkommen! Er umarmte und küßte sie. Aber, sprach er fort, indem er sich nach allen Seiten umsah, wo ist denn Otto?
Leontine wurde blaß – leichenblaß.
[] Anna hatte die ganze Zeit hindurch versucht, das Gespräch auf ihn zu bringen, sie hatte den wilden Ausbruch des Gefühls ihrer Freundin vorüberlassen, dann mit des Freundes Anwesenheit sie überraschen wollen, nun nahm ihr der Zufall das Wort von den Lippen.
Unaussprechlich tröstlich war Annen die plötzliche Erscheinung ihres Jugendfreundes gewesen; ihre Lage in Brandenburg war nicht angenehm. Die bei der Geburt von hoher Hand einem der Knaben verliehene Präbende konnte, wie sich bei Regulirung des Eintritts in die Militärschule fand, nicht angenommen werden, sie war gegen die Statuten, Anna's Bürgerlichkeit machte sie unmöglich. Egon, in dem sich bereits die Stimmung unserer jetzigen Jugend im Keime zu zeigen begann, war höchst aufgebracht, daß man nicht seiner Mutter wegen eine Ausnahme machte; er war vorläufig noch ein legitimer [] Demagoge, der einer ganzen Welt die Freiheit und sich den Grafentitel gönnte.
In Berlin war Anna nur einen Tag geblieben; sie suchte Kronbergs Wünschen hinsichtlich der Kinder möglichst nachzukommen. Dem jüngern, trotz seiner Schwächlichkeit, zum Offizier bestimmten Joseph war diese Militärschule nothwendig, für Egon paßte sie nicht. Sie hatte an Kronberg geschrieben und harrte seiner Entscheidung, als unerwartet Otto, wie der Strahl eines milden schönen Sterns, die Nacht des Zweifels und Trübsinns in ihr brach und zertheilte. Er stand plötzlich im Zimmer und fragte mit den sanftesten Tönen seiner tiefen Stimme: Komme ich dir recht, liebe Anna? Du bedarfst vielleicht nicht den Arm, aber das Herz – vielleicht sogar den Kopf deines Jugendfreundes.
Mit unsäglicher Liebe hatte er sie seit mehren Tagen gepflegt, getröstet, zerstreut; frisch [] und jugendlich, erschien er neben Egon fast wie ein älterer Bruder. Er zeigte sich ruhig und doch klopfte sein Herz, wie sonst, Annen entgegen, und doch war sie nicht minder schön, als damals! Und jetzt mit Einem Male war auch Leontine da und die unvergeßliche Zeit seiner Liebe drang wie eine Gegenwart auf ihn ein. Aber Otto verbarg seine tiefe Erschütterung, er hatte das in seiner Ehe still gelernt.
Leontinen traf sein Anblick wie ein Blitzstrahl.
Und ich bin katholisch geworden! dachte sie, was wird er dazu sagen? An ihrem namenlosen Schreck bei dieser Frage fühlte sie, wie sehr sie noch ihn liebe. Auch sie war vorsichtiger, sie schlug das Auge erst auf, als sie es ruhiger werden fühlte.
Immer noch war ihm Anna die seine Seele weckende, erwärmende Sonne, prächtig entfaltete sein Geist die Flügel ihr gegenüber, alle seine Ideen wuchsen und erweiterten sich. Nachts, [] nachdem er von ihr gegangen, arbeitete er die kühnsten, schwierigsten Probleme seiner Wissenschaft aus, er lebte tausendfach, nach allen Richtungen hin, ohne zu ermüden; der Morgen fand ihn immer frisch und klar.
Aber keinen Augenblick vergaß er seiner Vrenely daheim. Täglich schrieb er ihr, und sein liebevoller, herziger Brief enthielt kein lügenhaftes Wort. Er freute sich mit tiefer, dankbarer Rührung seiner Häuslichkeit, ihrer und des Kindes; Stunden lang sprach er von ihrer Anmuth, Wahrheit und Güte. Daß sie und Anna zu der nämlichen Gattung Wesen gehörten, fiel ihm kaum ein; Meilen weit lagen diese Gefühle auseinander.
Eine Frau wird diese Doppelempfindung nie verstehen.
Bei Anna's Trennung von Kronberg war der Name der Capacelli nicht über ihre Lippen gekommen, nur von den Knaben war die Rede [] gewesen. Anna hatte ihrem Gemahl blos angedeutet, daß sie, allen den Mislauten der Gegenwart ein Ende zu machen, ihre Entfernung für gut, für nöthig halte, und ihm des Sohnes unbedingten Gehorsam gelobt, wenn sie selbst ihn begleite. Ihre Freunde dagegen hatten die Annen durch das Verhältniß zur Capacelli erschwerte Stellung in Haus und Gesellschaft auf den Zustand ihres Gemüths übertragen; Niemand begriff, daß sie die ihr aufgedrungene Rolle der mishandelten unglücklichen Gattin so ruhig hinnahm, weil sie ihr Einsamkeit und ein leichteres Aufathmen gönnte. Erst als Kronberg einen Schritt thun wollte, der sie zu einer öffentlichen Erniedrigung gezwungen hätte, stieg der Gedanke einer Trennung in ihr auf.
St. Luce schrieb oft. Er war Kronbergs Freund geblieben und bis zu Otto's Ankunft, die Annen abermals zum Schreiben veranlaßte, [] das einzige Verbindungsglied zwischen den getrennten Gatten unter sich und Gotthard, der noch immer in Paris sich aufhielt. Kronberg hatte noch nicht geantwortet.
Als Franzose hatte St. Luce den Vorfall mit der Capacelli leichter genommen, als Geierspergs und die Andern. Er warf Kronberg immer noch die Dummheit eines unnützen éclat vor. Allerdings war er jetzt auf einen momentanen gänzlichen Sieg der Spanierin gerüstet; auch er hielt die Trennung Anna's von Roderich für eine vielleicht dauernde, an gerichtliche Scheidung zu denken, fiel ihm nicht ein.
Wie es nur dahin gekommen? übersann er auf einem langen, einsamen Spaziergange; war doch eigentlich seit Anna's Krankheit nichts Bedeutendes geschehen! Kronberg war ja so reich, es konnte Annen wahrhaftig einerlei sein, mit welcher hübschen Frau er einen Theil seines vielen Geldes durchbrachte; eifersüchtig war [] sie ja nicht. Uebrigens wenn er nun Pferde, Spiel und andere Zerstreuungen geliebt hätte, wäre es besser gewesen? – Eine deutsche Frau freilich kann sogar auf Jagdhunde eifersüchtig sein, man hat das erlebt, brummte er vor sich hin. C'est à peu près égal! – Wenn sie am Ende doch so eine Art kleinstädtischer Eifersüchtelei – quelque idée de petite ville – gehabt hätte? – Nun saß sie ganz unnütz in Brandenburg, allein, ohne Zweifel gedrückt von der neuen Schwierigkeit, die ihre bürgerliche Geburt dort dem Fortkommen der Kinder in den Weg legte! Fameuse bêtise allemande! murmelte er immer ärgerlicher. Sein Verdruß hatte den alten Herrn bereits um halb Wien herumgetrieben, als eine rufende, athemlose, vom Laufen halb erstickte Stimme: Monsieur! Monsieur de St. Luce! ihn Halt machen hieß.
Es war Duguet, der, in einer Art Gefühlsstrangulation heftig gesticulirend, auf ihn zustürzte, [] eine Neuigkeit der wichtigsten Art schien ihm fast die Besinnung zu rauben, doch hatte er äußerlich alle Flaggen des innern Jubels aufgesteckt, sein Hut saß fast verkehrt, sein rothes Schnupftuch flog in der Luft über die Büsche weg, wie sonst die Serviette über die Möbeln. Unglücklicherweise war er vor lauter Bewegung fast sprachlos.
Endlich brachte er die Worte heraus: Der Herr Graf haben mit Madame Capacelli gebrochen, jeder Verbindung mit ihr entsagt, ihr das Haus geschenkt, brieflich von ihr Abschied genommen; vier Billets, die sie ihm geschrieben, unerbrochen zurückgeschickt; abgeschlagen, sie wiederzusehen. Baron Ruthberg ist gekommen, er hat ihn sehr freundlich empfangen, die Herrn sind in der besten Laune auseinandergegangen.
Bist du betrunken oder im Traume, mon cher? rief St. Luce, ergriff Duguet beim Kragen [] und schüttelte ihn aus Leibeskräften, als wollte er ihn wach rütteln.
Das hölzerne Bein trug den General nicht mehr, er wankte. Zum Glück stand eine Bank in der Nähe. Duguet ließ sich respectuell schelten, schütteln, fragen, hatte jedoch für das Alles nur die eine Antwort: Mais c'est vrai, ma foi, c'est bien vrai!
Wie ein paar Inspirirte gingen der alte Herr und der alte Diener nach Hause. Die ganze Welt schien ihnen anders geworden. Nun muß sie ja wiederkommen!
Am nächsten Tage beklagte die ganze Crème der guten Gesellschaft in Wien diesen armen, guten, kleinen Narren! die Capacelli, die wegen eines Theatercontracts so halbtodt, elend und krank nach Berlin gemußt.
Paola war wirklich krank, sie liebte Roderich, weil er es ihr so entsetzlich schwer gemacht, ihre Zwecke bei ihm zu erreichen; sie war ihm [] mitunter untreu, weil das einmal in ihrer Natur lag, weil ihr lange dauernde Treue ganz unmöglich war. Sie hatte bis zu diesem Augenblicke, der alle ihre Hoffnungen vernichtete, keineswegs aufgegeben, doch noch Gräfin Kronberg zu werden, und wirklich die Knaben mitzunehmen sich erboten, um sie zu gewinnen und ihr Ansehen in Berlin geltend zu machen; – und nun ohne alle Ursache, ohne irgend eine denkbare Veranlassung trennte er sich von ihr, und obendrein im Moment ihrer unvermeidlichen Abreise. Es war zum Wahnsinnigwerden!
Sie sann sich das Haupt müde, den Grund seines veränderten Benehmens aufzufinden; ihre Phantasie arbeitete sie in einen Fieberzustand hinein, in welchem sie wirklich endlich Wien verließ.
Mag sein, daß Roderich ihrer überdrüßig geworden, mag sein, daß sie die Saiten bei dem nicht mehr jugendlich fühlenden Manne zu [] hoch gespannt; wer konnte dem reifen Diplomaten so ganz genau ansehen, was ihn bewegte? Er reichte seinem Freunde St. Luce die Hand und bat ihn, nicht davon zu sprechen.
Seine Freigebigkeit gegen Paola kannte keine Grenzen; er schickte noch eine Menge Geschenke in ihr Haus, die er ihr früher versprochen, es waren wirkliche Kostbarkeiten darunter.
Ruthberg und der ganze kleine Männerkreis, der ihn umgab, war theils in starre Bewunderung dieser Großmuth versunken, theils wüthend. Wer kann mit einer solchen Verschwendung Schritt halten? fragte Einer den Andern. Die Damen, deren Gunst diese jungen Herren sich rühmten machten ihre Bemerkungen ebenfalls; Jedes sah die Sache mit andern Augen an, sie erregte ein für Kronberg günstiges Aufsehen. Einige fromme Seelen freuten sich seiner Rückkehr zum Rechten; im diplomatischen Kreise sprach man diesen Abend bald da, [] bald dort leise. Kronberg sah es. Er erklärte sich gegen Niemanden; war er vielleicht sich selbst nicht klar?
Duguet suchte den ganzen Tag hindurch in jedem kleinen Dienst eine an Anbetung grenzende Dankbarkeit, eine Art stummer Verehrung an den Tag zu legen; nie war er respectvoller gegen seinen Herrn gewesen. Der Kerl bedient mich, als ob ich der Kaiser wäre! sagte, immer noch lachend, Kronberg vor sich hin; aber es that ihm doch wohl.
Einmal fand ihn Duguet dem Bilde seines Sohnes gegenüber, er glaubte, die Worte zu vernehmen: Toller Bube! er hatte Unrecht in der Manier, in der Sache wahrhaftig nicht so ganz!
Es wäre Kronberg selbst sehr schwer geworden, sich von dieser plötzlichen Umwandlung seines Innern, vielleicht auch blos seiner Handlungsweise Rechenschaft zu geben. Der Hauptgrund [] war wol: daß der Stachel der Eitelkeit ihn nicht mehr wund ritzte, mit ihm schwand seine scheinbare Leidenschaft zur Capacelli, die aus so vielen, so verschiedenen Elementen zusammengesetzt, so wenig wirklich war. Anna's Kälte erregte in der Entfernung nicht mehr seine Eifersucht, er fühlte es nicht mehr so nothwendig, ihr und der Welt eine scheinbare Gleichgültigkeit zu zeigen. Der Spanierin Hochmuth hatte sie zu einer unpassenden Forderung, ihn selbst zu einem noch viel unstatthaftern Schritt verleitet, dessen er sich nun hinterdrein schämte.
Anstatt Annens Briefe zu beantworten, beschloß er, selbst mit Courierpferden nach Brandenburg zu reisen und sie abzuholen. Daß sie irgend sich weigern könne, ihm zu folgen, fiel ihm nicht ein; die Sache war ja nun abgethan! Die Kinder konnten am Ende doch unmöglich bei ihr bleiben. Besser war es allerdings, Egon in Berlin zu lassen, und eben dort konnte Anna [] ihn am ruhigsten von sich entfernt im Hause ihres Schwagers wissen.
Kronfeld hatte ein fast weibliches Talent, sich im Geist die Umstände so zurecht zu legen, wie sie seiner Neigung nach am günstigsten ihm erschienen.
Während er zu einer kurzen Abwesenheit in seinem Cabinet die gehörigen Verfügungen traf, ließ sich durch einen der Laquaien ein junger Mann melden, der um die Gnade bat, ihm aufzuwarten. Der Graf, in seine Arbeiten vertieft, erwartete einen neuen Secretär; ohne aufzusehen, nickte er gewährend. Gondi trat ein.
Mit einem Schwall bombastischer Worte und aller Uebertreibung seiner Jugend und seines Metiers gestand er dem Grafen, daß er nicht wirklich Paola's Bruder sei, schwur ihm jedoch, dem Gefühl und Verhältniß nach seit Ewigkeiten nicht anders zu ihr gestanden zu haben, [] und hielt seinen eigenen Verdiensten eine lange Lobrede.
Zu seiner Verwunderung hörte ihn der Graf schweigend, ohne sonderliche Zeichen des Erstaunens, ruhig an. Gondi sprach sich nun gegen Paola's Charakter aus, klagte sie der größten Unzuverlässigkeit und Unwahrheit an und erbot sich, dem Grafen alle Beweise seiner Aussagen in die Hände zu geben.
Und was soll ich damit? fragte Roderich.
Von dieser mit tausend Ringeln Seele, Geist und Körper umwindenden Schlange sich lösen, sagte trotzig der Italiener, dem Zorn und Eifersucht das Gefühl erduldeter Mishandlung vergegenwärtigten bis zur Qual. Er ballte die Hände und biß vor Wuth in die eigenen Finger, dazwischen fuhr er mit seinen Ausrufungen und Schmähungen fort, bis ein fast convulsivisches Schluchzen ihn hemmte.
[] Armer Narr! murmelte Kronberg. Gott sei Dank, daß ich nicht verliebt bin, wie er!
Immer trotziger und heftiger sprach Gondi sich aus; er war gekommen, weil er es ihr versprochen, freilich in ganz anderer Absicht; aber das Gefühl, daß sie in der inneren Empörung über Kronbergs Härte nun in Berlin ohne ihn neue Verhältnisse schließen werde, hatte momentan die alte Leidenschaft in ihm erweckt, und anstatt dem Grafen in der übernommenen Rolle Gutes von ihr zu sagen und durch ihren Jammer auf dessen Herz zu wirken, riß ihn das innere Empfinden ihrer Nichtswürdigkeit und seiner trostlosen Schwäche in ganz entgegengesetzter Richtung fort. Und dennoch, klagte er, bin ich selbst an sie gefesselt, dennoch würde mich mein Weg mit ihr zusammenführen, ginge auch der eine nach Süden, der andere nach Norden. Das ist's ja, daß man ihre fluchwürdige Sirocconähe nicht los wird!
[] Wir wollen nicht behaupten, daß Kronberg immer so klar gesehen, wie in dieser halben Stunde, obschon er in einem Winkel seiner Seele nie an den Bruder geglaubt; der junge Mann schien sich längst zurückgezogen zu haben und war ihm bei ihr nie in den Weg gekommen. Roderich hörte ihn fortwährend ruhig an bis zu Ende, dann sagte er ihm mit wohlwollender Freundlichkeit: er habe sein früheres Verhältniß zur Capacelli gekannt; übrigens sei es unwürdig von einem Mann, sich an einer Frau zu rächen; das weibliche Geschlecht sei übel genug gestellt in der Welt, dem männlichen gegenüber. Da aber sich zu rächen, wo man einst geliebt und Gunst gefunden, gälte in Deutschland für erbärmlich.
Mit großer Güte erkundigte er sich nach Gondi's persönlicher Lage, stellte ihm die Gefahr des Hazardspiels in Oesterreich vor, und bot ihm an, ihm beizustehen, wenn er eine andere [] würdigere Lebensweise versuchen wolle. Endlich entließ er ihn mit einem Geschenk, bat ihn jedoch, nur im Fall, daß er sein bedürfe, ihn wieder aufzusuchen, da die Vergangenheit entschieden für immer abgethan bleiben müsse.
Seit langer Zeit athmete Roderich fröhlich auf, ein heiteres Gefühl der Selbstzufriedenheit floß durch seine Lebenspulse und drang ihm tief an's Herz. Und nun zu Annen! sagte er lächelnd.
Er hatte St. Luce vorgeschlagen, ihn zu begleiten; der junge Herzog von Reichstadt hatte sich wieder erholt, mit Freuden nahm der General das Anerbieten an. Duguet sang triumphirend seinen Marlborough und ließ unter seiner Aufsicht den Wagen packen.
So standen also die Dinge in Wien; unglücklicherweise hatte in Brandenburg, Berlin und Paris Niemand von dieser günstigen Umgestaltung der Verhältnisse die leiseste Ahnung.
[] Gleich nach Anna's Abreise hatte der General an Gotthard geschrieben, der Brief kam an, als dieser eben seine Geschäfte in Paris beendet und zur Abreise bereit war.
Gotthard zählte noch nicht Dreißig; in diesen Jahren rollt das Blut noch rasch und glühend, einem Lavastrom gleich, in den Adern. Die Möglichkeit einer nicht entfernt durch ihn veranlaßten Scheidung ihrer Ehe, das Bewußtsein, Annen ein in jedem Bezug passendes Loos bereiten zu können, die Aussicht, ihr seine Hand zu bieten, mit der einzigen Frau, die er je geliebt, die er nie eine Stunde aufgehört zu lieben, vereint leben zu können, überwältigte ihn. Mit unwiderstehlicher Gewalt von der Macht des Augenblickes ergriffen, zauderte er keine Stunde, er flog nach Berlin. Sie war nicht mehr da; auch Leontine abwesend, bei ihr. Er erfuhr dies zufällig und konnte sich nun nicht entschließen, Geierspergs aufzusuchen, er [] kannte Beide nicht. Wie ein Träumender ging er volle vierundzwanzig Stunden in Berlin umher. Er hielt es nicht länger aus; er nahm Postpferde und eilte nach Brandenburg.
Die kleine Stadt gewährte ihm nähere Details. Im Gasthof, wo er Erkundigungen einzog, erfuhr er, wo sie wohne; auch Otto's Anwesenheit ward ihm mitgetheilt. Er freute sich derselben, dann aber beneidete er ihn unbeschreiblich, daß er ihm zuvorgekommen und die ersten traurigen Tage mit Annen durchlebt hatte.
Mit einem Male hatte den sonst gefaßten, besonnenen Mann der Wirbel grenzenlos leidenschaftlicher Gefühle und Hoffnungen erfaßt, jede Secunde steigerte ihn; als habe ihn die Wünschelruthe einer zauberischen Gewalt berührt und tausend Quellen seines Herzens wach geschlagen, strömte die Fluth unsäglichen, fast tödtenden [] Glücks durch sein ganzes Wesen. Er mußte sie sehen! jetzt – gleich! – –
Auch Anna war seit einer halben Stunde überaus glücklich. Sie hielt einen Brief ihres Bruders aus Schlesien in der Hand, den sie wiederholt durchlas. Louis war nicht mehr beim Militär, eine ihm unerklärliche, ganz unbekannte Fürsprache hatte ihm die Stelle eines Postmeisters mit einem kleinen Gehalt verschafft. Nachdem ihm durch seinen Hauptmann unter den Fuß gegeben worden, um seinen Abschied zu bitten, welchen er, da er die gehörige Anzahl Jahre gedient, »seiner geschwächten Gesundheit wegen« mit allen Ehren und Anerkennung guter praktischer Kenntnisse erhielt, hatte ihn der Antrag wie ein ihm vom Himmel zugefallenes Geschenk überrascht. Nun konnte er froh und ruhig mit seiner Familie leben, seine Kinder erziehen. Dem kleinen Amt war er völlig gewachsen. Er hatte ein Häuschen als Wohnung [] angewiesen bekommen, und Feld und ein Gärtchen. Er schwamm in Wonne, und rührend schön war die wirklich tief gefühlte Dankbarkeit, mit welcher er der Schwester abbat, daß er je an ihr gezweifelt, während sie so redlich für ihn gesorgt. Es mußte ja ihr und Kronbergs Werk sein, daß er nun plötzlich so glücklich geworden. Louis erschien durch seine Reue und den Jubel seines Herzens so hingebend liebenswerth, daß Annen jeder frühere Miston aus dem Gedächtnisse schwand. Auch seine Frau hatte mit einer hübschen klaren Handschrift einige Zeilen voller Dank und Herzensfreundlichkeit dem Brief zugefügt; das Glück verleiht gut gearteten Menschen fast immer eine gewinnende Anmuth.
Anna war glücklicher, als Beide. Konnte sie wol einen Augenblick daran zweifeln, daß es Gotthard sei, der dies Alles möglich gemacht, der es für sie gethan zu ihrem Trost?
[] Das Gefühl seiner Liebe überkam sie wie eine stille Seligkeit; Thränen überthauten das Blatt, das sie noch in den Händen hielt. Unwillkürlich war ihr, als empfinde sie wieder die Wohlthat seiner Nähe, ihre Lippen flüsterten bewußtlos seinen Namen. Ja, das bist Du, mein Gotthard! sagte sie leise und hob das noch umflorte Auge – großer Gott! es traf das seine! – Er lag zu ihren Füßen, faßte ihre Hände, drückte sie an seine Stirn, an seine Lippen. Besinnungslos sah sie ihn an, wiederholte aufschreiend seinen Namen und sank kraftlos, vom Augenblick überwältigt, mit dem Gesicht auf seine Schulter, an seine Brust.
Wer zählte je in einer solchen Lage die Minuten? Wie lange das Gefühl der namenlosen Wonne, dieses Anschauens des Geliebten, ohne Vor- noch Rückblick auf Vergangenheit oder Zukunft, gedauert, wußte Anna nicht. Jetzt saß er neben ihr auf dem Sopha; wie von [] einem unerhörten seltsamen Traum befangen, lauschte sie seinen Worten. Lange verstand sie ihn nicht; plötzlich ward ihr sein Irrthum – ach! sein wahnsinniges Hoffen klar, wie ein Skorpion tödtete diese Stunde sich selbst, vernichtete das volle Leben, das sie genährt. – Was Gotthard wähnte, sagte, wünschte, paßte ja nirgends in die Wirklichkeit. Sie ihre Kinder verlassen! sie von Egon sich trennen! Nein, das war ja nicht zu denken, nicht zu thun, weit eher konnte sie sterben.
Mit Löwenmuth fiel die arme Frau über, das hoffnungschlagende Herz des Geliebten her und entblätterte alle seine Blüthen. –
Vergebens wiederholte er ihr, daß die Trennung von ihrem Gemahl bereits hinter ihr liege, daß es Raserei sei, einem bloßen Begriff ein ganzes Leben zu opfern.
Sie schüttelte stumm und traurig den Kopf, [] aber seine Worte schmerzten sie, ohne sie irre zu leiten.
Anna! rief Gotthard endlich verzweifelnd, seit sechs Jahren habe ich eine freudenlose Existenz von Tag zu Tage hingeschleppt; im Edelsten, Erfolgreichsten, das ich zu leisten versuchte, klang immer die Todtenstimme meines Herzens vernichtend durch; ich fühle, daß mir der Boden unter den Füßen fehlt. Anna, lassen Sie mich meine Aufgabe vollenden! Gewähren Sie mir Frieden! Enden Sie diese rastlose Pein, dieses stachelnde Glückverlangen, dieses verzehrende über einer Unmöglichkeit Sinnen und Brüten, an welche zu glauben, der männlichen Natur eine schlimmere Vernichtung ist, als Krankheit oder Tod. Der Zwiespalt zerfrißt mit seinem Rost mein Herz, meine Sinne. Was zu thun Menschen möglich war, ist von beiden Seiten geschehen, und jetzt, da eine unbegreifliche Barmherzigkeit des Zufalls die Möglichkeit[] einer innern Vollständigkeit, einer geistigen Genesung uns gewährt, jetzt wollen Sie in kränkelndem Pflichtgefühl einer unwahren Ueberzeugung, einer gemachten Nothwendigkeit sich und mich opfern?
Bis in's Tiefste erschüttert, hörte sie ihn an, dann begann sie zu erzählen. Je länger sie sprach, desto trüber wurde Gotthard. Sie sprach über Egon, über dessen richtenden Blick, der schon jetzt mit schneidender Schärfe den Vater getroffen, über die beiden Briefe, die sie selbst von Brandenburg aus an Kronberg geschrieben. Im Reden ward sie muthiger. O, mein Freund! sagte sie fest, wir können uns einander opfern, denn wir sind eins; aber kann ich den Knaben beider Eltern berauben? Hat meine Liebe zu Ihnen, Gotthard, des Vaters Herz ihm entfremdet, darf ich die Mutter auch von ihm trennen? Verlangen Sie nicht, was wir Beide nicht ertrügen.
[] Leben Sie wohl, Anna! sagte Gotthard, bebend vor Schmerz, aber rasch entschlossen. Es war das letzte träumerische Aufflammen meiner Jugend, es war ein wundersüßer, schöner Traum, der, wie alle Morgenträume, in blasses Tagesgrau verweht! O Anna, Anna! nun darf ich dich niemals wieder sehen!
Er zog sie einen Augenblick an seine Brust, ihr war, als breche ihr Leben. O Gotthard! hauchte sie leise, sein Sie nicht allzu hart gegen uns Beide! Können wir denn wissen, was Gott über uns verhängt? Lassen Sie uns treu sein und still halten!
Es lag eine so tiefe, demüthige Gottergebenheit in Anna's Worten, wie in ihrem ganzen Wesen, daß plötzlich Gotthards milde Natur, wie wach gerufen, aus dem Dunkel des eigenen Innern sich erhob. Still hielt er sie in seinen Armen, sah sie weich und innig[] an und strich ihre seidenen Locken zurück, die ihr in's Gesicht gefallen.
Nun denn, mein Engel, lebe wohl! Lebe tausendmal wohl! Nicht auf immer. Aber weine nicht, o weine nicht, Anna! Leise bog er sich nieder – Beide saßen noch auf dem Sopha – seine Lippen berührten kaum, sie streiften nur ihren goldnen Scheitel.
Monsieur de St. Luce, Madame! rief Auguste's Stimme. Die Thüre ward aufgerissen, Leontine, Viatti, Otto, St. Luce und – Kronberg standen vor den Unglückseligen.
Ein dumpfer ächzender Laut, kein Schrei, kein Seufzer – ein schneidendes Wimmern durchdrang das Zimmer. Kronberg lehnte sich wie bewußtlos an die Thür, Viatti unterstützte ihn. Leontine war auf Anna zugesprungen, die in todtenähnlicher Ohnmacht am Boden lag; [] St. Luce und Otto hatten sich hastig zwischen Gotthard und Kronberg gestellt.
Wortlos, zitternd vor Grimm und wahnsinniger Verzweiflung starrten beide Männer einander an. Kronberg faßte sich zuerst, an Viatti's Arm verließ er das Zimmer.
Leontine trat entschlossen auf St. Luce zu. Sind Sie Auguste's gewiß? fragte sie, convulsivisch zitternd.
Wie meines Lebens, Frau Marquise!
So ist nichts verloren, denn unschuldig ist sie, so wahr Gott lebt! Aber jetzt schaffen Sie mir Sophie, lieber General, dann verlassen Sie uns. Bereden Sie mit Otto, was gethan werden muß.
Vor Allem, sagte der graue Invalide, ist die äußere Ehre, der Ruf der Unglückseligen vor einem unauslöschlichen Flecken zu wahren.
Still legte er sie mit Leontinens Hülfe auf's Sopha. Otto stand wie versteinert; etwas Furchtbares [] war geschehen. Er verstand diese Möglichkeit nicht; eine Secunde lang war er an Annen irre geworden.
Kronberg war mit Viatti sogleich in den noch unten haltenden Wagen eingestiegen und fortgefahren; Niemand wußte wohin.
Gotthard stand im Vorhause und starrte mit gekreuzten Armen düster vor sich hin, als suche sein Geist die Möglichkeit einer Ausgleichung des Geschehenen, an die er selbst nicht glaubte. So fand ihn Otto. In zwei Worten hatten sich Beide verständigt, St. Luce's Brief hatte ja ihn hergelockt, wie Duguets Schreiben früher Otto.
Er wird mich fordern! sagte kalt und ingrimmig Gotthard.
Er wird mich hören! erwiderte Otto.
Unterdessen war St. Luce die Treppe herabgekommen; als Offizier sah auch er einen [] blutigen Ausgang der Sache als unvermeidlich voraus.
Alle Drei gingen in den Gasthof, den Gotthard und Otto bewohnten. Sie erwarteten dort Nachricht von Kronberg. Gotthard war trübe, aber gelassen. Keiner von ihnen sah Anna wieder. Otto ließ Auguste rufen, um ihn zu befragen. Sie hatte sich erholt; in Leontinens sorgender Obhut wußten die Freunde die theure Frau geborgen. Persönlich ihr zu nahen, vermieden sie ohne alle Erklärung, um keinen Schein des Einverständnisses ihr aufzubürden.
Mehre Stunden vergingen in dieser Spannung. Gotthard benutzte sie, um auf den Fall eines Duells im Voraus alles Nöthige zu ordnen; er schrieb fortwährend, doch wie es beiden Freunden vorkam, nur in Staats- und geschäftlichen Angelegenheiten. Annen schrieb er nicht.
[] Gegen Abend kam endlich die erwartete Ausforderung. Kronberg war mit dem Grafen Viatti in ein nicht allzuweit entlegenes Städtchen gefahren, von wo aus er den Kutscher mit dem Briefe zurückgesandt hatte. Die Ausforderung lautete auf den nächsten Morgen, als Ort der Zusammenkunft war ein Wäldchen zwischen Brandenburg und dem besagten Städtchen angegeben; das Billet selbst war in sehr gemessenen Ausdrücken an Gotthard gerichtet.
Ich wünsche, sagte dieser, daß es uns gelingen möchte, dem unvermeidlichen Duell eine scheinbare, dem wahren Anlaß fremde, Ursache zu geben, auf keinen Fall können wir auf eine gänzliche Verheimlichung desselben rechnen. Im Uebrigen stehe ich dem Herrn Grafen ganz unbedingt zu Befehl.
Er antwortete in wenigen Zeilen.
St. Luce und Gotthard beabsichtigten, in einer Stunde zu fahren; Otto war im Augenblicke, [] da er des Grafen Aufenthaltsort vom Kutscher erfragt, vorausgeritten, er wollte ihnen zuvorkommen.
Er ließ sich bei Kronberg melden und ward sogleich angenommen. Zu seinem Erstaunen fand er Roderich in einer ganz unerklärlichen, selbst durch das Vorgefallene in dieser Weise nicht zu motivirenden Stimmung; seine Aufregung, die krampfhafte, fast fieberartige Rastlosigkeit, die ihm nicht einen Augenblick auf einer Stelle zu bleiben gestattete, das mit gänzlicher Erschöpfung wechselnde, hörbar heftige Schlagen seines Herzens, die fliegende Röthe seines Gesichts waren nicht natürlich; er kam Otto krank vor, was er aber, zornig auffahrend, leugnete.
Nach Otto's Ueberzeugung konnte der Graf in seinem Innern Anna's äußere sinnliche Treue unmöglich bezweifeln, über ihre Neigung zu Gotthard aber mußte er seit Jahren im Klaren [] sein. Hierauf gründete er seine Hoffnung, die Sache beizulegen, er und St. Luce betrachteten das Duell als durch Viatti's Anwesenheit herbeigeführt, den der Zufall zum unwillkürlichen Zeugen des ganzen Auftritts gemacht.
Sehr anders erschien der Fall den Hauptinteressenten. Kronberg war fest entschlossen, Gotthard zum Krüppel zu schießen, oder ihm seine Kugel durch's Herz zu jagen. Gotthard hatte mit sich selbst abgeschlossen und war fertig mit Allem; er hatte eben so fest sich vorgenommen, unter keiner Bedingung auf den Grafen zu feuern. Beiden war auf diese Weise, wie bisher, noch ferner fortzuleben, unmöglich geworden.
Otto bat Kronberg, noch einmal ohne Zeugen ihn sprechen zu dürfen, ehe Gotthards Antwort durch den rückreitenden Diener anlange, die ohnehin durch seine Anwesenheit als gegeben zu betrachten sei. Kronberg versprach, ihn [] ruhig zu hören, blieb aber in einem unstäten Auf- und Niedergehen im Saale. Otto erzählte nun von Duguets Brief, von dem Eindrucke, den derselbe auf ihn gemacht, und von seiner augenblicklichen Abreise von Basel, um Annen beizustehen in dieser Trennung ihrer Ehe, die auch ihm einer gerichtlichen Scheidung gleich geschienen.
Sie wissen, sagte er weich, daß Anna meine Schwester ist, nur glichen wir von jeher den Dioskuren, sie gehört den himmlischen an, ich der Mutter Erde. Und weiter malte er mit naturtreuen Farben ihr stilles Leben in Brandenburg aus, der Marquise Ankunft, Egons und Josephs Liebe zu Beiden und die sich an der freundlichen Gegenwart mildernde Stimmung Aller. Annens Unkenntniß jeder späteren Wendung in Gotthards Geschick trat in all' diesen Einzelnheiten deutlich hervor; in Otto's ganz einfacher Rede lag eine durchgreifend [] wirkende Wahrheit. Das ganz Unvermuthete der Ankunft Gotthards schien den Grafen stutzig zu machen; er blickte Otto mit durchbohrender Gewalt in's Gesicht.
Können Sie, schloß dieser fest und scharf, auf den Fall eines unglücklichen Ausganges dieses Zweikampfs eine mögliche Form des Lebens der beklagenswerthen Gräfin sich denken? Welche Stellung bleibt der mit einem Mal durch diese Oeffentlichkeit Preisgegebenen vor der Welt? – Uns Protestanten beut kein Kloster eine schirmende Zuflucht; die harte, schwere, ihre Kräfte weit überwiegende Last wird erbarmungslos auf die zarten Schultern geladen und sie muß sie vor Aller Augen mit sich bis zum Grabe tragen. Und was gewinnen Sie selbst?
Wild auflachend, unterbrach ihn Roderich. Junger Freund, haben Sie nie Ihr Herz an einen Irrthum gehängt? Was ich gewinne? [] Im Fall meines Todes die Gewißheit, daß, die mich getäuscht, betrogen, verrathen hat, über meinem Sarge kein Asyl des Glückes sich erbaut; im Gegenfall, daß ich nicht mehr dieselbe Luft mit dem Verhaßten athme? – Erschreckt hielt er ein: er hatte den Abgrund seiner langen Seelenqual verrathen!
Erstarrt blickte ihn Otto an. Entsetzlich! rief er aus. Ein kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, auf jeden Fall war Anna's Ruhe verloren – und auf immer! Wen auch der Schuß des Gegners treffe, jedenfalls traf er ihre ganze Erdenzukunft.
Eben hielt der Wagen, die beiden Herren langten an. Gotthard sah ruhig aus. Er näherte sich höflich dem Grafen und bat ihn um eine Gunst.
Kronberg verbeugte sich.
In gewählten, sehr sorgfältig überlegten Worten erklärte Gotthard: er sei überzeugt, [] daß in Beider Brust der Wunsch, der Gräfin Ruf ihren Kindern makellos zu erhalten, überwiegend sei, deshalb sei er jetzt schon gekommen. Er erlaube sich, dem Grafen den Vorschlag zu thun, den Rest des Abends diesem Zwecke zu widmen, ein Souper und Karten bringen zu lassen und ihrem morgenden Zusammentreffen das Ansehen einer beim Spiel entstandenen Mishelligkeit zu geben.
Der Graf nahm das Anerbieten an, behielt sich jedoch das Recht vor, die Gattung der Waffen und die Einrichtung des Zweikampfes zu bestimmen, und wählte Pistolen.
Gotthard überließ ihm diese und jede andere nähere Bestimmung.
Es ward Wein gebracht, Essen, ein Spieltisch und Karten; dem Kellner deutete man an, daß man seiner vorläufig nicht bedürfe.
Ungefähr eine Stunde lang blieben die vier Herren beisammen; es herrschte eine eisige Höflichkeit. [] Endlich erhoben sich Gotthard und Otto, einen Wundarzt aufzusuchen, der zugleich des Erstern Zeuge sein mußte, da Kronberg St. Luce dazu aufgefordert.
Sehr geschickt verbreiteten sie das flüchtige Gerücht eines Streites beim Ecarté. Jede Maßregel ward so getroffen, daß im Augenblick die Sache als ganz folgelos erschien, während ihr Ausgang zu einem bestimmten Schluß führen mußte.
Als sie zurückkehrten, stand Kronberg auf und trat Gotthard entgegen. Herr Geheimrath! sagte er, was auch morgen das Schicksal über uns entscheide, die Zartheit und Entschlossenheit, mit welcher Sie von der äußern Ehre der Mutter meiner Kinder eine Schmach, von dem Leben der Knaben einen tiefen Schmerz abwenden, verdient meinen achtungsvollen Dank. Obgleich es ein sehr schmerzendes Gefühl ist, das mir denselben auferlegt, gebieten mir Pflicht [] und Ehre, Ihrer Loyalität vor diesen Herren die vollkommenste Anerkennung auszusprechen. Gotthard dankte schweigend.
Die beiden Freunde wollten einen nochmaligen Versuch der Versöhnung wagen, Kronberg wies sie stolz zurück, ergriff Viatti's Arm und verließ den Saal.
Es war ausgemacht worden, sich am nächsten Morgen um sechs Uhr am dazu bestimmten Orte zu treffen; die beiden Duellanten sollten von einer gegebenen Entfernung aus auf einander zu gehen und Jeder schießen, wann er wollte.
Als Kronberg und der Marchese sich wandten, das Zimmer zu verlassen, stürzte St. Luce auf Gotthard zu und drückte ihn an seine Brust wie einen Sohn, dann folgte auch er den Andern; als Secundant Kronbergs glaubte er nicht allein bei jenem verweilen zu dürfen.
Und nun eine Bitte, sagte Gotthard zu [] Otto; haben Sie die Güte, mich morgen während des Duells nicht einen Augenblick aus den Augen zu lassen, das Uebrige mag der Doctor Hollau besorgen, der Ihr Mitsecundant ist. Ich wünsche, daß Sie Annen sagten, daß ich gehandelt, wie Der mußte, der ihr Herz gekannt. –
Ehe noch Otto ihm etwas zu erwidern vermochte, hatte er sein Schlafzimmer betreten und hinter sich abgeschlossen.
Anna's fieberheiße Hand ruhte noch zwischen den beiden Leontinens, ihr feuchter, glühender Blick hing noch an den bereits geschlossenen Lippen der Erzählerin. Leontine hatte ihr Alles mitgetheilt, was sie durch Duguet über Kronbergs Bruch mit der Capacelli und dessen rasche Abreise erfahren. – Anna war tief erschüttert. Roderichs Rückkehr zu der eignen ursprünglich edeln Natur seines Wesens glich [] dem Morgentraume seiner ersten Neigung für sie; und gerade in diesem sein Bild verklärenden Lichte, gerade in dieser Milderung der stets unterdrückten harten Anklage ihres Innern gegen ihn mußte die Verzweifelnde sich ihn mit fast unumstößlicher Gewißheit als den Mörder des Geliebten denken. Das Duell, von dem sie überzeugt war, es finde statt, glich in ihren Augen keinem Zweikampf, denn sie blieb dessen Ausgangs gewiß. – Das zwiefach Dämonische der Empfindung übermannte sie. Laut aufschluchzend barg sie ihr Haupt tiefer in die verhüllenden Kissen; o wie gern hätte sie in kühler Erde es gebettet!
Auch Leontinens Elasticität schien gebrochen. Sie kniete am Bette der Freundin, die sie fortwährend mit angststierem Auge bewachte. Sie wußte selbst nicht, was sie so Entsetzliches fürchtete. Zwischen den Fingern knitterte sie ein kleines Zettelchen von Viatti's Hand, das [] man ihr heimlich aus dem Gasthof zugeschickt; es sollte sie beruhigen und athmete doch nur die tiefste Empörung gegen Annen aus, die erst vor Kurzem ihrem Gatten das Mitwissen um einen inhaltschweren Brief mit frecher Großartigkeit abgeleugnet und jetzt vor dem Unglückseligen auf eine Weise entlarvt sei, die nur seinen Tod zu wünschen lasse. – Kronberg mußte ihm also unbedingtes Vertrauen geschenkt haben.
O hätte Leontine aus dieser engen Schlucht der Pein nur einen einzigen Moment in Viatti's Herz schauen können! Sie fürchtete mit verwirrender Sorge die Feuerbrände des Mistrauens, der wüthenden Eifersucht seiner ewig in sich arbeitenden und stets von außen unbeschäftigten Natur, deren Einfluß in diesem Augenblick Kronbergs Seele allein beherrschte! Doch wo ihn auffinden? – Das ganz Hülflose der Lage beider Frauen war schaudererregend.
[] Und, seufzte sie – fortredend aus den sich innerlich jagenden Gedanken heraus – wenn es nun anders käme? O, es ist ja nur ein anderes Entsetzliche, dich daran erinnern zu müssen, daß auch Gotthards Kugel treffen kann! Aber das Grausenhafte bleibt sich immer gleich. – Nun, vielleicht, vielleicht trifft sie ihn nicht zum Tode; er ist besonnen. – Anna, jetzt, erst in diesem Augenblick, verstehe ich Jean Carlo's sich an den Glauben klammernden Trost ganz. In solchem Abgrund Wahnwitz erweckender Pein, die eine Menschennatur aus allen ihren Fugen reißt und sie zum Spielball der innern Höllengeister macht, beut nur allein die Kirche den schwachen Hoffnungsstrahl, der, ach! so klein, dennoch, unserer ewigen Lampe gleich, das nächste Dunkel hellt. O Anna! was hilft mir all mein Geist – trügerisch oder nicht – laß mir den einen kleinen Dämmerschein, an den ich mich mit aller Kraft des [] Gemüthes anklammern möchte, den Gedanken an die Fürbitte! Ja bitten, bitten für den Beklagenswerthen, der den Tod gibt und sein eignes ganzes Leben hindurch an der furchtbaren Erinnerung stirbt. O könnte ich's mit ihm abbüßen! Der Mensch hat ja in solchem Jammer nichts, das er ergreifen kann, als den Kelch des Glaubens und das Kreuz der Buße!
Leontinens Haupt sank auf Annens Decke, sie weinte laut.
Anna richtete sich fast geisterhaft auf. Du zweifelst, um wessen Tod wir zu klagen haben? rief sie mit einer grauenerregenden Mischung von Qual und innig zärtlichklagender Lust. O, irre dich nicht! Gotthard ist vor Allem Mensch. Für Kronberg bete, daß ihm Gott vergebe, gegen seine innere Ueberzeugung zu handeln, weil es ihm die Scheinehre gebeut; bete für ihn, so lange du lebst, ich fürchte, ich vermag es nicht. – Großer Gott, ist es denn [] möglich! Du glaubst, ich hätte schon verlernt, Gotthards Herz zu durchschauen? Du glaubst, er – werde je auf den Vater meiner Kinder zielen? Hast du denn nie ihn verstanden, nie dieses Mannes Charakter erkannt? Er stirbt für mich, wie er für mich gelebt. Er ist der Beneidenswerthe, der Freie, der das einfach Rechte darf!
Sie sank zurück in ihre Kissen und eine tiefe Erschöpfung hielt sie lange von jeder Aeußerung zurück, bis sie wieder irgend ein Gedankenbild, ein Glockenschlag aufschreckte.
Sophie schlich still hinaus zu August und Duguet, die im Vorgemach trostlos bekümmert und gebeugt nebeneinander am Kamin saßen.
Und das sehen! sagte Duguet. Das Haus, das uns genährt, dem wir gedient dreiundzwanzig Jahre hindurch – das Haus zusammenbrechen sehen über der lieben Kinder Haupt, die in ihrer Sicherheit und Unschuld nichts ahnen! [] Jeden Moment können Graf Egon oder Joseph kommen und der Leiche ihres Vaters begegnen!
Wenn ich nur wüßte, wohin sie gefahren! seufzte August. Sophie trat zwischen die Beiden. Meine armen Freunde, sagte sie, mir ist nicht gut, ich bin von all dem Elend übersättigt, das ich auf der Welt gesehen; das Warten auf neues Unglück halte ich nicht mehr aus.
Mein Gott! fuhr sie fort und sank wie zerbrochen auf einen Stuhl, mit auf den Knien gefalteten Händen, ich habe zu viel davon mit durchlebt, erst die Revolution und die Marquise d'Alvigni, und die jungen Grafen, die ersten Kinder, die ich auferzogen – und deren Vater, dessen Kopf unter der Guillotine fiel. Dann meinen armen Marc, die lange bange Sorge um meine kleine Leontine. Nun das Herz meiner liebsten Herrschaft, meines Herzblatts! Siehst du, Duguet, es ist zuviel für so ein Paar alte Schultern.
[] Er faßte erschrocken ihre Hand. Du bist krank, Sophie! Nimm deine Tropfen, thue mir's zur Liebe!
Auch August drang auf sie ein.
Nenni, nenni! sagte sie mit ihrem Lütticher, scharfen Dialekt, es hat nichts auf sich. Ein armer treuer Hund stirbt auch zu seines Herrn Füßen. Mais, j'en ai assez! Ich kann nur Euch Beiden gute Nacht sagen. Sie reichte jedem eine Hand.
Und mit plötzlich concentrirter Sorge überflog ihr Auge nochmals das Zimmer, ob auch nichts Nöthiges zu thun; da erreichte Leontinens Ruf ihr Ohr. J'y vais, j'y vais, Madame! sagte sie, indem sie von der Thür aus noch einmal, zum letzten Mal, auf ihre beiden Freunde zurückschaute.
Ich weiß, meiner Treu, nicht, wie mir ist, murmelte August, es ist mir so bitterwunderlich um's Herz. Zum Teufel! ich habe doch so [] allerlei mitgemacht, Schlachten, Plünderung, Brand, und diese dumme Geschichte –
Duguet weinte still vor sich hin.
Allons, allons, vous pleurez? rief der alte Soldat. Mais fi donc! qu'est ce bête de pleurer pour ça!
Ihm selbst liefen zwei helle Thränen die Backen herunter.
Morgens um fünf Uhr trat Gotthard, völlig angekleidet, in Otto's Zimmer, den er auch fertig fand. Die gewöhnlichen Vorkehrungen wurden getroffen, auf den Fall der Flucht, der schweren Verwundung u.s.f.
Gotthard blieb ruhig am Tisch sitzen und ließ den Freund gewähren. Seit ihrer frühesten Studentenzeit hatten Beide, mit gar andern Interessen und Arbeiten überhäuft, sich [] nie um ein Duell gekümmert, fast neugierig sah er ihm zu.
Halb sechs erinnerte er Otto, es sei Zeit. Sie gingen gelassen, wie zu einem ernsten Geschäft. Man hatte Kronbergs Pistolen mit Doppelläufen gewählt. Für den Nothfall steckte Otto ein zweites Paar ein. Den Arzt und Wagen sollten sie wie zufällig am Thore treffen.
Nach wenigen Minuten erschienen auch Kronberg, Viatti und St. Luce; die beiden Letzten ruhig, wie eines solchen Auftritts lange gewohnt; Kronberg, aufgeregter, als zu vermuthen bei so einem trefflichen Schützen und so gewandten Mann. Er sah glühend roth aus und in einer Weise bewegt, die weder zu seiner Ritterlichkeit, noch zu seiner Selbstbeherrschung paßten. Es flog Otto durch den Kopf, er sei doch krank.
Gotthard wurde bleich. Beide Herren grüßten einander; das Feld ward gemessen.
[] Während der Zeit schaute Gotthard noch einmal über die weite Fläche der Gegend hin; die ersten, noch goldenen Strahlen der Sonne lagen auf den nächsten Baumgipfeln, der zum Duell gewählte Platz noch im Schatten, von ihnen unberührt, aber hell.
Die Secundanten gaben das Zeichen, die Herren traten an ihre Plätze.
Otto wandte, wie er's versprochen, kein Auge von Gotthard; der junge Arzt sah zum Rechten.
Beide spannten den Hahn ihrer Pistolen und schritten langsam aufeinander zu. Gotthard hob den Arm, hielt sein Pistol gespannt, völlig ruhig; keine Muskel des Arms, kein Zug des Gesichts zuckte.
Jetzt pfiff Kronbergs Kugel, sie streifte Gotthards linke Schulter, dieser hielt ruhig sein Pistol in unveränderter Lage und schritt weiter. Kronberg schrie auf und sank zusammen. Halt! [] Halt! riefen die Secundanten. Athemlos, aber fest wie eine Mauer, stand Gotthard.
Er ist todt! rief der Arzt.
St. Luce und Viatti suchten ihn vom Boden aufzuheben.
Unmöglich, unmöglich, meine Herren! rief mit Donnerstimme Otto; Geheimerath Gotthard hat nicht geschossen! Die Kugeln sind beide in den Läufen! Mit voller Besonnenheit riß er ihm das Pistol aus der Hand und setzte den Hahn in Ruhe.
Endlich begriff Gotthard, der den Tod von Kronbergs zweitem Schuß erwartete, was geschehen; auch er stürzte auf Kronberg los. Sie rissen seinen Rock, seine Weste auf, der Arzt holte seine Instrumente. Entsetzlich! schrie Gotthard und fiel mit gerungenen Händen auf den Leichnam nieder. Dem Grafen war eine Ader am Herzen zersprungen; er war todt.
[] Langsam und feierlich zogen zwei Leichenzüge durch die sonst so stillen, heute von einer gaffenden Volksmasse gedrängt erfüllten Gassen Brandenburgs. Seltsam! auf den schmucklosen Sarg der armen Sophie, die sich am Vorabende des Duells krank gelegt und nicht wieder aufgestanden war, flossen die meisten, vielleicht die zärtlichsten Thränen. August und Duguet waren Beide trostlos. Welcher von Beiden ist denn der Mann? fragte ein altes Hökerweib.
Aber auch Kronberg ward tief und aufrichtig beweint. Das seltsame Geschick, das ihn betroffen, hatte die allgemeine Aufmerksamkeit auf den fremden Grafen gezogen, der eigens von Wien gekommen schien, um in Brandenburg zu sterben. Das Geheimniß des Zweikampfs war im ersten Schrecken vergessen, die Sache selbst verstellt, umgewandelt, widerrufen worden. Manche erzählten, der Graf sei auf [] einer Spazierfahrt plötzlich todt in die Arme seiner Gemahlin gesunken, Andere, er habe wegen ihr sich mit einem ihm ganz Fremden geschossen. Viele Versionen des beklagenswerthen – und doch für Einen glücklichen Ereignisses durchzogen die Stadt.
Otto und Viatti hatten Annen die Trauerpost überbracht. In einem ernsten Gespräch unterwegs war es dem Ersten gelungen, Viatti die unselige Verflechtung der Umstände mitzutheilen und sein Urtheil über Annen zu berichtigen; doch blieb ein seltsamer Stachel in des jungen Mannes Brust. Es war Gotthard, der ihn gerettet in Bern, Gotthard, der, schuldig oder nicht, seines Oheims Tod herbeigegeführt, Gotthard, dessen frühere Dazwischenkunft seine Vereinigung mit seiner Gemahlin und durch dieselbe sein Lossagen von jeder Theilnahme der nie ganz endenden Freiheitsversuche Neapels veranlaßt hatte. Gotthard [] blieb der Dämon seines Lebens, wie er der seines dahingeschiedenen Oheims gewesen.
Die Freunde geleiteten Annen und ihre Söhne der Leiche ihres Gatten und Vaters zu, die St. Luce mit unerschütterlicher Treue bewachte, und die Kinder wußten nur, daß er in einem Streite sich erhitzt, dann in der Morgenkühle vom Schlag getroffen sei; sie begegneten dem Trauerwagen und schlossen sich ihm an. Anna hatte den Muth, die Leiche gleich zu sehen.
Es war ein furchtbarer Augenblick! zu dunkel in seinen geistigen Tiefen, zu unergründlich an wechselnder Pein, zu niederschmetternd im Gefühl der Ohnmacht menschlicher Natur, als daß man ihn beschreiben könnte. Gotthard floh nicht, aber er zeigte sich nicht; ernst und trübe blieb er in dem kleinen Orte zurück, um abzuwarten, ob eine Klage gegen ihn sich erhöbe. Der junge Arzt nahm ihn in seine Wohnung auf.
[] Geierspergs kamen Beide zur Bestattung, Viatti hatte ihnen einen Courier gesandt. Alles glitt zurück in die alte hergebrachte Form, in die Trauerflöre, in den Pomp einer fast fürstlichen Bestattung.
Als die letzten Töne des Trauermarsches verklungen und all dieser entsetzliche Schmuck des Todes verschwunden war, mit welchem wir zuletzt die Kleinheit und Erbärmlichkeit alles äußern Erlebens so schroff und grell durch den Gegensatz des der Leiche Bleibenden bezeichnen, wollten Geierspergs Annen nach Berlin mitnehmen.
Sie schlug es ab, übergab ihnen aber, nach des Vaters Willen, Egon, der seine Vorstudien in Berlin beginnen sollte. Sie selbst blieb mit Joseph, der in der Ritterakademie aufgenommen war, zurück. Nach Wien zog sie nichts. St. Luce versprach noch, einige Monate bei ihr zu verweilen. Otto gedachte heim.
[] Anna! sagte er, als er am Vorabend seiner Abreise vor die in tiefe Witwentrauer gehüllte Freundin trat, die ernst und still seiner harrte, ich bringe dir Gotthards Abschiedsgruß. Er ist nach Berlin zurück. – Obschon es mir gelungen ist, im ersten Augenblick der Gefahr deines Freundes Hand als rein vom Blute deines Gatten zu zeigen, werden doch deine Knaben späterhin gewiß, wie so manche Andere, erfahren, daß eine Ausforderung, ein Zweikampf stattgefunden, und – die Welt wird ihnen das Warum nicht schenken. Deshalb meint Gotthard, er dürfe dich jetzt noch nicht aufsuchen; aber er wünscht dir zu schreiben. – Was mich selbst betrifft, Anna! – er sprach mit sichtlicher Selbstüberwindung – so rufen mich Pflicht und Dankbarkeit zurück in meine erworbene Heimat, zu meinen Studien, zu meinem Weib und Kind. Und du bedarfst deines Freundes nicht mehr; ein Anderer darf dir näher treten; [] der Freund deiner ersten Jugend weicht zurück.
Lieber Otto! erwiderte Anna, ich danke dir viel, am meisten aber, daß dein mit meiner ganzen Kinderzeit so eng und fest verwachsenes Bild in so ganz klaren lichten Zügen mir bleibt – zu meinem Trost! – Kehre denn zu Vrenely zurück, sie wird sich um dich bangen.
Ja, das wird sie, sagte er, trübe vor sich hinblickend; denn ich habe ihr seit dem Unglück nicht wieder geschrieben, ich vergaß sie, mich, Alles, um dich! und um ihn, setzte er hinzu, den du liebst.
Den ich liebe! – Anna erröthete heiß, dann kehrte sie den Kopf mit einer edeln, fast königlich stolzen Wendung ihm zu. Ja, Otto! ich liebe ihn! Ich werde ihn lieben, so lange ich lebe, aber –
Sei recht glücklich, Anna! sagte er gepreßt. Er wandte sich, um zu gehen.
[] Sie ergriff leise seine Hand und zog ihn neben sich nieder auf das Sopha, dann sah sie ihn still mit ihren großen veilchenblauen Augen an und hielt ihn so einen kurzen Augenblick. Erinnerst du dich noch deutlich unserer ersten Jugend? des dunkeln Hauses und der engen in stumpfen Winkeln ausbiegenden schiefen Gasse, in der gar nichts eine helle Farbe hatte? –
Als unser Herz, Anna! als unser fröhlich schlagendes Herz! –
Weißt du noch, fuhr sie fort, wie wir oft Sonntag Nachmittags Stunden lang hinübersahen in des so nahen Nachbars blindgebrannte Fensterscheiben, ganz überzeugt, es müsse irgend etwas da geschehen, und du erzähltest mir lauter Märchenanfänge –
Otto hatte sich zurückgelehnt in die Ecke, er hielt ihre Hand noch, aber sein Auge sah nur das damalige Kind, nicht sie. Drüben, sagte er langsam, wohnte der Mann, der die [] Electrisirmaschine hatte. Wir fingen der Tante alten schwarzen Kater ein und electrisirten erst ihn, dann die Thürklinke, die den Hausknecht die Treppe herabwarf, als er den Kater suchte. – Wie hieß doch nur Euer Hund, dessen Gebell ich nachmachte, damit du herunterkommen solltest, um ihm die Hausthür zu öffnen?
Maus, sagte Anna und lachte. Ein gar närrischer Name für einen Hund. Der Vater hatte ihn lieb, es war ein alter steifer Spitz.
Ich seh' ihn noch! Und wie die Mutter böse wurde, wenn ich ihn Sonntags herausließ –
Ja, er lief mit bis zur Kirche. Ach, Otto! es ist, glaube ich, in der Welt nirgend mehr solch ein Sonntag!
Und Beide entwarfen sich das Bild eines Sonntags der kleinen Stadt, wie ihn nur die Jugend kennt, mit all seiner Poesie und all seinen Einschränkungen, seinen Freuden und seinem [] Sonnenglanz, den die enge Bürgerhaushaltung widerstrahlt – nichts hatten sie vergessen.
Siehst du, Otto! fuhr sie fort, wäre ich in der engen, grauen Straße geblieben, vielleicht wäre ich glücklich und frei, aber so! –
Freilich, nun bist du eine Gräfin. Aber was schadet das?
Ich bin eine arme, in einen andern Boden versetzte Pflanze, sagte sie träumerisch-wach, die im Heimatsgrunde nicht zur Blüte kam. Ich habe nicht fest anwurzeln können in der fremden Erde, so kunstvoll sie des Gärtners Hand um mich her gelockert und gehäuft. Ich habe mich immer gefürchtet vor meinen eigenen Verhältnissen, ich habe mich fremd gewußt, nicht gefühlt unter allen diesen Fürsten und Grafen, deren Wesen mir nie imponirte, deren Interessen mir oft eben so flach und erbärmlich vorkamen, wie die meiner ersten Umgebung. In meinem Vaterhause hatte mich die oft rohe [] Hand der Armuth, der Kleinlichkeit, der beklemmenden Sorgen kleinbürgerlicher Verhältnisse eingeängstet bis zum Hinüberflüchten in die mir neue, fernliegende große Welt; aber die in stille Winkel verkrochene, unter grauer Alterthümlichkeit fortblühende Poesie jener Lebensmorgendämmerung ließ meine Seele nicht los. Unablässig zog sie mir nach, rief mir das Herz zurück zu sich, daß es mir hätte zerspringen mögen in der Brust. Mein ganzes Leben hindurch hat mir eine goldene, helle Mittelstraße des Geistes geahnt, eine freie Entwicklung höchster, ungekränkter Menschlichkeit. Als junges Mädchen, als Frau sogar, habe ich sie bald hier, bald dort geträumt; jetzt träumen sie Millionen mit mir, die sie, leider! eben so wenig finden werden wie ich, obschon Alle sie suchen.
Otto drückte die liebe Hand, die er noch in [] der sei nen hielt. So viel, so offen hatte Anna nie über sich gesprochen.
Das waren meine Träume, Otto! fuhr sie fort, das war meine Vergangenheit. Nun hat mich das Leben plötzlich von beiden abgeschnitten und mich in eine grelle, helle Gegenwart geschleudert; Kronberg ist todt, die Gräfin Kronberg steht nun an seiner Stelle. Sie ist ihren beiden Söhnen einen makellosen Ruf und die Möglichkeit, sie unbegrenzt zu lieben, schuldig. Der Vater schläft den langen Todesschlaf, die Mutter muß für ihre Kinder wachen. – O, glaube mir, Otto! sie sollen sich menschlichschön und frei entwickeln, jeden Vorzug ihres Geschicks und jede Gunst des Zufalls genießen, aber keine einzige der meistens diese Gunst, diese Vorzüge begleitenden, oft sie bedingenden Fesseln soll mir die frischen, schönen Knabenseelen drücken oder beengen. Sie sollen keine Schwächlinge, keine Charakter- oder Geisteskrüppel[] werden. Weder Viatti, noch Geiersperg sollen jemals einen entschiedenen Einfluß auf deren Lebensrichtung erhalten. – Es ist hart, denn jetzt kann und darf ich mein Geschick nicht an das meines Freundes schließen.
Anna! schrie Otto auf, ist das dein Ernst, wagst du schon jetzt dich zu entscheiden?
Und warum nicht jetzt? Heute, morgen, über's Jahr, ist das ein Anderes? Er wird auch jetzt mich verstehen. Otto, wer im Augenblicke des Zweikampfs den Muth hatte, mit dem Mörder des Geliebten fortleben zu wollen, um der Kinder willen, hat auch den, eine Trennung zu tragen, die nur eine äußere ist, nie eine innere werden kann!
Otto seufzte schwer. Du bist so jung und das Leben ist so entsetzlich lang!
Sie aber schüttelte den schönen Kopf und legte die Hand auf ihr bang schlagendes Herz. Und doch, traue mir!
[] Vom Nebenzimmer herüber tönte Leontinens leise Stimme, sie sang ein Lied, das Otto liebte. Einen Augenblick horchte er wehmüthig ihren Tönen, dann ging er hinein, auf lange Abschied von ihr zu nehmen.
[] In Basel waren die Ferien zu Ende. Vrenely hatte zehn Mal die Nachbarn getäuscht mit der Versicherung: es gehe ihrem Manne gar wohl, er sei auf dem Rückwege. Aber nun ward ihr das Herz allzuschwer, so schwer, als zöge es sie unter die Erde.
Hatte sie den lauten Tag zur Ruhe gebracht, so kam die Nacht mit ihren noch lautern Träumen, das Elend schrie sie gewaltsam wach – und dann war er nicht da. Sie lief an's Fenster, riß es auf, gewiß, er mußte unten sein, sie hatte wol im Schlaf das Rollen des Wagens überhört, aber – da war nichts als Dunkel, und Herbstwinde sausten über die Baumwipfel und krachten, und schüttelten an Thür und Laden. Die Nacht schaute mit tausend schwarzen Augen durch die geöffneten Fenster in das schwach erhellte Zimmer, in dem sie schlafend und wachend immerfort wartete auf ihn.
[] Es hatten schon viele Studenten angefragt, ob der Professor nichts habe hören lassen; die Collegia waren angeschlagen, die andern Vorlesungen begonnen. Manchmal war ihr, als rückten all die fernen Berge ganz eng zusammen, als würfen sie alle ihre rollenden, stürzenden Bergwasser, all ihre Lavinen und ihre Stürme ihr auf's Herz, als wanke der Fels unter ihrem Fuß, ja als könne ihr armer Kopf wol ganz irre werden, wenn ihr der eine Gedanke einfalle, den sie noch nicht dachte, nur ahnte, und den sie immer fortschob mit Gewalt, wenn er ihr näher treten wollte. Und nah lag er ihr, das fühlte sie wohl, entsetzlich nahe!
Nicht einmal beten konnte sie mehr, die Angst verwirrte sie und zerstreute sie; sie faltete dem kleinen Mädchen die noch willen- und bewußtlos herumgreifenden Händchen und blickte gen Himmel. Es war eben so gut wie ein Gebet.
[] Endlich hatte sie beschlossen, ihm nachzureisen; denn sonst sterbe ich, sagte sie traurig vor sich hin, wenn ich nicht weiß von ihm, und das ist doch das Allerschlimmste. Sie rüstete sich, packte ein; es war nun Abend; der Herbstsonnenschein lag roth und brennend auf der altergrauen Stadt, sie sah ganz jung und rosig davon aus, das machte Vrenely Muth. Sie setzte sich mit dem Kinde auf das schon fertig gepackte Köfferchen und blickte über die Wiege weg in den wieder Tag und Leben verheißenden Strahl – da umfaßten sie plötzlich von hinten zwei kräftige Arme und drückten sie an ein warmes, treues Herz. Gott im Himmel! er war's und hatte sie überschlichen. Bleich, verkümmert, mager war er. Sie fragte nichts, schalt nicht, warf ihm nichts vor; sie zog ihn an den Tisch auf's Sopha, daß er bequem ausruhe, dann lief sie, Alles herbeizuholen, was den Ermüdeten erquicken konnte. Die letzten [] Stunden hatte er zu Fuß gemacht, um auf Richtwegen früher anzukommen. Bei jedem, was sie brachte, fiel sie ihm um den Hals, drückte ihn an's Herz und eilte, noch mehr zu bringen. Zuletzt rückte sie ihm die Wiege noch bequem zurecht, daß er die Kleine immer sehen könne, und setzte sich still zu seinen Füßen auf einen Schemel. Er nahm das schlafende Kind und küßte es wach. Du siehst aus, wie der heilige Joseph! sagte sie lachend; all' ihre Munterkeit war erwacht.
Erst als er lange geruht, gegessen, getrunken hatte, legte sie ihr Köpfchen auf seine Schulter, sah ihn mit den glänzenden schwarzen Augen innig zärtlich an und sagte: Du hast wol viel gelitten? Ueber sich sagte sie gar nichts.
Otto spielte mit ihren langen Flechten und erzählte. Sie schreckte zurück auf dem Schemel, faltete entsetzt die Hände; so halb zurückgelehnt, starrte sie ihn an und lauschte ihm jedes Wort [] von den Lippen. Gott, das war's! ächzte sie und ihre Thränen ließen ihr kein Wort weiter.
Als er geendet, weinte sie noch laut. Und ich, ich, die dich anklagte, deines Schweigens wegen, o vergib mir! vergib mir! Zärtlich küßte sie seine Hand, er aber zog sie an's Herz.
Diese Anna ist ein großartiges Weib, sagte Vrenely, ihre Augen trocknend; viel besser, als ich. Wie sehr begreife ich, daß du sie so liebst! Gott weiß, ich habe mein Kind lieb da in seiner Wiege; aber dir um des Kindes willen entsagen, das könnte ich nicht. Leontine hat sie oft dem Pelikan verglichen, der mit dem Herzblut seine Jungen letzt; nun gibt sie den Söhnen unendlich mehr, als so ein bischen Blut, denn das arme Herz schlägt fort in ihrer Brust ohne alles Glück. Und Er! o es ist ungeheuer!
Sie versank in ernstes Sinnen. Aber sage mir, fragte sie wieder, ist's unvermeidlich? [] Gotthard hat ja den Anfang der Erziehung der Knaben –
Unter diesen Umständen, in dieser Stellung, mit diesen von allen Seiten drohenden Anklagen –
Ach! sagte Vrenely, es mag sein, daß sie muß; aber all diese hellen, klaren Lebenshöhen sind doch entsetzlich!
Nicht für Anna, liebe Vrenely! Sie barg ihr Haupt an seine Brust.
[][] []Von einem der stillsten Laubgänge des weimarischen Parkes aus, da wo man die träumerische Ilm zögernd an den beblümten Wiesen vorüberschleichen sieht, wo ihre sonderbar leisen, schweren Wellen einem flüssig gewordenen Plasma oder Jaspis gleichen und durch geheimnißreiche Tiefe unwiderstehlich lockend das Auge nach sich ziehen, blickten eben so träumerisch, wie das Wasser und die es umfriedenden Erlen, zwei schöne noch junge Frauen in das anmuthige Sommergrün und in die Winterstille verklungener Freuden. Mit bebenden Lippen hoben sie den Schleier von all den glücklichen und traurigen Ereignissen der letzten Jahre, die sie getrennt, [] in verschiedenen Ländern und Umgebungen zugebracht. Die Freundinnen hatten sich hier in der Vaterstadt der Eltern ein Rendezvous gegeben, denn die Jüngere und Zartere von Beiden gedachte eine weite Reise anzutreten. Es waren zwei ungewöhnlich edle, anziehende Erscheinungen, sie schienen Beide kaum das dreißigste Jahr überschritten zu haben; ihr Leben stand im Zenith, wie die Mittagssonne über ihren Häuptern.
Der glühende Zauber dieser Stunde, die der Mitternacht gleich die Gespenster aus ihren Gräbern löst und sie über die schweraufathmende Erde hin wandeln läßt, mochte auch die Frauenzimmer erfaßt haben, denn auch sie riefen die Geister ihrer Vergangenheit wach und ließen sie dem zu Boden gesenkten Blicke vorüberziehen.
Einen Moment lang zwang die drückende Schwüle die Jüngere, den Hut abzunehmen; sie zeigte ein wunderliebliches Gesicht im frischesten, [] durchsichtigsten Colorit, von hellblonden Locken umwoben, die wie goldene Staubfäden im Luftzuge spielten, einer exotischen Blüte gleichend.
Ich bin davon wie von meinem eigenen Dasein überzeugt, sagte sie.
Und du hast nie wieder von ihm gehört, und nie auch in Italien und Sicilien eine Spur von ihm gefunden!
Nein, weder da, noch in Malta, noch in Griechenland, wo ich nicht minder sorgsam ihn gesucht. Und doch bin ich überzeugt, daß er lebt! Er wollte verschwunden sein und blieb es. Glaube mir, er hat das bessere Theil erwählt. Seine ewig nach Freiheit und Bewegung, ja nach Kampf dürstende Seele konnte den faden Zuckerwasserzustand unserer Alltäglichkeit nicht ertragen. Die Plänkeleien unserer Ehestandstruppen waren glücklicherweise noch bloße Vorpostengefechte geblieben, als die [] Nachrichten aller der Nationalaufstände uns erreichten. Die Volksunruhen zogen ihn nach Belgien; er gab vor, einen Bekannten in Aachen besuchen zu wollen, und reiste ab. – Mir ahnte ein langer Abschied. Als alle diese friedlichen Volkssiege wie reife Erntegarben sich übereinander legten, duldete es ihn nicht mehr in unserem legitimen Norden; die Julirevolution hat er, bei Gott, so wenig verschmerzt, wie ein junges Mädchen den ersten Ball, den man ihm versagt.
Du bist bitter, Leontine!
Ach! wir haben entsetzlich gelitten, ehe es so weit kam, ehe wir uns gestanden, daß die Trennung unvermeidlich und unser Leben ein lang ausgesponnenes Elend sei. Und doch habe ich ihn unsäglich vermißt, denn wer kann das Ungewöhnliche, das Erregende entbehren, wenn er es erst gekannt! – O, glaube mir, das Menschenherz hat etwas Tigerartiges in seiner[] Natur, wenn es einmal vom Blut der Leidenschaft getrunken, wird es wild und lechzt darnach, wie jener nach seiner Beute.
Anna seufzte. Auch ihr waren die Tage entblättert, sie standen kahl und frostig vor ihr und der Lebenssturm hatte oft mit ihren Erinnerungen gespielt und sie beängstigend umhergejagt, wie der Herbstwind die abgefallenen Blätter.
Leontine schwieg und sah lange vor sich nieder; als sie die Augen aufschlug, blitzten zwei glühende Thränen darin auf.
Und jetzt? sagte endlich Anna.
Jetzt? – jetzt laß mich dann an das falsche Todeszeugniß glauben, weil er es will. – Als ich noch für ein Mädchen galt unter euch, war ich längst eine Frau; jetzt laß sie eine Witwe mich nennen und mich wie damals heimlich ihm vermählt bleiben. – Ach, das ist das Wenigste, was ich thun kann!
[] Laß mich, fuhr sie noch wehmüthiger fort, nun auch Italien vergessen, das ich um ihn, durch ihn, ach, nie mit ihm gekannt! Laß den Göttertraum der Jugend der Poesie, den Fanatismus, den ich in ihm geträumt und der mir in seinem Vaterlande wahr geworden, nun auch zu Ende sein, und laß mich nicht weiter erzählen!
Ein ganzes Jahr habe ich ihn auf meiner Villa erwartet, immer sein harrend, in Rom, Florenz und Wien gelebt, ja, Anna, gelebt! mit vollem Bewußtsein des Lebens, das ich immer umsonst bei euch gesucht und entbehrt, mich freudig eingetaucht in den Ocean des Schönen, wie sich die Sonne golden in die goldne Tiber taucht! – Ein Jahr hindurch habe ich wie ein Kind geschwelgt im Genuß, laut gelacht, wenn ich froh war, geweint und geschrien, wenn mir wehe geschah. All das künstliche Eis der Sitten, Etiquette und Gewöhnung [] habe ich schmelzen lassen in mir, an der Glut des Augenblicks, der mich auf seine leichten Flügel nahm und über all eure Quälereien hinwegtrug; – und nun ist's vorbei! – Sie sagen mir Alle, daß ich noch jung, noch schön bin und frei und reich dastehe in der Welt. Nun, es werden ja vielleicht auch andre Sonnenstrahlen mein Herz erwärmen! Glücklich, wie ich's gewesen, möchte ich gar nicht wieder sein. Kehrte das wieder einen Augenblick, nur einen, so müßte es ewig dauern, oder er würde zur Hölle! Sie schwieg.
Nach einer langen Pause fuhr sie fort: Wer nur innerlich noch recht viel erwarten könnte!
Sie lehnte den Kopf zurück und summte mit halber Stimme ein venetianisches Gondelierlied vor sich hin. Allmälig gerieth sie in das so oft von Jean Carlo gesungene Nenna sta grazia a toja. Sieh, sagte sie lächelnd, [] wie die Melodie sich mir wieder einschleicht! – Ach, Alles in der Welt ist treuer, als das menschliche Herz!
Anna faßte ihre beiden Hände und drückte sie an ihre Brust. Leontine, verliere dich nicht! sagte sie weich; deine eigene bewegte Brust läßt dich das ohnehin stets Wandelnde, Wechselnde bodenlos glauben – das Leben hat auch bleibende Tiefen, die den ewigen Himmel zurückstrahlen.
Laß das, erwiderte Leontine, ich klage ja nicht! Daß mir gerade nur das Flüchtige schön erschien, daß ich von ihm eine ewige neue Rückkehr hoffte und deshalb die Fesseln, mit denen ihr Alle es verletzt und verkrüppelt euch bewahrt, nicht ertragen konnte, liegt in meiner Natur. Ich habe ihn – Jean Carlo meine ich – nicht geliebt in euerm Sinne; aber daß ich ihn wie die Anderen verlor, ist grauenhaft, entsetzlich!
[] Was mag seitdem Alles durch ihre Seele gezogen sein, dachte Anna.
Und doch, erwiderte Leontine, als habe sie ihr den Gedanken von der Stirn gelesen, und doch habe ich Otto nie vergessen!
Da sind sie! rief eine kräftige jugendliche Stimme. Es glänzte etwas wie eine Uniform im Gebüsch, und zwei sehr schöne junge Männer flogen auf die Frauen zu. Wie haben wir euch gesucht!
Egon! Joseph! rief die glückliche Mutter, mit innerem, stolzem Jubel die Beiden betrachtend. Siehst du, Leontine, sind das noch Knaben?
Egon küßte der Tante die Hände und sah sie mit so durchdringendem, glühendem Blick an, daß sie lachend den ihren niederschlug. Aber Anna hatte Recht, Egon war beinahe ein Mann zu nennen, obschon er noch an der Grenze seiner achtzehn Jahre stand. Das kastanienbraune [] Haar, das in leichter Krauße unter dem Studentenmützchen hervorquoll, das etwas hellere Schnurrbärtchen, der schwarze Sammtrock bezeichneten den deutschen Jüngling; die ungewöhnlich frühe Ausbildung seiner Züge und seiner ganzen Gestalt hätten ihn jedoch leicht für einen Engländer oder Iren gelten lassen.
Joseph war Cadet; er hatte alle Schalkheit, allen Muthwillen seiner Tante Leontine geerbt, er sah aus wie der Page im Figaro, nachdem er eben Offizier geworden, und suchte, wie dieser, dem ganzen weiblichen Geschlechte, seine Mutter und Tante mit einbegriffen, den Hof zu machen.
In der einen Stunde seiner Anwesenheit in Weimar hatte er nicht nur alle Stellen aufgefunden, an denen Anna's Erinnerungen hafteten, er hatte bereits auch alle Staats-, Gesellschafts- und insbesondere alle Militärinteressen erkundet und mit in die seinen aufgenommen. [] Von Euerm alten Waldau'schen Hause ist keine Spur mehr, versicherte er die Frauen. Tante Leontinens Gärtchen ist auch verschwunden; Weimar ist eine schöne freundliche Mittelstadt Deutschlands geworden und sieht nicht mehr aus wie eine geniale, nicht gut aufgeräumte Gelehrtenwirthschaft.
Während Anna Egon über die ihr fast schmerzlichen kleinen Veränderungen befragte, flüsterte Joseph der schönen Tante eine Menge Geheimnisse zu. Leontine war ganz heiter geworden und sah nun zehn Jahre jünger aus, als vorhin.
Und seid ihr allein gekommen? fragte sie endlich.
Bewahre! Wir haben deinen Lord Frederic, den du eine Lady nennst, höchst eigenhändig aus dem Wagen gehoben, nachdem wir sie und ihren Neger von Dresden her escortirt. Ihre Lordschaft haben aber drei Nachtfahrten gemacht [] und studiren pour se délasser eben die türkische Grammatik und den Koran; sie wollten uns also nicht herbegleiten und rechnen auf deine und der Mutter baldige Rückkehr.
Und du kannst mich hinführen, sagte Leontine.
Stolz bot ihr der Cadet den Arm und grüßte mit der Linken im Abgehen die Zurückbleibenden.
Das Paar sah allerliebst aus; obschon sie dem Alter nach seine Mutter sein konnte, erschien Leontine neben ihm wie eine ältere Schwester.
Egon sah ihr mit leuchtenden Blicken nach. Ist sie nicht immer noch wunderbar schön? fragte er. Er seufzte leise; Anna aber lächelte freundlich. Man nennt in Frankreich das erste graue Haar einer jungen Frau le cheveu historique; obgleich fast unhörbar leise, schien der Mutter dieser erste Seufzer des Sohnes eine ganze idyllische Geschichte voll lauter Frühlingsempfindungen [] zu enthalten – le soupir historique, dachte sie. Und als müsse das höchste Erdenglück vom Himmel herab auf den ersten Wunsch dem Sohne zu Füßen fallen, sah sie dankbar auf in die wolkenlose Bläue.
Wie weh den Frauen selbst das Leben gethan haben mag, wenn sie für ihre Kinder hoffen, liegt immer etwas Primitives in ihrem Gefühl; die Narben der Erfahrung sind plötzlich alle in ihnen ausgelöscht und sie glauben der Zukunft unbedingt, als wären auch sie – sechszehn Jahr.
Mutter, sagte Egon, indem er neben ihr sich auf die Bank setzte, ich möchte mit dir reden; aber nicht wie ein Knabe, nicht wie ein Jüngling, wie ein werdender Mann zu einer Frau, die schon Alles geworden, nur das Eine nicht, was sie vor Allem hätte werden sollen – glücklich!
[] Anna erschrak; sie erwartete irgend ein Geständniß.
Seit vier Jahren, fuhr er fort, hast du, theure Mutter, nur für uns, ausschließend für Joseph und mich, gelebt, Alles danken wir dir!
Du vergißt Geiersperg, sagte Anna weich.
O nein! der Onkel hat gethan, was er vermochte, um uns die Leitung des Vaters zu ersetzen; aber glaubst du wol, sie würde ihm bei ein paar Trotzköpfen, wie die unsern, gelungen sein, wenn er die Zügel nicht gar oft in deine liebe Hand gegeben hätte?
Wo willst du eigentlich hinaus? fragte Anna heiter; immer noch erwartete sie irgend ein Bekenntniß.
Ich wollte dir sagen, liebe Mama, daß wir flügge gewordene, aus dem Nest gefallene Vögel sind, die nächstens ihren Flug in's Weite versuchen werden. Ich bin achtzehn Jahr und Student, Joseph in seinem bunten Rocke siebzehn[] – er erröthete wie ein junges Mädchen. – Mutter! Freundin! nun laß deine wilden Buben ziehen, es ist unmöglich, sie länger festzuhalten. – Uebergib sie nur ganz sorglos dem blauen Himmelsocean, sie sind der Heimat gewohnt und werden sich nicht verfliegen.
Ach, sagte Anna, war es das? O Kinder! ich weiß es längst, daß ich euch nun dem Leben, der Welt und ihrem Wirbel überlassen muß, und werde es. Ihr werdet nicht einmal die bangen Schläge meines Herzens hören. Nein, nein, mein Egon! nie soll die Mutterliebe euch eine Fessel werden!
Er küßte ihr die Hand. Es entstand eine kleine Pause. Anna war in's Sinnen gerathen und in stilles Hinbrüten versunken.
Am meisten nach dir danken wir dem Präsidenten Gotthard, fuhr Egon fort. Hast du lange nichts von ihm gehört?
Seit fast zwei Jahren nicht, antwortete sie [] gepreßt; seine Geschäfte machen ihm das Briefschreiben schwer. Du weißt, daß er jetzt die Interessen der ganzen Provinz zu vertreten hat –
Freilich, erwiderte Egon fast obenhin. Er sah den Geisterzug nicht, den er in der Mutter nachzitternder Seele erweckt. Aber möchtest du ihn nicht einmal wiedersehen?
Plötzlich überflutete eine himmlische Jugend die schöne Frau. Trotz ihrer vierundreißig Jahre ward sie schöner, als je; es lag eine so edle Verklärung der Seele in ihrer ganzen Erscheinung. Ich würde mich unendlich freuen, ihn zu sehen, sagte sie; aber schwerlich werden uns die auseinanderliegenden Wege sobald zusammenführen.
Und wenn er nun einmal ganz unerwartet käme, Mutter?
Anna vermochte nicht zu antworten.
Mußt du uns doch nun unsern eigenen Zug nehmen lassen, du Arme! Kannst uns nicht [] anders, als mit dem Herzen begleiten, dessen Flügel uns so oft Muth und Kraft zugefächelt haben – er legte ihre Hand auf seine Augen und den Kopf auf die Lehne der Gartenbank.
Aha! sagte der rückkehrende Joseph, hast du Cato den Text gelesen, Mutter? Will er wieder einmal die Welt verbessern und allweise sein, trotz unserm Herrgott? Tröste dich, liebste Mama! hast du doch noch mich hoffnungsvolles Schlingelpflänzchen, um dich und ihn vor seiner Moral zu retten und vor seinem vielen besten Rath! Ich habe nur den einen, und er ist zu gleicher Zeit mein höchster Wunsch: sei recht glücklich, Mutter! so glücklich, als noch gar kein Mensch auf Erden geworden; denn auf Ehre! sagen wir Offiziere: noch Niemand hat es mehr verdient!
Im Gehen hatte Egon ihren Arm in den seinen gelegt; die jungen Leute führten sie unmerklich aus dem Park über den daran stoßenden [] Platz, dem Hotel zu, das Alle auf ein paar Tage bewohnten. Als sie an die Thüre ihres gemeinschaftlichen Salons traten, fanden sie Duguet und August vor derselben.
Ist dein Herr zu Hause? fragte Anna den letztern.
Seit dem Tode des Herzogs von Reichstadt hatte sich St. Luce wieder eingefunden. Er war entschlossen, sie nie wieder zu verlassen, immer in ihrer Nähe seinen Wohnsitz aufzuschlagen.
Es fiel Annen auf, daß der alte Diener nicht sogleich antwortete; als sie ihn und Duguet genauer ansah, bemerkte sie in beider Zügen den Ausdruck einer tiefen, gewaltsam zurückgehaltenen Rührung. Arme Freunde! sagte sie, ach! ihr seid nicht die Einzigen, die hier Sophiens schmerzlich gedacht! – Sie reichte ihnen die Hand, die jene ehrfurchtsvoll an ihre Lippen drückten. Keiner erwiderte ein Wort.
[] An der Thüre ließ Egon, der sie geführt, ihren Arm los. Ich will die Tante Leontine holen! Plötzlich aber kehrte er um und fiel der Mutter um den Hals: Mutter! Mutter! Dein Glück ist der innigste Wunsch deiner Kinder! Er war verschwunden. Auch Joseph hatte unter heftigen Küssen sie losgelassen; sie stand verwundert und allein auf der Schwelle des Saales.
Am Fenster, den Rücken ihr zugewandt, gewahrte sie einen stattlichen Fremden. Bei dem Geräusch ihres Eintritts kehrte er sich um; es war – Gotthard.
Tief bewegt ihr die Hand entgegenhaltend, schritt er auf sie zu. Verzeihung, theuerste Anna! rief er mit dem vollen Klange, den nur die Freude dieser weichen, sonoren Stimme, die sonst gedämpft ertönte, zu verleihen pflegte. Ach! mit dem ersten Laut rief er das ganze vergangene Leben ihr wach, es umgab sie wie eine überreiche Gegenwart. Anna! wir Alle [] sind im Complott gegen Sie gewesen! Geiersperg, St. Luce und Ihre Söhne, Alle haben sich auf meine Seite geschlagen: denn ich konnte ohne Sie, theuerste Freundin, das Dasein nicht länger ertragen, ich mußte Sie wiedersehen! Ich mußte!
Trunken von Glück, keines Ausdrucks mächtig, ließ sie sich von ihm zum Sopha geleiten. Erst jetzt sah sie ihn wirklich, bis dahin hatte eine Art Nebel auf ihrem Auge, ein Schwindel von Seligkeit sie verhindert, ihn deutlich zu sehen. Aber als er nun fortsprach, gewann sie Zeit und blickte auf. Gotthard war in den vier, fünf Jahren bedeutend gealtert, die ungeheure Geistesarbeit, die rastlose Thätigkeit seines Berufs hatten Spuren hinterlassen, aber sie hatten sein Aeußeres gereift, ohne es irgend zu schwächen; er war noch immer schön.
Es lag ein solcher Ausdruck von Güte in seinen harmonischen Zügen, eine solche Zusicherung [] des Schutzes, der Hülfe, des Trostes in dem tiefen Ernste desselben, in seinem ganzen Auftreten; auch ohne ihn zu lieben, würde man ihm eine Welt aufgebürdet und anvertraut haben, so ruhig, sein selbst bewußt, so in sich selbst concentrirt stand er da: ein Bild der höchsten Milde, wie der ausgearbeitetsten Kraft.
Demonstrationen des Gefühls, fortgesetzter Briefwechsel, ja sogar jeder regelmäßige gesellschaftliche Verkehr waren dem mit den bedeutendsten Arbeiten Ueberhäuften, auf eine der höchsten Stellen des Staates Berufenen längst unmöglich geworden; dennoch war Annens Bild nie aus seiner Seele, nie aus seiner Sehnsucht gewichen.
Nach dem unseligen Duell hatte er, während Anna in Brandenburg blieb, eine Zeit lang in Berlin gelebt, um die Fäden einer neuen, immer ausgedehnteren Thätigkeit anzuknüpfen. Während dieser Vorbereitung seiner [] veränderten Laufbahn hatte Geiersperg ihn kennen und schätzen gelernt. Beide Männer stimmten in der Ansicht überein, daß nur eine längere Trennung von Annen in den Seelen der heranwachsenden Knaben, in der Ansicht und im Urtheil der Gesellschaft die theure Frau flecken- und makellos im Besitz der ihr nöthigen Anerkennung erhalten könne.
Das schwere Opfer ward gebracht; schweigend, wie fast immer die schweren Opfer. Gotthard suchte beim Ministerium um einen Zweig der Verwaltung in Schlesien nach; sein Wunsch ward ihm gewährt.
Sonderbar genug, aber ein Beweis, daß ein wahrhaft eminenter Kopf in unsern Tagen die äußeren Verhältnisse beherrscht, hatte der wiederholte Umschwung, den Gotthards Liebe seiner amtlichen Thätigkeit gab, weder hemmend, noch störend auf seine Laufbahn eingewirkt, unaufhaltsam hob sie sich; sein Weg [] ging ununterbrochen aufwärts, sogar wo sich dessen Richtung änderte.
Die Verschmelzung großer That- und Geisteskraft ist selten, und dennoch bedarf unsere industrielle Zeit derselben so sehr. Gotthards Uneigennützigkeit, sein bürgerlicher Fleiß und seine aristokratische Nichtachtung des Einzelnen, wo es die Masse galt, gaben ihm einen immer ausgedehnteren Wirkungskreis, ja eine in manchem Bezug fast herrschende Gewalt über seine Mitbürger und Untergebenen.
Als ihn der Zufall wieder einmal mit Geiersperg zusammenführte, fragte er so angelegentlich nach Annen, daß der alte unermüdliche Handlanger der Zeitereignisse, Geiersperg, mit einem Male innerlich beschloß, nun seine Neffen erwachsen und die Gerüchte über des Vaters Stellung zu Gotthard denselben zur Prüfung vorgelegt werden konnten, die jungen Leute selbst auf den Gedanken an eine zweite [] Verbindung ihrer Mutter mit dem nunmehrigen Präsidenten zu bringen.
Seine Absicht ward vollkommen erreicht. Die Zusammenkunft Leontinens mit Annen und der Lady Frederic, die erstere nach Konstantinopel zu begleiten beabsichtigte, ward zum Moment des Wiedersehens erwählt. Geiersperg war überselig, ein kunstvolles Manoeuvre ausgeführt, durch die Gründe seiner Beredtsamkeit alte Vorurtheile besiegt zu haben, wie Leontine lachend ihm vorwarf.
Alle trafen ungefähr zur nämlichen Zeit in Weimar zusammen.
So ward es möglich, Annen ein Wiedersehen zu bereiten, das die vom Glück so lange Entwöhnte vielleicht in banger Scheu von sich gewiesen haben würde, hätte sie es vorausgeahnt, das aber nun in seiner überraschenden Erscheinung einem elektrischen Funken gleich in ihre müde Seele traf und plötzlich alle schlummernden [] Kräfte derselben weckte, ohne sie zu überreizen. War es doch fast das erste Mal in den langen, stets in Bezug auf einander hingelebten Jahren ihrer Bekanntschaft, daß die Liebenden und Freunde – sie waren einander Beides und wußten es von einander – ruhig, nur von der Freude des Augenblicks bewegt, sich aussprachen.
In jedem Worte feierte ein zerdrücktes, verborgenes Gefühl oder eine lange verschwiegen und heimlich getheilte Ansicht eine Auferstehung. Beider überreiche Natur strahlte so edle Gaben der innern Schönheit aus, daß sie in gegenseitiger Freude, Eines an dem Anderen durch die Gegenwart erfüllt und befriedigt, weder die Schatten der abgeblühten Vergangenheit hervorriefen, noch an der verschleierten Gestalt der Zukunft rührten. Diese aus tiefen vollen Quellen zusammenfließenden Seelen brachten ja unwillkürlich in jedem Worte, in jedem Blicke [] einander ihr Allerbestes zu und eben darum blieb der schönen Stunde ihrer Vereinigung jede Schranke bestimmter Wünsche oder Entschlüsse ganz fern, denn sie gedachten nicht einmal der Zeit.
Lady Frederic hatte sich vorgenommen, nach dem Orient zu reisen, Griechenland und Konstantinopel zu sehen. Die Russen hatten Frieden geschlossen mit der Pforte; Griechenland erwartete von der hand der verbündeten Mächte seinen König. Die alte Freiheitsfreundin sehnte sich nach all den geheiligten Stätten, denen neue bessere Zeiten entblühen sollten; aber auch den Herd der Knechtschaft, wie sie die Türkei nannte, wollte sie in Augenschein nehmen; nur so, demonstrirte sie, sei es möglich, sich ein deutliches Bild der Gegenwart zu verschaffen.
Eigentlich war es der lebhaften Frau zu [] stille in Deutschland geblieben, die constitutionellen Reformen spannen sich sachte ab, und dann mußte sie sich doch überzeugen, ob dear King Leopold Recht oder Unrecht gehabt, die angebotene Krone auszuschlagen.
Leontinens Rückkehr nach Italien kam ihr höchst erwünscht. Sie ruhte nicht eher, als bis ihr gelungen, die gewohnheit- und alltäglichkeitscheue Freundin zu überreden, sie nach dem Orient zu begleiten. Leontine wollte einen Harem und eine Moschee sehen und willigte also trotz Geierspergs unabweislichen Gründen ein.
Seit Italien schien eine innere Unruhe, ein Gedränge vielfach verschlungener und dort empfangener Eindrücke ihre Launen noch wechselnder, ihre Gefühle noch unruhiger zu machen. Nur ein einziger Goldfaden zog sich durch das seltsame bunte Gewebe ihrer Gedanken, Phantasien und Empfindungen hin: der Wunsch, [] Jean Carlo aufzufinden und ihm die ungeheuern Geldmittel zur Erleichterung seines Zweckes zufließen zu lassen, die er scheidend ihr zugeworfen. Sie wußte nicht recht, was mit dem Gelde anzufangen; eine Art Toilettenluxus abgerechnet, an den sie von kleinauf gewöhnt war, hatte sie wenig Bedürfnisse, wenig Wünsche; es fehlte ihr gänzlich an eigentlicher Liebe zum Besitz, weil sie ihr ganzes Dasein aus dem eigenen Innern herausspann.
Jean Carlo in Griechenland zu finden, schien Leontinen nicht unwahrscheinlich; dort konnte es ihr gelingen, noch einmal seinem so vielfach geknickten Leben erneute Hoffnungen und Thätigkeit zu geben, indem sie die ihm geraubten Hülfsmittel zurückbrachte, die er für seine Landsleute bedurfte und deren Entbehren großentheils das Geschick der Griechen entschieden hatte.
O dear, o dear! unser lieber Herr Gotthard! [] How are you? rief die gute alte Lady, als sie unvermuthet, das allgemeine Wiedersehen und Begrüßen unterbrechend, in den Salon trat. Ei, sagen Sie mir, bitte, haben Sie wol wieder etwas Genaueres über die neu zu errichtenden Logen der Carbonaria erfahren, und glauben Sie, daß diese mit den griechischen Angelegenheiten verwickelt sind? Haben Sie wol gehört, daß unser theurer Graf auch früher einmal sehr gravirt in dieser Geschichte gewesen, vor seiner Heirat nämlich – Sie wissen doch, daß der Tod ihn uns entrissen? Alles dies fragte sie hörbar leise, Leontine sollte es nicht bemerken. Aber sie fragte glücklich alle Anwesenden aus der insgeheim gefürchteten Rührung heraus, die sie zu überkommen drohte, und brachte mit ihrem durchaus nicht Gemerkt- und Begriffenhaben der Seelenzustände aller Anwesenden eine so glückliche Unterbrechung hervor, daß ihr Jeder innerlich Dank dafür wußte.
[] Joseph machte ihr entschieden den Hof, ließ sich Arabisch, Indisch und Türkisch von ihr vorlesen und ging sehr ergötzlich auf alle ihre Pläne ein.
Leontine war der geistigen Kreuz- und Quersprünge ihrer alten Freundin zu sehr gewohnt, um auch nur einen Augenblick sich verletzt zu fühlen; sie war sogar gefällig genug, nicht zu hören, was jene zu flüstern wähnte.
St Luce war am übelsten daran, er vermochte sich nicht eher vor ihrem gutgemeinten aber übel angebrachten Eindringen in seine Gefühle und Ansichten zu retten, als bis Anna sie auf die frisch blutende Wunde aufmerksam machte, die dem Freunde der Verlust des angebeteten Kaiserkindes geschlagen.
Als aber am folgenden Tage die gute alte Lady eine ganze Weile dem Zusammensein der Freunde und der Waldau'schen Familie zugesehen, ward sie sehr nachdenkend. In einem unbemerkt [] geglaubten Augenblick ergriff sie plötzlich St. Luce's Arm: General, lieber General, ich muß Ihnen etwas sagen! Meinen Sie nicht, dear Sir, daß unser guter Herr Gotthard eine gewisse Vorliebe für die Gräfin hat? Und nun entwickelte sie ihre Ansicht, daß bei seiner hohen amtlichen Stellung die Partie gar so übel nicht sei, daß die Gräfin nicht von Adel, wie man ihr versichert, und die ganze Verbindung durchaus keine unpassende zu nennen sei.
Trotz seines Kummers gerieth der Invalide in ein so jugendlich herzliches Lachen, daß selbst seine große Höflichkeit es nicht zurückzuhalten vermochte und mehre Mitglieder des kleinen Kreises, dadurch herbeigezogen, mit Bitten und Fragen auf die Lady eindrangen, die in der felsenfesten Ueberzeugung, St. Luce von seinem Vorurtheil so am besten zurückzubringen, eine lange Rede hielt, in welcher sie ihre Wünsche [] für die Liebenden aussprach. Liebe kenne kein Gebot, versicherte sie, und Anna sei so schön, daß man ihr kaum so viele Zwanzig geben wurde, als sie deren Dreißig zähle. Herr Gotthard aber, setzte sie mit drolliger Verlegenheit hinzu, steht doch wol kaum ihr darin nach, und in Old England würde Niemand thöricht genug sein, ein so von Himmelshand geschürztes Band nichtiger Einwendungen wegen zu zerreißen.
Sie hatte das Eis gebrochen. Obschon Alle lachten, war ihr abermals Jeder dankbar, denn die Angelegenheit kam nun zur Sprache. Gotthard warb um der Geliebten Hand.
Egon beschwor die theure Mutter, ihr schönes einfaches Leben nicht durch eine Uebertreibung zu verderben. Ein unnützes Opfer ist eine Sünde! sagte er ernst.
Anna war unaussprechlich bewegt. Schon daß gerade der Sohn ihres Herzens fast den [] Bewerber für den so lange und heiß Geliebten machte, hatte etwas tief Erschütterndes. Gotthards Freude aber erhob den Augenblick zu einer höchsten Lebensweihe. Einen großartigen edeln Menschen das Leid des Daseins tragen sehen, wirkt sogar auf selbstische und gemeine Naturen; der Schmerz verleiht dem so Hochstehenden einen Glorienschein und macht den Dornenkranz zur Krone; aber einen ungewöhnlich Begabten, dessen Leben ein Segen für die Andern, für ihn selbst unbefriedigt und schmerzlich dahinfloß, plötzlich im Sonnenglanz des höchsten möglichen Erdenglückes zu erblicken, wirkt noch allgewaltiger. Es öffnet uns einen Blick in den Himmel und gewährt uns ein tiefes, jauchzendes Vertrauen auf das Geschick; all der Unmuth, der bange Zweifel, die Irreligiosität, die uns oft betrübendes Erfahren aufdrängen, fallen ab wie eine Wolkenhülle [] und der Glaube tritt uns wieder nahe und strömt seine Seligkeit in unser wundes Herz.
Wer diese Menschen so zusammen sah in ihrer heiteren Liebe, wem Annens strahlendes Gesicht, Gotthards so geistig-schönes Dankgefühl, der Kinder und Freunde Jubel damals die Empfindung des dankbaren Glaubens an mögliches Menschenglück in die Brust gesenkt, wie ein schützendes Amulet gegen das Mistrauen des Ueberdrusses, der wird ein solches Begegnen nicht vergessen haben. Möge sein Erinnern desselben das Samenkorn eines inneren heiligenden Segens für den werden, der am Leben verzweifelt.
Auch jetzt in unsern Tagen noch möchte ich dem schauensmüden blasirten Reisenden, der so viel Städte, Bücher, Bilder, Kunstwerke aller Art mit mattem Blick besieht, den eine innere [] Rastlosigkeit von Land zu Lande, von Meer zu Meere treibt, wünschen, daß ihn sein Weg an Gotthards Landhause vorüberführe.
Wenn der Präsident nach langen beschwerlichen Berufsgeschäften, die auch ihn oft zu weiten Reisen veranlassen, heimkehrt zu seinem stillen, friedlichen Asyl, umfängt ihn eine selbst erbaute Welt des Schönen. Was Wissenschaft, Kunst und Reichthum dem Dasein als Schmuck gewähren, liegt dort in reichen Garben aufgehäuft. Anna hat einen Zauberkreis der Häuslichkeit darum hergezogen. Noch immer stehen sie und Gotthard, unverändert im Innern, von der Zeit unendlich mild behandelt, schön und edel, in vollster Kraft, nebeneinander, noch immer ist ihre Neigung dieselbe, noch immer eint sie das seltenste, innigste Verstehen.
Egon zählt bereits unter unsern bedeutendsten Staatsmännern. Da Gotthard keine Kinder [] hat, übertrug sein Herz auch in diesem Bezug die Neigung auf keinen neuen Gegenstand.
Die Zeiten haben sich verändert; ihren Anforderungen zu genügen, ist alljährig schwerer geworden. Gotthard sieht seinen Nachfolger in Egon, dessen die seine einst überragende Wirksamkeit er sorglich und besonnen dem Lieblinge vorbereitet.
Joseph ist der schönste und beliebteste Offizier seiner Garnison und ist dabei der unempfänglichste für Frauenliebe. Obschon er jeder Dame den Hof macht, erzählt er ihr zugleich, daß nur die ganz besondere glückliche Mischung von Fehlern und Vorzügen seiner Tante Leontine ihn dauernd zu fesseln vermöchte, und daß er trostlos ist, hier bei den nordischen Barbaren weilen zu müssen, während die Unbarmherzige unter griechischer Sonne altert, ohne auf ihn zu warten.
Und Leontine? Sie ist immer noch ein anmuthiges,[] vielleicht für sich und uns unlösbares Räthsel. Seit einer Reihe von Jahren hat sie Deutschland nicht wieder betreten. Ob sie in Griechenland den verlorenen Gatten wiedergefunden, ob sie ihm noch heimlich verbunden ist, ob andre Neigungen und Verhältnisse ihre Seele erfüllen, Niemand weiß es, selbst Anna nicht. Sie schreibt unendlich geistvolle, inhaltreiche Briefe, deren Flammenzüge Leuchtkugeln gleich aufblitzen in dem kleinen Kreise ihrer Freunde, und den Zustand des Bodens, auf dem sie anzuwurzeln scheint, in seiner Eigenthümlichkeit und in seinen wechselnden Gestaltungen richtiger schildern, als alle unsere Tageblätter und Reisenden.
Gar andere, tiefernste Briefe, meist in Bücherform und gedruckt, sendet uns Otto. Ihn umgibt ein Kreis geliebter Kinder und treuer Freunde. Die unendliche Thätigkeit seiner Seele erhält ihn frisch; die seit den letzten Jahren mit [] Riesenschritten fortschreitende Wissenschaft trägt ihn über alle kleinen Lebenssorgen hinweg. Vrenely ist der Trost seiner Tage geblieben; in ihrem Hause herrscht noch immer die anmuthige saubere Bürgerlichkeit, in der wir sie zuerst gefunden; in ihrem Herzen blüht die Poesie und treibt mit jedem Jahre neue Frühlingsknospen. Otto kennt nur das Universum und sein Haus; die Gesellschaftswelt und die Politik der Zeit kümmern ihn jetzt fast eben so wenig, wie sie in den Tiefen der Erde es thaten, als er mit dem Grubenlicht und dem Schlägel in der Hand von den Schätzen der Wissenschaft träumte, die jetzt sein Forschergeist erreicht. Annen hat er nicht wiedergesehen und alle Einladungen Gotthards mild, aber bestimmt abgelehnt.
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