1

Am Osternachmittag sitzen im Chausseegraben nicht weit vom Matzicker Walde zwei Liebesleute – der Jons Baltruschat und die Erdme Maurus.

Ach du gütiger Gott, was sich nicht alles lieben will auf Erden! Selbst die Aller-, Allerärmsten, die kaum das nackte Leben haben, möchten ein Nest bauen.

Der Jons ist das, was der Litauer einen »Antrininkas« nennt, der »Knecht eines Knechtes«. Das sagt wohl genug.

Und die Erdme hat unter den Deutschen ihr Glück machen wollen. Vorläufig dient sie als Abwaschmädchen in dem Schlopsniesschen Gasthaus nicht weit vom Bahnhof, das die Leute in Heydekrug meistens das »Hotel Lausequetsch« nennen. Mit Unrecht übrigens, denn in der letzten Zeit hat es sich sehr gehoben. Sogar die besseren Viehverlader verkehren bisweilen darin.

Ausgeputzt sind sie beide. Der Jons hat seine blanken Kirchgangsstiefel an und die schwarze Tuchjacke mit dem türkischen Halstuch. Und die Erdme – die ist nun gar eine Feine! Litauisch trägt sich die doch nicht mehr! Sie hat ein weißes Zephirwollentuch um den Kopf geknüpft und eine halbseidene Bluse an, die hinten zuzuhaken ist. Die hat ihr einmal die Kellnerin geschenkt, weil sie ihr in ihrem Fortkommen hinderlich war.

Jung, stark und hübsch sind sie beide. Aber das ist auch alles. Eltern mit Haus und Hof haben sie nicht. Überhaupt – wo sie herstammen, davon reden sie lieber gar nicht.

Die Erdme hat nicht viel Zeit. Denn um acht kommen die Handwerksburschen, die bringen Feiertagsfladen von der Walze mit und wollen reine Teller haben. Es geht da auch sonst sehr üppig zu. In der Küche werden jetzt [] sogar Ölsardinen gehalten, und das Öl darf man hinterher austrinken.

Der Jons fühlt sich dadurch gedemütigt. Wie wird eine Frau, die an so vornehme Lebensart gewöhnt ist, später neben ihm aushalten wollen?

Aber die Erdme beruhigt ihn gleich. Was hat das alles zu sagen gegen einen eigenen Besitz? Denn mit dem Besitzersein fängt das Leben doch erst eigentlich an.

Der Jons ist ganz ihrer Meinung. Jawohl – aber wie? Die Vögel, die ringsum Halme suchen, die haben's leicht. Denen liegt der Baustoff frei auf der Straße, und für ihren Nestplatz brauchen sie auch nichts zu zahlen.

Die Erdme, die einen fixen Geist hat, redet ihm Mut zu. Und so ganz ohne Vermögen sind sie ja beide nicht mehr. Nun holen sie rasch ihre Beutelchen vor und breiten die Schätze neben sich aus, geben aber sorgfältig acht, daß beide nicht untereinander geraten. Denn das kann erst nach der Trauung geschehen, wenn die Gütergemeinschaft erklärt ist.

Das Häufchen der Erdme ist viel größer als seines, so groß, daß er beinahe argwöhnisch wird und nach dem Ursprung fragt. Sechsundsechzig Mark, die kriegt man nicht leicht zusammen.

Die Erdme wird zwar etwas verlegen, aber sie kann doch Auskunft geben. Das goldene Zwanzigmarkstück, das den Hauptstock bildet, hat ihr einmal ein Betrunkener geschenkt, der hernach verhaftet wurde. Doch das macht ja nichts, wieder abgefordert hat es ihr niemand. Und auch das übrige ist nicht etwa der Lohn für Gefälligkeiten, wie sie Bräutigams nicht gerne sehen, sondern redlich verdient von ehrbaren Gästen, die höchstens einmal in die Küche kommen, um ein ehrbares Mädchen zu kneifen, wo es sich kneifen läßt. Zuguterletzt hat sie ein reicher Viehhändler durchaus em Kindesstatt annehmen wollen und sich erst nach vielem Zureden damit begnügt, ihr neun Mark funfzig zu schenken, denn mehr hat er gerade nicht bei sich gehabt.

Das alles ist also in guter Ordnung, aber die lumpigen [] fünfundzwanzig Mark, die er sich in zwei Jahren – und mit was für Opfern! – von seinem Lohne erspart hat, können sich daneben nicht sehen lassen.

»Ach was,« sagt die Erdme, »zusammen sind das einundneunzig. Und für hundert kann man sich schon ein Haus bauen.«

»Ja wo?« fragt er. »Etwa im Monde?«

»Durchaus nicht im Monde, sondern sogar ganz nah' von hier. Auf der anderen Seite von Heydekrug, nach Ruß zu, wo im Rupkalwer Moor die Kolonie Bismarck liegt.«

»Ach so, in Kolonie Bismarck, wo die Diebe und die Mörder hausen,« meint er, denn in gutem Ruf steht sie nicht, die Kolonie Bismarck.

Die Erdme wird ärgerlich. Erstens gibt es Diebe und Mörder überall, und zweitens kommt es zunächst darauf an, daß man ein Haus über dem Kopfe hat. Dort ist man sozusagen beim preußischen Staat zu Gaste, der Grund und Boden vergibt, und einen vornehmeren Herrn kann sich keiner erdenken.

Er zweifelt noch immer, daß es möglich ist, für hundert Mark ein Haus zu erbauen, aber sie weiß es genau.

»Natürlich, nachhelfen muß man ein bißchen,« sagt sie und lacht ihm verstohlen zu. »Nachhelfen tut ein jeder, und der Moorvogt weiß viel, wo es herkommt.«

Nun lacht auch er, und der Entschluß wird besiegelt.

Wie sie aufstehen und die Kleider abgeklopft haben, betrachten sie einander und finden, daß sie ein Paar sind, das sich sehen lassen kann.

Er – straff, breit, knorrig, mit wagerechten Trageschultern und zwei Fäusten, die nicht mehr loslassen, wo sie einmal zugepackt haben.

Sie – eine richtige Scharwerksmarjell, hochbusig, mit federnden Armen und Schenkeln von Eisen, mit flinkem Halse und blanken Backen, in denen zwei Augen listig und lustig Nähe und Ferne nach Beute durchmustern.

Zwei richtige Lebenskämpfer, bereit, dem Schwersten Stand zu halten und das Widrigste mit Schlauheit zu umgehen.

[] 2

Zuerst der Moorvogt.

Der Moorvogt ist der unumschränkte Herrscher der Kolonie, der zweitausend Lebensschicksale sorgsam und strenge an obrigkeitlicher Leine führt. Über ihm steht nur noch die Generalkommission; doch wer und was das eigentlich ist, ahnen nur wenige.

Drei Tage später gehen sie also zum Moorvogt.

Mit List und Gewalt haben sie sich beide aus ihren Dienststellungen freigemacht. Die Erdme hat sich von ihrer Herrin eine Scheuerbürste an den Kopf werfen lassen und hierauf mit einer Anzeige wegen Körperverletzung gedroht, so daß sie schließlich mit dem Zeugnis auch noch ein Schmerzensgeld bekommen hat, und der Jons, der weniger gerissen ist, hat seinem Brotherrn bloß einen etwaigen Totschlag in Aussicht gestellt, falls er ihn nicht auf der Stelle abziehen lasse. Manchmal hilft das, manchmal geht es auch schlimm aus. Aber diesmal hat es geholfen.

So wandern sie also wohlgemut auf der Rußner Chaussee zur Kolonie Bismarck hinaus, die bald hinter dem Szlaszner Kirchhof beginnt und sich so weit ins Moor hinausstreckt, daß man ihr Ende nirgends absehen kann.

Als sie an der langen Brücke sind, die über die Sumpfniederung führt, bleibt die Erdme an dem schwarz-weißen Geländer stehen und zeigt auf die Kuhblumen hinunter, die ihre buttergelben Köpfe aus dem Überschwemmungswasser stecken, und sie sagt: »Wie die Blumchen da vorwärts kommen, ohne zu ertrinken, so werden wir auch vorwärts kommen.«

Und der Jons meint dasselbe.

Als sie aber vor dem ehemaligen Chausseehause stehen, in dem jetzt der Moorvogt wohnt, da fällt ihnen doch das Herz in die Schuhe.

Der Moorvogt ist ein starker Mann gegen die Vierzig, mit ernsten Augen und einem Munde, der ungern zu lächeln scheint. Eigentlich hart sieht er nicht aus, aber [] seine Rede ist scharf und gemessen. Angst muß man schon darum vor ihm haben, weil er so mächtig ist.

»Also anbauen wollt ihr euch?«

»Jawohl.«

»Seid ihr verheiratet?«

Das sind sie nun eigentlich nicht, aber das Aufgebot kann jeden Augenblick bestellt werden. Jetzt gleich, wenn er will.

»Sind die Papiere in Ordnung?«

Alles tragen sie bei sich, vom Taufschein an.

»Sind die nötigen Mittel da?«

Ob die da sind! Und mit zaghaftem Stolze ziehen sie ihre Beutelchen. Das Goldstück, das bei ihr oben auf liegt, scheint ihm einen großen Eindruck zu machen, denn zum ersten Male geht ein Lächeln über sein Gesicht.

Und er greift nach Mütze und Hakenstock und sagt: »Kommt mit.«

Dann geht er ihnen voran auf einer Straße aus Knüppeln und Lehm, die geradeswegs von der hohen Chaussee weg ins Moor hinunterführt. Das sieht nun freilich fürs erste nach allem aus, nur nicht nach einem Moor. Rechts und links nichts wie Kartoffeläcker und Siedlungen bis in den grauen Dunst hinein. Die Häuser haben etwas mehr als hundert Mark gekostet! Da reichen selbst tausend nicht! Und ringsum Ställe und Schuppen! Und Gärten sogar – die Zäune mit Ölfarbe gestrichen! Und jeder Zufahrtsweg hat seine kleine Allee, aus Quitschen und Birken – weiß wie Schnee und schnurgerade.

Das Herz wird ihnen immer schwerer, aber zu reden wagen sie nicht. Sonst wären sie vielleicht noch umgekehrt. Denn wie kann man je daran denken, solche Herrlichkeiten sein eigen zu nennen?

So gehen sie wohl eine halbe Stunde lang. Eine Wirtschaft folgt der anderen, ein Ackerfeld dem anderen. Nur hie und da auf höherem Boden, wie aus Versehen stehen geblieben, ein Gebüsch von krüppeligen Fichten, die kaum einmal die Kraft haben, Nadeln zu tragen.

Dann allmählich verändert sich das Bild. Die Wohnhäuser werden ärmlicher – demütiger, möchte man [] sagen –, die Wirtschaftsgebäude hören auf, und statt der beackerten Felder breiten sich kahle Moorheiden aus bis ins Endlose hin, von viereckigen schwarzen Teichen unterbrochen, die vom Torfstechen übriggeblieben sind. Auf denen sprießt ein junges Sumpfgrün. Sonst ist alles braun vor ihnen her. Wie beschorft ist alles.

Der Moorvogt hat den ganzen Weg über kein Wort zu ihnen gesprochen. Jetzt wendet er sich um und sagt: »Hier könnt ihr euch nun eine Baustelle aussuchen.«

Und er geht ihnen voran, seitwärts auf den Moorboden hinaus, der unter ihren Füßen quatscht und einsinkt. Und wo der Moorvogt den Stock einstößt, bleibt ein wasserglänzendes Löchelchen übrig.

Da endlich macht der Jons seinem bedrückten Herzen Luft und fragt beinahe schreiend: »Kann man denn hier überhaupt bauen?«

Der Moorvogt weist mit seinem Stocke zurück und in die Runde: »Die haben alle einmal so gebaut,« sagt er. »Das Trockenmachen ist eure Sache.«

Jons und Erdme sehen sich an und denken: »Was die anderen gekonnt haben, müssen wir auch können.« Und so suchen sie sich aufs Geratewohl einen Platz für Haus und Ackerland und sind dabei immer dem Weinen nahe.

Der Moorvogt umgeht mit ausgreifenden Schritten die ungefähr in Betracht kommende Fläche. »Diese Parzelle«, sagt er dann stehen bleibend, »gibt euch der Staat zur Bewirtschaftung. Sie wird natürlich genau ausgemessen werden und ist dann einen Hektar groß. Geht es euch gut, so dürft ihr später noch drei weitere dazu pachten. Auf dem Rückwege kommt bei mir an und gebt eure Unterschrift. Bis dahin überlegt es euch. Braucht ihr einen Rat, so bin ich dazu da. Viel Glück und guten Morgen!«

Damit gibt er ihnen die Hand, und weg ist er.

Nun stehen sie da und sehen sich wieder an.

Ja oder nein?

Nein – dann müssen sie zurück in Dienst – in einen härteren vielleicht, vielleicht auch niedrigeren, obgleich [] das kaum noch möglich ist, und die Hoffnung auf Haus und Herd versinkt für Jahre. Wozu sind sie jung und übervoll von unverbrauchten Kräften, die sich sonst für Fremde erschöpfen müssen? Also ja – dreimal und tausendmal ja.

»Was die anderen gekonnt haben, müssen wir auch können,« wiederholt der Jons noch einmal laut, und die Erdme wiederholt es auch. Und damit sind sie fertig.

Das Nötigste, woran sie denken müssen, ist, sich für die nächsten Monate ein Obdach zu besorgen.

Sie gehen also an die ersten zwei Leute heran, die sie auf dem Acker arbeiten sehen, und sagen: »Wir wollen uns in der Nähe anbauen. Könnt ihr uns wohl so lange eine Kammer vermieten?«

Der Mann, der sanftblickende Augen hat und dem um das magere, bartlose Gesicht langes, graues Haar bis auf die Schultern fällt, sieht sie lange an und fragt dann: »Seid ihr verheiratet?«

Erdme lügt rasch »ja«, denn sie überlegt sich, daß ihr wahrhafter Stand, mag er noch so kurze Zeit andauern, ihnen bei allen Gutgesinnten Hindernisse bereiten würde.

Und die Frau, die auch nicht mehr jung ist und die so aussieht, als muß sie immer Senf aufschmieren, hat aber keinen Senftopf, die sagt: »Wir sind nämlich Gebetsleute. Wer nicht nach den Geboten des Herrn lebt, den nehmen wir nicht auf.«

Erdme sagt: »Auch wir wollen uns den Erleuchteten zuwenden,« denn sie weiß sofort, daß sie beide durch dieses Bekenntnis Freiwohnen erlangen werden.

Betten wird sie mitbringen, und so ist für Unterschlupf gesorgt.

Dann kehren sie wieder beim Moorvogt an.

Er hat einen großen Bogen ausgefertigt, sieht noch einmal ihre Papiere durch, und dann gibt Jons die Unterschrift.

Der Moorvogt ist zugleich auch der Standesbeamte und trägt sie als Brautleute in die Register ein.

[] Jons denkt an die Unwahrheit, die Erdme vorhin ausgesprochen hat, und fragt: »Die Zeit ist knapp. Werden wir als ledige Leute schon einziehen dürfen?«

Der Moorvogt lächelt, wie er damals getan hat, als er ihr Vermögen besah, und sagt: »Die Aushängebogen liest keiner.«

Damit sind sie entlassen.

Nun aber bleibt noch eins zu ordnen, das wichtigste von allem – außer dem Pfarrer natürlich, bei dem das Aufgebot bestellt werden muß. Das ist für Jons, sich eine regelrechte Arbeit zu beschaffen, damit durch den Tagelohn für den künftigen Unterhalt gesorgt wird und ab und zu noch ein paar Groschen in die Baukasse kommen.

Man hat die Wahl zwischen der Torfstreufabrik und der Sägemühle, die beide jetzt zum Frühling Leute brauchen. Jons wählt die Sägemühle, weil er hoffen kann, dort am ehesten Gelegenheit zu billigem oder – wenn das Glück es will – auch kostenlosem Holzerwerb zu finden.

Sie gehen also den langen Weg nach Heydekrug zurück, – und siehe da! kaum nachgefragt, da hat er auch schon die Zusage in der Tasche, daß er am nächsten Morgen antreten kann.

Zwei Mark pro Tag – so viel hat er in seinem ganzen Leben noch nicht verdient.

Als die Dunkelheit gekommen ist, überlegen sie sich, daß noch nie ein Tag da war, der sie ein so großes Stück im Leben weiterführte. Aber er hat sie auch sehr hungrig gemacht. Und da sie beileibe kein Geld ausgeben wollen und zum Betteln zu jung und zu anständig aussehen, so scharren sie sich auf dem Weg nach dem neuen Zuhause ein paar Saatkartoffeln aus einer Miete, was gewiß eine große Sünde ist, aber der Besitzer hat noch genug, und so geschieht niemandem ein Schaden.

Die Taschen voll kommen sie heim, und als sie beim Abkochen ein andächtiges Abendlied singen, schenkt ihnen der fromme Wirt sogar noch ein Stückchen Speck dazu.

[] 3

Der Entwässerungsgraben ist das erste. Ohne den geht nichts.

Erdme hat ihn fast allein gezogen. Denn wenn Jons auch um drei aufsteht, um fünf muß er ja auf dem Weg zur Sägemühle sein, und abends ist sein Helfen auch nicht viel wert. Dann hängen ihm die Arme immer wie Säcke am Leibe.

Aber Erdme – die schafft es. Sie steht bis zu den Knien im eiskalten Wasser und sticht und gräbt und gräbt und sticht – quer durch das widerspenstige Wurzelwerk, das manchmal durch keine Menschenkraft bezwingbar scheint.

Der fromme Taruttis – so heißt der Wirt – sieht von weitem ihr maßloses Mühen, und da sein mitleidiges Gemüt es ihm befiehlt, so läßt er oft die eigene Arbeit im Stich und kommt, ihr über die schwersten Stellen hinwegzuhelfen.

Dafür aber sieht sich Jons zu seinem bitteren Ärger genötigt, die kostbaren Freistunden des Sonntags mit Singen und Beten zu verschwenden. Frommsein ist gewiß eine schöne und notwendige Sache, aber man muß Zeit dazu haben. Sonst wird es zur Landplag'.

Die Arbeitsgelegenheit in der Sägemühle hat sich übrigens als ein Glücksfall erwiesen. Denn aus den Gesprächen mit den Fuhrleuten kann man auf unauffällige Weise tagtäglich erfahren, in welchem Walde und an welcher Stelle geeignetes Holz zu nächtlicher Abholung bereit liegt.

Aber Jons ist nicht der Mann dazu, sich mit gebundenen Händen irgend einem Aufseher auszuliefern, dem es beliebt, ihn anzuhalten.

Die erste der kräftigen vier Kieferstangen, die als Eckpfeiler eines zu erbauenden Hauses nun einmal unentbehrlich sind, kauft er sich für blankes Geld von einem Besitzer, der wegen leidiger Hypothekenzinsen ein schönes Eckchen seines Waldes niederlegt. Dabei bekommt er [] einen regelrechten Kaufschein, den er fortan als Schirm und Schutz in seiner Tasche mit sich führt. Und als er mit Erdme in der übernächsten Nacht einen zweiten Stamm nach Hause bringt, der nicht ganz so rechtsgültig erworben ist, da kann er sich des guten Gewissens erfreuen, den solch ein Stückchen Papier seinem Träger verleiht.

Den Handwagen borgt der fromme Taruttis, der natürlich nichts Böses ahnt, und legt sogar noch einen goldumränderten Spruch hinein. Ob der nun hilft oder was anderes, kurz, auch der dritte Stamm gelangt unangehalten nach Hause. Als aber der vierte an der Reihe ist, da kommt als ein unaufschiebbares Hindernis die Hochzeit dazwischen.

Die muß wegen der Wirtsleute in strengster Heimlichkeit vollzogen werden und kostet beim Standesamt allein zwei Funfzigpfennigstücke für die fremden Zeugen, die sich Jons von der Landstraße mitgebracht hat. Ein Glück ist, daß die sich bereit erklären, auch bei der Trauung am nächsten Sonntag das Zeugenamt zu versehen, vorausgesetzt, daß sie hernach drei süße Schnäpse bekommen.

Der Moorvogt verhält sich nicht im mindesten feierlich, er hat nicht einmal die Lichter angesteckt, so gering achtet er sie. Zum Schlusse reicht er ihnen die Hand und sagt: »Von nun an könnt ihr in Ehren beieinander wohnen.«

Als ob das ohne den Pfarrer so ginge!

Der fromme Taruttis ist zwar wenig erfreut, als er am Sonntag das junge Paar im besten Staate zur Kirche gehen sieht, denn ihm erscheint die Kanzelpredigt nur als ein heidnischer Tand; aber da sie schon halbwegs zu den Erleuchteten gehören, so hofft er, sie durch inbrünstiges Gebet bald ganz und gar bekehrt zu haben, und trägt es ihnen weiter nicht nach.

Heimlich pflücken sie sich im Garten ein paar jungsprossende Rautenblättchen, die sie als Merkmal ihrer Brautschaft nicht entbehren wollen, und treten dann den langen Weg zum Gotteshause an.

Die beiden Zeugen sind richtig zur Stelle, sie aber schämen sich, auf einer der vordersten Bänke Platz zu [] nehmen, wo immer die Hochzeitsleute sitzen, und verkriechen sich hinter einem der rückwärtigen Pfeiler. Nicht einmal die Rautensträußchen legen sie an, sondern bekneifen sie mit den heißen Fingern.

Der Gottesdienst ist zu Ende. Aber jetzt kommt erst eine große Hochzeitsgesellschaft, die mit ihren blumengeschmückten Wagen den halben Vorplatz erfüllt hat. Bebänderte Ordner laufen umher, und die Brautführer umgeben wie eine Königsgarde den Marschall.

Die beiden aber sitzen geduckt im Winkelchen, und ihre Zeugen riechen nach Mist.

Als der letzte von der großen Hochzeit den Kirchenraum verlassen hat, fassen sie sich ein Herz und schieben sich bis nach dem Mittelgang.

Der Pfarrer – ein junger Mann, mit einem Traumdeutergesicht – blickt ihnen freundlich entgegen, und da sie wegen ihrer Armut nicht vor den Altar zu treten wagen, öffnet er die rotgepolsterten Schranken und schreitet auf sie zu, um sie an seinen eigenen Händen dorthin zu führen.

Er spricht auch nicht bloß die Worte, die im Buche stehen, sondern hält ihnen eine genau so schöne Rede, als ob sie vorher dafür bezahlt hätten.

Er preist sie glücklich, daß sie, erfüllt von Jugendkraft und Hoffnung, die gemeinsame Reise durchs Leben anzutreten entschlossen sind, malt ihnen aus, was sie alles erreichen können, wenn sie fleißig und beharrlich an ihrem Glücke arbeiten und vor allem – vor allem, vor allem! – den schmalen Weg der Redlichkeit niemals verlassen wollen.

Jons und Erdme weinen sehr, und jeder von ihnen schwört sich zu, die Ermahnungen des Pfarrers nicht zu vergessen.

Als aber die Zeugen ihre drei Schnäpse erhalten haben und es dunkel zu werden beginnt, da müssen sie doch daran gehen, den vierten der Stämme aus dem Walde zu holen, denn jeder Tag Aufschub kann von Nachteil sein.

Sie suchen sich den Handwagen, den sie schon gestern in sicherem Gewahrsam untergestellt haben, und anstatt [] wie andere bei fröhlichem Tanz und Gelage das neue Leben einzuweihen, ziehen sie beschämt und beklommen auf Raub aus.

»Wenn man so arm ist wie wir, dann kann das unmöglich eine Sünde sein,« tröstet die Erdme sich und ihn.

»Eine Sünde ist es schon,« antwortet der Jons, »das hat ja noch heute der Pfarrer gesagt. Aber wenn wir es nicht mehr nötig haben, dann wollen wir alles wieder gut machen, worin wir uns jetzt vergehen müssen.«

Und das geloben sie einander, während sie im Chausseegraben die Nachtstille abwarten.

Und noch manches geloben sie. Keinen Hader wollen sie aufkommen lassen und keine giftigen Worte in den Mund nehmen und in allem den Kindern ein gutes Beispiel geben.

»Ja, unsere Kinder sollen es einmal gut haben,« meint der Jons.

Und die Erdme gerät ins Schwärmen: »Wenn ich Töchter kriege, dann sollen sie in Samt und Seide gehen – und ihre Hochzeiten sollen acht Tage dauern – und der Bräutigamsvater soll nichts Geringeres sein als ein Gendarm.«

Doch der Gedanke an den Gendarmen ist ihnen unbehaglich, darum spinnen sie ihn nicht weiter, sondern eilen, im Dunkel des Matzicker Waldes zu verschwinden, wo der vierte Pfosten ihres künftigen Glückes als frischgefällte Kiefer mattschimmernd am Boden liegt.

4

Hausbauen! Leicht gesagt, wenn man für den Winter noch nichts zu essen hat! Die Tage werden heiß. Erst muß die Kartoffelaussaat geschafft sein.

Jons berechnet die Bodenfläche, die im ersten Frühjahr allenfalls in Arbeit genommen werden kann, Erdme leiht sich eine Moorhacke aus, und nachdem die Quergräben gezogen sind, die die weitere Trockenlegung verlangt, kann das Urbarmachen beginnen.

[] Ein Freitagmorgen ist es zu Ende Mai – wenn man das Morgen nennen kann, denn noch stehen die Sterne am Himmel –, da schultern sie Hacke und Spaten und ziehen hinaus auf das kahle Moor, dorthin, wo die vier Kiefernstangen lang ausgestreckt für ihr künftiges Amt auf Vorrat schlafen.

Rohrhalme, gestern noch eingesteckt, bezeichnen die Grenzen des Ackers, der nun werden soll.

Den beiden ist bang und feierlich zumut. Gemeinsam zu beten getrauen sie sich nicht, weil sie ein schlechtes Gewissen haben, und darum spricht jeder von ihnen sein Vaterunser ganz im geheimen, als ob er Wunder was Unrechtes täte.

Und dann geht es los.

Die oberste Schicht des Moores, die aus lebendigen Pflanzenstoffen besteht, muß zerkleinert und heruntergeschält werden – »abplacken« nennt man es –, weil der drunter liegende Boden erst dann, wenn sie mit ihm gemischt ist, die natürliche Fruchtbarkeit erhält, die eine Aussicht auf künftige – wenn auch spärliche – Ernten eröffnet.

Die paar Stunden der Frühe vergehen im Fluge. Dann muß er ja weg, um mit dem Taglohn Bargeld nach Hause zu bringen. Denn wo soll der Stoff zum Hausbau sonst herkommen?

Es ist gar nicht auszudenken, was alles fehlt. Zuerst die Latten oder Schwarten, mittels deren die Eckpfeiler verbunden werden, damit so das Viereck entsteht, das den Grundriß des Hauses bilden soll. Dann die Sparrbalken – die Sparren selbst – die Ziegel für die Feuerstätte und so noch vieles, was nur zum Teil gemaust werden kann.

Ein jeder sorgt auf seine Art, und keiner will hinter dem andern zurückstehn. Von einem, dessen Tagwerk um drei Uhr früh beginnt und um acht Uhr abends endet, kann niemand auf Erden sagen, er habe es sich zu knapp bemessen.

So kommt der Acker rasch voran.

[] Eines Vormittags, als Erdme sich aufrichtet, um sich den rieselnden Schweiß aus den Augen zu wischen, sieht sie den Moorvogt hinter sich stehen.

Sie erschrickt sehr, denn die zwölf Mark Pacht, die für das erste Jahr gezahlt werden sollen – später wer den es dreißig –, sind noch nicht abgeliefert.

Er sagt: »Es ist spät im Jahr. Werdet ihr mit der Aussaat zurechtkommen?«

Und sie antwortet: »Wie Gott will.«

»Gott will, wie der Mensch will,« sagt er. »Wenn er erst weiß, daß ihr tüchtig seid, wird er euch nichts in den Weg legen.«

Dann prüft er die vier Kiefernstämme, die, schon geschält, wie Silber in der Sonne funkeln.

»Schöne Stangen habt ihr da,« sagt er und sieht Erdme dabei mit schiefem Munde halb von der Seite an, als sei ihm nicht einer ihrer nächtlichen Gänge verborgen geblieben.

In ihrer Verlegenheit streicht sie sich mit den Sohlen den schwarzen Schlamm von den Beinen, denn sie wartet, daß er nun nach dem Ursprung fragen werde; aber die Frage bleibt aus.

Auch ein Haufen Schwarten liegt schon da, die Jons sich für billiges Geld unter den Abfällen des Holzplatzes hat aussuchen dürfen.

Der Moorvogt betrachtet sie einzeln, und die untauglichen zeichnet er mit der Spitze seines Hakenstocks.

»Denen sieht man es an, daß sie redlich erworben sind,« sagt er und wendet sich ohne Gruß wieder dem Wege zu.

»Da geht er hin wie der liebe Gott,« denkt Erdme und ist sehr froh, mit heiler Haut davongekommen zu sein. Vieles an ihm begreift sie nicht, aber beim lieben Gott geht es einem ja ebenso. –

Auf dem Wochenmarkt hat Jons drei Scheffel Saatkartoffeln gekauft, glasblank und dünnschalig, wie sie für den Moorboden gut sind. Die werden in Hälften geschnitten und in die flachen Rücke gleichsam obenauf gelegt, [] denn nicht weit darunter sitzt immer noch das quatschende Wasser.

»Auch die sind redlich erworben,« sagt Erdme mit Stolz. Und darum brauchen sie sich nicht zu schämen, über der frischen Saat ein Bittgebet zu tun.

Aber noch muß viel zusammengegrapscht werden!

Denn die Hölzer, aus denen man die Sparrbalken zurechthackt, mit blankem Gelde zu bezahlen, während sie freundlich in den Wäldern herumliegen, wäre ein Wahnsinn gewesen. Aber vorsichtig muß man schon sein, darum wird Jons auch diesmal die erste Ladung nach allen Regeln käuflich erstehen und ärgert sich bloß, daß er den Schein dafür nicht gleich vor den Mützenschirm stecken kann. Jetzt und auch bei den nächsten Fahrten hernach, wenn alles an Ort und Stelle ist, fragt niemand mehr. Höchstens der Moorvogt hätte ein Recht dazu, aber der fragt ja nicht, wie man weiß.

Eine Nacht um die andere ziehen sie los, denn ab und zu schlafen muß doch der Mensch.

Der fromme Taruttis ahnt immer noch nichts. Ihm hat der Kaufschein die Augen verblendet. Nur daß sie sich die nötige Zeit zum Beten nicht nehmen, quält sein mildes Gemüt, und darum betet er fleißig für sie, während sie auf seinem Handwagen das gestohlene Gut mit Hupp und Hopp nach Hause fahren.

Und die Taruttene, die unzufrieden ist, wenn sie ihn nicht übertrumpfen kann, steht sogar im Finstern schon auf, um ihnen was Warmes bereitzuhalten.

So nehmen die Dinge ihren guten Verlauf, und die Baukasse wird kaum einmal magerer.

Endlich ist auch der Tag nahe, an dem die Aufrichtung des Hauses vonstatten gehen kann. Hierzu genügen die Kräfte zweier Menschen nun freilich nicht, und darum entschließt sich Erdme auf des Taruttis Rat, bei den Nachbarn herumzugehen und sich eine Talka zusammenzubitten.

»Talka« heißt auf deutsch »Arbeitsgesellschaft«, und auf solchen gemeinsamen Hilfeleistungen beruht vieles, was unter diesen armen Menschen, die gemietete Hände [] niemals bezahlen könnten, an Tüchtigem zustandekommt. Dafür erweist man sich dann später dankbar, wenn der Ruf an einen selber ergeht, und alles schließt mit einer fröhlichen Bewirtung, so viel oder so wenig der Bittende zu geben vermag.

Taruttis bezeichnet der Erdme mit der Hand die Häuser, in denen sie vorsprechen kann, und die, an denen sie vorbeigehen muß. Dort wohnt einer, der hilft nicht, aber dort wohnt einer, der hilft, weil man ihm selber geholfen hat.

Zu dem, der wohl hundert Schritt weit auf der anderen Seite des Weges sein kleines Anwesen hat, geht Erdme zuerst.

Er heißt Witkuhn, stammt aus dem Goldapschen und ist weit in der Welt herumgewesen. Sogar die Moorwirtschaft im Westen soll ihm bekannt sein, so daß er schon manchem der Langeingesessenen einen guten Ratschlag hat geben können.

Erdme findet einen blonden, scheuen Mann zu Mitte der Dreißig, der die Gewohnheit hat, beim Reden irgendwohin ins Leere zu blicken, und dabei zittert ihm immer der Unterkiefer. Wie er die Erdme daherkommen sieht, die frisch von der Arbeit weg, mit hochgebundenem Rock und aufgeschlagenen Ärmeln, über die Äcker schreitet, macht er große Augen vor ihrer Glieder Pracht, um dann erst – gleichsam erschrocken – den Blick von ihr wegzuwenden.

Er spricht ein richtiges, aber fremdklingendes Litauisch, etwa wie die Pfarrer sprechen, die es erst später gelernt haben, und sieht überhaupt aus wie ein verkappter Deutscher. Aber er ist gut und höflich zu ihr – nur, daß er sie nicht ansehen kann.

Seine Frau kommt später zum Vorschein. – Eine Halblitauerin ist auch sie, klein und kümmerlich – ach Gott, wie sehr! –, mit grauer Gesichtsfarbe und abgemüdeten Augen. Sie wirft einen neidischen Blick auf Erdmes kräftige Gestalt, begrüßt sie dann aber ganz freundlich.

[] »Wenn wir nun Nachbarn werden,« sagt sie, »möge Gott geben, daß Frieden zwischen uns bleibt.« Und dabei sieht sie nicht Erdme, sondern ihren Mann an, der auch vor ihr den Blick zur Seite wendet.

»An uns soll es wahrhaftig nicht liegen,« sagt Erdme und verabschiedet sich. Sie fühlt sich zu den Leuten hingezogen, obgleich, wie man ja sehen kann, das Unglück im Hause sitzt.

Ein anderer, an den sie durch Taruttis gewiesen ist, hat sein Eigentum dicht neben dem kleinen Moorwalde, der auf einer Sandnase sitzt und so niedrig ist, daß man bloß auf eine Fußbank zu steigen braucht, um darüber hinwegzublicken. Diese Wirtschaft sieht schon etwas vorgeschrittener aus. Ein Stall ist da, und an den grünen Simsenbüscheln rupfen zwei magere Kühe.

Der Besitzer heißt Smailus und hat vor kurzem schon die zweite Frau begraben. Er ist ein großer, starker Mann, dem die Tür bis an die Schultern reicht, mit einem kühnen Polengesicht und langhängendem Hetmansschnurrbart, aber seine Augen haben einen stumpfen und schläfrigen Blick, als ob die ganze Welt ihn nichts anginge.

Um so luchterner kuckt das Marjellchen ins Leben, das sich dicht hinter ihm aus dem Hause drängt. Etwa zwölf Jahr kann sie sein, höchstens dreizehn, geht barfuß und ziemlich zerlumpt, aber unter dem Halse hat sie eine goldene Brosche sitzen. Sie mischt sich auch gleich ins Gespräch und sagt, sie sei zwar nur die Tochter von einem ganz kleinen Besitzer, aber eine Besitzerstochter sei sie immerhin, und was sie tun könne, um Frischzugezogenen das Leben zu erleichtern, das solle gewiß geschehen.

Erdme sieht ganz verblüfft auf das kleine Ding, das mit dem Maulwerk vorneweg ist wie eine Alte. Aber der Vater tut, als ob das nicht anders sein kann, und sagt bloß: »Ja, ja, das Bauen und das Begraben muß man schon immer gemeinsam verrichten.«

»In dem Begraben hat er wohl Übung,« denkt die Erdme, sich bedankend, und die Kleine begleitet sie noch ein Stück und schwatzt unaufhörlich.

[] Sie wird nun bald eingesegnet sein, sagt sie, und dann wird sie in die Stadt gehen und ihr Glück machen als Kellnerin oder als Ladenfräulein, wie es in der Kolonie schon viele getan haben. Vorerst aber muß sie dem Vater noch eine Frau besorgen. So eine schöne und starke wie Erdme wäre ihr schon recht – aber Geld muß sie haben –; die zweite, von der sie die Brosche trägt, hat auch Geld gehabt – bloß nicht genug –, und ob Erdme nicht eine weiß, damit sie selber bald auf die Reise kann.

Erdme weiß zwar keine, aber die Rede der Kleinen schlägt ihr aufs Herz wie ein starker Wein. Alles, was ihr einst als Ziel des eigenen Lebens vorgeschwebt hat, steckt ja darin. Doch ihr Schicksal liegt nun bereits so steinern fest, daß keiner auf der Welt mehr daran rühren kann. Wie eingesunken in diesen Moorschlamm liegt es, der keinen Grund und Boden hat und nichts mehr hergibt, was er einmal mit seinen Wurzelfäden umwindet.

Die Kleine heißt Ulele. »Das ist ein altertümlicher Name,« sagt sie, »den ich natürlich nicht beibehalten werde, wenn meine Zeit gekommen sein wird.«

Damit verabschiedet sie sich, und Erdme sieht ihr traurig und bewundernd nach, wie sie mit ihren nackten, dünnen Beinchen über das Erdreich flitzt, als ob sie es gar nicht berühre. Und die Lumpen flattern an ihr wie zwei Fledermausflügel.

»Für mich ist es nun schon zu spät,« denkt Erdme. »Ich muß warten, bis ich Töchter kriege.« – – –

Weiter links liegt ein Anwesen, das, wenn es auch schon älter scheint, doch noch zur Nachbarschaft gehört. Es macht aus der Ferne gesehen einen recht kläglichen Eindruck, und gerade darum möchte Erdme es kennen lernen, denn sie will wissen, wie man sich hier behelfen muß, wenn man ganz arm bleibt. Gleichsam als abschreckendes Beispiel will sie es kennen lernen.

Aber der fromme Taruttis hat daran vorbei gezeigt, und als sie ihn am Mittag noch einmal fragt, da wendet er sich ab und macht sich mit dem Sensenschärfer zu schaffen, obwohl es hier nichts zu mähen gibt.

[] So fragt sie also zum drittenmal. Da sagt er: »Über meine Nächsten rede ich nichts Böses, und wenn ich Böses reden müßte, so schweige ich lieber.«

Sie nimmt sich vor, die Ulele zu fragen, aber als sie gegen den Abend desselben Tages wieder in den Kartoffeln kniet, wird sie vom Wege aus angerufen.

Sie sieht einen kleinen, alten Mann im Graben sitzen, der einen Arm voll Weidenruten neben sich liegen hat und einer gerade mit dem Taschenmesser die Haut abzieht.

»Was willst du von mir?« fragt sie, ohne sich stören zu lassen.

»Du bittest dir wohl heut eine Talka zusammen?« ruft er herüber.

»Das kann schon sein,« sagt sie. »Arme zum Helfen kann man immer brauchen.«

»Zwei Arme hab' ich auch,« sagt er.

»Gehörst du zur Nachbarschaft?« fragt sie.

»Ich gehöre so sehr zur Nachbarschaft,« sagt er, »daß du heute schon zweimal an meinem Haus vorbeigegangen bist.«

Und er weist mit seinem Messer gerade auf das Anwesen hin, von dem der Taruttis durchaus nicht reden will.

Da legt sie neugierig das Schleifbrett nieder, mit dem sie die Rücke glättet, und tritt näher auf ihn zu. Und was sie da sieht, ist aus zusammengebettelten Kleidern sich streckend ein zahnloses, plieräugiges Greisengesicht, dem die Brauen sowie die Wimpern fehlen und in dessen Furchen und Gruben eine Art von rotrandigem Aussatz klebt.

Man kann sich schütteln vor ihm, so sieht er aus.

Sie fragt: »Wer bist du denn?«

»Ich bin ein verdienter Mann,« sagt er und fährt fort, seine Ruten zu schälen. »Durch fünfunddreihig Jahre bin ich für den Staat tätig gewesen, und nun prozessiere ich mit ihm, da er mir keine Altersversorgung zahlen will. Andere mästen ihre Ferkel, ich aber muß Ruten flechten, weil meine Leistungen nicht anerkannt werden, die ich ganz ohne Lohn vollbracht habe ... Übrigens bin ich [] noch stark bei Kräften, und wenn du mich mit zu der Gesellschaft bitten willst, so werde ich dir die Balken heben wie ein Spielzeug.«

Schon will die Erdme Ja sagen, da besinnt sie sich auf die abweisenden Worte des milden Taruttis, wie auch auf den eigenen Abscheu, der sie beim Näherkommen befallen hat, und darum antwortet sie: »Ich danke dir, Nachbar, für guten Willen, aber unsere Gesellschaft hat schon ihre volle Zahl.«

Da kriegt ihn die Wut zu packen; er springt vom Grabenrand auf und speit ihr seine wilde Bosheit sozusagen ins Gesicht.

»Also auch du willst mich nicht, du Giftschnauze?« schreit er. »Haben die Ohrenbläser dir schon den Kopf mit Ekel gefüllt? ... Keiner will mich! Keiner will das Grauen des Scheuchhauses von mir nehmen! Aber ich werd' es euch antun! Wenn das Unglück kommen wird, die große Not, die Wassersnot, daß eure Häuser zerfließen werden zu Brei und euer Herd sinken wird in den Abgrund, wenn ihr eingeklemmt sitzen werdet im Schornstein und schreien um Gnade, dann werde ich lachend anspannen lassen die Arche Noah und vorüberfahren und lachen über das Todesquieken eurer Schweine und das Todesgebrüll eurer Kuh – am meisten aber werde ich lachen über euch selber, wenn der Schornstein zusammenfällt und das schwimmende Eis euch die Gurgel zerschneidet. So soll es sein. Amen.«

Damit nimmt er sein Bündel Weidenruten auf, zieht die zerlumpten Beinlinge über den Hintern und geht seines Weges, aber immer noch kehrt er sich um und schüttelt die Faust und speilt die roten Gaumen.

Der Erdme ist zumut, als wäre ein Klumpen von dem höllischen Feuer auf sie niedergefallen. Wenn das das Ende sein soll, warum bauen sie dann erst? Und warum haben die anderen gebaut? Doch deren Häuser stehen ja noch weit und breit, und die Fenster karfunkeln in der Abendsonne. Es ist also wohl der böse Feind selber gewesen, der ihr das Herz hat abschnüren wollen.

[] Aber sie bleibt still und bedrückt, auch als Jons von der Arbeit kommt und ihr mit Stolz zeigt, was er alles mitgebracht hat.

Zuerst sind da soundsoviel Pakete mit vierzölligen Drahtnägeln, denn ohne die geht's nicht. Dann aber zur Bewirtung zwei Flaschen Kornschnaps aus der Schmidtschen Destillation und alle die Zutaten zu einem süßen Fladen, der heute noch gebacken werden muß.

Die Taruttene liefert das Mehl und viele erbauliche Sprüche dazu, und als die Hähne krähen, bringt Erdme ihrem Mann das erste dampfende Abbruchsel auf den Bauplatz hinaus, wo er die Nacht über Balken behauen hat wie ein gelernter Zimmermann.

Aber von dem bösen alten Mann sagt sie ihm nichts.

5

Und nun ist es wieder Nacht geworden, und das Haus steht gerichtet. Die vier Kiefernstämme sind in den Boden hineingeschlagen, so tief, daß rund um sie das Wasser in schwarzem Gestrudel hochschoß wie ein Quell, und sind dann durch die aufgenagelten Latten verbunden. Oben darauf haben sich Sparren und Sparrbalken zum Dachgerüst zusammengefügt, und die künftige Zimmerdecke ist genagelt.

Ringsum aber liegen wie Rasenbänke die viereckigen Stücke der obersten Moorschicht, die für den Hofplatz nicht nötig ist, um so nötiger aber, um später von außen her an die Latten geklatscht zu werden und so eine mauerähnliche Wand zu bilden, die für den Winter Abhalt und Wärme gibt.

Darauf sitzt nun die ganze Arbeitsgesellschaft und ruht sich aus. Der fromme Taruttis natürlich und die noch frömmere Frau, Witkuhn, der halbdeutsche Fremdling, und der lange Smailus mit seiner kleinen Ulele, die ihm meistens das Wort aus dem Munde nimmt. Vorhin aber hat sie wie ein Vogel hoch auf den Sparren gesessen, [] und wo keiner die Schlinge befestigen konnte zum hochziehen, da war sie schon oben. Und niemand hat sie viel klettern gesehen. Fixes Ding!

Müde sind sie und warten voll Freuden des kleinen Festes, das der Besitzer ihnen zu bieten hat. Jedem liegt ein Fladenstück auf dem Schoße, und die spiegelnde Flasche geht manchmal reihum.

Nur die Frau des Witkuhn fehlt. »Sie ist immer elend,« sagt er, »und muß mit den Hühnern zu Bette.«

»Da werd' ich mich dir wohl bald erkenntlich zeigen können, Nachbar,« meint die Erdme. Er antwortet nichts, aber über sein abgehärmtes Gesicht geht rot eine Flamme wie von verbotener Freude.

Die Nacht ist hell, wie im frühen Juni ja immer, und zum Überfluß steht der Mond ziemlich hoch.

Taruttis schlägt vor, ein geistliches Lied zu singen, damit die bösen Geister das unfertige Bauwerk nicht umschmeißen können, und das geschieht denn auch.

Noch sind sie mitten darin, da bemerkt Erdme, daß auf dem Wege, der wohl hundert Schritte abseits liegt, eine Gestalt sich unruhig hin und her bewegt.

Und sie erschrickt sehr, denn sie erkennt den bösen alten Mann von gestern. Die Stimme zum Singen verschlägt ihr, aber sie will den heiligen Gesang nicht stören, darum wartet sie, bis sie zu Ende sind, dann weist sie mit der Hand auf den Schatten hin, der in dem ungewissen Mondlicht zu tanzen scheint.

Alle wenden die Gesichter, aber keiner spricht ein Wort. Es scheint, sie fürchten sich alle.

Selbst der Jons braucht eine ganze Weile, bis er fragt, was da los ist.

»Scht« macht die Taruttene.

Der lange Smailus grunzt etwas vom »Kipszas«, dem Satan, und seine Tochter, die Ulele, beugt sich zu Erdme hinüber und sagt leise: »Es müßte doch sonderbar zugehen, wenn er dich nicht gebeten hätte, heute zur Talka zu kommen, denn die Zugezogenen wissen ja nichts von ihm.«

[] Da erzählt Erdme ebenso leise, was ihr gestern mit ihm begegnet ist.

»So versucht er es immer aufs neue,« sagt Taruttis, »denn der Arme kann es nicht verschmerzen, daß man sich nichts mit ihm zu schaffen macht.«

Jons fragt: »Warum tut man es nicht?« Und Erdme meint, abscheulich genug sehe er ja aus, aber das könne unmöglich allein die Schuld daran tragen.

Und da erfahren sie beide seine furchtbare Geschichte. Sie ist weit furchtbarer, als Menschen sich ausdenken können.

Als ein überführter und geständiger Raubmörder hat er fast sein ganzes Leben im Zuchthaus zugebracht. Zuerst hat er einen zu Tode geschleift, mit dem er zusammen nächtlicherweile auf einem Wagen gefahren war, und zwar, indem er heimlich einen Lederriemen mit dem einen Ende um die Radfelge, mit dem anderen um dessen Arm geschlungen hatte. Dann, als er nach mehr als zwanzig Jahren freigekommen ist, hat er dasselbe Kunststück noch einmal probiert – an einem Fuhrmann, den er auf stillstehendem Wagen betrunken im Walde vorgefunden hatte. Aber diesmal ist es ihm mißglückt, denn dabei war ihm die eigene Hand ins Rad hineingeraten. Darum hat er auch den Dusel gehabt, trotz der Wiederholung solch einer Untat noch einmal herauszukommen. Und nun haust er wie ein Dachs in seiner Kate, die er sich als junger Mensch gebaut und in der Zeit nach den Strafen mit allerhand geheimnisvollen Vorrichtungen gegen die Überschwemmung versehen hat. Worin sie bestehen, weiß keiner, denn niemals geht einer zu ihm hinein; von außen aber liegt an der Wand eine schräg dagegen geschaufelte Mistschicht, die bis zum Fenster hinauf alles verbirgt.

Die Erdme fürchtet sich nicht so leicht, und doch läuft es ihr einmal nach dem anderen kalt über den Leib. Und während der alte Raubmörder in seiner Sehnsucht nach Menschen dort auf dem Wege herumtanzt, erzählt sie so leise wie die anderen, mit was für fürchterlichen Worten er ihr die künftige Wassersnot ausgemalt hat.

[] Jons horcht hoch auf und tut dann dieselbe Frage, die ihr seit gestern wie ein Mühlrad im Kopfe herumgeht? »Wenn die wirklich einmal kommen wird, warum bauen wir uns erst hier an?«

Da nimmt der Witkuhn, der doch von weit her ist, das Wort und sagt beinahe feierlich: »Wir bauen uns hier an, weil wir arme Leute sind und eine Zuflucht nötig haben. Wo anders gibt man uns keine, sondern hetzt uns herum.«

Und dann erzählt er, wie schon zweimal das Hochwasser unermeßlichen Schaden verursacht hat und daß es für die Zukunft immer häufiger zu befürchten ist; denn das sei eben das Schlimme: durch die Urbarmachung sterbe das Torfmoos ab, und dann senke sich das Erdreich von Jahr zu Jahr. So werde der Segen der Arbeit selber zu einer Gefahr, die mit Vernichtung bedrohe, was im Schweiße seines Angesichts ein jeder sich geschaffen hat. »Aber darum arbeiten wir doch ruhig weiter,« sagt er zum Schluß und zieht den Rock enger, wie einer, der sich endlich geborgen fühlt, »denn wir lieben dieses Stückchen Erde, das für die anderen zu schlecht ist und wo uns darum keiner verfolgt. Und wir lieben auch die, die das gleiche mit uns tun und erdulden.«

»Und wir lieben auch den lieben Gott,« sagt der fromme Taruttis, »der Gutes und Böses über uns verhängt und nach dessen Ratschluß der Mensch sogar ein Mörder wird.«

Alle sehen erschrocken nach dem Wege hin, denn er hat lauter gesprochen als die anderen, aber da ist das graue Gespenst schon fort.

6

Wie macht man einen Herd? Wie baut man einen Ofen? Der Boden trägt ja nichts. Willst du ihm was Schweres anvertrauen, so gibt er nach und schluckt es langsam unter.

Aber der Witkuhn weiß Rat. Er kennt alle Nücken und Tücken des Moores. Und er ist immer da, wenn man [] ihn brauchen kann. Aber nicht etwa von selber kommt er. Wie ein furchtsamer Hund schleicht er sich um die Baustatt herum und wartet, daß man ihn herruft. Und ruft man ihn nicht, so geht er von dannen.

Wenn er auch ganz verdeutscht ist, wie einer von den Deutschen benimmt er sich nicht, die immer eine große Schnauze haben und die Litauer als Vieh ansehen. Und er verkehrt auch nicht mit ihnen, soviel ihrer auch auf der Kolonie herumwohnen, denn die nimmt jeden auf, dem eine Heimat fehlt.

Seine Frau ist wirklich ein Kummergewächs. Schleppt sich 'rum und tut ihre Arbeit mit Wehklag'. Wenn die flinke Ulele nicht hülfe, wäre das nötigste oft nicht getan.

Und nun ist ja auch die Erdme da. Die knapst sich manche Viertelstunde ab, um für sie Hausarbeit zu tun, während der Mann draußen auf dem Felde ist.

»Wenn mein Kindchen noch lebte,« sagte sie, »dann könnte es mir schon in manchem behilflich sein.«

Aber das war ja schon in der Geburt gestorben und hatte dabei der Mutter den Leib zerrissen, so daß er nie mehr ganz heil ward.

Und nun kann sie ihrem Mann keine Frau mehr sein und ihrem Haus keine Wirtin.

Und dann ist noch das Unglück da, von dem sie nicht spricht und er nicht spricht und das man doch gleichsam riecht, wenn man dem Hof nur in die Nähe kommt.

»Ja also,« sagt der Witkuhn eines Tages, »den Herd baut man so: Man kauft sich« – er sagt »kauft«, »holen« sagt er nicht – »man kauft sich den Wurzelstubben von einer Tanne. Eine Kiefer darf es nicht sein, denn deren Wurzel ist geformt wie ein spitzer Pfahl und sinkt unter, als wäre er nicht gewesen. Eine Tanne muß es sein – deren Wurzel hat Querläufer nach allen Seiten – die legen sich wie Riegel vor, wenn der Stubben einsinken will. So trägt er vielleicht den Herd, und ein anderer trägt auch den Ofen.«

Der Jons streift also nachts durch die Wälder und[] sucht die Stellen, wo Tannen gerodet werden. Solche Stellen sind selten, denn die Tanne ist ein kostbarer Baum, nicht so gemein wie die Kiefer.

Er sucht, und er findet. Und wieder leiht der Taruttis den Handwagen, und beide ziehen aus bis nach dem Norkaiter Forst, wohl zwei Meilen weit. Der preußische Staat ist reich. Ob der einen Stubben mehr oder weniger hat, was macht ihm das? Und auch den zweiten kann er noch leidlich entbehren.

Aber noch mehrere müssen daran glauben, denn die Schlammschicht ist tief. Einer muß über den anderen gelegt werden, und dann erst hält der Grund so fest, daß man mit Ziegeln und Lehm darauf arbeiten kann.

Aber die Ziegel kann man leider nicht »holen«, denn der Herr Ökonomierat, dem der große Ringofen gehört, hält sich einen Wächter und hält sich auch Hunde. Ja, der kennt seine Leute.

Vielleicht versucht man es also mit Betteln. Denn weit und breit weiß jeder, welch ein guter und wohlmeinender Herr der Herr Ökonomierat ist.

Mit Zittern und Zagen stehen sie vor ihm in dem großen Saal, der mit Bücherregalen gefüllt ist von einem Ende bis zum anderen. Man kann sich nicht vorstellen, daß es so viele Bücher gibt auf der Welt. Aber es ist kein »Bagoszius« – kein Geldprotz –, der zu ihnen spricht, sondern er ist freundlich und leutselig und wischt sich mit der Zunge über die Zähne und schmunzelt sie an. Aber seinen Augen ist nicht zu trauen. Die sehen einen durch und durch.

»Schenken werd' ich euch die Ziegel nicht,« sagt er, als sie ihre Bitte vorgebracht haben, »denn wer sich Häuser baut, der ist kein Pracher. Aber verkaufen werd' ich sie euch.«

Sie machen lange Gesichter. Dazu hätten sie ja einfach aufs Kontor gehen können.

»Und ich werde euch auch gleich den Kaufpreis sagen.«

Der Jons hält sein Beutelchen fest und denkt: Vielleicht probiert man es doch mit dem »Holen«.

[] Sie verstehen seine Frage erst nicht, obwohl er litauisch spricht, beinahe so gut wie sie selber. Zweimal muß er sie wiederholen. Da erst lachen sie hell auf.

Ob sie singen können!

»Könnt ihr auch Märchen erzählen?«

Fünfhundert können sie erzählen. Tag und Nacht und noch einmal Tag und Nacht lang können sie erzählen.

»So viel will ich gar nicht wissen,« sagt er. »Singt mir zehn Lieder und erzählt mir zehn Märchen. Vielleicht daß ich was Fremdes darunter finde. Und dann könnt ihr euch Ziegel auf die Karre laden, soviel ihr braucht.«

Er gießt ihnen auch noch einen Schnaps ein, damit sie den nötigen Mut bekommen, und dann geht's los.

Die ersten drei kennt er, die dürfen sie gleich wieder abbrechen. Aber das vierte ist ihm neu, das schreibt er sich auf. Und von den Märchen, die die Erdme erzählt, schreibt er sich sogar zweie auf.

Dann gibt er ihnen einen Zettel für seinen Ziegelmeister, und damit haben sie sich Feuerstatt und Ofen ehrlich erworben. Der zugehörige Lehm muß ja freilich doch noch gemaust werden, aber den liefert zur Nachtzeit die Grube des Ökonomierats ohne viel Fragen, und das Strauchwerk, das als Halt in die Brandmauer gepackt werden muß, kann man sich ringsum von den Weidenbüschen schneiden.

So steigt die Mauer bald bis zur Decke.

Auf der einen Seite lehnt sich die Feuerstelle daran, auf der anderen der Ofen. Sehr schön sieht er nicht aus. Einer aus glasierten Kacheln würde sich sicher weit besser machen, und gerade steht er ja auch nicht, aber wärmen wird er vielleicht, wenn erst die Torfstücke drin prasseln.

Nun aber der Schornstein! Denn sonst erstickt man im Rauch.

Das Loch in der Zimmerdecke ist längst schon geschnitten. Wenn man nur weiter wüßte!

»Bei Schmidt auf dem Hofe«, sagt der Witkuhn, »liegt ein Haufen von rostigen Kannen. In denen ist[] früher Petroleum gewesen. Da kostet jede zehn Pfennig. Davon kauft euch ein Dutzend.«

Sie kaufen sich zehn und schmuggeln zwei noch mit durch.

Aber nun weiter!

Und der Witkuhn zeigt ihnen, wie man aus Latten eine vierseitige Röhre macht und sie mit dem Blech so dicht beschlägt, daß der Rauch durch die Ritzen nicht durchkann. Diese Röhre wird durch das Deckenloch geschoben und so hoch geführt, daß sie die Sparren noch überragt. Dann wird unten von Latten ein Mantel schräg darangenagelt, – und siehe da! der Schornstein ist fertig.

Das Anheizen will ausprobiert werden. Ach, wie qualmt das – und stinken tut es nicht weniger – vor allem nach Leim und Petroleum, aber das wird sich schon legen.

Und als der Rauch sich einige Zeit besonnen hat, findet er schließlich den richtigen Weg und entfernt sich gefälligst dorthin, wo es schnurgerade in den Himmel geht. Wenn er es im Winter ebenso macht, ist die Stubenwärme gesichert.

Vorausgesetzt natürlich, daß Hauswand und Dach das ihrige tun. Die Hauswand – das ist nun gar ein schwieriges Stück, und wäre der kluge Witkuhn nicht zur Stelle, man brächte sie niemals fertig.

Aber wie können kluge Leute so ängstlich sein? Er wartet ja bloß darauf, daß die Erdme ihn ruft. Aber bitten läßt er sich doch.

Die viereckigen Moorfladen, die man an die Bretterwand preßt, halten wohl fest, solange sie feucht sind; trocknen sie aber, so fallen sie ab, wie Sandbrocken fallen.

Da baut der Witkuhn aus dem Abfall der schlechtesten Latten noch eine zweite Wand – fünf bis sechs Zoll von der ersten entfernt. Die ist ganz lustig, nicht dichter als etwa ein Zaun. In dem Raum zwischen den beiden sackt sich die Moorschicht und kriegt Halt und lernt auf sich selber beruhen.

Nach ein paar Wochen kann man die Latten wieder entfernen. Nur zur besseren Sicherung läßt man ein[] paar zwischen Dachwand und Erde geklemmt, denn es werden die Winterstürme kommen, und der Sturzregen wird wühlen und der Rauhfrost klaffende Spalten hindurchziehen.

So warnt der kluge Witkuhn, der alles weiß und alles kennt, und sieht an Erdme vorbei, und das Kinn zittert ihm so, daß die Zähne oft klirren.

Wenn sie mit ihm allein ist – und das geschieht fast alltäglich –, dann hat sie stets ein Gefühl aus Mitleid und Neugier gemischt, zu dem noch was anderes hinzukommt, das ihr das Herz beklemmt. Es ist, als hätte sie Angst vor seiner Angst, denn Angst hat er immer, das ist ganz klar. Wenn man nur wüßte, wovor. –

Aber dem Jons sagt sie nichts. Sie will sich den guten Nachbar erhalten.

Nach der Hauswand das Dach!

»Jons, bring Rohr!« Es können auch Binsen sein – oder beides zusammen. – An Rohr und Binsen ist die Gegend wahrhaftig nicht arm, wenn auch das Moor selbst sie nicht liebt – oder sie nicht das Moor, was auf dasselbe herauskommt. Ein Strom wächst ringsum aus dem anderen, und alle sind sie mit Röhricht umstanden.

Dem Taruttis sein kleiner Handwagen hat leichte Last, wenn er hochgetürmt vom Rußufer daherkommt, und der Gendarm fragt nicht viel, denn daß man sich dergleichen nimmt, wo man es findet, versteht sich von selber.

In der Julihitze trocknet das Rohr auch leicht, so daß man bald ans Dachdecken gehen kann. Der Taruttis borgt seine Leiter, die Querstangen werden genagelt, und nun steht Erdme Tag für Tag hoch auf den Sprossen und legt ein Bündel dicht neben das andere und preßt es zusammen und besichelt die Enden. Und unten lauert die kleine Ulele und reicht ihr zu, denn eine Mannsperson kann man dazu nicht brauchen, es sei denn der eigene.

O Gott, o Gott, du glaubst es nicht! Nun sieht es schon bald aus wie ein Haus. Aber noch fehlen die Türen, die Fenster – kein Mensch kann sich ausdenken, was alles noch fehlt.

[] Doch wer den Jons etwa für dumm nimmt, der irrt sich. Eines Tages bringt er zwei Fenster an, hellblau gestrichen und sogar mit Glas drin, nur daß die Rauten gebrochen und die Rahmen angekohlt sind. Vorige Nacht hat es nämlich in Trackseden gebrannt. Darauf ist er zu dem Besitzer gegangen und hat gesagt: »Verkauf mir den Kram für zwei Stof Schnaps. Dem Versicherungsinspektor erzählst du, es ist dir beim Retten verschwunden, und dann kriegst du neues dafür.«

Dem Abgebrannten leuchtet der Vorschlag ein, er hilft sogar dem Jons in der Nacht darauf die noch stehenden Türgerüste ausbrechen und auf den Handwagen laden.

Das Schlimme ist nur, sie riechen auf zwanzig Schritt nach Feuersbrunst, und wer ihm begegnet, der lacht ihn an, denn er denkt, er habe es aus dem Brandschutt gestohlen.

So kann man selbst bei dem ehrlichsten Handel in schweren Verdacht kommen.

7

Wenn gegen Mitte August ein Fremder quer durch das Moor die Lynckerstraße heruntergeht und dann links um die Ecke biegt, so fragt er wohl seinen Begleiter: »Wer hat sich das hübsche kleine Hauschen gebaut?«

Und wenn der Ortskenntnis hat, so antwortet er: »Das ist der Losmann Jons Baltruschat, der mit seiner jungen Frau im Frühling zugezogen ist.«

Und der Fremde sagt wohl: »Das müssen fleißige Leute sein.«

Aber durch die himmelblaue Tür darf er bei Jesu Leibe nicht eintreten, denn drin sieht es fürchterlich aus. Nichts ist getan, rein gar nichts. Nicht einmal die Ritzen, die zwischen den Schwarten klaffen, und die Astaugen darin sind richtig verschmiert, und überall hängen die Fasern der Moorschicht.

Doch lange darf die Schande nicht dauern.

[] Vor allem der Fußboden! Viele wohnen ja auf dem nackten Moor, und das soll sogar trocken halten und im Winter gar nicht so kalt sein. Aber da kennt ihr die Erdme schlecht! Neuer Lehm wird im Finstern geholt und ein Estrich gewalzt, auf dem man tanzen könnte zu Fastnacht. Dann werden die Wände verklebt, und dann kommt das feinste: der Bildschmuck. Überall in den Heydekrüger Läden sind wunderschöne, bunte Bilder ausgehängt. Die preisen Zichorienpulver und Chinawein und Malzextrakt und Hühneraugenringe in der Uhr und tausend andere nützliche Sachen. Und immer kommen neue Plakate. Die alten aber, die auf dem Speicher herumliegen, die bettelt man sich zusammen. Und die jungen Gehilfen lachen und holen sie gern. Außerdem war doch – Erdme besinnt sich genau – in der Rumpelkammer der Frau Schlopsnies ein Haufen alter Blätter aufgestapelt mit Ansichten aus allen fünf Erdteilen. Der Niagarafall und die Pariser Weltausstellung und die Spitze des Monte Rosa und so noch manches andere.

»Liebe Frau Schlopsnies, gute Frau Schlopsnies, ich hab' mich so sehr nach Ihnen gebangt! Und wenn ich ein Mädchen kriege, möcht' ich's fürs Leben gern nach Ihnen benennen.«

Und dabei weiß sie gar nicht, wie die Frau Schlopsnies mit Vornamen eigentlich heißt. Aber die Blätter bekommt sie geschenkt, sogar die Kupferstiche aus einer Modenzeitung sind dabei, die Frau Schlopsnies sich einst gesammelt hat, als sie noch keine alte Schachtel war und als Kellnerin hochkommen wollte.

Die sind noch so gut wie neu. Und wenn die Erdme wirklich einmal Töchter kriegt, dann müssen sie genau so angezogen gehen wie alle diese schönen Damen, die einem das Herz vor Neid im Leibe umdrehen.

Und nun wird die Stube geschmückt! Bild neben Bild geklebt, und die buntesten kriegen die vornehmsten Plätze. Schließlich sind ihrer so viele, daß man den Niagarafall wegschmeißen muß, und die Spitze des Monte Rosa schon deshalb, weil es da oben so kalt ist.

[] So schön wie bei den Baltruschats ist es wohl nirgends. Der Taruttis hat ja auch Bilder geklebt, aber die sind bloß griesgrau und stammen aus Kindergeschichten und heiligen Büchern. Und bei Witkuhn hängt nur das Kaiserpaar mit dem Bismarck darunter, genau wie im Zimmer des Moorvogts.

Dem Witkuhn hat sie noch nichts gezeigt. Die Tage werden kürzer, und darum getraut sie sich nicht, ihn zum Helfen zu holen. Aber wie die Zimmerdecke gedichtet werden muß, da braucht sie ihn doch. Denn wenn der Jons heimkommt, dann ist es schon immer fast dunkel.

Erst will er gar nicht hereinkommen – gewiß hat er wieder mal Angst –, aber als er die Farbenpracht sieht, da geht doch ein Lächeln – ein Lächeln der Freude natürlich, daß es so schön ist – über sein stilles Gesicht.

Und der Erdme wird das Herz voll von Dankbarkeit.

»Ohne dich, Nachbar,« sagt sie, »hätten wir's nie so weit gebracht.« Und sie legt ihm die Hände auf beide Schultern.

Da plötzlich klappt er vor ihr zusammen wie ein Taschenmesser, sinkt auf den Bock, wo der Kleistertopf steht, schlägt die Hände vors Gesicht und weint.

»Was ist? Was ist?« fragt sie erschrocken.

Und weil sie ihn trösten will, beugt sie sich zu ihm nieder und streichelt ihn.

Und – was tut er? Er umschlingt ihre Hüften und küßt ihr den Rock und küßt ihr die wehrenden Hände und will sie gar zu sich niederziehen.

»Nicht doch, Nachbar,« sagt sie mit einem Blick auf den Kleistertopf, »so was mußt du nicht tun.«

Und er sagt, sie solle sich seiner erbarmen, sonst muß er ins Torfloch.

»Schade, Nachbar,« sagt sie und lacht, wie sie immer gelacht hat, wenn sie einer hat haben wollen, »schade, daß du nicht früher gekommen bist. Als Mädchen nahm ich's nicht so genau. Da hat mich bald der geliebt und bald jener. Aber jetzt, wo wir uns so quälen müssen, der Jons und ich, da würde ich mich vor ihm schämen, wenn er des [] Abends nach Haus kommt. Außerdem, wenn du's wissen willst, in anderen Umständen bin ich wohl auch.«

Da steht er langsam auf, greift nach der Wand, sich festzuhalten, und geht hinaus wie betrunken.

Dem Jons sagt sie auch hiervon nichts, denn innerlich hat sie den Nachbar gern. Und um so gerner, seit sie weiß, daß er so an ihr hängt. Und weil ihr ist, als habe sie was an ihm gutzumachen, so hält sie es mit der Frau und hilft ihr, wo sie nur irgend kann. Ihr eigenes Tagwerk kommt zwar dabei oftmals in Rückstand, aber über das Schwerste ist sie ja weg. Und die Frau kann kaum noch den Eimer tragen, wenn sie vom Melken kommt. Zur Dienstmagd aber reicht es auch dort nicht.

Und die Frau sieht sie immer mit großen, bittenden Augen an, als will sie was sagen. Aber sie sagt es nicht, soviel die Erdme auch nachhilft.

Was kann es nur sein, was sie will? Manchmal denkt die Erdme: »Jetzt weiß ich's.« Aber das geht wider Natur und Religion, und darum wirft sie es weit von sich weg.

Der Nachbar wagt sich ihr nun gar nicht mehr in die Nähe, und wenn er vom Felde kommt und hört auf dem Hof ihre Stimme, kehrt er lieber noch einmal um. Sie möchte ihm manchmal entgegengehen, aber das sähe ja aus, als ermuntere sie ihn, und darum läßt sie es lieber.

Das Haus ist nun so weit, daß es bezogen werden kann, aber alles Geräte fehlt. Nur die Bank an der Giebelwand, die in jedem litauischen Hause steht, ist gleich beim Bauen festgemacht worden.

Und der Jons kommt immer später. Er sagt, er habe Überstunden, aber das glaubt sie ihm nicht.

Der Winter steht vor der Tür, und noch ist die Bettstatt nicht da und auch kein Tisch und kein Kasten.

Sie mahnt ihn tagtäglich, er solle nun zimmern, aber er schüttelt bloß immer den Kopf.

»Mein Gott, mein Gott,« denkt sie, denn sie geht mit der Katrike – so wird es heißen, wenn es ein Mädchen ist – nun schon im vierten Monat.

[] Ein Glück ist noch, daß die Kartoffeln gedeihen. Wie andere heimlich nach einem vergrabenen Schatze sehen, ob er noch da ist, so geht sie wohl dreimal am Tage zum Acker und kuckt sich erst um, ob niemand am Weg ist, und dann kniet sie rasch nieder und scharrt an der Stelle und jener, nicht mehr, als ein Hündchen mit dem Vorderfuß klaut, – und siehe da! überall sagt ihr ein junges Knollchen: »Labsriets« und »da bin ich«. – Jetzt sind sie wie Walnüsse so groß und nach vierzehn Tagen schon, wie Katrikes künftige Fäustchen sein werden, und so wachsen sie immer noch weiter.

Aber der Jons tut, als gehe es ihn nicht das mindeste an. Für nichts hat er Sinn und Verstand, und nicht einmal den Wochenlohn liefert er ab. Er kommt und geht – das ist alles.

Da fängt sie an zu glauben, er habe sich nicht weit vom Wege was Liebes angekramt – und da sitzt er nun wohl die Abende über und wird sie zum Winter verlassen.

»Dann steck' ich das Haus in Brand,« denkt sie, »und zieh' hinüber zum Nachbar.«

Aber eines Abends so um die Michaeliszeit – da kommt nach Sonnenuntergang ein Einspänner den Weg entlang – beladen mit allerhand Zeug – man weiß nicht recht was. Und neben dem Fuhrmann sitzt einer – der hat so breite Schultern wie Jons – und sieht auch sonst aus wie Jons – und schließlich ist es auch Jons.

Und der Wagen hält vor dem Zufahrtssteg und tut, als will er aufs Moor einbiegen. Aber das trägt ja noch nicht. Das Pferd hat keine Schuhe an und würde versinken bis an den Leibgurt.

Und wie sie herzuläuft – um Gotteswillen, was sieht sie da? Hoch auf dem Wagen steht ein Schrank, schön grün gestrichen mit roten und gelben Blumchen, und eine Bettstatt ebenso grün, und ein Tisch mit kreuzweisen Füßen, und sogar – man kann es nicht fassen, ob auch das Abendrot draus in die Augen sticht wie mit feurigen Nadeln – ein Spiegel ist da! – Wahrhaftig, in goldblanker Leiste ein Spiegel!

[] Die Erdme denkt, sie muß in die Erde sinken, und das wäre auf dem Moor auch gar nicht so schwierig.

»Ist das für uns?« schreit sie ihn an.

Er lacht, wie er seit Wochen nicht mehr gelacht hat, und reicht ihr den Spiegel herunter. Sie solle ins Haus gehen, sich rasch das Haar zurechtmachen, sie sehe ja aus wie die Hexe, die Rágana selber.

Und sie kuckt in den Spiegel – der spiegelt zwar nicht – aber es ist doch ein Spiegel.

Der Schrank wird gleich in die Stube gestellt, aber die Bettstatt muß auseinandergenommen werden, denn die Tür ist zu schmal, und der Tisch geht erst recht nicht hindurch. Aber schließlich steht alles an seinem Platz, und der Fuhrmann kriegt seinen Freitrunk.

Nur schade! Stockfinster ist es geworden. Selbst die Blumchen der Schranktür sind nirgends mehr zu erkennen.

Da sagt der Jons: »Was du wohl denkst! Das Schönste ist immer noch draußen.«

Er geht, und sie wartet gehorsam. Nie im Leben hat sie gedacht, daß man so klein dastehen könne neben dem eigenen Mann.

Da läuft ein Lichtschein über sie her. Und was bringt er getragen? Eine Lampe. Eine richtige Petroleumlampe mit Glasbehälter und Glocke, wie sie im Hoffmannschen Laden im Schaufenster stehen. Selbst in der Wirtsstube der Frau Schlopsnies hat es das niemals gegeben. Dort hatten sie alle bloß blecherne Schilder.

Der Fuhrmann fährt ab, und der Jons steht da und läßt sich bewundern.

Wie hat das zugehen können?

Ja, wie hat das zugehen können? Die Bretter sind aus der Sägemühle, das ist klar. Aber weiter? Als der Tischler Kuntze sich auf dem Holzplatz seinen Bedarf aussuchte, hat Jons ihn gefragt, wie man wohl am besten zu einer Einrichtung kommen könne. Da hat der Tischler sich erst umgesehen und dann gesagt: »Wer mir beim Aufladen behilflich ist, so daß ich nicht etwa zu kurz komme, dem werd' ich nach Feierabend zur Hand gehen und ihm [] zeigen, wie er es macht.« Nun, der Tischler Kuntze ist nicht zu kurz gekommen. Im Gegenteil. Und Zum Dank dafür hat der Jons sechs Wochen lang in seiner Werkstatt arbeiten dürfen bis in die Nacht hinein. Dann hat er noch zwanzig Mark zuzahlen müssen für Licht und für Ölfarbe, und noch heute können sie 'rüberziehen und im eigenen Heim wohnen wie jeder Besitzer.

So tüchtig ist der Jons und so gescheit. Es müßte wirklich mit unrechten Dingen zugehen, wenn zwei solche Eheleute nicht vorwärts kämen.

Und sie kommen vorwärts.

Die Kartoffelernte bringt zwanzig Scheffel. Davon kann neben ihnen noch ein Ferkelchen satt werden. An dem Giebelende, das fensterlos ist, erhebt sich alsbald ein Abschlag mit Schwarten als Dach und rohrgeflochtenen Wänden. Darin hat das Schweinchen Platz und später wohl auch eine Ziege, deren Milch man als Wöchnerin ungern entbehrt. Im Sommer nährt die sich selber am Wegrand, für den Winter aber muß vorgesorgt werden.

Das Heu rupft man sich, indem man in nächtlicher Finsternis hinter den Fudern daherläuft, die auf der Chaussee von den Wiesen kommen und Gott sei Dank bloß in kurzem Trabfahren – sonst würde die Erdme in ihrem Zustand ihnen nicht folgen können. Das Verstreute sammelt man auf dem hinterher fahrenden Handwagen, so rasch es nur geht, denn unverschämte Diebe gibt es genug, die einem das sauer Erworbene vor der Nase wegschnappen wollen. Manchmal findet man die Plätze hinter den Fudern bereits von anderen Schatten besetzt; mit denen prügelt man sich herum, oder man einigt sich besser in Güte.

So wird allmählich der Bodenraum voll. Nur für die Heizung muß Platz bleiben. Um die zu beschaffen, hat man vom Moorvogt das Randstück eines Torflochs gepachtet und ist auch diese Pacht schuldig geblieben – genau so wie jene. Denn der merkwürdige Mensch mahnt ja nicht. Warum soll man ihm also entgegenkommen?

[] »Er wird schon mahnen,« lacht die kleine Ulele. »Er hat ein dickes Buch. Darin steht alles geschrieben wie in dem Buch des ewigen Richters. Was ehrlich erworben ist und was nicht. Es steht alles darin.«

Der Erdme zittern die Knie, sie quiekt wie eine Maus und sinkt nach hinten zurück. Aber das hängt ja mit ihrem Zustand zusammen. Und so entschuldigt sie's auch bei der kleinen Ulele.

8

Der Winter kommt wie alles Schlimme früher, als man sich's denkt.

Eines Morgens zu Anfang November ist das Moor gefroren wie ein Brett. Bis dahin hat man im Kalten gelebt, aber nun geht es nicht mehr.

Der Handwagen des frommen Taruttis, der so viel Unfrommes mit angesehen hat, ist ihm zurückgegeben. Statt dessen dient nun die Karre, die Jons vom Markte gebracht hat.

Das Torfloch trägt eine Eisdecke. Die wiegt sich und klingt, wenn man auf dem Moore daherkommt. Die Torfziegel, die Erdme alle selber gestochen hat, stehen in viereckigen Haufen geschichtet. Obwohl sie sie mit Rohr bedeckt hat gegen den Herbstregen, trocken sind sie noch immer nicht. Aber wenn man ihnen gut zuredet, brennen werden sie doch, und der Qualm geht zum Schornstein hinaus.

Ja, Kuchen! Wie der Jons des Abends nach Haus kommt, findet er die Stube so voller Rauch, daß von der Lampe gar nichts zu sehen ist. Und auf dem Bett liegt die Erdme kraftlos und hustet.

Aber die kleine Ulele, die jetzt immer dabei ist, lacht und sagt: »An den Rauch gewöhnt man sich wie ans Grundwasser. Oben ersticken wir, unten versinken wir und sind ganz lustig dabei.«

Und sie hat Recht gehabt. Bald weiß man kaum mehr, ob es raucht oder nicht, wenn man's nur warm hat. Und das ist die Hauptsache.

[] Denn Tage brechen herein, so naß und so kalt, daß einem das Herz im Leibe erklammt, wenn man die Nase ins Freie steckt. Was schlimmer ist, der suppende Nebel oder der rotklare Frost, die fegenden Schneestürme oder der windstille Rauhreif, – man weiß es wahrhaftig kaum; nirgends friert man so wie hier auf dem Moor. Die Kälte auf der Spitze des Monte Rosa muß dagegen ein Kinderspiel sein.

Ein Glück ist, daß, noch ehe der erste Schnee kam, der Zufahrtssteg angelegt und mit kleinen Birken und Quitschen bepflanzt ist, sonst würde der Jons, wenn er in der Finsternis heimkehrt, nicht wissen, wo er abbiegen muß, so verstiemt ist alles in Weite und Breite. – Selbst das Fensterchen steckt manchmal tief unterm Schnee und muß am Morgen ausgeschaufelt werden, damit man weiß, daß es Tag ist.

Die Erdme geht nicht viel mehr ins Freie. Nur das Ferkelchen muß sie versehen, das prächtig gedeiht. Wenn man das schlachten dürfte, könnte man pökeln für Jahre. Aber so üppig leben wir nicht. Wir sind froh, wenn wir ab und zu einen Hering haben. Das Schwein wird, wenn es fett ist, an den Schlachter verkauft, und was dafür einkommt, bildet das Grundkapital für die künftige Kuh. Aber das sind noch Zukunftsträume. Fürs erste wollen wir mit der Ziege zufrieden sein.

Im Januar rückt sie an. Sie heißt Gertrud, frißt mit aus dem Schweinetrog und stößt, wenn man sie melken will.

Aber schließlich gewöhnt sie sich und gibt ihre Milch so großmütig her, wie nur eine kann, deren Haltung nichts kostet. –

Am schlimmsten in dieser schlimmen Zeit ist das Gefangensein. Man kuckt nach rechts – man kuckt nach links – alles ist weiß, alles ist weit, und nicht ein Fuhrwerk fährt auf dem Wege, um zu zeigen, daß es noch Dinge gibt auf der Welt, die anders aussehen als weiß. Die Häuser der Nachbarn stehen ja da, aber sie sind fast ganz in Schneefluchten versunken, und nur wo der Rauch [] sich niederschlägt, gibt's auf dem Dach einen graulichen Flecken.

Man kann sich kaum vorstellen, daß dort überall Menschen wohnen, denn niemals sieht man einen, und man geht auch nicht gerne hinüber.

Wäre die kleine Ulele nicht, man wüßte tagsüber kaum mehr, wie eine fremde Menschenstimme sich anhört.

Aber die kleine Ulele hat viel zu tun. Sie geht auf Freiersfüßen. Wenn sie zum Frühling eingesegnet wird, muß der Vater schon seine Frau haben. Denn dann will sie in die große Welt, ihr Glück machen. Sie weiß eine, die hat dreihundert Taler, und eine andere, hie hat noch mehr. Aber an der hängen zwei Kinder, deren Vater sie manchmal besucht. Und die Ulele meint mit Recht, das werde Streitigkeiten geben, wenn sie selbst als Vermittlerin nicht mehr im Lande ist. Sie wird also wohl die erste wählen, aber der muß noch viel zugeredet werden, denn sie fürchtet, der Weg der Vorgängerinnen werde alsbald auch der ihrige sein.

So hat man seine Sorgen, auch wenn man noch Kind ist.

Von dem Nachbar Witkuhn hat Erdme seit Monaten nichts mehr gesehen, und die Hilfeleistung bei seiner Frau muß die kleine Ulele für sie mit übernehmen.

Es bleibt also nur der fromme Taruttis, an den man sich halten kann. An jedem Sonntagabend gibt's eine Versammlung bei ihm. Zu der kommen die Gebetsleute weit und breit, und manchmal sind Stube und Vorflur so voll, daß die Haustür offen stehen muß, und dann zieht der eisige Wind wie mit Peitschenhieben über die Köpfe.

Aber schön ist es trotzdem. Andächtige Lieder werden gesungen, Sündenbekenntnisse abgegeben, und meistens kriegt der heilige Geist einen oder den anderen zu packen, so daß er aufsteht und mit Zungen redet, während die anderen horchen und weinen. Das ist dann ein rechtes Sonntagsvergnügen.

Zu der Gemeinde gehören Jons und Erdme noch nicht, denn das Abtun des Irdischen ist wenig nach ihrem [] Geschmack. Aber sie werden als Gäste geduldet, zumal der Tag der Erleuchtung auch ihnen nicht ausbleiben kann.

Zweimal hat es Tauzeit gegeben und Regen und Weststurm. Dann hat der Schnee sich gelöst, und die Welt ist zu Torfschmutz geworden. Dann riecht es nach Rauch und nach Pferdeurin, und doch sind gar wenige Pferde ringsum. Nur der Wohlhabende kann sich eins halten.

Aber Jons und Erdme wissen, daß, wenn die Zeit erfüllt ist, ihnen ihr Pferdchen nicht fehlen wird. Jahre und Jahre kann es dauern, aber kommen wird es gewiß, genau wie das Fettschwein gekommen ist, um das der Schlachter schon lange herumstreicht.

Aber vorerst wird was anderes kommen – etwas, das einst in Samt und Seide gehen wird und wofür der Sohn eines Gendarmen schon längst nicht mehr gut genug ist. Ein großer Besitzer muß es sein, wie die reichen Herren der Niederung, die hundert Kühe halten und deren Käsereien mit Dampf betrieben werden. Billiger macht die Erdme es nicht, wenn selbst der Jons mit sich handeln läßt.

Um Mitte März kann das Kleine schon da sein. Und der März steht vor der Tür. Die Sonne bohrt Pockennarben tief in den Schnee, und wenn mittags die Eiszapfen tropfen, klingt es wie Frühlingsmusik.

Eines Tages kommt die Frau des Witkuhn. Mühselig schleppt sie sich ins Haus. Die Erdme ist noch ein Wiesel dagegen.

»Nachbarin,« sagt sie. »Ich weiß, deine Stunde wird bald kommen. Ich hab' eine Bitte an dich.«

»Was für eine Bitte?« fragt die Erdme.

»Sieh mich an,« sagt sie darauf. »So quiem' ich nun schon an die zehn Jahr. Und die Wirtschaft kann nicht gedeihen. Hätte der liebe Gott ein Einsehen, so würd' er mich zu sich nehmen, damit der Witkuhn sich nach etwas Besserem umsehen kann. Aber so werd' ich ihm zur Last liegen, wer weiß wie lange.«

[] Sie weint, und die Erdme sagt zu ihr, was man so sagen kann.

»Darum sollst du mir das Versprechen geben,« fährt sie fort, »daß du es bei der Hebamme nicht bewenden läßt, sondern dir auch den Doktor bestellst aus Heydekrug oder aus Ruß.«

»Um Gotteswillen!« schreit die Erdme ganz erschrocken. »Das kostet zehn Mark!«

»Das haben wir auch schon überlegt,« meint die Nachbarin, »und der Witkuhn hat gesagt, wenn ihr es noch knapp habt, die zehn Mark gibt er mit Freuden.«

Die Erdme wird heißrot, denn sie denkt an das, was im Frühherbst passiert ist. Und sie sagt: »Dank deinem Mann, Nachbarin, aber soviel haben wir selber. Nur sollt' es für die Kuh gespart bleiben.«

»Die Kuh kann krepieren,« sagt die Witkuhn, »und dann spart man sich eine neue. Aber wenn man selbst zuschanden ist, dann spart man sich keine mehr.«

Die Wahrheit leuchtet der Erdme ein, und sie gibt das Versprechen. Sie kann es ruhig tun, auch für den Jons. Nur wie es mit dem Fuhrwerk werden wird, weiß sie noch nicht. Denn wenn der Doktor sich selbst eins bestellt, so kostet es weitere zehn Mark. Aber Witkuhn hat auch dafür schon Rat geschafft. Er hat mit einem der besseren Besitzer gesprochen, und der wird sein Pferdchen gerne hergeben, wenn es erst so weit ist.

Und jetzt ist es so weit. Die Erdme liegt und schreit wie ein Tier. Seit Stunden folgt eine Wehenwelle der anderen und will ihr das Gedärm aus dem Leibe reißen.

Da tritt ein deutscher Mann an ihr Bett, anzusehen wie ein rotbärtiger Riese – Perkuhn, der Donnergott, muß so ausgesehen haben –, und blickt aus großen, rollenden Gottesaugen auf sie herab und sagt mit einer Stimme, bullrig und gut wie abziehendes Ungewitter: »Na–a? Kommt es denn immer noch nicht?«

Nein, es kommt immer noch nicht. Und kommt auch die ganze Nacht hindurch nicht. Wenn eine Wehe heranjagt, [] dann kriegt sie seine Knie zu fassen und kneift sich darin fest, daß er lachend schreit: »Wirst du wohl loslassen!« Aber sie kneift nur noch fester.

Zuerst, wie er gestanden hat, ist er weit höher gewesen als die Decke des Zimmers; nur ganz gebückt hat sein Kopf darunter Platz gehabt, und auch jetzt, wie er neben dem Bett auf der Hocke sitzt, erscheint er noch immer so groß wie etwa ein Pferd. Aber dann ist es ihr, als wird er langsam kleiner und kleiner. Mit jeder Nachtstunde wird er kleiner. –

Wie es gegen den Morgen geht, denkt sie mit einmal: »Für zehn Mark wird er das gar nicht machen.« Und sie fängt vor Angst und Ungeduld zu weinen an, weil es so teuer wird.

Er wiederum denkt, daß es die ausgestandenen Schmerzen sind, die ihr die Tränen zum Fließen bringen. Und wie er ihr tröstend die Hand beklopft, da ist er schon ganz klein.

Und mit einem Male kriegt er das Übergewicht und kippt mit seinem mächtigen Schmerbauch nach hinten zurück, so daß die Beine hoch in der Luft herumrudern.

Da weiß sie, was es ist. Die Lehmschicht und der Moorboden haben dem mächtigen Körper nicht standhalten können, und die vier Beine der Hocke sind unter ihm in die Tiefe gesunken.

Und da befällt sie ein Lachen. Sie lacht und lacht, und aus dem Lachen heraus kreischt sie hell auf, denn ihr Leib wird plötzlich in Stücke geschnitten, und – wupp! – ist die Katrike da!

Nachher, wie er gehen will, dreht der Jons demütig die Mütze in der Hand und fragt ihn, was es wohl kostet.

Da sieht er sich in der Stube um, besieht den grünbunten Schrank und den goldrahmigen Spiegel und sagt: »Nun, nun, ihr scheint ja ganz wohlhabende Leute zu sein. Gebt mir also« – der Erdme steht das Herz still vor Angst – »gebt mir also – drei Mark.«

Und die Erdme denkt jubelnd: »Wenn das so billig ist, krieg' ich nächsten Frühling ein zweites.«

[] 9

Man müßte lügen, wollte man sagen, daß das nun folgende Jahr für den Jons und die Erdme kein gesegnetes gewesen sei.

Das Schwein wird gut verkauft, und die Kuh zieht ein. – Sie ist die klügste, die schönstgefärbte, die milchreichste Kuh, die es auf Erden je gegeben hat. Die Milch muß morgens und abends zur Sammelstelle getragen werden und bringt manchen nützlichen Groschen. Das Schlimme ist nur, daß es an Futter fehlt, denn auf dem kalklosen Moor kommen die Wiesen erst, wenn es Jahre und Jahre bebaut ist, und seine Bewohner helfen sich dadurch, daß sie im Umkreis – bis über den großen Strom hin – jedes Rasenstück pachten, das irgend zu pachten ist.

So geht auch Jons auf die Suche, findet aber nichts, was nahe genug gelegen wäre, daß man das Heu auf der Karre heimschaffen könnte.

In all den Sorgen mutz also wohl oder übel der Moorvogt heran, der ja am besten Bescheid weiß.

Sie tun also so, als hätten sie kein schlechtes Gewissen, stecken für alle Fälle die schuldig gebliebene Pacht in die Tasche und gehen zu ihm.

Er sieht sie lange und nachdenklich an, schlägt dann ein großes Buch auf – das Buch gewiß, in dem all ihre Sünden stehen – und sieht sie darauf wieder an.

Erdme gibt dem Jons einen heimlichen Stoß, und er denkt: »In Gottes Namen.« Damit zieht er die Pachtschuld aus der Tasche und legt sie auf den Tisch. »Schad' um das schöne Geld,« denkt die Erdme. Aber wenn man so angesehen wird, was kann man da machen?

»Es war Zeit,« sagt der Moorvogt – weiter nichts – und schreibt ein Zeichen in das Buch.

Der Jons ist ganz geschwollen von dem plötzlichen Bewußtsein seiner Rechtlichkeit und sagt mit Würde: »Die Pacht fürs zweite Jahr wird auch bald da sein.«

»Das wär' nun nicht nötig gewesen,« denkt die Erdme, aber weil es doch mal heraus ist, will sie sich auch [] nicht lumpen lassen und setzt hinzu: »Es fällt uns ja schwer, aber unsere Verpflichtungen erfüllen wir pünktlich.«

Der Moorvogt kneift die Lippen ein, als will er ein Prusten verstecken, und der Erdme wird sehr verdrießlich zumut. Man weiß mit dem Manne nie, wie man dran ist.

Er breitet eine große Plankarte aus und fragt dann: »Wieviel Kartoffelland nehmt ihr dieses Jahr in Arbeit?«

»Wenn's Glück gut ist,« sagt die Erdme, »wird die Hälfte von dem Gepachteten fertig.«

Er wiegt langsam den Kopf, sieht sie wieder eine Weile an und sagt dann: »Für ordentliche Leute hab' ich immer noch ein Stückchen Wiese bereit, das nicht zu weit liegt.«

»O Gott, o Gott,« denkt die Erdme. »Wie erträgt der Mensch so viel Glück? Erst die Wiese und dann auch noch gelobt werden.«

»Außerdem,« fährt der Moorvogt fort, »ist der Fiskus bereit, Ansiedlern, die sich bewähren, zur Verbesserung des Bodens mit einigem Kalkmergel unter die Arme zu greifen. Das gibt dann die doppelte Ernte.«

Das wird der Erdme zu viel. Sie kriegt das Heulen, rennt hinaus und rennt schnurstracks nach Hause. Der Jons kann sehen, wo er bleibt. Dann wirft sie sich über die Wiege der kleinen Katrike und erzählt ihr die ganze Geschichte. Und daß das Fräulein Tochter nun ganz sicher einmal in Samt und Seide gehen wird, erzählt sie ihr auch.

Wie der Jons nachkommt, der inzwischen alles festgemacht hat, fällt ihr ein, daß der Moorvogt, wenn er sie so sehr belobt, von ihren nächtlichen Fahrten unmöglich was wissen kann. Die kleine Ulele hat sie gewiß umsonst in Angst gejagt. Und ihr gutes Gewissen kennt keine Grenzen.

Unschuld liebt Blumen. Der Garten muß angelegt werden, sonst wird's für den Sommer zu spät. Zu Staketen ist das Geld noch nicht da, Weidenruten tun's auch. Wenn die bloß nicht immer von neuem losgrünen wollten. Tag für Tag muß man die jungen Triebe abschneiden, sogar die Brandmauer zwischen Kochherd und Ofen schlägt noch einmal aus, weil die Ruten, die ihr den Halt [] geben sollen, sich in dem Glauben befinden, sie seien zu neuem Wachstum in den fetten Lehm hineingepackt.

So will alles leben und gedeihen, selbst wenn es längst tot ist. Und der Jons und die Erdme sollten nicht gedeihen, in denen doch Leben steckt für zehne?

Sonnenblumen, Krauseminze, Schnittlauch und Fenchel werden gesät, vor allem aber die Raute, die Mädchenblume, die Brautblume. Denn wenn die Katrike heiratet, muß sie sich ihren Kranz aus dem eigenen Garten winden. Das schickt sich für eine Vesitzerstochter nicht anders. – –

Um dieselbe Zeit macht der Vater Uleles zum dritten Mal Hochzeit. Die Kleine hat viel Plage gehabt, und erst die Überzeugung, die sie der künftigen Stiefmutter beibrachte, daß sie selbst einmal etwas sehr Reiches werden wird, hat, als sie noch zögerte, den Ausschlag gegeben.

Sie ist eine hübsche Person zu Ende der Zwanzig mit einem gutherzigen und gekränkten Gesicht. Und wie sie dasitzt in ihrem schwarzen deutschen Kleide und einer Jettbrosche unter dem Halse, sieht sie aus, als ob sie gekommen wäre, ihr eigenes Begräbnis zu feiern. Aber die kleine Ulele weicht ihr nicht von der Seite und erzählt ihr immer aufs neue, wie herrlich hier alles bestellt ist und was für vornehme Gäste die Stube erfüllen und daß es für ihre dreihundert Taler eine bessere Verwertung nicht gebe.

Der große Smailus dagegen streicht seinen rundbogigen Schnurrbart, sieht kühn in die Weite und berichtet jedem, der es längst weiß, dies sei nun schon seine Dritte. Und hernach, wie er betrunken ist, setzt er hinzu, wenn daraus eine Vierte und Fünfte würde, ihm wäre es ganz recht. Aber da hat ihn die Ulele bald beiseite geschafft.

Abends spät, wie viele der Gäste schon weg sind und die verlassene junge Frau aus dem Brautwinkel mit großen Augen zur Tür sieht, als möchte sie rasch wieder anspannen lassen, da nimmt die kleine Ulele die Erdme beiseite und sagt: »Ich wollte eigentlich jetzt gleich nach der Stadt, um das Nähen und die Putzmacherei zu erlernen, denn [] das muß immer das erste sein, weil man zugleich die Abendschule besuchen kann. Aber ich seh' ein, ich kann die Stiefmutter, bis sie ein Kindchen hat, nicht ganz allein lassen. Darum will ich fürs erste in Heydekrug bleiben. Von dort wutsch' ich des Abends manchmal herüber und red' ihr gut zu. Dich, Erdme, aber bitt' ich, daß du oft um sie bist. Der Vater meint es nicht schlecht, aber sein Wesen könnt' sie verschrecken.«

Und die Erdme verspricht es und denkt: »Zusammen mit der kranken Witkuhn sind es schon zwei. Die Katrike noch gar nicht gerechnet.«

Dann setzt sie sich auch gleich neben die junge Frau und erzählt, wie verzagt sie einmal gewesen ist, als sie aufs Moor hat hinausziehen sollen, und wie sie jetzt gar nicht mehr weg möchte.

Und die junge Frau meint traurig: »Aber deiner war jung und war auch kein Witmann.«

Dagegen läßt sich nichts sagen. Darum küßt sie sie bloß, und hält ihr die Hände. Und langsam beruhigt sie sich und ißt von dem dickbezuckerten Fladen.

Der Witkuhn ist auch da – ohne die Frau –, aber er spricht die Erdme nicht an. Sie muß selbst auf ihn zugehen und ihn an frühere Zeiten erinnern.

»Es war doch so hübsch, Nachbar,« sagt sie, »darum komm nur immer herüber. Was nicht sein soll, das hab' ich vergessen.«

Er sagt: »Du bist gut gegen die kranke Frau und darum auch gut gegen mich. Ich bete für dich am Morgen und Abend, aber kommen – das kann ich nicht.«

Sie ärgert sich, daß es nicht nach ihrem Willen gehen soll, und nimmt sich vor, ihn nächstens kirre zu kriegen.

Wie sie nach Hause gehen, der Jons und sie – sie führt ihn natürlich, denn hätt' er sich nüchtern gehalten, so wär's eine schlechte Hochzeit gewesen –, da sieht sie auf dem Weg den grauen Schatten herumlaufen, der voriges Jahr, als sie das Haus gerichtet hatten und nun gemütlich ausruhen wollten, mit seinem Getanze dazwischen gefahren war.

[] Sie denkt an die Worte des frommen Taruttis und denkt auch an die Wassersnot, vor der sie manch liebes Mal zittert, wenn sie voll Stolz ihr wachsendes Eigen besieht. Sie weiß nicht, wie es geschieht –, sie hätt' es auch nicht für möglich gehalten, aber sie muß das Stück Fladen hervorziehen, das sie heimlich eingesteckt hat, und es ihm hinreichen. Und sagt: »Da nimm, Nachbar, und wenn du Hochzeit machst, gibst du mir auch was.«

Er greift zu wie ein Verhungernder und prustet und faucht und läuft rasch davon, als muß er den Raub in Sicherheit bringen.

Doch sie kann sich der Guttat nicht freuen. Denn sie denkt, er werde nun ein Recht an sie haben und verlangen, daß sie mit ihm redet, wenn er des Wegs kommt. Und es redet doch sonst niemand mit ihm. Selbst der fromme Taruttis tut es nicht.

Doch ihre Sorge ist unnütz gewesen. Nie hat er sie anzuhalten versucht, und manchmal ist er vor ihr sogar auf die Seite gegangen. – – –

Die Erdme hat mächtig zu tun. Kind und Kuh verlangen Wartung, eines so viel wie das andere. Und ein Ferkel ist auch wieder da.

Der Frau des Witkuhn fällt das Melken sehr schwer, und die junge Frau Smailus muß eingewöhnt werden, sonst läuft sie womöglich wieder davon.

Jetzt sieht die Erdme erst, was sie an der kleinen Ulele gehabt hat. Aber klein ist die schon lange nicht mehr. Wenn sie zum Sonntagsbesuch kommt, dann trägt sie ein Fräuleinskleid und einen Strohhut mit Blumen. Sie nimmt die Stiefmutter unter den Arm und setzt sich mit ihr in das Kieferngestrüpp, das nicht höher ist als der Vater und dessen Nadeln büschelweis stehen wie Haare auf Warzen.

»Ach, wie ist es schön, so in einem grünen Walde zu sitzen«, sagt sie dann, »und die gesegnete Flur zu erblicken!« Und dabei zeigt sie nach den struppigen Kartoffeln und auf das brandige Moor, auf dem nichts weiter wächst als Torf in kohlschwarzen Haufen.

[] Und alsbald hat sie die junge Frau für acht Tage wieder getröstet.

Eines Sonntags sagt sie zur Erdme: »Gott sei Dank, jetzt wird sie's leichter haben, denn es ist zugesät bei ihr.«

Mit dem Leichterhaben irrt sie sich freilich. Oft muß die Erdme heran, der traurigen Frau den Kopf zu halten, wenn sie sich weinend erbricht und immer nach Hause will.

Und auch bei der Erdme ist es wieder so weit. Da heißt es, sich dreifach zusammennehmen und sich nichts merken lassen, sonst geht die Wirtschaft den Krebsgang.

Der Jons hat neben der Taglöhnerarbeit jetzt auch für die Wiese zu sorgen. Die Karre nimmt er des Morgens meist mit und schiebt sie des Abends mit Grünfutter beladen nach Hause. Dazu kommt noch die Heuaust, das Mähen, das Wenden, das Inhaufenbringen und Wiederausstreuen, wenn der Regen alles durchweicht hat.

Man kann es wohl verstehen, daß er maulfaul wird und kaum Antwort gibt, wenn man ihn fragt. Wäre die kleine Katrike nicht da, gäb's wenig Unterhaltung im Hause. Aber die lacht schon, macht Brummchen und zappelt, solange man Zeit hat zum Spielen.

Die Kartoffeln bringen in diesem Jahr funfzig Scheffel. Davon darf man sogar verkaufen. Milchgeld, Taglohn, Ertrag des Schweines kommen dazu. Man kann fürs nächste Jahr an eine weitere Pachtung denken.

Der zweite Winter vergeht wie der erste. Nur daß die Erdme ein Spielzeug hat und daß die Ulele den Kopf nicht mehr zur Tür hereinsteckt.

Im April kommt die kleine Urte zugereist. Ganz leicht und plötzlich ist sie gekommen. Der Doktor hat gar nicht geholt werden brauchen.

Nun sind es schon zweie, und darum wird Schluß gemacht. Das Nötige hat die Erdme als Mädchen gelernt.

Die Jahreszeit ist für die Entbindung günstig gewesen. Noch bleibt Zeit genug für die Frühjahrsbestellung. Am neunten Tage nach der Geburt hat die Erdme schon wieder bis an die Knie im eiskalten Schlamm gestanden. So ein Kerl ist die Erdme.

[] Nicht so leicht hat es die junge Frau Smailus gehabt, aber daran ist ihr Herzweh wohl schuld. Was wäre erst ohne die Ulele geworden! Mit einem Male ist sie dagewesen, hat Hebammendienste getan, hat das Kind gewartet so gut wie die Mutter und hat dabei noch in den Büchern gelesen.

Eines Tages kommt sie zur Erdme und sagt: »Nun wird es wohl gehen, daß ich weg kann. Wenn ihr das Kleine nicht hilft, hilft ihr nichts auf der Welt.«

Die Erdme fragt sie, wo sie eigentlich hin will.

Und sie sagt: »Zuerst nach Königsberg und dann nach Berlin. Denn diese kleinen Nester sind nichts für mich. Nicht einmal, was ein kleidsamer Hut ist, versteht man da. Auch muß ich des Abends die Schreibmaschine erlernen sowie die Schnellschrift, die man Stenographie nennt. Dann muß ich noch einmal aufs Land, das heißt auf ein Rittergut, um die Wirtschaft zu lernen und die Verwaltung. Wenn ich das ordentlich verstehe, gehe ich in ein großes Getreidegeschäft und mach' mich dort unentbehrlich. Vielleicht, daß der Prinzipal mich dann heiratet, weil er einsieht, daß ohne mich doch nichts mehr los ist. Aber im Grunde glaub' ich es nicht. Denn die Männer sehen mich nicht an.«

»Du bist ja noch so jung,« sagt die Erdme.

»Das ist wahr,« sagt sie, »Busen hab' ich noch gar nicht. Vielleicht werd' ich auch nie einen kriegen. Ich hab' immer gedacht, ich werd' durch das Mannsvolk in die Höhe kommen, aber das muß ich mir wohl aus dem Kopf schlagen. Und es wird ja auch so gehen.«

Und die Erdme lacht und sagt: »Du mit deinen fünfzehn – was kannst du da Großes verlangen?«

»Um mich herum liebt sich schon alles,« gibt sie zur Antwort, »bloß mich wollen sie nicht.«

Und Erdme, die erst sehr neidisch gewesen ist, sieht auf die Wiege, in der Kopf an Kopf die Urte und die Katrike liegen, beide mit Lutschpfropfen im Munde, und denkt: »Euch wird es nicht so gehen, denn ihr habt von meinem Blut in den Adern.«

[] Und es ist, als ob die Ulele ihren Gedanken erriete, denn sie sagt seufzend: »Ja, wenn man so eine wäre wie du!«

»Was willst du damit sagen?« fragt die Erdme argwöhnisch. »Weißt du etwas von mir?«

»Das gerade nicht,« sagt sie, »aber – aber –« Und sie druckst und druckst und kommt nicht zu Rande. Schließlich, wie sie gehen will, dreht sie sich noch einmal um und sagt: »Eine Bestellung ist es eigentlich nicht, das würde sie sich nicht getrauen. Aber wünschen tut sie gewiß, daß du es erfährst.«

»Wer? Was?« fragt die Erdme ganz erstaunt.

Also: die Frau Witkuhn hat zu ihr gesprochen wie zu einer Alten. Das Elend mit ihrem Manne reißt ihr das Herz aus dem Leibe. Wenn er nicht da ist, sitzt sie in Angst, er könne sich ein Leid antun. Und ob es keine Möglichkeit gebe, daß die Erdme sich seiner erbarme.

Die Erdme erschrickt. Wenn die eigene Frau sich wirklich so an der Natur und der Religion versündigt, dann muß es wohl schlimm stehen.

»Warum hängt er sich gerade an mich?« fragt sie. »Mädchen, die ihm gern einen Gefallen täten, laufen genug herum auf dem Moor.«

Die Ulele macht eine pfiffige Nase. »Das ist es gerade,« sagt sie. »Ursprünglich wäre ihm wohl jede die Rechte gewesen, aber wenn eine ihm nah kommt, schrickt er zurück. Früher, als ich noch dümmer war und nicht wußte, warum, da hab' ich mich ihm manchmal auf den Schoß setzen wollen, aber da hat er mich von sich gewiesen wie das höllische Feuer. Nun aber hat er seine Sinne auf dich allein gesetzt. Ich verstehe ja nicht viel davon, aber ich meine, wenn der Jons nichts erfährt, könntest du ihm wohl einmal Mitleid erweisen. Wollte er mich, ich tät's, aber ich bin ihm wohl noch zu klein.«

Die Erdme fühlt, daß sie heiß wird von Kopf bis zu Füßen. »Du verstehst wirklich noch nichts davon,« sagt sie und schiebt die Ulele hinaus und nimmt auch keinen Abschied von ihr.

[] Aber der Gedanke an den Nachbar geht ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sitzt der Jons ihr gegenüber, stumm und schwer, wie es seine Gewohnheit ist, dann sieht sie ihn immerzu an und denkt: »Soll ich – soll ich nicht?« Und ihr Entschluß ist dann stets: »Nein, ich soll nicht.«

Aber wenn sie den Nachbar arbeiten sieht fernab auf dem Feld und sich sein feines, stilles Gesicht vorstellt und die zitternden Backenknochen, dann denkt sie doch wieder: »Ich soll.«

Und ihr Mitleid wird so groß, daß sie nachts von ihm träumt und bei Tage auf dem Grabenrand sitzt und ihm nachsieht. Dabei leidet natürlich die Arbeit.

Schließlich denkt sie: »Komm's, wie es will, geschehen muß was.«

Darum faßt sie sich eines Tages ein Herz und geht zu ihm 'rüber.

Als er sie kommen sieht, fällt ihm die Hacke aus der Hand. Er steht da und sieht sie an wie eine Himmelserscheinung, und dabei hat er sie doch immer vor Augen.

»Nachbar,« sagt sie, als hätte sie noch gestern mit ihm gesprochen, »willst du nicht einmal nach unserer Kuh sehen? Die frißt nicht.«

Er zieht die Klotzkorken über die nackten Füße und kommt. Er befühlt der Kuh den Leib, legt ihr die Hand auf die Schnauze und dreht die Augenhaut um. »Die Kuh ist gesund,« sagt er. Weiter nichts.

Die Erdme schämt sich und fühlt, wie sie zittert. Aber sie weiß, so ein Augenblick kommt nicht wieder. Darum ladet sie ihn ein, noch ein wenig in die Stube zu treten.

»Was soll ich da drin?« fragt er.

»Ich hab' schon lange einmal mit dir reden wollen,« sagt sie.

Er streift die Klotzkorken ab und tritt ein. Die Wiege hat sie vorher auf den Hof gestellt, damit die Kinder nicht zusehen.

Und jetzt stehen sie da und zittern beide.

»Nachbar,« sagt sie, »ich muß immer an die Stunde denken vor zwei Jahren, und mir ist, als habe ich dir ein [] Unrecht getan. Winn ich es gutmachen kann, will ich es gerne.«

»Es ist nichts gutzumachen,« sagt er und bekuckt sich die Bilder.

»Setz dich auf die Bank, Nachbar,« sagt sie.

Er gehorcht, und sie setzt sich neben ihn. Mehr kann sie wahrhaftig nicht tun.

»Nachbar,« sagt sie, »du hast ein seltsames Wesen. Nicht bloß gegen mich. Dir muß irgend was geschehen sein. Das Beste wär' schon, du sprichst dich aus.«

»Jawohl,« sagt er, »das will ich.«

Und dann erzählt er ihr eine Geschichte, wie es ihm in der Jugend ergangen ist. Er ist ein froher Bursch gewesen, Besitzerssohn, ansehnlich und beliebt. Und die Mädchen haben ihn gern gewollt zum Heiraten sywohl wie zu dem anderen. Und eine – die war wild und heimlich zugleich. Wie wohl die wildesten sind. Und nichts war ihr heimlich genug. Und eines Nachts im Finstern trafen sie sich unter dem Kadigbusch auf der Heide, wo sonst kein Menschenfuß hintritt. Da wollte sie ihm zu Willen sein. Aber plötzlich sind ringsum Lichter aufgetaucht von Jägern, die sich schon im Finstern auf eine Jagd begaben. Da hat sie zu schreien angefangen, daß er ihr Gewalt antue. Als ob sie am Speer stak, so hat sie geschrien. Und so ist er ins Unglück gekommen. Das hat ihn verfolgt von Ort zu Ort und ist stets offenbar geworden, wenn er ein Führungsattest gebraucht hat oder als Zeuge vor Gericht hat stehen müssen. Schließlich hat er im Moor eine Zuflucht gefunden, wo mancher bestraft ist und keinem viel Schaden daraus erwächst. Der Moorvogt weiß es und seine Frau. Sonst niemand. Bei der Frau hat er Rettung gesucht, aber die ist ja schon lang' keine Frau mehr. Und sobald eine andere ihm zugelächelt hat, ist ihm sofort der Gedanke gekommen: »Sie wird schreien.« Immer hört er das Schreien. Und dann zittert ihm das Gesicht, wie es ihm damals gezittert hat, als er sich stumm und ohne Verteidigung hat abführen lassen. So vertattert ist er gewesen, und so ist er noch heute.

[] »Wie hast du dich dann aber an mir vergreifen können?« fragt sie und lächelt ihn an.

»Das weiß ich selber nicht,« sagt er und streicht sich übers Gesicht.

»Nun, ich hab' doch nicht geschrien,« sagt sie und lächelt ihn immerzu auffordernd an.

»Aber – abgewiesen hast du mich, und seitdem ist es schlimmer als je!«

Soll sie nun sagen: »Heute würd' ich dich nicht abweisen?« Das kann sie nicht. Das bringt keine Frau über die Lippen. Bloß seinen Arm streichelt sie und sagt: »Armer Nachbar.«

Sie denkt, er wird sie nun umfassen, aber was tut er? Er zittert und rückt von ihr weg und stöhnt: »Laß man, mir hilft keiner mehr.«

»Gott wird helfen!« sagt sie, wie man sagt: »Guten Tag« und »Guten Weg«.

»Auch Gott hilft mir nicht,« schluchzt er und ringt die Hände. »Ich hab' zu ihm gebetet bei Tag und bei Nacht, er soll die große Zuneigung von mir nehmen, aber geholfen hat er mir nicht.«

»Ich werd' für dich beten,« sagt sie. Sündigen möcht' sie viel lieber, aber man muß doch so tun.

Er in seiner Not greift den Gedanken auf wie der Hungernde den Knochen, den man zum Fenster hinauswirft.

»Ja, bet für mich, bet für mich, oder wenn du mir eine große Gnade antun willst, dann laß uns zusammen beten. Vielleicht daß Gott mich dann hört.«

Und richtig! Sie holt ihr Gesangbuch hervor und das von Jons, und jeder schlägt auf, und sie beten und beten.

Und siehe da! Immer frömmer wird ihr zumute. Sie denkt an die schlafenden Kinderchen draußen und an den Mann, der sich abschindet von früh bis spät, und bald begreift sie gar nicht mehr, daß sie eine so große Sünde hat begehen wollen.

Wie sie eine halbe Stunde gebetet haben, sagt sie: »Nun, Nachbar, fühlst du, daß es dir hilft?«

[] Er schüttelt bloß den Kopf.

Sie denkt: »Aber mir hat es geholfen.« Und nun – ganz aufrichtig gesonnen – redet sie ihm gut zu und meint, sie möchte ihm ja gerne den Wunsch erfüllen, aber es gehe nicht an. Die Kinderchen sind noch so klein, und der Jons hat sie alle dreie so lieb, wenn er es auch nicht recht ausdrücken kann. Aber vielleicht wird es später einmal anders werden, so daß sie sich dann wegen des Unrechts nicht mehr so zu schämen braucht. Es könnte ja sein, daß Jons einmal zu trinken anfängt und sie schlägt oder so. Dann würd' sie sich kein Gewissen daraus machen.

Der Nachbar steht auf, tastet nach seiner Mütze und sagt im Gehen: »Ich werd' also warten.«

Und sie denkt: »Schade!« Aber wer weiß, wozu es gut ist?

10

Wenn das Überschwemmung ist, das läßt sich ertragen!

Wohl stehen Hof und Garten zollhoch unter Wasser, auch ist der Knüppelweg zur Chaussee an vielen Stellen unbegehbar. Und der Estrich in der Stube fühlt sich an, als möchte er sich von neuem kneten lassen. Aber schließlich – zu seinem Vergnügen lebt man nicht im Moor, und alles geht vorüber. Die Wege trocknen, über Hof und Gräben legt man Bretter, und der Estrich wird wieder glatt gewalzt.

So ist es nun im Märzenmonat schon zweimal gewesen, und die Erdme denkt nicht mehr mit Angst an die finsteren Prophezeiungen, mit denen der alte Raubmörder einst ihre Hoffnungen vergiftete.

Manchmal fragt sie die Nachbarn, aber die scheinen ungern davon zu sprechen, und darum unterläßt sie es. –

Jetzt im vierten Jahre zeigt es sich, daß man stark genug ist, noch weitere Sprünge zu machen. Die Wiese liefert Heu genug, um eine zweite Kuh zu ernähren, und deshalb muß ein Stall gebaut werden. Der Abschlag am [] Giebelende reicht schon für die eine nicht aus, besonders wenn die Mastferkel an den Pfosten herumwühlen, so daß an manchem Morgen das ganze Dach der Kuh auf dem Rücken liegt.

Gespart ist ja, aber ob man ausreichen wird, ist zu bezweifeln. Und da zu gleicher Zeit wegen der Pachtung eines zweiten Hektars mit dem Moorvogt gesprochen werden muß, könnte man vielleicht aus dem Raiffeisenverein ein Darlehen von ihm erlangen.

Eines Sonntagnachmittags zu Anfang April stellen sie die Lampe hoch, verstecken die Streichhölzer, schließen die Kinder ein, und dann gehen sie zum Moorvogt.

Er hört ihnen schweigend zu und schlägt darauf sein großes Buch auf. Ach, dieses fürchterliche Buch! Je länger er darin liest, desto zittriger werden der Erdme die Beine, denn die Ulele hat ja einmal gesagt – – man wagt gar nicht auszudenken, was die Ulele gesagt hat.

Dann sieht er sie eine Weile an, gerade wie damals, und endlich macht er den Mund auf.

»Also alles in allem geht es euch gut?« fragt er.

Nun möchte ich den Landmann sehen – ob litauisch oder deutsch, ob Bauer oder Graf –, der auf eine solche Frage mit einem schlichten Ja geantwortet hätte.

Sie fangen also alle beide fürchterlich zu klagen an. Die Nachtfröste im vorigen Herbst – und die verschorften Kartoffeln – und die wartungsbedürftigen Kinder – und die Überschwemmung noch jüngst!

»Was wißt ihr von Überschwemmung!« sagt er, und ein bitteres, ein fast verzagtes Lächeln fliegt über sein starkes Gesicht.

»Jedenfalls geht es euch so gut,« fährt er fort, »daß ihr eine erhebliche Vergrößerung eurer Wirtschaft in Angriff nehmen könnt. Es kommt mir das nicht unerwartet, denn ich habe euch natürlich im Auge behalten. Das zweite Hektar ist euch bewilligt, und auch für das Darlehen werde ich eintreten. Nur – nur –« er stockt und sieht sie wieder an, »nur scheint mir, daß ihr noch von der Bauzeit her dies und jenes in Ordnung zu bringen habt.«

[] Jons und Erdme werfen sich einen heimlichen Blick zu. Was kann er nur meinen?

Und er sieht sie immer weiter an mit starren, bohrenden Augen, als ob sie splinterfasernackig vor ihm stünden.

»O Gott, o Gott!« denkt die Erdme. Denn was hat die Ulele gesagt?

Und das Versprechen fällt ihr ein, das sie sich am Abend ihrer Trauung im Matzicker Chausseegraben gegeben haben. Ach, wie bald ist das vergessen gewesen!

»Es scheint, ihr wißt nicht, was ich meine,« fährt der Moorvogt fort. »Geht also nach Hause und denkt darüber nach. Wenn ihr findet, daß ich Unrecht habe, dann kommt wieder, aber nicht früher.«

Damit sind sie entlassen.

In stolzer Hoffnung waren sie gekommen. Stillschweigend, mit gesenkten Köpfen gehen sie wieder heim.

»Allwissend ist Gott allein,« denkt die Erdme.

»Hier hilft bloß eines,« sagt schließlich der Jons, »daß wir nun doch noch unter die Gebetsleute gehen.«

»Warum?« fragt die Erdme. »Wir sind ja fromm genug.«

»Wenn man unter die Gebetsleute geht,« sagt der Jons, »kann man seine Sünden bekennen und alles gutmachen, ohne daß einem daraus ein Schaden erwächst.«

»Gutmachen kann man auch so,« sagt die Erdme. »Wozu noch erst viel bekennen?«

»Das ist nicht das Richtige,« sagt der Jons.

Sie beschließen also, den frommen Taruttis zu besuchen und zu sehen, ob es lohnt, sich in die Gemeinde der Erleuchteten aufnehmen zu lassen.

Der fromme Taruttis empfängt sie mit Freuden.

»Ich habe schon oft gebetet,« sagt er, »daß ihr den Weg zum Heile finden möget, und nun ist mein Gebet erhört.«

So mager und so sanft sieht er aus wie ein Sendbote des Herrn. Und seine Augen leuchten wie zwei weinende Sonnen. Er ruft auch die Taruttene, die ihnen Schmand mit Glumse vorsetzt. Sie ist nun ganz hutzlig geworden und will gleich zu singen anfangen. Sie hält es schon [] gar nicht mehr aus. Aber er beruhigt sie. Damit habe es bis zur nächsten Versammlung Zeit. Erst müsse ein Sündenverzeichnis hergestellt werden. Und bei dem öffentlichen Bekenntnis werde die ganze Gemeinde Gott auf den Knien um Vergebung anflehen. Das habe noch immer geholfen.

Jons und Erdme sehen sich an. Sie haben es zwar oft schon mitgemacht, aber nun sie selbst daran glauben müssen, wird es ihnen doch fürchterlich sauer.

Der Taruttis legt auch gleich ein Blatt Papier auf den Tisch, macht eine römische Eins und sieht sie erwartungsvoll an. Da nimmt die Erdme das Wort und sagt: »Damit das Bekenntnis ganz vollständig wird, wollen wir uns vorerst im einsamen Kämmerlein gehörig kräftigen. Sonst könnte es geschehen, daß etwas fehlt, und das würden wir uns niemals verzeihen.«

Der fromme Taruttis lobt den Ernst ihrer Bestrebungen und ladet sie zu der nächsten Versammlung. Und dann gehen sie heim.

»Nein,« sagt die Erdme entschieden, »damit die Leute hernach mit Fingern auf uns weisen: ›Da seht das verstohlene Pack‹. Das könnte mir passen.«

Der Jons meint zwar schüchtern, man könne das Bekenntnis so undeutlich sprechen – besonders wenn man zu zweit ist –, daß niemand was Rechtes versteht. Aber die Erdme bleibt fest. »Unsere Kinder sollen einmal in Samt und Seide gehen,« sagt sie, »für die muß vorgesorgt werden.«

Auf alle Fälle machen sie jetzt das Verzeichnis. Der Mann, dem sie die Saatkartoffeln ausbuddelten, bekommt die erste Nummer. Und dann folgt eine sehr lange Reihe. Einzelnes bietet Schwierigkeiten. Wem zum Beispiel sollen sie das Heu für die Ziege ersetzen, das sie im Dunkel der Nacht aus den fahrenden Fudern zupften? Oder: Wem hat der Jons Schaden getan, als er mit dem Abgebrannten wegen der Türen und Fenster den heimlichen Handel abschloß? Denn was eine Versicherungsgesellschaft ist, wer kann sich das vorstellen? Und dann [] das Allerschlimmste: die Veruntreuungen auf dem Holzplatz, auf dem der Jons ja heute noch arbeitet! Der Möbeltischler ist nicht der Einzige gewesen. Gar manchem, der eine offene Hand hatte, ist beim Verladen eine oder die andere Planke mehr auf den Wagen geschmissen worden. Und der Aufseher hat dann den Rüffel gekriegt.

Schlimme Sache! Schlimme Sache!

Trotz alledem gehen sie ans Werk. Der Jons bringt Postanweisungen und Linienpapier, und nun schreiben sie einen Brief nach dem anderen, gerade so, als ob sie wirklich bei den Gebetsleuten eintreten wollten ... Und das tun sie aus Klugheit, denn sie wissen, deren Sündenbekenntnisse werden von den Deutschen mit Lustigkeit, von den Litauern mit Andacht aufgenommen und niemals weiter verfolgt. Aber in zweifelhaften Fällen vermeiden sie der Sicherheit halber, ihre Namen anzugeben.

Einer der Briefe lautet so:

»Wehrter Herr Hahn!

Da ich den Herrn Jesus gefunden und er mich eretet hat aus allen meinen Sünden. Bezeugt mir der Heilige Geist Gottes mein Ibelthat. Um mit Gott und Menschen ins reine zu kommen, soll ich mihr reinigen wie auch der Herr Jesus rein war. Der Herr zeiget mir, daß ich auch Ihnen währent meinem Hausbau beschädigt habe indem ich aus Ihrem Walde Holz stahl. Ich biete um Vergebung der Schuld, das sie mir nicht vor dem Throne Gottes verklagen wirde. Darum läge die 30 Mark für den Wert des Entwändeten Matirials. Der liebe Gott ist selber Richter und weis am bästen den Weg. Er hat meinem Gewissen soviel geurteilt. Ich biete nochmals um Verzeihung und Vergebung der Schuld, das ich Frieden mit Gott häbe und mein Gewissen mich nicht verklagen wirde. Der Herr Jesus hat mir schon vergäben, als er am Kreuze auf Golgatha das Wort ausrief Es ist volbracht.

Achtungsvol

J. Baltruschat.«

[] Und ein anderer lautete so:

»Hochgerter Herr!

Als ich in einen neien Abschnit meines Lebens mich mit meinem Gott versähnen wolte, fand ich unter den verbannten Gegenstenden, das ich mich auch an Ihnen vergangen habe. Zwar glaubte ich früher das wen man von einen reichen Herrn Kleinigkeit stiehlt, keine Sünde ist. Komme daher ihnen dankbar um Vergebung gu bieten, wenn Sie so gütig sind. Ich befand mich vor langer Zeit bei meinem bauen in großer Verlegenheit und da ging ich hin und holte mir aus ihre Grube den Lähm gleichwie es Gott gefiel. Daher sände Sie gefälligst 10 Mark. Biete wenn möglich um Sündenvergebung.

Hochachtend

ein Nachbar.«

Diese beiden Briefe, den frömmeren und den weltlicheren, nehmen sie sich zum Muster und richten danach die übrigen ein.

So schreiben sie noch manchen Brief und berechnen genau die Beträge, die sie den Empfängern schuldig sind.

Der Abgebrannte, zu dem der Jons geht, um zu erfahren, an wen er sich wegen des Ersatzes zu wenden habe, wohnt in einem nagelneuen Hause. Dessen Türen und Fenster sind tausendmal schöner als die, die er damals beiseite geschafft hat. Er lacht zuerst fürchterlich, als er aber hört, daß Jons zu den Gebetsleuten gehen will, sieht er gleich ein, daß es sein muß, und gibt ihm genaueste Auskunft.

So bliebe also nur noch das Holzgeschäft übrig, denn das Ziegenheu kann auch von selber gefallen sein. Aber das Holzgeschäft!

»Das deutsche Schwein kann Wind auf dich kriegen und zeigt dich am Ende noch an,« warnt die Erdme. »Selbst ohne Unterschrift kann es dir schlecht gehen.«

Das sieht er auch ein und schreibt darum zur Sicherheit den Namen eines anderen Arbeiters, der vor kurzem nach [] Rußland zu den Holzfällern gegangen ist und der ebenso gemaust hat wie er. So reinigt er zugleich auch dessen Gedenken, was als eine doppelte Guttat angesehen werden muß.

Als die Briefe und die Postanweisungen weg sind, wird ihnen beiden sehr wohl zumut. Die Ersparnisse haben sich zwar erheblich vermindert, aber statt dessen hilft ja der Moorvogt.

Darüber vergessen sie ganz, daß sie auf der nächsten Versammlung der Gebetsleute das Sündenbekenntnis ablegen sollen.

So kommt der Sonntagnachmittag heran. Sie sitzen vergnügt vor der Tür. Er raucht seine Pfeife, sie riecht an einem Marienblatt, und die Kinder spielen um sie herum. Da hören sie mit einem Male einen feierlichen Gesang.

»Es wird ein Begräbnis sein,« meint die Erdme.

Aber der Gesang kommt immer näher, und was sehen sie? Der fromme Taruttis und zwei andere fromme Männer gehen zwischen den Kartoffeln geradeswegs auf sie zu, und jeder hält sein Gesangbuch in der einen Hand und sein Schnupftuch in der anderen, und eine Mütze hat keiner auf.

O Gott, wie wird ihnen da! Weglaufen können sie nicht, und Ausreden haben sie auch nicht.

Der Jons in seiner Verlegenheit heißt sie willkommen und fragt, ob er den werten Gästen vielleicht einen Schnaps anbieten kann. Wo er doch wissen muß, daß die Erleuchteten geistige Getränke nicht zu sich nehmen.

Der fromme Taruttis tut, als hat er die Frage gar nicht gehört, und sagt: »Teurer Bruder und geliebte Schwester. Die Stunde des Segens ist da. Die Pforten der Himmelsstadt sind aufgetan! Folget uns nach Jerusalem, wo ihr alsbald in weißen Kleidern dastehen werdet zur rechten Seite des Herrn.«

Der Jons, der wie vor den Kopf geschlagen ist, will richtig schon gehen, aber die Erdme hält ihn gerad' noch am Armel.

[] »Lieber Nachbar und ihr anderen geehrten Gäste,« sagt sie und macht ein scheinheiliges Gesicht, »seit wir unseren Entschluß kundgetan haben, prüfen wir uns unaufhörlich, aber es will uns gar keine Sünde einfallen. Nun müßten wir uns jedoch schämen, so selbstgerecht vor euch zu erscheinen, wo doch ein jeder sonst sein Bündelchen auspackt. Darum lasset uns Zeit, ein Monatchen oder ein Jahrchen – oder noch mehr, damit wir ein gehöriges Bekenntnis zusammenkriegen. Vielleicht sündigen wir inzwischen auch noch was Neues, und das ist dann gleich ein Abwaschen.«

So einfältigen Glaubens der fromme Taruttis auch sein mag, – daß diese freche Person sich lustig macht, das sieht er doch ein.

»Warum seid ihr denn zu mir gekommen?« fragt er sie ganz verdutzt.

»Ihr seid ja auch zu uns gekommen,« gibt sie zur Antwort.

Darauf wissen die frommen Männer nichts zu erwidern und heben sich wieder von hinnen. Und Jons geleitet sie bis an den Grenzgraben, dorthin, wo das Brett 'rüberführt.

Wie er zurückkommt, steht er, daß Erdme die beiden Kleinen im Arm hat und liebkost.

Dann läßt sie sie fallen, hebt beide Fäuste hinter den Weggehenden her und ruft ganz laut:

»Meinen Töchtern die Heirat verderben, das wär' euer ganzer Segen, ihr Schufte!«

Der Jons ist beinahe erschrocken. Nie hätte er gedacht, daß sein Weib so böse sein kann.

11

Über den Nachbar Witkuhn scheint etwas wie Frieden gekommen. Er weicht der Erdme nicht mehr aus, bleibt ruhig zu Hause, wenn sie der kranken Frau beispringt, und kommt herüber, so oft es nottut. Ohne ihn wäre der Stall gar nicht zustande gekommen. Der ist nun viel [] prächtiger als das Wohnhaus und bietet Platz für zwei Kühe und zwei Schweine und sogar – der Himmel bewahr' uns vor Hochmut! – sogar für ein künftiges Pferd.

Der Nachbar Witkuhn weiß, daß er selber es nie so weit bringen wird. Um so eifriger ist er darauf bedacht, daß Jons und Erdme dahin gelangen.

Der Ankauf der zweiten Kuh ist auch sein Werk. Eine Holländerin ist sie, wollstirnig mit einem schwarzen und einem weißen Auge. Und Milch gibt sie – man schämt sich zu sagen, wieviel Milch sie gibt, aber die an der Ablieferungsstelle, die wissen's.

Jetzt kommt des Abends schon manchmal Butter auf den Tisch, und die Kleinen trinken frische Milch, soviel sie nur mögen.

Im Frühling des fünften Jahres geschieht das Große, daß Jons seine ständige Arbeitsstelle aufgeben muß, denn Erdme schafft es nicht mehr, selbst wenn er die Freistunden noch so sehr ausnutzt.

Der Sägemühlenbesitzer schenkt ihm zum Abschied zehn Mark und eine Kiste Zigarren wegen der Ehrlichkeit, die er immer bewiesen hat, im Gegensatz zu anderen, die sich jetzt in Rußland herumtreiben.

Nun kann sogar das dritte Hektar in Angriff genommen werden, zumal der am frühesten urbar gemachte Boden für Roggen bald reif ist.

Der Moorvogt gibt noch ein neues Stück Wiese dazu und verspricht sogar, den Jons bei der Entwässerung zu beschäftigen, wenn es ab und zu in der Wirtschaft zu still wird.

So ist für alles gesorgt, und die Zukunft liegt da wie ein blühendes Kleefeld.

Wenn Erdme bei ihrer Arbeit die schlammbespritzten Beine hebt und senkt, daß der federnde Grund schaukelt wie eine Wiege, und wenn das schwarze Wurzelwerk unter den Streichen der Hacke zerblättert, als wäre es Torfgrus, dann ist ihr zumut, als sei das ganze Moor nur geschaffen, um ihrem Glücke zu dienen. Und sie dehnt in lauter Wohlsein die starke Brust dem Gelingen entgegen.

[] Wenn es nur allen so ginge wie ihr! Aber ringsum sitzt Kummer genug. Von der hinfälligen Frau des Witkuhn gar nicht zu reden. Die wird sich vielleicht noch Jahre so schleppen, ohne daß Hoffnung kommt. Aber neben ihr lebt die junge Frau Smailus. Die ist sehnig von Gliedern und schafft auch, aber in ihrem Innern scheint sie noch kränker als jene.

Sie geht umher wie im Traum, gibt falsche Antwort, wenn man sie fragt, und ihre Brust hat nicht Milch für die Kinder.

»Was ihr fehlt, weiß ich lange,« sagt der Nachbar Witkuhn. »Die Moorkrankheit hat sie.«

Die Erdme fragt, was das ist.

Und er sagt: »Die Moorkrankheit kommt wie durch ein Gift, das aus dem Boden aufsteigt. Niemand weiß, wie es aussieht, und kein Doktor hat es gefunden. Es ist da und ist auch nicht da. Wie man will. Den einen wirft es nieder, dem anderen ist es Arznei. Und für den, der daran krankt, gibt es nur eine Rettung: 'raus aus dem Moor, rasch 'raus, ohne sich umzusehen. Aber für die meisten ist es zu spät.«

Was die Erdme einst der Ulele versprochen hat, das hält sie getreulich. Sie steht der gemütskranken Frau zur Seite, wo sie nur kann. Nicht bei der Arbeit. Die macht sie allein. Aber des Sonntags oder zum Feierabend – denn Feierabend gibt es schon manchmal – geht sie hinüber zu ihr, legt den Arm um ihre Schulter und sagt: »Komm, Nachbarin, wir wollen uns was erzählen.« Und sie führt sie die Sandnase hoch und in das Fichtengestrüpp. Da sitzt die kranke Frau am liebsten, denn es gemahnt sie an die verlorene Heide, von der sie herstammt.

Und dann seufzt sie und weint: »Ach, meine Heide, meine Heide!«

Die Erdme kann ihr die Heide noch so schlecht machen. »Ich bin ja auch von der Heide zu Hause,« sagt sie, »und weiß: schinden tut man sich dort nicht weniger als hier. Auf dem Sand gedeiht nicht einmal Roggen, und der Hafer sieht aus, als hat er die Schwindsucht. Und Fichten [] – na ja – die stehen ja dort höher. Aber Schatten geben sie auch nicht. Und vorwärts kommt man hier besser als dort.«

»Aber wenn dort das Heidekraut blüht,« sagt die Frau und starrt sehnsüchtig ins Weite, »und alles ist rot von lauter Blumchen, und die Hummeln singen drum 'rum, und die Luft ist warm, und unter dem Kadig liegt man geborgen so wie im Himmel! Aber hier friert man ja selbst im August und ist stets am Versinken. Vier Wochen sind's her, da ist mir mit einmal der Herd eingesunken – vor meinen sehenden Augen ist er gesunken.«

»Dann ist er eben zu schwer gewesen,« tröstet die Erdme, »man muß ihm einen besseren Untergrund schaffen.« Und um die Frau aufzuheitern, erzählt sie ihr die Geschichte von dem großen, rotbärtigen Doktor, der immer kleiner und kleiner wurde, weil die Schemelbeine ihm unter dem Leibe versanken.

Hätte sie gewußt, was für ein Unheil sie damit anrichtet, sie hätte es lieber nicht getan. Als sie das nächste Mal mit der Frau zusammenkommt, da krallt die sich an ihr fest und sagt: »Stell dir vor, Nachbarin, jetzt kann ich des Nachts gar nicht mehr schlafen, denn ich muß immerzu denken, daß die Bettfüße unter mir wegsinken, und das ganze Bett versinkt, und ich versink' mit.«

In ihrem Mitleid fällt der Erdme das Mittel ein, das der Nachbar Witkuhn die einzige Rettung genannt hat, und sie entschließt sich, die verängstigte Frau langsam an den Gedanken des Weggehens zu gewöhnen.

Ob ihr Mann, der Smailus, gut zu ihr ist.

Sie kann nicht klagen. Schläge kriegt sie keine, trinken tut er auch nicht, aber – und nun legt sie den Mund ganz dicht an Erdmes Ohr – »aber er wartet schon«.

»Worauf wartet er denn?« fragt die Erdme.

Da macht die Frau die Augen weit auf – die richtigen Unglücksaugen macht sie – und sagt ganz leise ihr großes Geheimnis: »Er wartet schon auf die Vierte.«

»Woher weißt du das?«

Sie weiß es nicht, aber das fühlt man.

[] Die Erdme wird dreister. »Da kannst du ihm aber behilflich sein,« sagt sie.

»Womit?«

»Indem du gar nicht erst wartest, bis sie dich 'raustragen. Dann bist du das Moor los und gehst auf die Heide.«

»Und die Kinder?«

Natürlich die Kinder! Ms ob es für alles, was Mutter ist, einen anderen Gedanken gäbe.

»Die nimmst du mit.«

»Und dann?«

Ja dann! Die dreihundert Taler, die sie mitgekriegt hat, die stecken hier in der Wirtschaft. Das Väterliche hat längst der Bruder. Wenn sie nun wiederkommt – ohne einen Groschen und ein Kind an jeder Hand, – wer wird sie aufnehmen? Betteln kann sie gehen.

Die Erdme denkt: »Wenn das Herz ihr nicht längst gebrochen wär', würd' sie schon durchkommen.«

Aber so! Wie Recht hat der Witkuhn gehabt! Auch die gehört zu den meisten, für die es zu spät ist.

Da hört die Erdme auf, in sie zu dringen, und denkt: »Dann werd' ich sie also zu Tode trösten.«

Und das hat sie auch redlich getan. Ein Lungenhusten ist gekommen, und die Frau ist schwächer und schwächer geworden. Und erst, als gar nirgends mehr ein anderer Weg zu erblicken war als der, der auf den Kirchhof führt, da hat sie zu hoffen begonnen und hat Pläne gemacht. Der Smailus werde verkaufen, ihr zuliebe werd' er verkaufen – genau so ist der Smailus! –, dann werden sie auf die Heide ziehen, und sie wird sich unter den Kadigbusch legen, wo es ganz warm und ganz trocken ist – und dann wird sie schlafen und schlafen – alle Angst und alle Müdigkeit wird sie ausschlafen.

Und darüber ist sie auch eingeschlafen. Aber es hat doch noch zwei Jahre gedauert. – –

In der Nacht nach dem Tode, so gegen Zwölfe, da gibt es ein Klopfen an Baltruschats Haus. Sie ziehen sich an. Der Nachbar Smailus ist da und weint dicke[] Tränen. Es ist ihm so graulich zu Haus, und ob sie ihn nicht behalten möchten bis gegen den Morgen.

»Da hast du's, Nachbar,« sagt die Erdme. »Erst konntest du's nicht erwarten, und jetzt tut es dir weh.«

»Es ist nicht ums Wehtun,« sagt er, »aber ohne Frau kann man nicht sein. Wer wird mir jetzt die Schweine futtern und die Kuh?«

»Ich denk', die hast du schon lange gefuttert,« sagt die Erdme.

»Das ist richtig,« sagt er, »aber sie war doch da.«

Und er sitzt und sitzt und trinkt einen Schnaps nach dem anderen. Und langsam wird er beredt. Was man beim Nachbar Smailus so nennen kann.

»Ich darf mich ja nicht beklagen,« sagt er, »denn das Sprichwort heißt: ›Der Bauer hat Glück, dem die Pferde stehen und die Frauen sterben.‹ Pferde hab' ich ja keine, aber von Frauen ist mir nun schon die dritte gestorben. Also hab' ich doch Glück. Aber so was ist leicht gesagt. Denn wo krieg' ich nun gleich die Vierte her?«

»Damit hat's ja noch Zeit,« tröstet die Erdme. »Laß sie doch erst unter der Erde sein.«

»Nein, damit hat's keine Zeit,« entgegnet er. »Die Trauerfrist werd' ich schon abwarten. Das versteht sich. Aber man muß sich doch umsehen. Und so eine, wie meine Dritte war, die findet sich nicht leicht. So sanft von Gemüt, und dreihundert Taler. Die hat mir auch noch die Ulele besorgt. Aber wo ist jetzt die Ulele?«

»Die Ulele ist doch leicht zu erreichen,« sagt die Erdme. »Die hat ja noch unlängst Wein geschickt zur Stärkung und Ölsardinen.«

Sie hat noch viel andere gute Sachen geschickt, die Ulele, aber die Ölsardinen haben der Erdme den stärksten Eindruck gemacht – in Erinnerung an den Glanz ihrer Mädchenzeit.

Und sie schlägt vor, der Ulele am nächsten Tage eine Depesche zu schicken. Berlin ist ja weit, aber denkbar wär's immerhin, daß sie käme.

[] »Wieviel kostet so eine Depesche?« fragt der Smailus. Und ob er womöglich auch noch die Reise bezahlen muß.

Die Erdme beruhigt ihn. Das Geld für die Depesche werde sie auslegen und sich später von der Ulele entrichten lassen. Was aber die Reise belangt, so sei die ohnehin viel, viel zu teuer für ihn.

Da willigt er ein und gibt auch gleich den Umschlag mit ihrer Adresse.

Ulele heißt sie nicht mehr. Sie heißt Adele.

Und wie sie zwei Tage später auf dem Bahnhof zu Heydekrug ankommt, da steigt sie aus einem Abteil mit roten Polstern und ist überhaupt eine Dame. In ganz Heydekrug gibt es nicht so eine Dame! Ganz in Schwarz mit langem Schleier und noch einem Schleier und noch einem Schleier. Nie im Leben hat die Erdme so viele schwarze Schleier gesehen.

Sie traut sich gar nicht an sie heran, obgleich sie den Wagen selber kutschiert, der die Nachbarstochter heimfahren soll. Die muß erst kommen und sie in die Arme schließen. Und das tut sie vor allen den Leuten und schämt sich nicht im geringsten.

Von nun an ist der Erdme alles egal. Sie denkt nicht mehr an die tote Nachbarsfrau, nicht an den Sarg, nicht ans Begräbnis – wo sie doch selber alles herrichten soll, denn der Smailus ist wie ein hilfloses Kind, – sie sieht bloß die Ulele.

Der Inbegriff von allem, was sie hat werden wollen und nicht geworden ist, das Abbild, das Vorbild von sämtlichen schönen Mädchen der Modebilder, die bei ihr an den Wänden kleben, das Feinste, das Höchste auf und über der Erde, Milda, die Göttin der Liebe, Laime, die Göttin des Glücks: das ist die Ulele. Keine Königstochter, keine Kellnerin kann so schön sein wie die Ulele.

Und sie spricht sogar Litauisch. Nie hat man solch eine Dame Litauisch sprechen gehört. Es geht zwar etwas humplig, aber es ist doch noch Litauisch.

Sie fragt gleich nach allem: »Wo ist der Vater? Wer [] macht den Sarg? Wer trägt mir Koffer und Kranz auf den Wagen?«

Einen Kranz hat sie mitgebracht mit dreißig Lilien, und es ist doch noch Winter.

Dann wünscht sie sofort zum Tischler Werdermann zu fahren, um den Sarg zu besehen. Und zum Fleischer Steil und zur Schmidtschen Destillation wegen des Leichenschmauses.

Sie befiehlt und wirft das Geld hin, und alles ist da.

Das ist die Ulele.

Aber stolz ist sie eigentlich nicht.

Noch ehe die Begräbnisgäste kommen, hat sie all ihre Schleier abgetan und sieht nun in dem langen, schwarzen Kleide gar nicht viel anders aus als eine Deutsche auf dem Szibbener Kirchhof.

Und wie die Erdme sie fragt, warum sie das tut, da sagt sie: »Ich bin ein dummes Kalb gewesen. Ich hab' mich von euch bewundern lassen wollen, und darum hab' ich mir all das Gefunzel gekauft. Aber jetzt schäm' ich mich recht vor eurem bißchen Armut.«

Und sie streichelt der, die im Sarge liegt, die gelben, knöchernen Hände und sagt: »Die hab' ich allein auf dem Gewissen.«

»Wieso?« fragt die Erdme.

»Sie hat ja niemals zum Vater gewollt, und nur auf mein Zureden ist sie gekommen.«

Während der Leichenfeier hält sie die Kinder auf dem Schoß und wischt ihnen die Näschen, aber sie sorgt auch für den Vater, daß der in seinem Kummer nicht nach hinten geht und zu viel trinkt. Und jedem der Gäste schenkt sie ein Stückchen Seife.

Nachdem nun alles vorbei ist, bleibt sie noch weitere acht Tage, ist aber selten zu sehen. Und wie die Erdme sie fragt, wo sie eigentlich immer steckt, da gibt sie zur Antwort: »Ich muß doch den Kindern eine Mutter besorgen.«

Am Abend vor ihrer Abfahrt kommt sie und setzt sich mit der Erdme an den Feuerherd.

[] »Ich glaube, jetzt wird es auch ohne mich weiter gehen,« sagt sie. »Sie ist aus Pagrienen und kennt die Moorwirtschaft schon. Auch etwas Geld hat sie, und das übrige leg' ich zu. Aber das darf der Vater nicht wissen. Damit er sie richtig in Ehren hält.«

»Du bist wohl sehr reich?« fragt die Erdme bewundernd.

Sie lächelt und sagt: »Eigentlich bin ich ärmer als ihr, nur bei euch hat das Geld einen anderen Wert.«

Und dann erzählt sie der Erdme ihre ganze Geschichte.

Sie hat alles genau so durchgeführt, wie es einmal in ihrem Kopf entstanden war. Hat die Wirtschaft gelernt, die Buchführung und die Verwaltung und ist jetzt mit ihren zwanzig Jahren Geschäftsleiterin in einer Seifenfabrik. Daß es kein Getreide ist, wie es einst ihr Vornehmen war, sondern bloß Seife, macht kaum einen Unterschied.

»Und wird Er dich heiraten?« fragt die Erdme begierig, denn sie hat jedes Wort im Gedächtnis behalten.

Die Ulele macht den Zeigefinger naß und streicht sich über die Augenbrauen. Das tut sie oft, wenn sie nachdenkt.

»Das geht nicht so leicht, wie man sich's vorgestellt hat,« sagt sie und lächelt. »Denn meistens ist schon eine Frau da, und wenn die einen gar noch ins Haus zieht und auch sonst gut ist, dann begnügt man sich gerne damit, daß Er manchmal abends zu einem kommt und bis Mitternacht bleibt. Dann muß man Ihn heimschicken, damit die Frau nicht Verdacht schöpft.«

»Aber Er gibt dir doch, was du willst?« fragt die Erdme mit blitzenden Augen.

»Was ich will, gibt Er mir schon,« sagt die Ulele. »Aber viel darf es nicht sein, damit die anderen nicht denken, daß man sich 'rumtreibt.«

Das begreift die Erdme nicht recht. Sie würde gegrapscht haben ohne Unterlaß, ohne Bedenken. So was versteht sich von selber.

»Und dann ist auch noch der Oberbuchhalter da,«[] fährt die Ulele fort, »der mich durchaus heiraten will. Der darf natürlich nichts ahnen und niemand. Darum muß man immer hübsch einfach sein. Nun ist die Frage: soll ich darauf hinarbeiten, daß Er ihn als Teilhaber annimmt, oder mach' ich mit diesem ein Seifengeschäft auf? Das erstere wäre mir lieber, denn dann bliebe ich in der Fabrik. Aber gleich von Anfang an zwei Männer – das ist mir zuviel. Und schließlich kommt's einmal 'raus, und die ganze Blase platzt auseinander. Ich werd's aber trotzdem wohl tun, denn ich lieb' die Fabrik wie mein Kind.«

»So hast du also doch durch das Mannsvolk dein Glück gemacht,« sagt die Erdme mit Stolz.

Die Ulele schüttelt den Kopf. »Dann sieht die Geschichte ganz anders aus,« sagt sie. »Stöckrig bin ich geblieben, und Busen hab' ich richtig auch heute noch nicht. Und wenn Er bei mir ist, reden wir vom Geschäft viel mehr als von Liebe. Durch Tätigkeit hab' ich's gemacht und durch Nachdenken, – aber natürlich: das Mannsvolk muß mithelfen, sonst bleibt man im Mustopf.«

Zum Abschied küßt sie die Erdme und küßt auch die Kinder. Und jedem schenkt sie ein Stückchen Seife, die riecht noch schöner als die beim Begräbnis.

An demselben Abend, nachdem Erdme die Kinder zur Ruhe gebracht hat, kniet sie an ihren Betten nieder und schwört bei Gott und bei dem Erlöser und dem Heiligen Geist, daß die ebenso fein und ebenso vornehm werden sollen wie die Ulele, die jetzt Adele heißt.

Und die sollen gerade durch das Mannsvolk ihr Glück machen.

12

Von der Katrike und der Urte hab' ich noch gar nichts erzählt.

Die sind nun schon längst zwei große Mädchen, gehen in die Schule und lernen ein vornehmes Deutsch. Und [] die Erdme spricht auch nur noch Deutsch mit ihnen, denn sie sollen ja in die weite Welt hinaus, dorthin, wo die Menschen nicht einmal wissen, daß es Litauer gibt. Sie ist unerbittlich, wenn sie das »h« nicht aussprechen können, und wie sie's endlich gelernt haben, da verwechseln sie »Ecke« und »Hecke« und sagen »der Uhn at Heier gelegt«. Und manchmal weiß die Erdme es selbst nicht.

Tagtäglich hält sie ihnen vor, daß sie zu was Besserem geschaffen sind, als sich hier von dem Moorschlamm die Beine verderben zu lassen, denn das Moor beizt und macht Schrunden und Risse. Darum sollen sie in den Kartoffeln nur arbeiten, wenn die knappe Zeit es dringend verlangt. Am liebsten schickt sie sie in die Wiese. Dort dürfen sie auf den Heuhaufen liegen und den Schwalben nachgucken, soviel es ihnen gefällt. So wie die Schwalbchen werden sie auch einmal in andere Gegenden ziehen, aber heimkehren zum Nestbau, das werden sie nicht. Dafür sind sie zu schade.

Und die beiden Marjellen nutzen die Freizeit nach Kräften. Sie treiben sich weit und breit im Moore herum und entdecken allsommerlich neue Gebiete.

Der Fremde, der solch eine Öde durchwandert, wird nicht leicht glauben, wieviel es darin zu entdecken gibt. Da steht mit einem Male ein Birkengebüsch – von fern sah es nach gar nichts aus, aber steckt man die Nase hinein, dann ist es voll von heimlichen Wundern. Rauschbeeren wachsen darin, die sind giftig, aber gerade darum ißt man sie gern, denn sie schmecken noch schöner als die Blaubeeren, denen sie ähneln, und sie machen die Sinne wirr und heiß, so daß man taumelt und einschläft. Und der ledrige Porst treibt Büsche, in denen man sich verstecken kann, noch besser als in dem kitzelnden Heu.

Und manchmal findet man Blänken und Teiche – nicht die viereckigen mit dem kohlschwarzen Steilrand, die durch Torfstechen künstlich gemacht sind – o nein doch – diese hier stehen seit Erschaffung der Welt und stechen von weitem ins Auge wie verborgene Spiegel, die einer im Sonnenlicht hin und her dreht.

[] Aber hinzukommen ist schwer. Von Humpel zu Humpel muß man springen, sonst versinkt man womöglich im Schlamm, und wer einen dann noch herausholt, wie kann man das wissen? Aber ist man erst da, dann hat man Freude genug. Ringsherum kriecht wohl Nadelgestrüpp, wie Knäuel von Schlangen durcheinandergewunden. Darin klettert man 'rum und genießt das eigene Fürchten. Und noch was weit, weit Schöneres gibt es. Das ist der Rasen, der in das Wasser hineinwächst und auf dem man sich schaukeln kann, noch lustiger als zwischen zwei Birken. Aber fix muß man sein und das Fliegen verstehen, denn der Rasen schwimmt oben auf, und will man verweilen, dann sinkt er schwer in die Tiefe. Auch sind seine Ränder sehr böse gesinnt. Denn nie kann man wissen, wie weit er hält. Mit einem Male kann das Wasser an einem hochspritzen, und wie man dann 'rauskommt, das weiß man noch weniger.

Aber das macht nichts. Bisher hat man sich immer gerettet. Zwei so'nnen Moorkröten wird das Moor doch nichts tun. Das wär' ja noch besser.

Im Winter freilich ist's schlimm – wenn man zur Schule muß und der Frost durch die Handschuhe durchbeißt, als wären sie leinene Lappen. Und in den Schlorren erfrieren die Füße. Da muß die Mutter zur Nacht Terpentin auflegen. Das brennt wie das höllische Feuer.

Und schlimmer noch ist der Schneesturm, wenn man die Hand vor den Augen nicht sieht und vom Wege abkommt, ohne daß man es merkt, und plötzlich im Schnee steckt bis über die Achseln.

Dann möchte man wohl gerne zu Hause bleiben wie die anderen, deren Eltern ein solcher Gang zu gefährlich erscheint. Aber wie nachsichtig die Mutter sonst wohl auch ist, hierin kennt sie kein Mitleid.

»Die Schule muß sein,« sagt sie, »denn wenn sie nicht lernen, können Besitzerstöchter niemals ihr Glück machen.«

Daß sie Besitzerstöchter sind, hören sie morgens und abends und bei jeder Gelegenheit. Keine Prinzessin kann öfter an den Vorzug ihrer Geburt erinnert werden als [] sie. Auch daß sie einmal in Samt und Seide gehen werden, wissen sie längst und putzen zunächst an den Lumpen herum, die zum Schulgang immer noch taugen. Aber ihre Sonntagsröcke sind fein – bunter Kattun aus dem Hoffmannschen Laden, mit weißen Spitzen besetzt – dreißig Pfennig das Meter. Und blanke Schuhe haben sie auch und Zwickelstrümpfe, die hat die Mutter selber bestickt.

Der Vater läßt es gehen, wie es geht; nur wenn sie mithelfen sollen und die Mutter meint, sie brauchen es nicht, dann trumpft er gelegentlich auf. Und dann muß sie klein beigeben. Wer weiß, ob er ihr sonst nicht eins überrisse.

Vom Vater wissen sie wenig. Meistens hockt er des Abends stumm auf der Ofenbank, oder, wenn er sich mit an den Tisch setzt, dann nimmt er ein Blatt Papier vor und rechnet.

Viel hat er zu rechnen, und viel hat er zu tun.

Das vierte Hektar ist nun schon gepachtet und damit der Höchststand erreicht. Das Pferd ist auch angeschafft, führt Kartoffeln zu Markte und bringt von der Wiese Grünfutter mit. Es ist eine braune, struppige Kragge mit Spatbeinen und einem hohlen Kreuz, aber es hat immerhin achtzig Taler gekostet, und die will es verdienen. Darum läuft es trotz seiner vierzehn Jahre noch immer mit Ehrgeiz, und wenn man neben dem Leiterwagen einen Spazierwagen hätte, grüngestrichen mit einem Lehnensitz, man könnte sich unter den Herrenleuten schon sehen lassen.

Aber solche Sprünge machen wir lange noch nicht. Wir sammeln Pfennig für Pfennig und tragen das Geld auf die Sparkasse. Erst muß das Pracherhaus heruntergerissen und statt seiner ein anderes aufgebaut werden, wie es die Großbesitzer haben, mit Kammer und Klete, mit Kachelofen und Dielen unter den Füßen.

Das Beste wäre, man versicherte so hoch, wie es geht, und steckte das Gekrassel dann an. Aber zwischen Versicherung und Brand müßten anstandshalber zwei Jahrchen liegen oder auch drei, sonst steigt einem womöglich [] der Staatsanwalt auf den Buckel. Versichern kann man ja immerhin schon des Stalls und des Viehzeugs wegen, das immer besser gedeiht und das auf dem Markte Preise kriegt, wie man sie niemals geträumt hat.

Ach, wie schön ist die Welt, wenn man darin vorwärts kommt und der liebe Gott seine Hände sichtbarlich ausstreckt, um Haus und Familie zu hüten!

Dann ist auch das Frommsein leicht, und die Kirchfahrt wird ein Vergnügen. Schon weil einen die Leute ansehen und sagen: »Das ist der Jons Baltruschat mit seiner Frau und zwei Töchtern. Der fing einmal ganz klein an und hat unlängst eine Belobigung bekommen für Mastvieh.«

Der Taruttis freilich ist böse. Er kommt nicht mehr, und keiner geht jemals zu ihm.

Bis endlich die Erdme sagt: »Ich muß ihm die Kinder bringen, damit er sieht, wer wir sind.«

Und sie putzt die Urte und die Katrike aus, steckt ihnen Kämme ins Haar und Schleifen unter den Halsrand und geht mit ihnen hinüber.

Er ist nun ein Greis, und die Taruttene pappelt wer weiß was.

»Nachbar,« sagt die Erdme, »du hast uns einmal Obdach gegeben, als wir jung waren und arm. Jetzt geht es uns gut, und darum kommen die Mädchen schön Dank sagen.«

Die Urte, die auch schon zwölfe ist, küßt ihm die Hand, und die Katrike will nicht, aber sie muß.

Der fromme Taruttis scheint inzwischen ganz übersinnig geworden. Er muß erst nachdenken, wer sie wohl sind, dann sagt er: »Ja ja – ja ja. Der Mensch ist boshaft von Anbeginn und bösen Trachtens voll. Und keine Reue hilft und keine Demütigung und kein Gebet. Darum soll er sich züchtigen mit Geißeln und den Kopf im Staube bergen vor seinem Gott.«

Die Erdme sagt gekränkt: »Wenn ich gewußt hätte, daß du so nachtragend bist, Nachbar, dann wär' ich nicht zu dir gekommen.«

[] Er versteht sie erst nicht und besinnt sich von neuem. Dann sagt er: »Es will mir scheinen, Nachbarin, du beziehst meine Worte auf dich, während ich doch nur mich selber im Sinne habe.«

»Wieso?« fragt die Erdme verwundert.

»Es gab einmal einen Tag, an dem habt ihr mich und meine gottgefälligen Freunde mit Kränkung von dannen gehen heißen. Da habe ich Lieblosigkeit gegen euch aufgesammelt in meinem Herzen und habe euch Übles antun wollen. Ich habe zwar nie gewußt, wie, und wenn ich es gewußt hätte, hätte ich es auch nicht gekonnt, aber daß ich bösem Willen eine Herberge geben konnte in meiner Seele, das ist eine schwere Sünde. Die bitte ich Gott ab, indem ich sie dir abbitte, Nachbarin.«

Und da geschieht das Wunderbare: der arme alte Mann kniet mühsam vor ihr nieder und hebt die Arme zu ihr auf, so daß sie Arbeit genug hat, ihn wieder hochzuziehen.

Die beiden Marjellen aber lachen sich eins und ma chen, daß sie hinauskommen. Und wenn Jahre nachher eine der anderen einen Schabernack spielt, dann verlangt sie von ihr noch dazu, daß sie niederkniet und Abbitte leistet, sonst sei sie kein gottgefälliges Mädchen.

Und dann vertragen sie sich und lachen immer aufs neue.

Aber über Einen lachen sie nicht. Der geht als der Baubau – »der Baboszius«, wie die Litauer sagen – durch ihre ganze Kinderzeit. Vor dem zittern sie, wenn sie nur an ihn denken.

Das ist der alte Raubmörder drüben in der baufälligen Kate, der korbflechtend am Wege sitzt und sie mit rotem Gaumen angrinst, wenn sie, aus der Schule kommend, vorbeimüssen. Dann nehmen sie die Röcke zwischen die Beine, und heidi! jagen sie quer übers Moor – über Kartoffeläcker und Gräben der schützenden Heimat entgegen.

Und doch hat er ihnen nie etwas getan.

Der Nachbar Witkuhn hingegen ist ihnen ein gütiger Onkel, bringt Gerstenzucker und Walnüsse mit und schenkt [] ihnen deutsche Bücher. Darin stehen Geschichten von Königstöchtern und Prinzen und anderen vornehmen Leuten, zu denen sie hingehören. Seine siechende Frau lebt immer noch und läßt sich von der Mutter betreuen. Aber ihnen sollte es einfallen, für fremde Leute Magddienste zu tun!

Und möchte die Urte noch allenfalls, die Katrike ließ' es nicht zu, denn warum so was Unnützes überhaupt lebt, dafür gibt es keine Erklärung.

Die Frau des Smailus – die vierte – ist ihnen nicht grün und will kaum einmal, daß die Kinder mit ihnen spielen. Sie ist eine spitze Person, die ihren Mann hält, als wär' er ihr Knecht.

Aber die Wirtschaft gedeiht. Nur kommt der Smailus bisweilen und klagt: »Was können die Pferde mir helfen, die jetzt im Stalle stehen, und die gestorbenen Frauen? Denn ich bang' mich so sehr nach der Dritten.«

Und dann sagt die Mutter bloß: »Siehst du, Nachbar, da hast du's.« – – –

Urte hat weiße Glieder und einen anschlägigen Kopf und soll drum in der Fremde ihr Glück machen.

Die Katrike wird nächstens zum Unterricht gehn. Sie wächst und wächst dem lieben Gott ein Loch in den Himmel. Und darum wird sie »das Katzchen« genannt. Faul ist sie wie die Pest. Sie muß daher ein Rittergut haben. Und so ist alles aufs beste bestellt.

13

Joijoi! Wassersnot! Joijoi! Wassersnot! Wassersnot!

Was heißt Wassersnot? Das bißchen Wasser wird man doch noch aushalten können. Das ist doch fast in jedem Frühling so gewesen.

Aber man hat erzählt, die Leute, die vom großen Strom herkommen, haben Vieh angebunden und Betten aufgeladen. In langer Reihe stehen die Wagen auf dem [] Rußner Chausseedamm, und vor der langen Brücke sollen sie aufeinandergefahren sein und nicht mehr weiter können. Der Heydekrüger Markt sei übervoll, und nirgends mehr geb' es ein Obdach.

Die Erdme sagt zum Jons: »Sieh doch mal nach, was dran wahr ist.«

Der zieht die langen Stiefel an und planscht drauf los.

Der Hof steht unter Wasser. Das will am Ende nicht viel sagen. Der Knüppelweg steht auch unter Wasser, aber der Boden darunter ist noch steif gefroren. Man kann vom Fenster aus sehen, daß er fest hält. Wie der Jons marschiert, macht das Wasser spielende Wellchen über dem Fußgelenk. Sänke er ein, dann würde es spritzen.

Die Nachbarhäuser drüben stehen im grauen Nebel und scheinen so weit weg, daß man meinen könnte, sie seien aus einer anderen Welt.

Alles ist still, und kein Windchen rührt sich, und die Dächer tropfen.

Dann hebt im Stall die Rotbunte zu brüllen an. Die Kühe haben heute früh noch kein Heu gekriegt, und die Schweine quaksen.

Die Erdme sagt zu den beiden Marjellen: »Wir müssen abfüttern gehen.« Aber die wollen nicht 'ran, denn das Wasser ist naß.

So zieht sie sich also die Strümpfe aus, schnürt die Röcke hoch und geht auf Klotzkorken nach dem Hof.

Die Bretter, die bis zum Stall gelegt sind, schwimmen schon, und wenn man von einem zum anderen springt, dann knallt das Wasser nur so in die Höhe.

Aber man kommt doch noch hin.

Den Schweinen geht das Wasser schon an die Läufe. Sie sind unruhig und fressen nicht. Die Schwarzweiße hingegen hat Hunger. Die kommt aus der Niederung und kennt den Dienst. Aber die Rotbunte macht Sperenzchen. Die will trocken stehen. Brav ist natürlich das Pferdchen, obwohl ihm die nasse Streu kein Vergnügen bereitet. Die Erdme hilft, so gut sie kann, aber sie müßte den Stallboden [] um einen Fuß höher legen, und dazu gehört sine Sommerarbeit von vierzehn Tagen.

Sie will sich von den Tieren nicht trennen, läuft von einem zum anderen und klopft ihnen beruhigend die Hälse. Mehr kann sie nicht tun.

Da hört sie vom Wohnhaus her schreien: »Mamma! Mamma!«

»Was ist?«

»Das Wasser ist in der Stube!«

Also zurück.

Jetzt wollen die Bretter schon nicht mehr halten. Tritt man darauf, so gleiten sie seitwärts, und man sieht sich im Wasser bis über die Waden. Aber man kommt doch noch immer zurück.

Richtig! Das Wasser steht in der Stube. Gar nicht wie ein Gast, der nicht hingehört. Hat sich ganz häuslich eingerichtet. Und man kann sich drin spiegeln.

Die Marjellen sehen sie vorwurfsvoll an und sagen: »Wo sollen wir nun sitzen?«

»Setzt euch auf den Tisch,« sagt die Erdme. Ihr sind die Beine wie Eis. Sie sucht einen Wollenlappen, um sie zu reiben, und öffnet den Kasten. Da ist das Wasser schon an den Kleidern hochgeklettert und hat alles verfeuchtet. So setzt sie sich auf die Ofenbank und hebt die Beine an der heißen Ziegelwand hoch, denn geheizt ist noch worden. Das wärmt sie wieder ein bißchen.

Die Marjellen haben sich richtig auf den Tisch gehuckt, wo das Frühstück noch 'rumsteht. Sie brechen sich Brotkampen ab und stupsen sie in die Schmalzschüssel. Zum Schmieren sind sie zu träge ...

Die Erdme will die Füße zur Erde sinken lassen, aber erschrocken zieht sie sie wieder zurück, denn das Wasser reicht auch hier schon bis über die Knöchel. Und von unter dem Bett her kommen Kartoffeln geschwommen und der Schmandtopf zum Buttern.

Den fischt sich die Urte glücklich auf, und da nun doch nicht gebuttert wird, so trinken sie ihn umzech aus, und jede freut sich an dem weißen Schnurrbart der anderen.

[] »Mamma,« sagt die Katrike, »wenn wir hier 'raus müssen, wer wird uns dann abholen kommen?«

»Der König wird einen Prinzen schicken,« sagt die Erdme, die sich zu ärgern anfängt.

Und sie wollen sich schief lachen.

Aber da fällt ihnen ein, daß ihre Wichsschuhe in dem Kleiderschrank auf dem Boden stehen und notwendig naß werden müssen.

»Ach, Mamma,« sagt die Katrike, »du hast ja schon sowieso kalte Füße. Sei so gut und hol uns die Schuhe.«

»Holt sie euch selber,« sagt die Erdme, die immer noch zittert.

Darüber sind sie sehr ungehalten, aber da die Katrike am Mittwoch zum Unterricht muß, so gibt sie sich drein und schiebt mit dem Fuß einen Stuhl bis in die Gegend des Schrankes. Auf dem Sitz kniet sie nieder und öffnet die Schranktür. Die Schuhe schwimmen schon längst, und einer ist umgekippt, so daß beim Hochheben das Wasser im Bogen herausläuft.

Nun fangen sie an zu heulen, als ob jetzt erst ein Unglück geschehen ist. Wenn die eine Ahnung hätten, was ihnen bevorsteht!

Die Erdme fühlt sich immer ratloser werden.

»Paßt auf, ob der Vater kommt,« sagt sie zu den Marjellen.

Die kucken zum Fenster 'raus und sagen nach einer Weile: »Der Nachbar Witkuhn will das Vieh auf den Weg treiben, aber sie gehen nicht.«

»Ist es schon so weit?« denkt die Erdme, und das Herz steigt ihr hoch. Doch dann gibt sie sich einen Stoß und springt von der Ofenbank 'runter. Wie oft hat sie im eiskalten Grabenwasser gestanden, stundenlang – sie wird auch das aushalten können.

»Kommt mit in den Stall,« sagt sie.

Die beiden glauben nicht recht gehört zu haben. Quer durch die Überschwemmung – o pfui doch!

»Dann ersauft meinetwegen hier,« sagt sie.

Da leuchtet es ihnen schon eher ein.

[] Draußen reicht das Wasser bereits bis an die Knie, und den Marjellen noch höher. Sie heulen und schimpfen, aber hinterher laufen sie doch.

Das Vieh ist ganz wie verrückt. Die Schweine drehen sich quiekend im Kreise, und die Kühe reißen ihr mit den Halftern die Hände wund. Nur das Pferdchen steht voll Ergebung und zittert.

Mein Gott, und der Vater kommt immer noch nicht!

Da plötzlich steht der Nachbar Witkuhn hinter ihr – naß bis gegen den Nabel.

»Ich hab' mein Vieh dem Smailus mitgegeben,« sagt er. »Die Schweine sind in den Graben geraten und werden ertrinken. Eure kriegt ihr schon nicht mehr heraus.«

»Was wird werden, Nachbar?« Sie ringt die Hände.

»Euer Heuboden hat Raum. Es ist das Beste, ihr schafft die Kühe hinauf.«

Die Erdme glaubt nicht recht gehört zu haben. Seit wann kann eine Kuh die Leiter hochklettern?

»Bringt Säge und Schaufeln,« sagt er. »Auch Mistgabeln bringt, ich werd's euch zeigen. Dann muß ich 'rüber, meine Frau auf den Boden tragen. Die liegt im Bett und kann sich nicht rühren.«

Säge und Schaufeln sind da. Auch zwei Mistgabeln.

»Draußen liegen Ziegel vom Bau her,« sagt er weiter, »die klaut aus dem Wasser und schafft sie herein.«

Und wie die Marjellen nicht wollen, da gibt er jeder einen Stoß gegen den Hintern. Das hilft. Nun bringen sie auf nassen Armen die Ziegel, und die Katrike schimpft, sie wird sich erkälten.

Der Nachbar Witkuhn breitet eine Schicht auf dem Estrich aus, gerade unter der Luke, und dann noch eine. Darauf stellt er die Rotbunte, die ihm willig folgt. Und dann fängt er Mist zu staken an, der Kuh immer unter die Hufe, so daß sie höher steigt, ob sie will oder nicht.

»So macht's weiter,« sagt er und schwingt sich hinauf durch die Luke. Deren Bretter sägt er ringsum entzwei und macht das Loch so groß, daß eine Kuh ohne Beschwerde hindurch kann.

[] Die Rotbunte reicht mit dem Kopf schon gegen die Decke, aber unten weicht das Wasser die Mistschicht auf, so daß sie wegfließen will.

»Stemmt Bretter gegen!« sagt er. Die Marjellen tun's. Nun sie naß sind bis gegen den Hals hin, arbeiten sie kräftig. Denn das ist das einzige, was sie vor dem Erstarren bewahrt.

Die Schweine stehen auf den Hinterläufen und trippeln an der Wand entlang wie große Ratten im Käfig.

Wer wird sie heben können? Denn um stille zu halten, sind sie zu dumm.

»Manneskraft fehlt,« sagt der Nachbar. Dann, sich vor die Stirn fassend, stöhnt er leise: »Und sie liegt und kann sich nicht rühren.«

Man sieht, ihm schlägt das Gewissen, aber er bleibt. Es ist ja die Erdme, die ihn braucht.

Und wie die Rotbunte eben schon oben ist, da steht der Jons mit einem Male da – naß wie eine ertränkte Katze.

»Ich hatt' einen Kahn beschafft für euch,« sagt er, »da haben die anderen mich 'rausgeschmissen. Im Kampf ist der Kahn umgeschlagen, und ein Kind ist ertrunken. Von nun kommt keiner mehr zu Fuß bis an den Chausseedamm.«

Die Erdme befühlt ihn. Seine Glieder sind starr. Nur ein Rucken zeigt, daß noch Leben in ihnen ist.

»Nachbar,« sagt der Witkuhn, »die eine Kuh ist oben. Versuch's mit der anderen. Die Erdme weiß, wie. Das Pferd laß 'raus, das schwimmt zum Damm von alleine. Aber die Schweine müssen ersaufen.«

»Vielleicht krieg' ich sie auch noch 'rauf,« sagt der Jons.

»Unmöglich ist nichts,« sagt der Nachbar und planscht zur Tür.

»Wo willst du hin?« fragt der Jons.

»Meine Frau liegt im Bett und kann sich nicht rühren!«

»Dann bet ein Vaterunser für sie,« sagt der Jons. »Jenseits des Wegs ist jetzt Strömung. Durch die kannst du nicht durch. Und erklammen tust du auch.«

[] »Ich muß!« sagt der Nachbar und geht. –

Sie tragen den Misthaufen ab. Dessen Stücke schwimmen nun 'rum. Auch die Schwarzweiße folgt willig auf die Ziegelerhöhung, doch der Mist will unter dem Wasser jetzt nicht mehr halten. Der Jons bricht die Raufen entzwei und nimmt den Schweinen die Tröge weg. So kommt Festigkeit in den Bau.

Die Schweine in ihrer Todesangst klettern jetzt an den Menschen hoch – man muß sie mit Mühe abwehren –, und auch das Pferdchen wird unruhig.

Jons führt es hinaus, und richtig! Nachdem es eine Weile lang in den Stall zurückgewollt hat, begibt es sich klug auf die Reise.

Sie schaufeln und staken und staken und schaufeln und nutzen jeden Eimer und jede Tonne, um selber so hoch wie möglich zu stehen.

Wie sie auch die Schwarzweiße oben haben, da liegt schon das eine der Schweine regungslos auf dem Wasser. Das andere, das immer noch quiekt, schieben sie den Mistberg hoch, so daß es halb erwürgt oben ankommt.

Essen fehlt. Trockene Kleider fehlen.

Der Jons kann nicht mehr. Er liegt im Heu und hat Krämpfe.

»Ich geh' ins Haus und hole, was nötig ist,« sagt die Erdme.

Die Marjellen schreien: »Du wirst ertrinken!« Aber sie macht sich nichts draus.

Das Wasser auf dem Hofe geht ihr bis an die Brust. Es steht nicht mehr still wie zuvor. Wirbel kreisen und führen Eisstücke mit sich, dicker als Torfziegel. Die kommen sicher vom Strome. Es muß also ein Dammbruch geschehen sein.

Aber die Luft ist ruhig. Es scheint frieren zu wollen über Nacht. Aus der Gegend der Chaussee kommt ein dumpfes Gebrause von Menschen und Tieren. Ab und zu ein Schrei wie aus Todesnot. Aber ringsum ist alles still. Wie längst gestorben ist alles.

[] Im Hause reicht das Wasser schon bis gegen die Tischplatte. Die Stühle schwimmen. Die im Schranke verwahrten Kleider sind oben noch trocken. Nur das unterste Stück hängt ins Wasser.

Sie rafft, was sie raffen kann. Ein Glück ist's, daß dem Jons sein Schafpelz zum Trocknen noch auf dem Ofen liegt. Er wenigstens wird Wärme haben.

Zwei-, dreimal geht sie beladen hin und her, die Arme hochhaltend, und immer schwieriger werden die Wirbel.

Dann zieht sie sich aus, reibt sich mit Heu die Glieder warm und wühlt sich nackt in den Haufen. Und während die Marjellen kreischen und Jons im Fieber sich schüttelt, schläft sie ein und schläft die ganze Nacht durch wie ein Sack. –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Die Dämmerung ist rot, und auf dem Wasser glänzt eine dünne, blaßblaue Eisschicht, in die schneegraue Blöcke eingefroren sind.

Sie denkt an die Prophezeiung des alten Raubmörders. Wer jetzt noch gegen das Wasser an wollte, dem würde das haarscharfe Eis mit tausend Messern das Fleisch zerschneiden.

Nun hat sich alles erfüllt, womit der Alte ihr einstmals drohte. Nur daß sie nicht im Schornstein stecken. Freilich wären sie drüben im Hause geblieben, weiß Gott, wie es dann aussähe! Das, was dort Dach heißt, hätte sie niemals getragen. Die Pfosten stehen windschief, das Haus sieht aus wie eine Roggenhocke kurz vor dem Umfall. –

Sie steht auf und zieht sich an. – Die Röcke von gestern sind noch patschnaß, aber die mitgebrachten scheinen fast trocken.

Die Marjellen schlafen, und Jons in seinem Fieber redet Dummzeug. Die Kühe haben sich eingerichtet, und das Schwein will sein Frühstück.

Wie sie ordentlich auftritt, merkt sie, daß auch der Stall nicht mehr festhält. Und der war doch wie für die Ewigkeit gebaut.

[] Wie geht's denn mit den Häusern ringsum? Heute ist klare Luft. Man sieht sie, als wäre man dicht davor. Beim Nachbar Witkuhn läuft das Wasser zur Bodenluke heraus. Ob er heimgekommen sein mag? Ob die Frau wohl noch lebt? Beim Nachbar Smailus hat der Schornstein das Dach durchschlagen, denn der bestand bis hoch oben aus Ziegeln.

Und dicht daneben? Was ist das? Da steht ja ein anderes Haus, das gestern nicht da war! – Wie kommt das dahin? Dafür ist die Kate des alten Raubmörders von ihrem Platze verschwunden.

Um Himmelswillen – das fremde Haus dicht neben dem Hof des Smailus, das ist sie ja!

Und sie steht auch da nicht einmal fest. Langsam, langsam treibt sie der Wasserdrang vor sich her. In jedem Augenblick verschiebt sich die Richtung gegen den Hof hin.

Oder ist es am Ende gar nicht das Wasser, das sie weiter bewegt? So viel Kraft kann das kaum haben, denn dann gäb' es ja keine Eisschicht. Und was bedeutet die Stange, die sich am hinteren Ende hebt und senkt?

Das ist gar keine Kate mehr, das ist ein Kahn. – Ein Kahn, der sich fortbewegt, ein Kahn, der gelenkt wird.

Und hat das alte Schreckgespenst nicht einst von einer Arche Noah gesprochen?

Das ist sie ja. Da kommt sie ja. Langsam kommt sie, aber sie kommt. Kommt sie nicht gar auf ihr Haus zu, oder fährt sie vorbei?

Erdme streckt die Arme zur Luke hinaus und schreit: »Hierher! Hierher!«

Die beiden Marjellen fahren hoch: »Mamma, was ist?«

»Schreit, schreit, schreit!«

Und alle drei schreien: »Hierher! Hierher! Hierher!«

Jetzt ist sie schon nah an dem Zufahrtsweg, dort, wo die Birken bis an die Kronen im Eise stehen.

Wahrhaftig, es ist ein richtiger Prahm mit hochstehenden Rändern. Die hat er all die Jahre mit Mist zugedeckt, damit die Nachbarn nichts ahnen.

»Hierher! Hierher!«

[] Und jetzt hört man schon das Zerspellen des Eises, das sich am Holze hochschiebt und klingende Risse voraufwirft.

Und jetzt wird der Alte selber sichtbar. Die Lumpen eines Schafpelzes hängen an ihm herum. Er schwingt die Stange und lacht – lacht – lacht.

»Nachbar, hierher!«

»Jetzt bin ich mit einmal der Nachbar – hä? – Der geliebte Nachbar! Der wertvolle Nachbar – hä? Wenn wir jetzt eine Talka machen wollten, dann wär' ich euch nicht zu schlecht – hä?«

»Nachbar – vergiß und hilf!«

»Nichts wird vergessen! Keine Ehrenkränkung! Und kein Abseitsrücken! Jetzt wird spazierengefahren an allen vorbei, die ertrinken, und gelacht wird wie bei einer Hochzeit.«

»Nachbar – erbarm dich!«

»Hast du dich erbarmt? Ja, du hast dich erbarmt! Du hast mir einmal ein Stück Hochzeitsfladen hingeworfen. Hast es wohl längst vergessen. Aber ich nicht. Darum bist du eingeladen, Hochzeit zu feiern bei mir. – Du und was mit dir da drin ist.«

»Jons, steh auf!«

Der Jons ist wer weiß wo. Der träumt von Sommerwiesen und Heuaust. Und die Marjellen schreien, sie wollen nicht. Sie wollen lieber ertrinken als zu dem Raubmörder ins Haus.

Aber die Erdme fackelt nicht lang'. Sie kriegt die Urte zu packen und wirft sie dem Alten aufs Dach, so daß die Rohrschicht beinahe entzweiknallt. Und mit der Katrike macht sie's nicht anders.

Aber der Jons! Der Jons! »Jons, steh auf, wir müssen in die Wiesen!«

Und wahrhaftigen Gott, er steht auf. Er läßt sich auch den Pelz anziehen, mit dem er über Nacht bedeckt war.

Aber nun 'runter. Wie schafft man ihn 'runter? Denn auch ihn aufs Dach werfen – das geht nicht. Er würde abrutschen und ins Wasser stürzen.

[] »Jons, spring! Nimm Vernunft an und spring!«

Aber das tut er nicht. Er muß ja in die Wiesen.

Da kommt sie auf den Gedanken, Heu durch die Luft zu werfen, so daß es das Rohrdach in Haufen bedeckt.

»Jons, sieh, da steht das Fuder! Spring 'rauf, sonst fahren wir ohne dich nach Haus.«

Heufuder! Das leuchtet ihm ein. Und – Gott sei gesegnet! Er springt. Bleibt in dem Rohrloch stecken, und da ist er geborgen!

Das Vieh kann natürlich nicht mitgeführt werden. Die Kühe haben Futter, aber das Schwein muß verhungern, wenn es sich nicht von dem Miste ernährt.

Also los!

Und der Alte wendet und stakt dem Chausseedamm entgegen.

»Willst du denn keinem sonst helfen, Nachbar?«

»Wer hat mir geholfen – hä?«

»Der Taruttis hat für dich gebetet.«

»Aber gesprochen hat er nicht mit mir – und der Taruttis ist auch schon weg.«

»Aber der Witkuhn ist noch da und seine todkranke Frau.«

»Der Witkuhn soll ersaufen. Ersaufen sollen sie alle.«

»Der Witkuhn wird nicht ersaufen. Und wenn du mir nicht gehorchst – ich bin stärker als du und schmeiß' dich ins Wasser.«

»Ist das der Dank, du Bestije?«

»Ob Dank oder nicht – ich schmeiß' dich ins Wasser.«

Sie hat Fäuste wie Eisen – das merkt er sofort und läßt schimpfend die Stake in ihrer Hand.

Und sie lenkt hinüber zum Weg – an den eingefrorenen Birken entlang und über den Weg hinweg. Langsam geht es – o Gott, wie langsam! – Das Eis knirscht, als fletscht es ihr tausend grimmige Zähne entgegen, und der Alte tanzt hin und her und droht, er wird die Axt holen und sie erschlagen; aber sie lacht nur und stakt, bis die Witkuhnsche Wirtschaft dicht vor ihr liegt.

»Nachbar! Nachbar Witkuhn!«

[] Nichts rührt sich. Keine Seele scheint mehr lebendig. Nur die Katze sitzt auf dem Dachfirst und knaut. Und das Wasser spült über das zersplitterte Eis weg rund um den Giebel.

»Nachbar Witkuhn!«

Da – was schiebt sich aus der schwarzen Luke langsam ins Helle? Ein Bett kommt gekrochen, und in dem Bett liegt mit Stricken beschnürt die tote Frau, und der Nachbar geht hinterher und schiebt.

Das Bett planscht ins Wasser, und der Nachbar schwimmt hinterher. Und schließlich kommt auch die Katze gesprungen. Wie das Bett hinten festgebunden ist, klettert der Nachbar zu ihnen herein.

»Wie fandst du sie?«

»Ob sie ertrunken ist oder erfroren, das weiß ich nicht. Als ich sie auf den Boden hob, war sie längst tot.«

Weiterfahren!

Der Nachbar Witkuhn reicht dem Alten dankbar die Hand. Und der nimmt sie auch und hält sie ganz gierig, als hätte er die Rettung vollbracht.

Und nun will er auch wieder staken. Er verspricht, an keiner Wirtschaft vorbeizufahren, aus der noch Rufe erschallen. Er hat am Retten Geschmack gefunden, seitdem eine Menschenhand in der seinigen lag.

Aber Erdme gibt die Stange dem Nachbar Witkuhn, denn er ist naß und darf nicht erklammen. Jetzt erst hat sie Zeit, sich umzusehen. Die beiden Marjellen sitzen zusammengekrochen im Winkel, und der Jons stöhnt oben im Rohrdach.

Komisch ist die Behausung. Nicht viel geräumiger als ein Ziegenverschlag. Der Fußboden besteht aus langen Rudern, den Putschinen, mit denen die Flößer ihre Holztriften lenken. Die hat er dicht neben einander gelegt und die Ritzen mit Sorgfalt verstopft und verteert. Ein Bett und ein eiserner Ofen – viel mehr steht nicht drin. Und da kein Herd da ist, der einen Untergrund braucht, so kann das Ganze vom steigenden Wasser sich hochheben lassen, wie irgend ein Floß oder Prahm.

[] Noch aus drei Häusern holen sie die nassen und steifgefrorenen Bewohner. Die dürfen ins Innere kriechen und sich erwärmen, denn Kohlen zum Heizen sind auch da.

Der alte Raubmörder geht immer von einem zum andern und kriegt nicht genug Hände zu schütteln. Wer es nicht will, den beschimpft er.

So kommen sie näher und näher an den Chausseedamm, an dessen Höhe dem Wasser kaum noch ein Zoll fehlt.

Das Vieh steht dort und brüllt nach Stall und nach Futterung, und auf den Wagen weinen die frierenden Kinder, und Frauen rennen herum mit Eimern voll dampfendem Kaffee.

Und überall die Stimme des Moorvogts. Vorne und hinten, in Streit und in Jammer – überall ist der Moorvogt und schlichtet und hilft und schiebt die Achsen und halftert das Vieh und ordnet die allmähliche Abfahrt.

Er ist auch der erste, der das Haus heranschwimmen sieht und den Bootshaken streckt, an dem man sich festhält.

»Also das war dein Kunststück,« sagt er zu dem aussteigenden Alten. Und der nicht faul, verlangt sofort seine Pension.

»Erst geht in mein Haus und wärmt euch,« sagt der Moorvogt. Da gewahrt er das Bett mit der toten Frau, das immer noch hinterherschwimmt. Sein Gesicht, das von dem zweinächtigen Tagewerk wild gedunsen und rot ist, wird lang und grau. Er schlägt sich mit den Fäusten vor die Stirn, und wie einer, den beim letzten kleinen Anlaß Verzweiflung überkommt, sagt er leis' vor sich hin:

»Alles umsonst. Zwanzig Jahre Arbeit umsonst.«

Aber in demselben Augenblick hat er sich schon einen Ruck gegeben und ist obenauf. Niemand als die Erdme hat den heimlichen Aufschrei gehört.

Das Bett wird losgemacht und an den Chausseedamm herangefischt. Und während es langsam dem Wasser entsteigt, ziehen die Männer die Mützen vom Kopf. Einer stimmt an, und alle bis weit in die Ferne hinein, auch [] jene, die noch nicht wissen können, was los ist, singen das alte Begräbnislied:

Jau su Diewu gywenkite

Jus mylimi, ne werkite,

Kunelí manó dekite

I zemé ir pakaskite.

Das heißt auf deutsch:

»Lebt in Gottes Schutz, ihr Lieben,

Weint nicht, nun ich selig werde,

Und den Leib, der hier geblieben,

Senket in die dunkle Erde.«

Laut und andächtig singen sie, denn wenn es, Gott sei gedankt, auch nur wenige Tote gab, jeder hat ja eine Hoffnung begraben.

Bloß einem geht es so gut wie noch nie.

Das ist der alte Raubmörder.

Der sitzt in der guten Stube des Moorvogts mitten auf dem gestreiften Sofa, hat die Hände um einen Topf mit heißem Kaffee gelegt, keift, speit, zeigt die Gaumen und erzählt allen, die ihn voll Achtung umstehen, wie klug vorausschauend er einst sein Haus umgebaut hat und wie vielen durch seine Guttat heute das Leben erhalten blieb. Darum und aus noch vielen anderen Gründen wird er jetzt auch vom Staat eine Pension bekommen und hochgeehrt seine Tage beschließen.

14

Wie kann der Frühling so unbarmherzig sein!

Je wärmer die Tage werden, desto frostigere Nebel haucht das durchkältete Moor; je heller die Sonne scheint, desto mehr Elend bringt sie zutage.

Der Jons ist von seiner Lungenentzündung aufgestanden und schleicht am Stock wie ein nichtsnutziger Greis. Im Kreislazarett hat er gelegen, und Erdme mitsamt den Marjellen ist derweilen bei Fremden in Pflege gewesen.

[] Nun sich das Wasser verläuft, können die Moorleute endlich wieder zurück.

Aber Gott behüte uns vor dem, was sie da finden!

Das Wohnhaus, das Jons und Erdme vor fünfzehn Jahren erbauten, das steht zwar noch – aber nur dem Scheine nach steht es. Wenn einer stark schüttelt, dann fällt die Kabache zusammen. Tritt man ein, so stinkt es nach Moder und Verwesung. Der Estrich ist aufgequollen, der Herd auseinandergespellt, und was von dem Ofen übrig blieb, sieht aus wie ein mächtiger Maulwurfshaufen. Die ganze Stube füllt es mit Lehm und mit Ziegeln bis in die Tischecke hin.

Ein Wohnen darin ist unmöglich.

Darum beschließt die Erdme, mit dem noch krankenden Mann und den Töchtern zum Stall hin überzusiedeln. Das Vieh ist von den Pionieren geholt worden, die an jenem Tage im Extrazug aus Königsberg kamen. Und das Pferdchen fand sich richtig auf dem Chausseedamm. Die müssen sich alle mit der linken Seite behelfen, die rechte, wo früher die Schweine hausten, wird Wohnung.

Jons ist mit allem zufrieden, aber die Marjellen wollen nicht 'ran. In einem Schweinestall zu wohnen, hätten Besitzerstöchter nicht nötig. Das sei eine Entwürdigung. Besonders wenn man dicht vor der Fräuleinschaft steht.

Doch das Bösesein hilft ihnen nichts, und der trostlose Zustand dauert nicht ewig. Denn dort, wo vor jenen Zeiten Jons und Erdme sich mühten, um mit Hilfe der Nachbarn aus vier Kieferstangen und vier Dutzend Schwarten ein Haus zu errichten, rücken eines Tages die Zimmerleute an, und langgestreckte Gefährte bringen Balken und Bretter.

Das ist nun freilich ein anderer Hausbau als damals! – Der Raiffeisenverein hilft, und was noch fehlen mag, liegt auf der Sparbank.

Der Meister hat einen Grundriß gemacht für eine Große und eine Kleine Stube, für Kammern und Klete, und statt des lehmbeschmierten Ziegelgestells wird ein glitzernder Kachelofen herrlich erstehen.

[] In die gleiche Zeit fällt ein Ereignis, das den Stolz der Familie noch weiter in die Höhe hebt.

Das Unglück, das dem Moor widerfuhr, ist in der weiten Welt nicht unbemerkt geblieben. Die Zeitungen der Hauptstadt haben lange Schilderungen gebracht, und sowohl die rettende Arche Noah als auch die Frauenleiche im schwimmenden Bett sind beschrieben und abgebildet gewesen. Wenn die arme Frau Witkuhn, die auf Erden so lange und so still gelitten hat, vom Himmel herabschauen könnte, so sähe sie sich zu ihrem Erstaunen als eine Berühmtheit gefeiert.

In den großen Städten haben die schönen jungen Damen zugunsten der Überschwemmten getanzt, gegessen, gesungen und Theater gespielt. Haben Bonbons, Ansichtskarten, Hutnadeln, Schaumwein und Küsse verkauft und sind, wenn das Glück gut war, dabei zu einem Gatten gekommen.

Vor allem aber hat man seine Schränke durchwühlt und dabei vielerlei Sachen gefunden, die den ihrer Habe beraubten Moorleuten von höchstem Werte sein mußten: Festkleider von vor sechs Jahren, durchgescheuerte Unterröcke, zerpliesertes Pelzwerk, Sportjacken mit Mottenlöchern, vertanzte Seiden-, vertretene Lackschuhe, gespenstische Bademäntel und zu alledem Hüte für jede Jahreszeit, verblaßt, verbogen, verbeult, verregnet, aber jenen Hinterwäldlern gewiß der Inbegriff aller irdischen Pracht.

Auch die feinen Herren haben das ihre getan. Die einen haben alte Hochgebirgskostüme geliefert, weil ihnen etwas vom Hochmoor erinnerlich war. Die anderen haben weißen Flanell bevorzugt, weil so ein Moor doch nahe am Seestrand liegt. Aber fast alle haben dem ländlichen Wesen der Notleidenden entsprechend ihren Gaben den Charakter der Sommerfrische gegeben. Nur einzelne meinten, so auf gute Weise ihr altes Ballzeug loswerden zu können.

Kisten und Kisten wurden verfrachtet und gingen per Eilzug an den Heydekrüger Frauenverein. Endlich, endlich werden die armen, nackten Moorleute was anzuziehen kriegen!

[] Wie die Vorstandsdamen den bunten Tand vor sich liegen sehen, schlagen sie voll Entsetzen die Arme über dem Kopf zusammen und meinen, ihn ihren Pflegebefohlenen gar nicht erst anbieten zu dürfen. Sie kramen alles heraus, was sich allenfalls brauchen läßt, und wollen das andere verstecken. Aber da kennen sie unsere Moorleute schlecht.

Kaum haben die erfahren, was für Herrlichkeiten für sie ins Land geflogen sind, da stürmen sie den Schmidtschen Speicher und suchen mit List und Gewalt das Feinste des Feinen für sich zu erraffen. Wunder auch! Wer, der sein Lebtag mit schmutzigen Lumpen behängt den schwarzen Erdenschlamm knetet, wird es sich nehmen lassen, des Abglanzes fernher leuchtender Paradiese teilhaftig zu werden?

Ein neidisches Hadern erhebt sich um jeden flittrigen Fetzen. Wer was Warmes und Dunkles in Händen hält, fühlt sich verachtet, betrogen. Schandworte fliegen herum, und draußen kommen Tauschgeschäfte zustande, die wohl zehnmal zurückgehen und erst mit sinkender Nacht in einer Tracht Prügel ein Ende nehmen.

Auf dem Heimwege ziehen viele schon an, was das Glück ihnen zuschanzte, und haben ein Aussehen, als kämen sie stracks aus dem Tollhaus. Manche spiegeln sich nach jedem hundertsten Schritte im Wasser der Gräben, und alle fürchten sich voreinander, denn keiner ist sicher, ob ihm in der Dämmerung nicht was weggegrapscht wird. Den alten Raubmörder will einer gesehen haben, wie er, gegen einen Chausseebaum gelehnt, barhäuptig dastand und einen geheimnisvollen Zylinderhut bald auf der Brust plattdrückte, bald wieder nachdenklich hochknallen ließ.

Auch die Erdme und ihre zwei Töchter kommen reich beladen nach Hause. Sie haben die lichten und leichten Gewebe verschmäht und sich mehr an das Schwere und Feierliche gehalten, denn Erdme war ihres alten Schwures gedenk, daß ihre Kinder dereinst in Samt und Seide einhergehen sollen.

Und das können sie fortan wirklich.

[] Da ist unter anderem ein Kleid von himmelblauem Samt, tiefausgeschnitten und mit glitzernden Perlen bestickt.

Das soll die Katrike zur Einsegnung tragen und damit selbst die vornehmsten Töchter der Deutschen ausstechen, die immer zum Ärger des Volkes in weißen Mullkleidern um den Altar herumstehen.

Da die frühere Eigentümerin von mächtigem Leibesumfang gewesen sein muß, so können beim Zurechtschneiden so viele Breiten herausgenommen werden, daß sich auch für die Urte ein Staatskleid ergibt. Und als das fertig ist, bleiben noch immer Streifen und Flicken genug, daß Erdme die eigene Bluse reichlich damit besetzen kann.

So fahren sie also am Einsegnungstage alle drei in himmelblauem Samt zur Kirche. Und die Heydekrüger sind neidisch und lachen hinterher.

Aber wer nicht lacht, das ist die Frau Pfarrerin.

Kaum kriegt sie die Katrike zu sehen, die lichterziehend und wie ein Paradiesvogel bunt in dem Haufen der Einsegnungskinder auftaucht, da packt sie sie an dem Samtschlafittchen und schiebt sie ins Pfarrhaus.

»Wie hat deine Mutter sich unterstehen können, Marjell, dich in solchem Aufzug vor den Altar Gottes treten zu lassen?«

Und sie will sie wahrhaftig nach Hause schicken.

Aber wie die Katrike bittet und weint, da fühlt sie ein menschliches Rühren, holt aus dem Schranke ein schwarzwollenes Tuch und wirft es ihr um die Schultern.

Und so kann sie denn eingesegnet werden.

Gleich auf einer der vordersten Bänke sitzen die Baltruschats, von neidischem Staunen umgeben. Nur des Jons muß man sich etwas schämen, weil er nicht fein genug ist.

Die Erdme fühlt sich wohl bitter enttäuscht, wie sie den Stolz der Familie zu schwarzer Unscheinbarkeit verdammt hinter dem Pfarrer herkommen sieht, aber sie tröstet sich bald.

[] Steckt auch der Glanz noch in schlichtem Futteral, er ist doch schon da. Und das ganze kommende Leben soll nur dazu dienen, ihn zu entfalten.

Sie umfaßt die Urte, deren Augen noch blauer sind als der Samt, den sie anhat, und denkt beim Singen und Beten an die künftigen Bräutigams.

Und der Jons denkt beim Singen und Beten an das wachsende Haus, dessen glatt behobelte Wände schon über das Moor hinleuchten.

Wer hätte vor jenen Jahren an so viel Pracht zu denken gewagt?

Und alles durch fleißiger Hände Arbeit aus dem Moorschlamm herausgeholt, der zäh und unfruchtbar über dem schwarzen Grundwasser lagert, bereit zu verschlingen, was sich ihm anvertraut.

Die Erdme faßt unter dem Tisch dem Jons seine zerarbeitete Hand und denkt: Hat es zwischen uns keinen Hader gegeben, als wir es schwer hatten, haben wir selbst die große Not einträchtiglich überstanden, – wo sollte er herkommen, nun es leichter und leichter wird?

Und beide fühlen in Seligkeit, daß ihr Erntetag nah ist.

15

So! Nun mach' ich einen langen Atemzug – der dauert volle zehn Jahre lang –, und dann erzähl' ich, was aus dem Jons und der Erdme und den zwei hoch hinaus wollenden Töchtern weiter noch wird.

Von der jüngeren, der Urte, ist freilich vorderhand nicht viel zu berichten. Als sie mit siebzehn Jahren nach Königsberg ging, um als Kellnerin einzutreten – denn das sollte die Schwelle sein zu dem künftigen Glück –, da war sie ein appetitliches Marjellchen mit kornblumenblauen Augen und einem süßen Schnauzchen, rund und feucht wie eine betaute und gespaltene Pflaume; aber die Bilder von ihr, die sie inzwischen geschickt hat, zeigen, daß sie schlank und hoch geworden ist und überhaupt wie eine von den schönen Damen, die in dem früheren Hause an [] den Wänden klebten. Sie schreibt bald von der Pariser Weltausstellung, bald aus dem schönen Italien, sogar von der Spitze des Monte Rosa hat sie eine Ansichtskarte geschickt, obgleich einem dort von der großen Kälte die Finger erklammen.

Sie heißt jetzt auch nicht mehr Urte, sondern Ortrud, und auch Baltruschat heißt sie nicht mehr – so ein litauischer Name ist viel zu gemein für sie –, sondern einmal schreibt sie sich Balté, ein andermal Baldamus und ein drittes Mal sogar wie der katholische heilige Balthasar.

Kurz: man weiß sich vor Stolz nicht zu lassen, wenn man ihrer gedenkt.

Die Katrike allerdings – die ist noch etwas im Rückstand. Sie hat keine Lust gehabt, sich ihr Glück aus der weiten Welt zu holen, und auch daheim läßt es warten, denn ihren Rittergutsbesitzer hat sie immer noch nicht. Woran das liegt, ist schwer zu sagen.

An Schönheit fehlt es ihr nicht. Etwas lang ist sie geraten – das wissen wir schon –, und die Straßenjungen in Heydekrug schreien hinter ihr her: »Kiek – die lange Latte!« Dafür ruft man sie zu Hause auch »Pusze, Pusze«, das heißt »Miesekatzchen«, und dieser liebliche Name macht viel wieder gut.

An Bildung fehlt es ihr auch nicht. Sie spricht ein sehr feines Deutsch und spitzt den Mund dabei, soviel sie nur kann. Sie sagt zum Beispiel: »Äch bün eune reuche Besützerstochter.« Und das soll ihr mal einer nachmachen!

Viel tun – tut sie nicht. Hat sie auch nicht nötig. Dafür ist jetzt die Jette da, die Dienstmagd. Eine niederträchtige Kröt' übrigens. Die spottet der Katrike doch immer nach. Wenn sie über den Hof geht, faßt sie den Unterrock mit zwei Fingerspitzen, wackelt mit dem Hintern und dreht den Kopf wie ein Truthahn. Aber man kann ihr nichts nachweisen.

Zum Dienengehen ist die Katrike natürlich zu schade. Eine Stelle als Stütze oder Gesellschafterin müßte es sein. Aber sie will nicht. Sie will lieber vor dem kleinen Handspiegel sitzen und sich mit der Brennschere – die hat ihr [] einmal die Urte geschickt – die Haare in Wickel drehen. Manchmal ist alles so kraus und so fettig und so graugelb wie bei einem Mutterschaf auf der Scherbank.

Für das Überirdische ist sie sehr eingenommen. Sie liebt die Traumbücher und die Zaubersprüche und liest darin morgens und abends.

Viel hat sie unter den Flöhen zu leiden, und die bespricht sie fortwährend. An einem Ostermorgen ist sie sogar früh aufgestanden, hat splitterfasernackt das Haus ausgefegt und das Gemüll ebenso nackt über die Grenze getragen. Aber geholfen hat auch das nur für kurze Zeit. Die Jette meint, sie solle es machen wie sie und die Flöhe mit einem Spirituslappen betupfen, so daß sie nicht hoch können. Aber diese Fangart ist ihr zu umständlich. Darum versucht sie es lieber mit Zaubern.

Dem Jons paßt die Nichtstuerei der Katrike sehr wenig. Aber was soll er machen? Die Erdme stellt sich vor sie, wo sie nur kann. Barfuß gehen darf sie nicht, und die Hände zerreißen darf sie sich auch nicht, denn wenn der reiche Freier kommt und findet sie nicht wie ein Fräulein, dann zieht er sofort wieder ab.

Inzwischen ist der dicke, kleine Tuleweit, der Allerweltsfreiwerber, schon zweimal im Hause gewesen, hat das Glockenspiel gezeigt an seiner Uhr und den Mohrenkopf auf seinem Spazierstock die Zunge ausstrecken lassen und was er sonst noch für Kunststücke weiß, aber die Bräutigams, die er anbot, waren bloß Kroopzeug. Nicht ein richtiger deutscher Besitzer ist darunter gewesen. Aber die Erdme hat's ihm auch vergolten. Kaum soviel Schnaps bekam er vorgesetzt, um sich die Nase zu begießen.

Ja, die Erdme! Nun lebt sie mit dem Jons schon an die fünfundzwanzig Jahr. Sehr schön ist sie nicht mehr, und ihr Fleisch hat auch nachgelassen. Jetzt würde sich kein Nachbar mehr in sie verlieben. Hart und knochig ist sie geworden, und einen bösen Blick hat sie gekriegt von dem ewigen Sorgen und Bemißtrauen.

Denn es ist gar nicht auszusagen, wie viele ihnen ihr bißchen Wohlstand beneiden und ihnen jede erdenkliche [] Heimsuchung an den Hals wünschen. Schon manches liebe Mal hat sie einen Zauberbesen in den Quitschen hängen gefunden, und wie oft der weiße Hexenspeichel an den Zaunlatten hing, ist gar nicht zu zählen. Einer hat sogar bei dem katholischen Pfarrer in Szibben für den Jons eine Totenmesse bestellt; es hat ihm aber, Gott sei Dank, nichts geschadet, außer daß er das Reißen bekam.

Der Jons ist ein ziemlich alter Mann geworden. Sein Haar ist grau, und sein Gesicht sieht aus wie ein dürrer Kartoffelacker bei Nachtfrost.

Was hat der Mann aber nicht alles in seinem Kopfe! Allein das viele Geld zu verwalten! Denn es liegen fünftausend Mark auf der Sparbank. Und die Wirtschaft wird staatsmäßiger Jahr für Jahr.

Das Wohnhaus mit seinen gehobelten Wänden glänzt in der Sonne wie Silber, und der massive Schornstein zeigt jedem, der es versteht, was der Moorgrund schon aushalten kann. Auch drinnen ist alles aufs beste. Der Herd steht noch an der alten Stelle, aber der Hausflur, in dem er den Platz hat, ist hoch und weit und voll von bemalten Türen.

Links geht's in die Große und in die Kleine Stube und rechts in die Kammern. In keinem litauischen Hause kann es geräumiger sein. Wollte ich erst den Hausrat schildern, die Kaiserbilder in goldenen Rahmen und den glasierten, doppelten Ofen, – von der Tapete mit ihren blanken Sternchen gar nicht zu reden, – weiß Gott, ich würde kein Ende finden! Winklig zum Stall ist jetzt auch noch eine Scheune gekommen mit Wagenschauer und Anklapp zum Trocknen des Torfes. Der Garten hat einen richtigen Staketenzaun, und nicht bloß Raute und Riechblatt wachsen darin und was man an Buntem wohl lieb hat, sondern auch Möhren, Salat und mannshohe Schoten, wovon man essen kann, soviel man nur will, selbst wenn man Dienstags Körbe voll auf den Markt bringt.

So sieht es jetzt bei den Baltruschats aus, und keiner der Nachbarn kann sich mit ihnen vergleichen.

Übrigens: der fromme Taruttis ist tot. Die Taruttene [] auch. Beide starben am gleichen Tage, und als man ihnen die Leichenhemden anzog, hat der Flachs in der Leinwand noch einmal zu blühen begonnen. Überall saßen die blauen Sternchen. So fromm sind sie beide gewesen.

Der alte Raubmörder hat richtig seine Pension gekriegt, und als er zu Grabe getragen wurde, sind ihm nicht weniger als drei Gendarmen gefolgt. Ob aus Hochachtung oder zur besseren Bewachung, hat niemand zu sagen gewußt.

Der lange Smailus ist nun auch schon alt. Seine Vierte, von der niemand was Gutes weiß, soll sich schließlich an ihm krank geärgert haben, und wenn das Glück es will, kommt er dazu und nimmt sich noch eine Fünfte. Die Ulele schreibt ein paarmal im Jahr, und die Seife, die sie schickt, riecht immer noch schöner. Sie hat längst ihren Oberbuchhalter geheiratet. Der ist Teilhaber an der Fabrik, und die beiden Besitzer vertragen sich prächtig. – Da sieht man, was ein tüchtiges Mädchen kann!

Und der Nachbar Witkuhn? Mein Gottchen, wie ist der zusammengefallen! Eine Dienstmagd besorgt ihm den Haushalt, und er selber robotet von früh bis spät mit krummem Buckel und unkräftigen Armen und sucht aus dem Boden herauszuschlagen, daß er gerade zu leben hat.

Aber raten und helfen, das tut er noch immer, und sieht an der Erdme noch immer vorbei, und das Kinn zittert ihm. Doch das ist nun ganz und gar seine Gewohnheit geworden, das wird wohl so bleiben, bis auch das andere stille steht.

Wie ein treuer Wächter ist er, der heimlich über den Weg hin aufpaßt, und wenn er gleich fremden Reichtum behütet, nicht danach fragt, ob ihn selber friert oder schläfert.

16

Der Jons und die Erdme sitzen im Garten zwischen den eingefaßten Beeten und haben sich lieb – denn es ist ihr Silberner Hochzeitstag.

[] Fladen ist gebacken worden und ein Mohnstriezel, aber außer der Katrike weiß keiner, weshalb.

Die Katrike hat ihnen einen Myrtenkranz aus Silberpapier schenken wollen, hat auch schon Maß genommen und so, aber dann ist es doch unterblieben, weil das Besorgen zu schwer war.

Und es ist gut so, denn nun kann es kein Gerede geben unter den Leuten.

Die liebe Frühlingssonne sticht ihnen auf die dünnbehaarten Köpfe. Jons nimmt die Mütze, die neben ihm auf der Bank liegt, und setzt sie ihr auf. Sie muß furchtbar lachen, denn solch einen Scherz hat er in all den fünfundzwanzig Jahren nicht gemacht. Und sie fühlt so recht im innersten Herzen, wie sehr sie ihn lieb hat.

Fünfundzwanzig Jahre sind sie nun fleißig und glücklich nebeneinander hergegangen, und nie hat ein Zank ihren Frieden gestört. Betrunken hat er sich nie – außer, bei Hochzeiten natürlich und ab und zu wohl am Markttag, aber das gehört ja zum Leben, – und geschlagen hat er sie auch nicht.

Sie hat einen guten Mann gehabt, und dafür dankt sie ihm mit Tränen. Und auch er weint ein bißchen, denn so ein Tag kommt nicht wieder.

Und sie gedenken des jungen Pfarrers mit den Traumdeuteraugen und der zwei Trauzeugen, die auch am Sonntag nach Mist rochen. Und der Abendstunde im Matzicker Chausseegraben gedenken sie auch und sehen sich um, ob niemand sie hört.

»Denkst du daran,« sagt die Erdme, »was wir uns damals alles gelobt haben? Leicht war es nicht, es zu halten, aber nun haben wir es doch getan, denn nie hat ein Hader unseren Frieden gestört.«

Und er sagt: »Das ist dein Verdienst.«

Sie sagt: »Deins ist es auch.«

Und sie freuen sich, wie zweie wohl tun, denen ein guter Streich geglückt ist wider Erwarten.

»Gott sei gelobt!« sagt die Erdme; »jetzt sind wir über den Berg, denn was kann uns nun noch Böses geschehen?«

[] Und er sagt: »Ein Dreck kann uns geschehen.«

Bei der Hand gefaßt sitzen sie noch ein Weilchen im blanken Sonnenschein und denken: »Schöner kann es eigentlich gar nicht mehr kommen.«

Aber es kommt doch noch schöner! Viel schöner kommt es.

Als sie gerade wieder an die Arbeit gehen wollen wie alle Tage, da bemerkt die Erdme, daß ein Wagen auf der Knüppelstraße daherfährt, ein Herrschaftswagen, wie er hier selten zu sehen ist.

Und Jons erkennt die zwei Braunen aus der »Germania« und denkt natürlich, es sind Herren von der Regierung, die im Moor nach dem Rechten sehen wollen.

Aber wie der Wagen immer noch näher kommt, erkennen sie beide, daß keine Herren darin sitzen, sondern bloß eine Dame. Und eigentlich sitzt sie auch nicht, sondern steht und hält einen weißen Sonnenschirm in der Hand – mit dem winkt sie und winkt sie und winkt.

»O Jezau!« sagt die Erdme und fällt wie leblos auf die Bank zurück.

Da biegt der Wagen auch schon nach dem Zufahrtsweg ein und hält vor dem Hoftor.

Die Katrike kommt aus dem Hause gestürzt, Brennschere und Seidenpapier noch in der Hand, und rings um die Stirn sitzen die gewickelten Knötchen.

Also wirklich: es ist die Urte, die jetzt Ortrud heißt. In einem feinen graukarierten Wollenkleide springt sie aus dem Wagen, und hinter ihr her springt ein Hund, wie ihn noch nie eines Menschen Auge sah. Mit schneeweißen Locken, größer noch als ein Wolf und magerer als ein Schmalreh.

Doch daß die Urte mager ist, kann man nicht sagen. Einen Busen hat sie – der ist kein Leichenbrett! Und der Veilchenstrauß im dritten Knopfloch wiegt sich wie auf der Schaukel. Und die blauen Kornblumenaugen hat sie noch immer, aber goldene Haare hat sie inzwischen gekriegt und Lippen so rot wie Rübensaft.

Nachdem die Erdme sie abgeküßt hat, da kniet sie vor [] ihr und befühlt das Kleid und betastet die Schuhe, und wie sie das Kleid ein wenig hebt, was kommt da zum Vorschein? Ein Unterrock von lauter – du wagst es gar nicht auszusprechen, nicht auszudenken wagst du es! – ein Unterrock von lauter Seide, von resedagrüner, ruschelnder, klingender Seide.

Wie wenn der Wind durch die Quitschen geht, so klingt bei jeder Bewegung die Seide.

Der Jons steht eingeklemmt zwischen Hoftor und Zaun und traut sich an die hochgeborene Tochter gar nicht heran. Sie muß ihn selber bei der Hand nehmen und aus dem Winkel hervorziehen. Und sie küßt auch ihn, aber man sieht: sehr gerne tut sie es nicht.

Die Katrike ist rasch einmal ins Haus gelaufen, sich die gebrannten Wickel auszukämmen, und wie sie wiederkommt, hat sie das Rotgeblümte an und möchte auch für sich was Bewunderndes hören, doch das sagt ihr heut keiner.

Der weißgelockte Hund, von dem man glauben könnte, man zerbricht ihn, wenn man ihn anfaßt, steht in der Mitte des Hofes, sieht mit erstaunten Menschenaugen um sich und streckt den witternden Schlangenkopf bald nach rechts und bald nach links, als kann er sich nicht erklären, wie er plötzlich in eine so schlecht riechende Gesellschaft geraten ist. Den belfernden Köter, der mit seiner Kette wie verrückt über die Bude springt, würdigt er keines Blickes. –

Der Koffer wird ausgepackt. Es ist ein lackglänzender Lederkoffer, hoch wie ein Haus und wohlriechend wie russische Gurten.

Und wenn die Urte sich bückt in ihrer vollbrüstigen Anmutigkeit und ihrer rundhüftigen Ruhe, dann weiß man, daß sie die Männer führen kann, wie man die Lämmer zu Markte führt.

Der Jons bekommt einen Tabakskasten, der ist von poliertem Holz und hat silberne Einlagen. Auch etwas zum Essen bekommt er, und das soll noch viel feiner sein als Ölsardinen. Es sieht aus wie schwarze, runde Graupenkörner und schmeckt nach gesalzenen Fischen.

[] Für die Erdme kommt ein dunkles Seidenkleid zum Vorschein mit einem Spitzeneinsatz und Rüschen am Hals und an Ärmeln. Und auch die Katrike kriegt ein Kleid, ein hellblaues Jungmädchenkleid mit einer Tüllbluse und einem hellgelben Strohhut dazu, der biegt sich und federt, wenn man ihn anrührt.

Und das Allerschönste hab' ich noch gar nicht genannt: das ist der Silberkranz. Kein Silberkranz aus Papierblättern, wie ihn die Katrike beinahe geschenkt hätte, sondern aus wirklichem schweren, klirrenden Silber, und ein gleiches Sträußchen noch außerdem, dem Jons ins Knopfloch zu stecken.

Von nun an ist's mit den Heimlichkeiten vorbei. Die Erdme muß das seidene Kleid anziehen und den silbernen Myrtenkranz aufsetzen, Jons bekommt das Sträußchen wirklich ins Knopfloch gesteckt, und nun sitzen sie beide im Brautwinkel, trinken fremden, süßen Wein und lassen sich's gut sein.

Die Töchter sind um sie herum, und sogar die Jette, die abscheuliche Kröt', tut sich lieblich, wer weiß wie. Sie hat aber auch eine grüne Schürze geschenkt gekriegt und Wollenschuhe, damit sie des Morgens nicht klappert.

Nur einer ist nicht zufrieden – das ist der große, magere, weißlockige Hund. Der schnüffelt und schnobert, und wenn man ihn 'reinzieht, läuft er wieder hinaus. Auch das vorgesetzte Fressen rührt er nicht an. Die Urte muß ihm von dem mitgebrachten Hundekuchen was geben, sonst würde er am Ende verhungern.

Die Urte erklärt: »Das ist ein sibirischer Windhund, Barsoi genannt, aus einer ganz alten vornehmen Zucht mit einem Stammbaum, der reicht wohl hundert Jahre zurück.«

Sie hat ihn von einem russischen Grafen bekommen, der mit ihrem Freunde befreundet war und auch mit ihr. Er hat den Namen Petruschka, und alle lachen sehr, als sie ihn hören, denn Petruschka heißt »Petersilie«.

Erdme kann nichts den ganzen Tag lang, als die nach Hause gekommene Tochter ansehen und ansehen.

[] Wenn die auf dem harten Bretterstuhle sitzt – einen besseren gibt es ja nicht – und mit den dunkelroten Lippen lächelt und die goldenen Haare geben Feuerstrahlen um sie herum, dann ist der Erdme, als muß sie in einen finsteren Winkel kriechen und weinen und beten, daß Gott sie nicht strafen wolle für dieses allzu große Glück.

17

Der Urte – die jetzt Ortrud heißt – ist in der Kleinen Stube ein Lager bereitet, und Jons und Erdme wagen beim Aufstehen kaum, sich zu rühren – aus Angst, sie möchten die Tochter erwecken.

Aber die läßt sich nicht stören. Die schläft in Frieden bis in den blanken Vormittag. Eine Stunde dauert ihr Anziehen, und wenn der Vater zum Essen vom Felde kommt, ist sie seit kurzem erst fertig.

Die Erdme hat Kaffee gekauft, das Pfund zu zwei Mark, und läuft zwischen Herd und Stubentür hin und her, um zu horchen, wann die Zeit zum Frühstück gekommen ist. Dann trägt sie ihr alles ans Bett und sieht mit Sorgen, ob die Urte sich's wohl schmecken läßt.

Wie ein Engelchen liegt sie da in ihrem weißen Spitzenhemd, mit dem ruscheligen Goldhaar und den Grübchen unter dem Halse, und die Ringe, die sie bloß zum Waschen abnimmt, blitzen wie rote und blaue Sonnen auf der gewürfelten Decke.

Dies ist die Stunde, in der sie was zu erzählen pflegt. Aber viel ist es nicht. Und lange Zeiten übergeht sie mit Schweigen. Daß sie weit in der Welt herumgekommen ist, weiß die Erdme schon aus den Briefen, aber was sie da überall getan hat, läßt sie im Dunkeln.

Viele Männer haben sie heiraten wollen, aber es ist nie etwas daraus geworden. Bei den Reichen und Hochgestellten haben die Eltern es nicht erlaubt, und den anderen hat sie selber den Laufpaß gegeben. Als sie in [] Königsberg Kellnerin war, sind alle Studenten hinter ihr hergelaufen. Viele haben sich duelliert, und einige haben sich totgeschossen. Schließlich hat sie das große Blutvergießen nicht mehr mit ansehen können und ist nach Berlin ausgerückt. Und dort hat das Leben erst recht begonnen.

Wenn die Erdme sie fragt, was sie in Zukunft zu machen gedenkt, lächelt sie mit ihren Blauaugen bloß so verschwommen ins Weite und sagt: »Mach dir keine Sorgen, Mamusze. Für eine wie mich liegt der Reichtum nur auf der Straße. Aber erst möcht' ich mich hier noch ein bißchen ausruhen.«

Und das tut sie auch gründlich. Niemals faßt sie mit an oder kümmert sich um was. Sie sitzt bald drin im Fensterwinkel, bald draußen auf der Gartenbank, blickt nach dem Himmel und lächelt. Nur ihre Kleider hält sie in Ordnung, steckt die Schuhe auf Leisten und bürstet und bügelt, und ihre Finger, die rund und lecker aussehen wie marzipanene Würstchen, führen die Nadel schnell und mit Ruhe.

Die Erdme ist noch immer wie von einem Zauber befallen.

Was sie auch arbeitet, immer denkt sie an das heimgekommene Kind, macht sich in ihrer Nähe zu schaffen und schleicht um sie 'rum, bloß um sie still und andächtig zu betrachten. Oft ist ihr bange vor lauter Stolz, so daß sie sagen möchte: »Sei doch einmal wieder wie früher.« Aber sie weiß, das kann die Urte nicht mehr, dazu ist sie zu lange weggewesen und hat zu viel deutsche Lehrer gehabt. Denn daß sie Schönschreiben kann und Französisch, das hat die Urte erzählt, sogar Ballettstunden hat sie gehabt. Erdme weiß zwar nicht recht, was das ist, aber es muß wohl das Feinste sein, was auf der Welt gelehrt werden kann.

Manchmal nimmt sie den Jons bei der Hand und sagt: »Ach, freu dich doch! Freu dich doch!«

Aber er freut sich nicht. Ihm ist es ängstlich, mit der Tochter zusammenzusein, und er schämt sich vor ihr. Weiß [] nicht, was er mit ihr reden und wie er den Löffel halten soll, und das Brot schneidet er heimlich unter dem Tisch.

Anfangs hat sie ihn zu umschmeicheln gesucht, hat ihn »lieb Väterchen« genannt und so. Wie er aber nicht darauf einging und wegsah, ist auch sie ängstlich geworden und spricht bloß, was nottut. Es liegt noch nichts Übles zwischen ihnen, bloß fremd sind sie sich und werden sich fremder Tag für Tag.

Die Erdme sieht es mit Kummer. Das Herz will ihr zerbrechen bei seinem stillschweigenden Abseitsstehen, aber man kann ihn doch nicht zwingen, daß er sie lieb hat.

Ganz verrückt ist die Katrike. Die will der Schwester alles nachmachen und versteht es doch nicht. Putzt an den Nägeln, bepinselt die Lippen und wäscht das Haar mit Kamillen. Aber die Nägel werden bloß noch dreckiger, der Mund sieht aus wie ein Blutfleck, und das Haar steht ab wie vertrocknetes Krummstroh.

Nur das lange Bettliegen gelingt ihr ohne Beschwerde.

Die Erdme erkennt den Unterschied wohl und macht sich ihre Gedanken. Nicht daß sie die Katrike nun weniger liebte. Im Gegenteil, es ist wie ein Vorwurf für sie, daß die so vernachlässigt dasitzt und sich in rein gar nichts mit der Schwester vergleichen kann. Denn auch, wenn sie das Hellblaue angezogen und den großen Strohhut aufgesetzt hat, ist es noch immer wie Tag und Nacht.

Und sie zerquält sich, wie ihr zu helfen ist.

Die Schwestern stehen nicht schlecht miteinander. Die Urte unterweist die Katrike in allem, was sie wohl wissen will, und schenkt ihr Kämme und Rüschen und sonst alles mögliche Kleinzeug, so daß der Neid in ihr nicht hochwachsen kann.

Aber auch die Urte sieht ein, daß es nicht länger so mit ihr geht.

»Wenn du die Ulele wärst,« sagt die Mutter, »dann würdest du jetzt einen Mann für sie suchen.«

»Ich kann ebensoviel wie die Ulele,« sagt die Urte.

Und da sie's verlangt, wird eines Tages, als der Jons [] in die Wiesen gefahren ist, der kleine Tuleweit bestellt, der schon für hundert Vermittlungen seine Prozente gekriegt hat.

Der in seinem langen Pfarrersrock und den knallengen Hosen kommt forsch herein und denkt, er wird hier wieder einmal den spaßigen Onkel spielen; wie er aber die Urte zu sehen kriegt, die ihn in ihrer rosenfarbenen Fleischlichkeit ankuckt, da wird ihm schon ganz anders.

»Aus was für 'nem Himmel ist denn das hierher geflogen?« fragt er.

Und die Urte sagt: »Nehmen Sie Platz, Herr Tuleweit.« Und sie, die Erdme, bringt von dem fremden, süßen Wein, von dem noch immer was da ist.

Und die Urte sagt weiter: »Sie sehen es mir vielleicht nicht an, Herr Tuleweit, daß ich aus diesen kleinen Verhältnissen stamme, aber das macht nichts.« Und dann lobt sie ihn, weil ihr bekannt ist, daß er bei seinen Vorschlägen immer das Richtige trifft.

Er bedankt sich und dienert.

»Nun bin ich aber drauf und dran,« sagt sie weiter, »eine große Partie zu machen. Eine wirklich große Partie. Und da wär' es mir natürlich angenehm, wenn ich durch meine Schwester nicht in Verlegenheit käme. Ein Deutscher müßte es sein, und sein Eigenes müßte er haben, so daß man sagen könnte: ›Meine Schwester ist an einen Gutsbesitzer verheiratet.‹ Das würde dann schon den richtigen Eindruck machen.«

Die Erdme denkt: »Sie ist noch klüger als die Ulele.« Und der ganze Herr Tuleweit schwimmt wie Öl auf Zuckerwasser.

Was an seinen bescheidenen Kräften liege, das werde sicher geschehen, aber letzten Endes sei es ja leider Sache der Mitgift.

»Natürlich, natürlich,« sagt die Urte. Und wäre sie schon verheiratet, so würde es ihr auch nicht darauf ankommen, die Schwester reichlich auszustatten. Aber für jetzt müßte man schon mit etwas Bescheidenem vorlieb nehmen.

[] »Was heißt bei Ihnen ›bescheiden‹?« fragt der kleine Herr Tuleweit und dienert nicht mehr.

Der Erdme schlägt das Herz hoch. Was wird sie sagen?

Und sie sagt: »Nun, etwa fünftausend Mark.«

Fünftausend Mark hat der Jons auf der Sparbank. Die hat er mit ihr in zwanzig Jahren zusammengekratzt. Aber die kann die Urte nicht meinen. Die sollen ihnen ja Stütze und Zuflucht sein für das kommende Alter. Gewiß will sie aus eigener Tasche geben, was fehlt. Und es fehlt womöglich noch mehr, denn der Herr Tuleweit macht eine hängende Nase und sagt, bei einem so kleinen Anerbieten werde man leicht behandelt wie ein nichtsnutziger Schwätzer, aber er wolle schon sehen, er wolle schon Rat schaffen und hoffe auf spätere reiche Belohnung.

Damit trinkt er sein Weinglas leer und verspricht, in acht Tagen wiederzukommen.

»Willst du die Fünftausend wirklich aus Eigenem geben?« fragt die Erdme voll Dankbarkeit.

»Sehr gern wollt' ich sie geben,« sagt die Urte und lächelt; »nur, wenn ich sie hätte, dann braucht' ich sie selber.«

»Wo sollen sie denn aber herkommen?«

»Von da, wo der Vater sie hingetragen hat,« erwidert die Urte. »Ist es nicht schon genug, daß ich auf meine Hälfte verzichte?«

Die Erdme will reden, aber ihr ist, als sitzt ihr ein Klumpen Heede im Schlund.

Alles soll hin! Alles soll weg! Bloß damit die Katrike ein Nest kriegt.

Und die, die solange in der Kammer gelauert hat, kommt begierig gelaufen.

»Wer wird es? Wer ist es? Wieviel Hufen hat er? Wieviel Pferde stehen im Stalle? Wieviel Rindvieh weidet am Ufer?«

Da kriegt die Erdme die Sprache wieder. »Wenn es um den Preis geht, dann schlag dir die Heirat nur aus dem Kopf. All sein Gespartes gibt der Vater dir nie.«

[] Und die Katrike heult und wälzt sich am Boden. Ihren Besitzer will sie nicht lassen. Der ist ihr versprochen, seit sie ein Kind war. Der kommt ihr zu. Der gehört ihr zu eigen.

Der Erdme dreht sich das Herz im Leib um. Ihr Kind ist im Recht. Nie ist von was anderem die Rede gewesen. Nie hat sie selbst es sich anders gedacht.

Sie hebt die Katrike auf und liebkost sie und verspricht ihr das Blaue vom Himmel.

Der Jons kommt aus den Wiesen, sieht die dickgeweinten Gesichter und wundert sich. Aber fragen tut er nichts. Das hat er sich lange schon abgewöhnt.

Die Erdme, deren Gewissen nicht das reinste ist, geht ihm aus dem Wege, so viel sie nur kann, aber begegnen muß sie ihm doch, und schließlich versucht sie's mit Vorwürfen.

»Du hast kein Herz für deine Töchter,« sagt sie, »und du achtest sie wie einen Strick um den Hals.«

Er fragt: »Wer hat dir das zu wissen getan?«

Und sie sagt: »Das ersieht man aus deinem Benehmen. Schon die Katrike hast du nicht leiden mögen, und seit die Urte wieder da ist, ist es noch schlimmer. Du bist eben ein Kúmetis« – ein gemeiner Mann – »und bleibst ein Kúmetis, und alles Hochgeborene ist dir zuwider.«

Er sagt: »Ich habe nie erfahren, daß du von besserer Herkunft wärest als ich. Als wir anfingen, Pracher waren wir da alle beide.«

»Ich habe doch wenigstens meine Betten gehabt,« entgegnet sie drauf, »und sechsundsechzig Mark hatt' ich auch, aber du hattest so gut wie gar nichts.«

Und er sagt: »Zu meinem bißchen habe ich zwei Jahre Arbeit gebraucht, aber wo du deine Reichtümer herhattest, darüber weiß man nichts Rechtes.«

Ihr ist, als schlägt ihr einer mit der Axt vor die Stirn. »Ich habe dir vorgerechnet auf Heller und Pfennig,« sagt sie, wie mit Blut übergossen, und wendet sich ab.

Sie ist nun so wütend auf ihn – sie könnt' ihn beinahe vergiften.

[] 18

Acht Tage später ist der kleine Tuleweit wieder da. Er hat einen, der wäre nicht abgeneigt. Schmidt heißt er, ist aber nicht verwandt mit dem Kaufmann in Heydekrug. Sein Vater hat eine verschuldete Wirtschaft nicht weit von Mineiken, und er ist der Dritte von Fünfen, hat eben gedient und hält bereits Umschau unter den Töchtern der Gegend. Ob man nach deutscher Art sich mit ihm treffen wolle. Auf dem Markt oder auf dem Gericht oder sonst irgendwo, als käm' es durch Zufall.

Die Erdme versteht von diesen Sachen nichts, aber ihre Tochter, die Urte, will alles schön in die Hand nehmen.

Beim nächsten Pferdemarkt soll es geschehen. Dort wird der junge Herr Schmidt einen Schimmel seines Vaters am Halfter führen, und die Schwestern sollen herzutreten und ihn bewundern. Und was dann folgt, wird Herr Tuleweit bestens besorgen.

Das wird von nun durch und durch geredet, stundenlang, tagelang. Für die drei Frauensleute gibt es rein nichts mehr sonst auf der Welt. Kaum daß die Hausarbeit notdürftig besorgt wird zwischen all dem Getuschel.

Der Jons geht still nebenher wie ein Fremder. Wenn er nicht einen neuen Freund bekommen hätte, wäre er im Leben noch nie so mutterseelenallein gewesen.

Und dieser Freund ist Urtes weißer, vornehmer Hund. Du glaubst es nicht, wie sich das langsam gemacht hat. Zuerst hat er auf dem Hof gestanden und ist still zur Seite gewichen, wenn ihn einer hat anrühren wollen. Keinen hat er angeknurrt oder gar angefletscht, aber wer ihn zu streicheln meinte, der griff in die Luft. Ins Haus hat ihn keiner 'reinholen können, selbst seine Herrin, die Urte, nicht, und wenn sie ihn am Halsband hereinzog, dann ist er wohl mit ihr gegangen, aber beim nächsten Wupp war er schon draußen. Einen Schlafplatz hat er sich ausgesucht dort, wo in dem offenen Abschlag die Arbeitswagen stehen und etwas Heu immer verstreut liegt. Dorthin hat die [] Urte ihm auch sein Fressen gebracht, und da lag er und blickte still um sich.

Der einzige, der nie versucht hatte, ihm mit Locken und mit Betatschen zu nahe zu kommen, war der Jons. Dazu schien ihm der Hund zu fein und zu herrschaftlich. Aber siehe da! Eines Frühmorgens, wie der Jons als erster aus dem Hause trat, um zur Arbeit auf das Moor zu gehen, wer ist da in etlicher Entfernung vorsichtig hinterhergeschlichen und hat sich zukuckend auf die Grabenkante gelegt? Und wer ist da stillschweigend geblieben ohne Trunk und ohne Frühstück, bis der Jons zum Mittagessen nach Hause ging? Und wer ist allmählich näher gekommen und hat sich mit leisem, langem Bisse das Brot aus den Fingern geholt? Und wer ist schließlich sogar, wenn der Jons in die Wiesen fuhr, mit kugelnden Sprüngen dem Wagen vorausgetollt und hat bei ihm Wache gehalten stundenlang, bis er beladen zurückkehrte?

Die Urte wundert sich des Todes, aber Windhunde sollen ja immer untreu sein, sagen die Leute. Und darum läßt sie ihn ruhig dem Vater; nur wenn sie spazieren geht auf der Chaussee nach Heydekrug oder nach Ruß hin, dann nimmt sie ihn mit sich, damit die Begegnenden etwas zum Staunen haben.

Bis Heydekrug ist es fast eine Stunde, aber das macht nichts. Denn dort sieht man doch Menschen, die stehen bleiben und aufgeregt hinterherraten, weil sie das plötzliche Wunder nicht zu fassen vermögen. Und Urte fühlt sich als Ortrud und als Botin der größeren Welt, die erst mit Berlin ihren Anfang nimmt und auf die alle sehnsüchtig hinstarren, denen im Hinterwalde zu hausen bestimmt ist.

Bisweilen trifft man auch junge Männer mit Schmissen, die sicherlich in Königsberg studiert haben und denen man vielleicht einmal auf dem Schoße gesessen hat.

Denen wirft man gelegentlich einen lockenden Blick zu und bringt sie zum Rasen. Denn irgend eine Kleinigkeit fürs Herz muß man doch haben in der torfschwarzen Öde.

[] Nur an dem Hause des Moorvogts geht man ungern vorbei. Man weiß es nicht, aber man spürt's in den Gliedern, daß dort hinter den Fensterscheiben zwei Augen forschend und unbestechlich sie und ihr Leben durchmustern. –

So kommt der große Vieh- und Pferdemarkt heran, auf dem die Besitzer von weit und breit zu Kauf und Trunk sich treffen.

Der Jons hat in der ersten Frühe eine Kuh hingebracht, die demnächst stehen soll und die darum eingetauscht werden muß.

Die Schwestern melden sich erst, als er weg ist, denn mit dem Vater zusammen einzuziehen, hätte die Hochachtung der anderen nicht sehr gefördert. Wenn alles gut geht, gleitet man im Gedränge an ihm vorbei und braucht ihn nicht einmal anzureden.

Die Katrike wird heute von der Urte extra zurechtgemacht. Sie darf die Haare nicht brennen und die Lippen nicht färben, und das Miesekatzchen faucht, die Schwester sei nichts weiter als neidisch. Aber die lächelt nur und ist nicht einmal böse, wie zwei Paar ihrer schneeweißen Handschuhe auf den Pranken der Schwester zerplatzen.

Dann ziehen sie los, und die Erdme weint und betet hinter ihnen her.

Der Vormittag vergeht in Arbeit und Bangen.

Gegen zwei kommt der Jons zurück. Er hat einen guten Handel gemacht. Die neue Kuh gibt laut Bescheinigung zehn Liter, und kaum einmal zuzahlen hat er dürfen.

Aber in freundlicher Stimmung ist er nicht. Er schlingt finster sein Mittagbrot und fragt mit keinem Wort nach den Töchtern.

Dann geht er hinaus zu der Petruschka, die heute früh hat angebunden werden müssen, weil sie bei dem Kuhhandel durchaus zugegen sein wollte.

Erdme sieht, wie er den langen, spitzen Kopf in seine Arme nimmt und leise zu ihm herniederredet.

[] Das will ihr das Herz abdrücken. Sie geht hinter ihm her und sagt: »Mit dem unvernünftigen Tier sprichst du, aber mir, deiner Frau, gönnst du kein gutes Wort.«

Und er sagt: »Ich habe die beiden Marjellen getroffen, ausgeputzt und mit fremden Männern. Als sie mich sahen, haben sie den Kopf zur Seite gedreht. Ist das nicht etwa genug?«

Sie nimmt natürlich die Töchter in Schutz. »Wer kann seine Augen überall haben?« sagt sie.

Aber er bleibt dabei. Sogar umgekehrt hätten sie sich, ob er nicht endlich schon weg sei.

»Und wenn auch,« sagt sie. »Was kann ich dafür?«

Da läuft ihm die Galle über, und alles, was er in sich verborgen hat seit Jahren, kommt ans Tageslicht.

»Was du dafür kannst?« schreit er. »Du hast zwei Faulenzerinnen erzogen, zwei Rumtreibersche hast du erzogen, die kein Verlangen tragen nach Arbeit, die bloß Pyragge essen wollen und sich den Rücken wundschlafen bis Mittag – die es mit den Deutschen halten und ihren Vater achten, als wär' er ein Schnodder. Soviel kannst du dafür, wie die Stute kann, daß ein Fohlen aus ihrem Leibe kommt und nicht eine Ziege!«

Die Erdme denkt an das, was sie neulich heruntergeschluckt hat. Eine so zornige Rede darf sie nicht ohne Antwort lassen.

»Schon einmal hast du mit mir Hader gesucht,« sagt sie, »aber da kommst du gerad' an die Rechte.« Und dann wirft sie ihm vor, daß sie es war, die den ganzen Wohlstand geschaffen hat, daß er nichts anderes gewesen ist als ihr Knecht, der nach ihren Anordnungen gearbeitet hat fünfundzwanzig Jahre lang und den jeder andere Knecht ersetzen kann, wenn es ihr paßt, ihn zu mieten.

Die Augen schwellen ihm zu und glupen nach rechts und glupen nach links, als sucht er was und kann es nicht finden.

»Was du sagst, mag wohl so sein,« sagt er, »nur in einem könnt' er mich nicht ersetzen, nämlich dir jetzt eine gehörige Tracht Prügel zu geben.«

[] Und da er nichts anderes sieht, reißt er den Pfahl aus der Erde, an dem die Petruschka angebunden ist, und schlägt damit die Erdme über den Rücken.

Sie schreit und fällt in die Knie und nimmt die flachen Hände als Stütze. Die Jette, die grienend zugehört hat, schreit auch und springt auf ihn zu, ihm den Arm hochzuhalten, denn der Pfahl ist zu dick, als daß menschliche Glieder unter ihm ganz bleiben könnten.

Darum wirft er ihn auch weg und holt aus dem Stalle die Peitsche. Die Petruschka läuft winselnd neben ihm her und leckt ihm bittend die Hände, aber er achtet ihrer nicht, schlingt die hanfene Schnur um den Stiel und läßt ihn im Bogen durch die Luft hinpfeifen.

So kommt er zurück; dorthin, wo die Erdme noch kniet.

Aber da steht mit einem Male der Nachbar Witkuhn vor ihm da – bleich und zusammengefallen wie immer – umpusten könnte man ihn –, aber in seiner rechten Hand hält er das Teschin, mit dem er sich sonst die Spatzen vom Kirschbaume schießt.

Ihm das Gewehr zu entreißen, wär' leicht, aber was dann? Wie kann man sein Weib noch bestrafen, wenn zweie dazwischenstehen?

Drum bleibt er ruhig und sagt: »Nachbar, hast du mal was von Hausfriedensbruch gehört und Bedrohung mit tödlichen Waffen?«

Der Nachbar Witkuhn antwortet nicht und stellt sich so vor die Erdme, daß er sie mit dem Leibe deckt.

»Ich fordere dich also auf, meinen Grund und Boden zu verlassen – zum ersten, zum zweiten und zum dritten Male.«

Der Nachbar Witkuhn rührt sich nicht. Sein rechter Zeigefinger liegt dicht vor dem Abzug.

»Gut,« sagt der Jons, »ich geh' jetzt zum Rechtsanwalt, der wird die Anzeige erstatten. Aber die Peitsche nehm' ich mit, und treff' ich unterwegs die beiden Marjellen, dann werden sie die Prügel kriegen, die ihrer Mutter noch zustehen.«

Die Erdme schluchzt hell auf und sinkt dann völlig zu [] Boden. Er aber kehrt sich nicht daran und geht seiner Wege ...

Er ist bei keinem Rechtsanwalt gewesen, und die beiden Marjellen hat er auch nicht getroffen. Er hat mit der Petruschka auf einem Heuhaufen geschlafen, und wie er morgens um die Abfutterungszeit zu Hause angelangt ist, da hat er das Nest leer gefunden. – Keine Frau, keine Töchter, keine Magd.

Die sitzen alle drüben beim Nachbar. Man kann ihre Stimmen hören über den Weg hin.

Und das Sparkassenbuch ist auch weg.

Von allem, was gestern zu ihm gehörte, ist bloß der fremde Hund da, der aus traurigen Menschenaugen zu ihm aufblickt, als wolle er die Übeltat gutmachen, die man ihm angetan hat und die im Grunde genommen seine eigene Übeltat ist.

19

Dreiundzwanzig Jahre hat der Nachbar Witkuhn auf die Erdme gewartet.

Und nun sie da ist, ist er ein alter Mann.

Er sitzt und sieht sie an und sieht sie wieder und wieder an. Sie ist die Schönste, die Jüngste, die Kräftigste geblieben, aber er ist ein alter Mann.

Ihre Töchter läßt er lachen und laufen und schwatzen, wie sie nur mögen, und achtet ihrer nicht. Sie sind ihm wie zwei fremde Tiere, die die Erdme mitgebracht hat und denen er Obdach geben muß, weil sie nun einmal zu ihr gehören. Und die Jette wirtschaftet draußen mit seiner Magd.

Die Urte und die Katrike haben gestern Großes erlebt, und das erzählen sie immer von neuem: Kaum daß der junge Herr Schmidt sie gesehen hat, da ist er gleich ganz hingenommen gewesen. Zuerst hat er freilich gedacht, die Urte sei ihm als Zukünftige bestimmt, und da hat er sich zurückziehen wollen, denn er ist sich nicht gut genug erschienen für sie; wie er aber gehört hat, daß die Katrike [] es ist, da hat er um so freudiger zugegriffen und hat mit ihnen beiden und dem Herrn Tuleweit in der »Germania« gesessen bis in den späten Nachmittag. Herr Tuleweit weiß auch schon eine Wirtschaft für ihn, die mit Fünftausend Anzahlung wohl zu haben wäre, nur das Viehzeug müßte beschafft werden, denn sein Vater gibt ihm rein gar nichts.

Wie vom Viehzeug die Rede ist, da horcht die Erdme hoch auf, denn von ihrem Eigenen her kommt kläglich das Brüllen der Kühe, die nicht gemolken, vielleicht auch nicht gefuttert sind in der Frühe.

Darum sagt sie der Jette, sie soll mit einem Eimer hinübergehen. Die wehrt sich erst, denn sie glaubt, sie kriegt Prügel, aber schließlich tut sie's doch, und wie sie zurückkommt, erzählt sie, der Wirt habe auf der Häckselbank gesessen, den Kopf in die Hände gestützt, und die Petruschka vor ihm, und keines habe sich auch nur nach ihr umgesehen.

Und die Urte erzählt weiter: Um drei nachmittags habe der junge Herr Schmidt weggemußt, aber am Nebentisch – da hätten ein paar vornehme junge Herren gesessen mit Schmissen und goldenen Kneifern, die wären schon lange bemüht gewesen, sich mit ihnen bekannt zu machen, und hätten ihr zugeprostet und so. Und schließlich wären sie alle zueinander gerückt und hätten fröhlich getrunken bis an den Abend. Den kleinen Herrn Tuleweit hätten die fremden Herren erst für den Vater gehalten; als sie aber hörten, daß er bloß ein Heiratsvermittler sei, da wäre des Neckens kein Ende gewesen, so daß er nichts Besseres zu tun gewußt habe, als bald zu verschwinden. Und von nun an sei es erst recht hoch hergegangen.

Und sie kichern und blinzen sich zu und kommen mit Heimlichtun nicht zu Ende.

Die Erdme will dem Nachbar Witkuhn den Haushalt besorgen, aber das Kreuz ist ihr wie gebrochen von dem Streiche des Pfahls. Darum redet die Urte ihr auch zu, sich beizeiten ein Attest zu beschaffen wegen der künftigen Scheidung.

[] Um vier Uhr nachmittags wird drüben der gute Wagen angespannt, und Jons fährt weg, ohne das Gesicht nach ihr hinzudrehen.

Nun ist die Zeit da, herüberzuholen, was gestern zur Nacht nicht mitgebracht werden konnte.

Vor die Haustür, deren Schlüssel die Erdme bei sich trägt, hat der Jons zum Schutze vor Einbruch ein paar Bretter genagelt. Mit zwei Fingern kann man die losreißen. Es ist wahrhaftig zum Lachen.

Die Urte, die Katrike packen rasch ihre Sachen, und auch sie selber gibt an, was sie für Sonntags wohl braucht. Ebenso muß jeder sein Bettzeug haben, denn wie kann der Nachbar Witkuhn soviel Gäste versorgen?

Mag der Jons sehen, womit er sich zudeckt! Die Federbetten gehen mit, und so noch vieles andere, so daß der Handwagen des Nachbars viermal hochbeladen den Knüppelweg überquert.

Schwer wird der Abschied von den Kühen, die die Erdme nicht einmal melken kann, so weh tut ihr das Kreuz. Sie streichelt sie nur und wirft ihnen Heu hin und denkt: »Wie gut wär's, wenn ich sie drüben hätte!« Auch die Neue ist ihr bereits ans Herz gewachsen, und doch hat sie sie kaum schon gesehen.

Dann kriegen noch die Schweine ihr Futter, und dann geht es heim.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Gegen Mitternacht erhebt sich vor dem Hause des Nachbars ein furchtbarer Lärm. Schwere Schläge fallen gegen die Läden, und des Jons betrunkene Stimme schreit: »Ihr Diebe! Ihr Räuber! Kommt 'raus! Ich schlag' euch tot, ihr Räuber! Das verhurte Weib zuerst! Und dann ihren« – »Liebhaber« sagt er nicht, es ist ein viel schlimmeres Wort, das er sagt. Und ebenso beschimpft er die Töchter und die Magd und droht, sie alle zu erschlagen.

Die Urte und die Katrike knien im Hemd an der Mutter Bett und kreischen bei jedem Schlage, der das Ladenholz zersplittern will. Und vor der Stubentür steht der Nachbar [] Witkuhn und ruft durchs Schlüsselloch, sie möchten ganz ruhig sein, er halte das Teschin in der Hand, und wenn der draußen einbräche, so sei es um ihn geschehen.

Aber schließlich entfernt sich der Wüterich, und auch das Winseln und Heulen Petruschkas verstummt nach und nach.

Am nächsten Morgen gibt es ein langes Gespräch zwischen dem Nachbar Witkuhn und der Erdme.

»Gestern dachte ich noch, du würdest zurückkönnen,« sagt der Nachbar, »aber heute seh' ich ein, daß die Brücke zerbrochen ist. Nun tu, was du für richtig hältst. Ich werde dir in allem zu Diensten sein, was dein Wunsch ist.«

»Ich weiß nicht aus, nicht ein,« sagt die Erdme.

Und der Nachbar sagt: »Ich habe es mein Lebenlang für das größte Glück auf Erden gehalten, daß du einmal meine Frau würdest. Aber nun mir plötzlich die Möglichkeit gegeben ist, daß es so werden könnte, da seh' ich ein, ich bring' es nicht übers Herz. Denn jeder wird sagen, wie Er es ausschrie heut nacht, daß wir in Buhlschaft gelebt haben alle die Jahre.«

»Beinahe wär' es ja so gewesen,« sagt die Erdme.

»Wenn es so gewesen wäre,« erwidert der Nachbar, »dann hätten wir längst kein Gewissen mehr und keine Scham und würden lachen, wenn die Leute mit Fingern auf uns zeigen. Aber nun schreck' ich schon zurück bei dem Gedanken, Ihm auf dem Weg zu begegnen.«

»Ich dränge mich niemandem auf,« sagt die Erdme gekränkt.

»Und ich bin ein alter Mann,« sagt der Nachbar. »Ich möchte nicht, daß du mir fluchst, wenn du mich auf den Kirchhof trägst.«

»So bleibt mir als einziges,« sagt die Erdme, »daß ich in Ausgedinge zu der Katrike zieh', wenn die jetzt heiratet.«

»Ist es denn schon so weit?« fragt der Nachbar.

»Wenn ich alles hergebe,« sagt die Erdme und drückt die Hand gegen das Sparkassenbuch, das sie auf nackigem Leibe trägt, »dann ist es so weit.«

[] »Er wird das Geld schon gesperrt haben,« sagt der Wachbar.

»Vielleicht auch nicht,« sagt die Erdme, und weil sie sowieso nach Heydekrug muß wegen des Doktorattestes, wird sie auch gleich die Fünftausend abheben, die ihr nicht weniger gehören als ihm.

Der Nachbar beschafft ein Fuhrwerk, denn er selber hat immer noch keins, und wie sie aufsteigen will, muß sie von zweien gehoben werden, so verschwollen ist alles.

Als der Doktor sie untersucht hat, macht er ein ernstes Gesicht und sagt: »Schlimm genug sieht es aus, und schlimm wird auch, was ich schreiben muß, aber ich rat' euch trotzdem: Vertragt euch!«

Bisher ist der Erdme noch alles gewesen wie ein ängstlicher Traum, und oft hat sie gedacht: »Wenn er jetzt käme und sagte: ›Laß gut sein‹ – weiß Gott, ich ginge zurück.« Wie der Doktor aber sagt: »Es sieht schlimm aus,« da wird ihr Sinn wie von Stein, und sie denkt bloß, daß sie sich Recht verschaffen muß vor Gott und den Menschen.

Der Beamte der Sparkasse kennt sie seit langem und zahlt ihr das Geld ohne Bedenken. »Ja ja,« sagt er, »wenn man Töchter verheiraten will.«

Und da hat sie's auch schon in den Händen.

Die Katrike, die mitgefahren ist, denn sie selber kann sich nicht an- und nicht ausziehen, weiß sich vor Liebe gar nicht zu lassen. Sie nennt sie »Mamusze« und »Mammelyte«, was sonst nur die Urte sagt, und »Mane Baltgalwele« – mein Weißköpfchen – nennt sie sie, wie die alten Mütter in den Liedern heißen, ob auch ihr Haar noch fast braun ist.

Auf dem Heimweg denkt die Erdme immerzu, jetzt wird sie dem Jons begegnen, aber sie begegnet ihm nicht. Doch auf ihrer Wiese, die wohl fünfhundert Schritt weit auf der anderen Seite der Chaussee gelegen ist, sieht sie was Helles. Das ist die Petruschka. Die sitzt und bewacht ihn, denn er ist wohl wieder betrunken.

Von weitem schon hört man das Brüllen der Kühe. Die müssen verkommen, wenn man sie da läßt.

[] »Hast du Platz im Stalle für sie?« fragt die Erdme.

»Ich habe Platz für alles, was dein ist,« sagt der Nachbar.

Darum schickt sie auch gleich die Jette und die Witkuhnsche Magd hinüber, die Kühe zu holen.

Und die Katrike tanzt herum wie eine Besessene. – Das Geld und das Vieh – alles ist da. Nun kann geheiratet werden.

Und noch am selben Abend macht sie sich auf, zum kleinen Tuleweit zu gehen, damit er so rasch wie möglich alles in Ordnung bringt.

Die Urte will sie begleiten, um einen Abstecher nach Heydekrug zu machen, wo irgendwo am Spazierweg die jungen Herren von gestern schon warten. Sie ärgert sich bloß, daß die Petruschka nicht bei ihr ist – dann wäre ihr Anblick zehnmal so vornehm gewesen. Und darum bleibt sie schließlich zu Hause.

Die Erdme liegt und zittert vor Angst, daß der Spektakel von voriger Nacht heut wegen der Kühe noch einmal losgehen wird.

Aber nichts regt sich fortan.

Sie muß im Bette bleiben wohl eine Woche lang, und wenn sie sich aufrichten will, kriegt sie ein Handtuch anzufassen, woran sie sich hochzieht.

Die Marjellen aber nutzen die Zeit und holen herüber, was für die Aussteuer irgend von Wert ist – den großen Ecktisch und den buntblumigen Schrank und noch vieles andere.

Niemand hindert sie dran, denn morgens fährt er weg, und mit der Dunkelheit kommt er wieder, und die Petruschka läuft nebenher. Was er macht und wo er sich aufhält, weiß keiner.

Am fünften Tage von Erdmes Bettlägerigkeit tritt ein junger Mensch in die Kammer. Der hat einen deutschen Backenbart und schiefe, ängstliche Augen. Und hinterher schiebt sich mit heißem Gesicht und frisch gebranntem Strohhaar die Katrike. Sie ist fast einen Kopf größer als er und sieht aus, als möcht' sie ihn auf den Arm nehmen.

[] Das ist der junge Herr Schmidt, ihrer Tochter künftiger Bräutigam.

Er spricht die Erdme in stolprigem Litauisch an, und sie richtet sich auf und sagt auf Deutsch:

»Was Sie sich wohl denken, Ponusze! Wir reden das Deutsche genau so wie Sie. Und im Bett liege ich nur, weil ich das Gliederreißen habe. Gewöhnlich arbeit' ich wie sonst nur die Jüngste.«

Die Katrike und der junge Mann sehen sich verstohlen an, woraus sie schließen muß, daß ihm die Tochter schon alles gesagt hat. Und noch etwas anderes will sie daraus schließen, aber das drängt sie sofort von sich ab.

Er möchte am liebsten das Geld gleich mit sich nehmen, aber sie weiß, daß es ihr wohlgeborgen unter dem Leibe liegt, und erst müßte man sie totschlagen, ehe sie es hergäbe.

»In dem Kontrakt soll stehen,« sagt sie, »daß ich eine Altsitzerstelle bekomme mit so und so viel Korn und Kartoffeln und dem Recht, Hühner zu halten, und noch anderen Rechten, die ich alle bezeichnen werde. Sonst wird aus dem Kaufe nichts.«

Die Katrike fängt sofort an zu weinen und klagt sie an, sie steh' ihrem Glück entgegen. Der junge Herr Schmidt aber sagt: »Es wird auch alles in dem Kontrakte stehen, aber das ist ein ganz anderer Kontrakt als der, den ich mit dem Besitzer abschließen werde. Denn den geht es nichts an, was wir miteinander ausmachen wollen.«

Da sieht sie ein, daß der dumme Deutsche klüger ist als sie selbst, und schickt sich in das, was verlangt wird.

Aber erst will sie gesund sein und mit aufs Gericht gehen und alles bewachen können bis in das kleinste.

Die Katrike und der junge Herr Schmidt sehen sich schon wieder an. Dann aber geben sie sich die Hand und knien am Bette nieder und bitten um ihren Segen.

Sie weint und küßt und segnet die beiden, aber in ihrem Innern denkt sie dabei: »Ich will doch erst den Rechtsanwalt fragen.«

[] 20

Der Moorvogt sitzt über seinen Schreibereien, und wenn einer am Chausseehaus vorübergeht, sieht er zum Fenster hinaus. Das ist seine Art, über die Leute, die ihm anvertraut sind, ins klare zu kommen. Aus ihrem Aussehen, ihrem Gang und der Stunde, die sie sich aussuchen, und den Lasten, die sie tragen, kann er genau erkennen, wie er mit ihnen dran ist, ob sie vorwärts kommen oder ob sie ins Lüdern geraten sind.

Der Moorvogt ist nun auch kein Jüngling mehr, und die dreißig Jahre, die er dem Moor geopfert hat, fangen an, seine Haare zu bleichen. Aber sein Auge sieht noch so scharf wie je, und noch immer hält er zweitausend Schicksale straff an der Leine.

Eines schönen Sommerabends sieht er den Jons Baltruschat zu Fuß nach Hause gehen, und doch ist er des Morgens im Leiterwagen vorübergefahren. Der Jons Baltruschat ist ihm schon seit einiger Zeit auffällig gewesen. Morgens macht er sich auf nach der Wiese, und abends fährt er betrunken zurück. Und der fremde weiße Hund, der dem Weibsbild von Tochter gehört, läuft nebenher.

Aber heute kommt er zu Fuß. Auch schwanken tut er. Aber seine Gangart ist mehr wie die eines Kranken als die eines Betrunkenen.

Darum macht der Moorvogt das kleine Fensterchen auf, durch das früher die Stange mit dem Lederbeutel geschoben wurde, und ruft ihm nach: »Jons, komm doch mal 'rein!«

Der Jons erschrickt und tut, als hat er nichts gehört, doch wie der Moorvogt nicht nachläßt, da muß er sich wohl bequemen, kehrt um und tritt in das Zimmer. Die Petruschka mit ihm. Sie läuft sofort zu dem Moorvogt, steckt die Schlangenschnauze in seine Hand und schlägt die nassen Augen zu ihm auf, als will sie sagen: »Wenn du nicht hilfst!«

[] Der Moorvogt braucht nur einen Blick, um zu sehen: Der Jons ist so gut wie ein verlorener Mann; aber er weiß, große Worte verschrecken bloß und verschüchtern, darum sagt er gleichsam so nebenher: »Mir war doch, als bist du heut früh mit Fuhrwerk gewesen. Hast du das irgendwo stehen gelassen?«

»Ja,« sagt der Jons, »das hab' ich stehen gelassen.«

»Na, wo denn?«

»Auf – der – Chaussee.«

»Aber warum denn?«

»Ja – na.« Mehr ist nicht aus ihm 'rauszukriegen.

»Dann wollen wir's doch gleich einmal holen gehen,« sagt der Moorvogt und greift nach der Mütze.

Aber der Jons will nicht. »Wenn es 'n Zweck hätt',« sagt er.

»Warum hat's keinen Zweck?«

»Weil das Pferd gar nich mehr da is.«

»Wo ist es denn?«

»Wer kann wissen?«

»Ach so,« sagt der Moorvogt. »Du bist betrunken gewesen, hast dich in'n Chausseegraben gelegt, und unterdessen hat's dir einer ausgespannt.«

»Wer kann wissen?« sagt der Jons.

»Und da gehst du hier vorbei und machst keine Anzeige? Möchtest du den hübschen Braunen gar nicht mehr wiederhaben?«

»Is ja alles egal,« sagt der Jons.

»Sonst war dir so was durchaus nicht egal.«

»Da waren auch noch die Kühe da.«

»Sind die denn nicht mehr da?«

»Nichts is mehr da. Die Schweine werden sie heute auch wohl geholt haben.«

»Wer denn?«

»Na, die Erdme und die Marjellen.«

»Und das läßt du dir ruhig gefallen?«

»Is ja alles egal.« Und dabei bleibt er.

Die Petruschka sieht immer zum Moorvogt auf, wie der Mensch zum rettenden Herrgott. Der streichelt ihr den [] hohlen Rücken, dessen Fell verfilzt ist und verschorft von Wunden und schwarzgrau. Und er sagt: »Wie kommt's, daß der fremde Hund sich an dich gewöhnt hat?«

»Das is so gekommen,« sagt der Jons.

»Weißt du, was deine Tochter für eine ist?« fragt der Moorvogt.

»Ich will es auch gar nicht wissen,« sagt der Jons.

Damit geht er.

Der Moorvogt telephoniert an alle Amtsvorsteher wegen des Braunen und hat dann eine schlaflose Nacht.

Am nächsten Morgen läßt er sich den Smailus kommen. Der bibbert am Krückstock, und seine Augen sind ganz und gar wie verglast, aber das kühne Polengesicht hat er noch immer, und sein Schnurrbart wölbt sich so forsch, als will er den Moskauern demnächst eine Schlacht ansagen.

Doch Schlachten schlägt der nicht mehr. Dafür hat seine Vierte reichlich gesorgt. Wenn es Gott will und sie stirbt, die ist imstande und verleidet ihm vorher die Fünfte.

»Was ist also mit den Baltruschats los?« fragt der Moorvogt. Und nun erfährt er das Nötige.

»Warum bist du nicht freiwillig zu mir gekommen und hast es erzählt?«

Seine Frau hat es nicht gewollt.

»Warum hat deine Frau es nicht gewollt?«

Der Jons hat ihr einmal eine Ziege gepfändet, und dafür muß sie sich rächen.

»Und was hat sie ihm gepfändet?«

Der Smailus lacht schadenfroh. »Das ist gar nicht zu zählen,« sagt er. Überhaupt das Weib! Aber davon will der Moorvogt nichts wissen.

»Glaubst du, daß die Erdme mit dem Witkuhn mal was vorgehabt hat?«

Diese Frage ist ihm zu schwer. Daß seine eigenen vier Weiber ihm treu gewesen sind, das weiß er, bei den anderen kann man niemals drauf schwören.

»Aber bemerkt hast du nichts?«

Nein, bemerkt hat er nichts. Und darum wird er entlassen. – – –

[] Der Moorvogt ist sich noch ungewiß. Soll er die Erdme in dem Witkuhnschen Hause besuchen oder soll er sie zu sich bestellen? Da sieht er sie eben vorbeigehen. Sie lahmt zwar noch, und Kreuz und Kopf trägt sie bewickelt, aber kriechen kann sie doch schon.

»Du – komm mal 'rein!«

Sie steht da und sieht ihn böse an.

»Schöne Geschichten hör' ich von dir.«

Sie schweigt und sieht ihn böse an.

»Nach fünfundzwanzigjährigem Leben – schämst du dich nicht?«

Da legt sie los: mit dem Zaunspfahl hat er sie geschlagen – beinahe das Rückgrat hat er ihr gebrochen – mit Schmutznamen hat er sie belegt – ihren ehelichen Wandel hat er bekotzt – die ehr- und tugendsamen Töchter hat er mißhandeln wollen, und was das Schlimmste ist, das Vieh hat er verhungern lassen, so daß sie es nur durch Rüberholen mit knapper Not errettet hat.

Der Moorvogt sieht sofort: die Sache liegt schlimm für den Jons, und sie ist eine Furie geworden. Mit gut Zureden wird der nicht beizukommen sein. So versucht er es also mit böse: »Weißt du, was ich jetzt tun werde? Ich werd' dich durch den Gendarm in die Kaluse bringen lassen.«

Aber sie lacht ihn nur aus. »Das können Sie ja. Bloß morgen werd' ich schon wieder bei Ihnen vorbeigehen.«

»Wenn du dich nur nicht irrst.«

»Warum soll ich mich irren? Er hat ja keinen Antrag gestellt. Und er wird auch gar keinen stellen. Denn hier unter der Wiste hab' ich das Doktorattest. Darin steht geschrieben, wie schlimm es gewesen ist und daß ich nur durch ein Wunder am Leben bin. Wenn einer in die Kalus' fliegt, dann ist er es. Und ich zieh' jetzt zu meiner älteren Tochter. Die wird eine reiche Besitzersfrau. Und morgen wird sie das Aufgebot bestellen kommen. Und wenn ich erst hier 'raus bin, dann kann man mir sonst was.«

Das ist nicht Trotz mehr, das ist offene Auflehnung.

[] Im Laufe der Jahre haben nur wenige ihm so entgegenzutreten gewagt.

»Was du eben gesagt hast, Erdme Baltruschat, das will ich nicht verstanden haben. Aber eins prophezei' ich dir: der Tag wird kommen, und er ist gar nicht weit, da wirst du dich glücklich preisen, bei dem Jons noch einmal unterkriechen zu können. Wir wollen hoffen, daß er dich dann auch aufnimmt.«

Sie beißt die Zähne zusammen und schwört bei Gott dem Allmächtigen: »Eher geh' ich und ertränk' mich im Torfloch.«

Und damit humpelt sie wieder hinaus nach Heydekrug zu, wo der Rechtsanwalt ihr raten soll, wie sie sich sichert, wenn Tochter und Schwiegersohn, denen sie alles opfert, sie übervorteilen wollen.

21

Das Geld muß hergegeben werden. Da ist nichts zu machen. Denn ohne Anzahlung kommt das Grundstück nicht in ihren Besitz. Es wird aus Vorsicht auf den Namen der Tochter geschrieben, damit der junge Herr Schmidt vor der Hochzeit nicht etwa noch abschnappt.

Die Kühe und die Schweine und alles, was vom Hausrat herübergetragen ist, sollen mit in die Wirtschaft kommen, denn es fehlt ja nicht weniger als alles.

Der Kontrakt wird unterschrieben, und das Geld ist weg – so schnell, wie man eine Fliege in der Hand sterben läßt. Den Kauftrunk spendiert die Erdme, aber gemütlich ist er nicht. Der bisherige Besitzer behauptet, er hätte sein Hab und Gut wegwerfen müssen, und der junge Herr Schmidt ist der Ansicht, die Hälfte des Preises wäre auch noch reichlich gewesen. Daß es zum Prügeln nicht kommt, daran ist nur die Urte schuld, die nach beiden Seiten schöne Augen macht und dadurch das Schlimmste verhindert.

Hierfür belohnt sie sich, indem sie hernach noch ein bißchen spazieren geht, wobei sie alsbald die jungen [] Herren mit den Schmissen trifft, die ihr vorsichtig folgen, bis man sich auf der leeren Chaussee freundschaftlich einigen kann.

Die Katrike will mit dem jungen Herrn Schmidt über Nacht zu den Schwiegereltern fahren, was ihr nicht zu verdenken ist, und darum geht die Erdme allein nach Hause.

Nach Hause? – Als ob sie ein »Zuhause« hätte – das soll erst morgen kommen. Denn für morgen hat der Rechtsanwalt den Ausgedingevertrag bereitgelegt. Darin steht aufs genaueste geschrieben, was ihr bis zu ihrem seligen Tode zukommen wird – ja sogar für die Zeit nach dem Tode hat sie gesorgt. Nicht weniger als zehn Fladen und sechs Achtel Bier müssen den Begräbnisgästen vorgesetzt werden, und das Kreuz auf ihrem Grabe muß aus Gußeisen sein.

So ist alles aufs beste geordnet. Aber wohl ist ihr doch nicht zumut. Wenn jetzt zum Beispiel der Jons des Weges käme, wie könnte sie ohne ein Wort an ihm vorübergehen?

Da ist nun die lange Brücke, die über die Sumpfniederung führt! Und sie muß des Frühlingstages gedenken, an dem sie vor fünfundzwanzig Jahren mit Jons zum Moor hinauszog. Da kuckten die Kuhblumen vergnügt aus dem blauen Stauwasser, und sie sagte zu ihm: »Wie die Blümchen da vorwärts kommen, ohne zu ertrinken, so werden auch wir vorwärts kommen.«

Genau so sagte sie. Ihr ist, als wäre es gestern gewesen.

»Aber was hilft das Vorwärtskommen,« denkt sie, »wenn einem zuguterletzt alles wieder zunichte wird.«

In ihrer Unwissenheit hat sie gemeint, sie seien längst über den Berg, und Hader könnt's gar nicht mehr geben; da ist er mit einmal da gewesen wie der Dieb in der Nacht und hat alles – aber auch alles – zunichte gemacht.

Übrigens: eine Wut hat sie auf die Katrike, die ihr das Geld aus den Händen riß! Kaum einmal warten konnte die Kröt', bis sie die Wiste aufgehakt hatte!

»Aber morgen,« denkt sie, »morgen wird alles festgemacht [] werden.« Aus dem Hause wird sie keiner fortekeln können, dafür hat der Rechtsanwalt schon gesorgt, und das Brautpaar hat wohl oder übel seine Zustimmung geben müssen.

Bloß daß die Unterschrift fehlt. Morgen um elf werden sie sich wieder in Heydekrug treffen, und übernächsten Sonntag kann dann die Hochzeit sein.

Wie sie beim Nachbar anlangt, ist ihr zumut, als muß sie sich wieder krank hinlegen, so zerschlagen fühlt sie sich. Aber das kommt nicht vom Rücken her, das ist das Herzweh, weil sie alles hergeben muß.

Der Nachbar erkennt ihren Zustand wohl und redet ihr Trost zu. Aber was kann er viel sagen?

Zwei Stunden nach ihr kommt die Urte. Sie hat heiße Backen und sieht verjucht und verjachert aus. Sie ist dem Moorvogt begegnet, und der unverschämte Kerl hat sie angehalten und verlangt, sie soll ein Führungsattest beibringen. Was der sich wohl denkt?

Sie macht sich viel an ihrem Koffer zu schaffen, aber zu der ermatteten Mutter ist sie voll Zärtlichkeit und besteht darauf, daß der Nachbar einen Wagen besorgt und sie morgen selber nach Heydekrug fährt. Denn der weite Gang zwei Tage gleich nacheinander könnte zu viel für sie sein.

Spät abends kniet sie noch vor der Mutter Bett und streichelt und küßt ihr die Hände und bittet ihr alles ab, was sie ihr Böses getan hat und weiter noch tun muß. Die Erdme weiß zwar nicht, was sie meint, aber von solcher Weichherzigkeit ist sie heut, daß sie den Kissenbezug ganz naß weint.

Und morgens, wie sie mit dem Nachbar davonfährt, fängt die Urte von neuem an, gerade so, als wär' es ein Abschied für immer.

Heut achtet sie nicht darauf. Sie hat nur Augen für drüben. Ob nicht der Jons sich irgendwo sehen läßt. Aber drüben ist alles leer und still. Auch keine Petruschka blitzt irgendwo auf. Freilich, blitzen tut die nicht mehr, denn die ist jetzt dreckig, wer weiß wie.

[] Pünktlich um elf hält der Wagen vor dem Rechtsanwaltshaus. Sie denkt, die Brautleute schon lauernd zu finden, aber keiner ist da. Auch um halb zwölfe noch nicht und um zwölfe ebensowenig.

Der Rechtsanwalt hat auf dem Gerichte Termin und sagt im Vorbeigehen, jetzt müßte sie warten bis zwei, denn früher käm' er nicht wieder.

Und wie er um zwei wiederkommt, sind die Brautleute noch immer nicht da.

»Jetzt ist Büroschluß bis um halb vier,« sagt er. »Inzwischen können sie immer noch kommen.«

Der Erdme, die auf der Schwelle sitzt, tut seit langem das Kreuz weh, und der Nachbar redet ihr zu, in die nächste Schenke zu gehen. Dort kann sie sich wenigstens ausstrecken. Aber sie will nicht. Sie könnte das Brautpaar am Ende verfehlen.

Der Nachbar kauft ihr Semmel und Schnaps, und dann geht es ja wieder.

Wie die Uhr sechs schlägt, kommt der Bürovorsteher heraus und sagt, für heute sei es nun leider zu spät, aber der Schriftsatz liege ja da und der Herr Rechtsanwalt werde morgen oder auch sonst wann zur Beglaubigung gerne bereit sein.

So fahren sie wieder zurück. Die Erdme hat das Kopftuch um Mund und Backen gebunden und redet kein Wort. Was soll sie auch reden? Man muß sich ja fürchten zu denken – um wieviel mehr noch zu reden!

Auch dem Nachbar ist die Kehle erfroren. Und so kommen sie an.

Was sie da finden, glaubt keiner. Ich kann es euch zehnmal erzählen, ihr glaubt es mir doch nicht.

Die Kühe sind weg. Die Schweine sind weg, die Betten sind weg. Auch der andere Hausrat von drüben ist weg. Die Urte ist ebenso weg. Und selbst die kröt'sche Marjell, die Jette, ist weg.

Dem Nachbar Witkuhn Seine, die ein ordentliches Mädchen ist, sieht die erschreckten Gesichter und fängt hell zu weinen an. Sie haben gesagt, es geschehe im Auftrag [] der Erdme, sonst hätte sie den Nachbar Smailus gerufen oder sonst wen – und sie schielt hinüber nach Baltruschats Haus.

Was bei Jesu Namen ist also geschehen?

Bald nach elfe ist ein Leiterwagen vorgefahren. Darauf haben die Brautleute gesessen und haben erklärt, sie wollten jetzt alles überführen, was in die künftige Wirtschaft gehört. Und die Mutter wäre schon dort, um einzurichten, und käme nur später noch einmal, die eigenen Sachen zu holen.

Und dann haben sie vorne das Hausgerät aufgeladen und hinten die Schweine. Und die Kühe haben sie angebunden, und so sind sie davongefahren. Und die Urte hat ihr noch fünf Mark geschenkt für die gute Bedienung.

Ja richtig! Zwei Briefe haben sie auf den Tisch gelegt. An wen die sind, weiß sie nicht, denn Aufschrift hat keiner.

Der Erdme wird das Kreuz ganz steif und gefühllos. Der Nachbar und die Magd müssen sie in die Stube tragen.

Da liegen die Briefe.

Die Katrtke schreibt so:

»Mein geliebtes Mütterlein!

Es bereitet mir einen großen Schmerz, mich von Dir zu trennen. Mein Bräutigam, der junge Herr Schmidt und seine Familie wollen es aber so. Die Deutschen sagen, es ist bei ihnen nicht Sitte, daß gleich die Mutter als Altsitzerin in die Wirtschaft mitgeschleppt wird. Und sie sagen, sie wollen dann lieber zurücktreten. Die Hochzeit wird in kleinstem Kreise gefeiert werden, und darum kann ich Dich nicht dazu einladen. Was mir auch gewißlich einen großen Schmerz bereitet. Das Vieh und die anderen Sachen habe ich gleich mitgenommen, denn mein Bräutigam, der junge Herr Schmidt, hat es schriftlich. Eine Klage würde also nichts nutzen. Ich bedanke mich auch sehr für alles, womit Du mich beschenkt hast, und werde Dich lieben in Ewigkeit.

Deine treue Tochter Katrike.«

[] Und die Urte schreibt so:

»Meine Mamusze!

Ich weiß, ich habe schlecht an Dir gehandelt, aber die Katrike bestand darauf. Darum habe ich Dich gestern und heute auch immerfort um Verzeihung gebeten. Bei der Katrike bleibe ich nicht, sondern fahre von Jugnaten aus gleich nach Berlin. Wenn ich trotz meiner schönen Kleider nicht arm wäre wie eine Kirchenmaus, noch weit ärmer, als die Ulele einst war, dann würde ich Dich jetzt mit mir nehmen. Aber so würden wir uns beide gegenseitig nur hinderlich sein. Darum rate ich Dir, laß Dich rasch scheiden und heirate den Nachbar Witkuhn, der Dich ja immer geliebt hat. Wenn man daran denkt, scheint es einem wie ein trauriges Buch, und das muß doch wenigstens einen befriedigenden Schluß haben. In dem bösen Vater kannst Du ja doch nicht zurück. Die untreue Petruschka mag bei ihm bleiben. Ich will sie nicht mehr. Lebe wohl, meine Mamusze, und sei mir nicht böse. Ich schicke Dir bald etwas Schönes.

Deine Urte.«

So lauten die Abschiedsbriefe der beiden Töchter.

22

Die Erdme will sich ins Bett legen, denn die Beine tragen sie nicht.

Da tritt der Nachbar Witkuhn zu ihr in die Kammer. Er hat seinen Mantel auf dem Arme und sagt: »Bis heute waren die Töchter da. Ich könnte ja jetzt die Magd bei dir schlafen lassen, aber vor Gericht glauben sie ihr am Ende nicht, weil sie doch von mir abhängig ist. Und wenn ich auch ein alter Mann bin, da ich nun einmal mit dir im Verdacht stehe, so möchte ich dir das künftige Leben nicht erschweren, indem ich mit dir zur Nacht allein unter einem Dache verweile. Oder doch so gut wie allein. Ich werde darum den Nachbar Smailus um eine Schlafgelegenheit [] bitten und darin fortfahren, solange dein Ruf es verlangt.«

Da sieht die Erdme ein, daß sie kein Dach mehr über dem Kopfe hat, denn den Nachbar aus seinem Hause vertreiben, das kann sie nicht.

Weil sie aber weiß, daß er von seiner Meinung nicht abzubringen sein wird, so willigt sie zum Scheine darein, gibt ihm auch ihre Danksagung mit auf den Weg und sagt, sie wird gleich zur Ruhe gehn.

Sowie er aber weg ist, ergreift sie den Stock, auf den sie sich stützen muß, – und siehe da! jetzt tragen die Beine sie wieder.

Der Magd sagt sie, sie will an die frische Luft, und damit verläßt sie den Hof.

Es ist ein lieblicher Abend, nur – Gott sei's geklagt – sie weiß nicht, wohin.

Dem Moorvogt hat sie geschworen: ins Torfloch. So ein Schwur ist leicht gegeben, will man ihn aber erfüllen, dann fällt es einem recht schwer.

Trotzdem wird es ja wohl das Torfloch sein müssen, denn was bleibt ihr sonst übrig?

Auf dem Knüppelweg hält sie an und blickt noch einmal nach ihrem Eigenen hinüber.

»Es ist merkwürdig,« denkt sie, »daß man nie etwas von ihm sieht oder hört.« Seit sie ihm das Pferd gestohlen haben, kann er nicht mehr wegfahren. Und zu Fuß kommt er auch nicht vorbei. Selbst die Petruschka ist wie in die Erde gesunken.

Sie wirft einen Blick auf die Quitschenbäume, deren Beeren schon halb und halb rot sind, und auch den Garten besieht sie von ferne. Viel erkennt sie nicht mehr, denn die Dunkelheit ist schon im Fallen, aber daß die Sonnenblumen im Aufblühen sind und daß der Wind die Stangen der Zuckerschoten umgeschmissen hat, das bemerkt man auch von dem Weg her.

»Wenn ich nicht so kreuzlahm wäre,« denkt sie, »so würd' ich nachher über den Zaun klettern und sie noch aufrichten.«

[] Und dann macht sie sich auf – nach dem Torfloch.

Die Ziegel, die schwarz und wie mit Fett übergossen an seinem Rande stehen, hat sie noch selber gestochen. Aber nicht mehr allein wie einst in den Jahren der Jugend. Mit der Magd waren sie drei, so wie es die Regel verlangt. Und der Jons hatte den schwersten, den Stechplatz.

Der Abendschein liegt feuerrot auf dem Wasser.

»Wenn ich jetzt hier 'reinspringe,« denkt sie, »dann wird er sein Lebtag glauben, ich sei mit dem Nachbar Witkuhn im Verschwiegenen einig gewesen. Denn wer soll es ihm sagen? Will der Nachbar ihn anreden, so schlägt er ihn tot.«

Und dabei fällt ihr auf, daß das Totgeschlagenwerden gar nicht so schlimm ist. Hier 'reinzuspringen ist schlimmer.

»Wie wär's,« denkt sie weiter, »wenn ich vorher noch mit ihm spreche und alles ins klare bringe? Mehr als mich totschlagen kann er ja auch nicht.«

Und so froh wird ihr dabei zumut, als wenn das noch ein Segen wär'. Bloß hier nicht 'reinspringen müssen!

Darum macht sie sich gleich auf den Rückweg.

Um die weggelaufenen Töchter klagt sie schon gar nicht mehr, nur daß das Vieh weg ist, erfüllt sie mit Kummer.

»Hätt' ich bloß eine einzige Kuh an die Leine zu nehmen,« denkt sie, »dann könnte ich mich schon vor ihm sehen lassen. Aber so ganz als Bettlerin auf seiner Schwelle zu stehen, fällt doch recht schwer.«

Und nun möchte sie wieder lieber ins Torfloch. – – –

Wie sie von neuem am Quitschenweg steht, ist es schon Nacht, abea richtig Nacht wird es im Juli ja doch nicht.

»Find' ich ihn nicht zu Hause,« denkt sie, »so setz' ich mich an die Feuerstelle und warte, bis er zurückkommt.«

Und so geht sie langsam den Zufahrtsweg hinauf und bis an das Hoftor. Der Kettenhund rührt sich nicht. Ja richtig, den hat er vergiftet, weil er sich losgemacht und die Petruschka zerbissen hat. So hat es der Magd die Smailene erzählt.

Das Tor steht offen. Warum auch nicht? Das Vieh ist längst fort, das hat sie ja selber gestohlen.

[] Ob er wenigstens die Haustür verschlossen hat?

Aber wie kann er? Sie selber hat ja den Schlüssel.

So drückt sie also die Klinke auf zum Vorflur.

Da kommt aus dem Finstern was Helles gesprungen und riecht an ihr hoch und riecht und riecht und stellt sich dann vor sie hin und fängt zu heulen an, wie ein Mensch heult.

Heult er vor Freude? Heult er vor Jammer? Wer kann es wissen?

Ihre Augen haben sich schon an das Dunkel gewöhnt, und wie der Jons in seinen Kleidern aus der Stubentür tritt, erkennt sie ihn deutlich. Sie sieht auch gleich, daß er nüchtern ist. Bloß verschlafen scheint er zu sein.

Und wie er fragt, wer da ist, gibt sie gar nicht erst Antwort, sondern fällt vor der Feuerstelle zusammen. Sie denkt, nun wird er die Schaufel nehmen oder die Axt.

Aber was tut er?

Er macht die Haustür weit auf, damit er sie besser besehen kann, und dann stellt er sich neben sie hin und fragt: »Ist es noch immer das Kreuz, daß du nicht aufkannst?«

Nein, das Kreuz ist es nicht mehr, auch die Angst ist es nicht mehr, jetzt sind es die Tränen, daß sie nicht aufkann.

Und sie kniet vor der Feuerstelle und legt die Stirn auf die Kante und weint und weint, weil sie da ist und weil er die Axt nicht nimmt oder die Schaufel.

Wie wird sie's ihm aber bloß beibringen von dem Sparkassenbuch und dem Vieh? Und dann auch, wie sie mit dem Nachbar steht und gestanden hat, treu nach der Wahrheit?

Und weil sie nicht weiß, was sie reden soll, liegt sie da und weint.

Da sagt der Jons: »Die Marjellens sind ja, Gott sei Dank, auch weg.«

»Das weißt du?« sagt sie und richtet sich auf.

»Ich hab' ja alles aufladen sehen heute mittag,« sagt er.

»Und du hast sie nicht zuschanden geprügelt?«

[] »Ich hab' schon eine zuschanden geprügelt,« sagt er und setzt sich neben sie auf den Herd.

Da hebt sie den Kopf und legt ihn ihm zwischen die Knie, und er legt die Hand auf ihr Haar, und so sitzen sie lange.

Aber endlich muß sie es ihm doch sagen – das mit dem Nachbar zuerst.

Sie druckst und druckst, doch es will nicht recht losgehen. »Der Nachbar –« sagt sie, »der Nachbar –« und dabei bleibt es.

»Is ja alles egal mit dem Nachbar,« sagt er, »wenn du bloß da bist.«

Nun weiß sie, daß er ihr alles verziehen hat, wenn es auch noch so schlimm wäre. Aber sie will es nicht auf sich sitzen lassen – nicht eine Stunde mehr.

Und da kann sie mit einem Male ganz fix in die Höhe, und setzt sich neben ihn und erzählt ihm von dem Gesangbuch – wie wundertätig sich das in der Jugend an ihr erwiesen hat. Nun aber sind sie längst angejahrt und drüber hinweg. Und daß der Nachbar heut für die Nacht zum Nachbar Smailus gegangen ist, erzählt sie ihm auch.

Er sagt: »Wenn du bloß da bist.« Und sonst sagt er nichts. – – – – –

Nun wollen sie schlafen gehen. Doch es sind keine Betten da.

»Ich lieg' sonst auf dem Stroh,« sagt er, »und bedecken tu' ich mich mit dem Woilach.«

Das Pferd ist weg, aber sein Woilach dient weiter.

»Wie wir anfingen,« sagt sie und schämt sich, »da, hatten wir wenigstens Bettzeug.«

»Ach Gott,« sagt er, »das Vieh ist ja weg und viel von dem Hausrat und alles Gesparte« – wie er sagt »alles Gesparte«, da schluckt er doch, und ihr zerreißt es das Herz –, »aber die schönen Gebäude sind da, und die Wiese haben wir auch, und die Kartoffeln gedeihen – und der Moorvogt sagt: ›Das Pferd wird sich finden,‹ und fürs übrige leiht er. Wir fangen eben noch einmal von vorne an, das ist alles.«

[] Wie er das sagt, da kommt die Erdme sich wieder ganz jung vor.

Und dann kriechen sie still in das kahle Bett und decken sich zu, so viel die kurze Pferdedecke nur hergibt. Und sie frieren auch nicht, denn die Nacht ist ja mild, und sie können sich gegenseitig erwärmen.

Wie die Erdme da liegt, denkt sie: »O Gott, o Gott, wie liegt es sich schön hier!« Und ihr Kreuz wird bald heil sein, und dann wird sie arbeiten wieder für dreie. Und der Segen wird kommen, wie er das erstemal kam. Nein, er ist schon gekommen, denn der Jons liegt ja bei ihr und sagt halb im Schlaf: »Wenn du bloß da bist.«

Die Petruschka hat den Kopf zwischen die Pfoten gesteckt und träumt von einer Wanne mit lauwarmem Seifenwasser und einem tüchtigen Schrubber.

Und wie ich die Erdme kenne, wird der Traum sich morgen erfüllen. – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

[]