Nach den Anforderungen der Gegenwart
von
Dr. C. Beyer. ──────
Dritter Band. ──────
Stuttgart.
G. J. Göschen'sche Verlagshandlung.
1884.
von
Dr. C. Beyer. ──────
Stuttgart.
G. J. Göschen'sche Verlagshandlung.
1884.
K. Hofbuchdruckerei Zu Guttenberg (C. Grüninger) in Stuttgart.
[RI](Rob. Hamerling. Aus Prolog z. 26. Jahrg.
d. Westerm. Mon.=Hefte.)
Mit dem vorliegenden 3. Bande dieses Werkes ist das vorzugsweise
aus Beispielen der deutschen Litteratur, sowie aus den Lehren
der besten Schriftsteller auf dem Gebiete der Ästhetik und aus den
Dichtwerken aller Nationen geschöpfte große System der Poetik in
seinem ganzen weiten Umfange abgeschlossen. Der Jnhalt dieses
Bandes verhält sich zu dem der beiden ersten Bände, wie Praxis zu
Theorie. Er hat sich die Aufgabe gestellt, die Methode der dichterischen [RII]
Technik zu zeigen und das bezügliche Material in einem vom Leichteren
zum Schwereren aufsteigenden Stufengange zu liefern. Er will
also praktisch in die Technik der Poesie einführen und
mindestens die Befähigung zur Vers- und Strophenbildung
erzielen.
Hiermit unternimmt er den kühnen Versuch, die seither mehr oder
weniger dem Zufall überlassene Erlernung dichterischer Technik als
Lehrdisziplin nach methodisch=pädagogischen Prinzipien
in die Litteratur einzuführen.
Dem Bedenken jener, welche aus unserem Beginnen eine Vermehrung
der Dichterlinge und Reimschmiede prophezeien möchten, erwidern
wir zunächst folgendes: Es ist noch keinem die Behauptung
in den Sinn gekommen, daß die auf unseren Gymnasien so fleißig
betriebenen Übungen in lateinischer Prosodik und Metrik und in
lateinischer Versbildung lateinische Dichterlinge und Reimschmiede geschaffen
hätten. Ebensowenig hat man ein Überwuchern von stümpernden
Rednern und dilettierenden Schriftstellern infolge der rhetorischen
und stilistischen Übungen an unseren höheren Lehranstalten wahrgenommen.
Niemand endlich hat bis jetzt bemerkt, daß die Schüler
unserer Musik=, Zeichen- und Malerschulen insgesamt das Proletariat
der Stümper in der Musik=, Zeichen- und Malerkunst vermehrt hätten.
Man erblickt heutzutage mit Recht die Aufgabe dieser Anstalten darin,
die ästhetische Durchschnittsbildung des Jahrhunderts zu heben und dem
einzelnen das Leben zu verschönern durch ein reicheres Maß von
Fertigkeiten, durch größere Reife des Urteils und namentlich durch
Bildung des bisher so sträflich vernachlässigten ästhetischen Geschmacks,
─ und man ist zufrieden, wenn nur hie und da ein bedeutender
Künstler aus ihnen hervorgeht. Jn ähnlicher Weise könnte man sich
belohnt fühlen, wenn unsere praktischen Unterweisungen
auch nur einzelne wirkliche Dichtertalente in die richtigen
Bahnen lenken, dafür aber die ästhetische Mittelbildung
unserer Zeit (d. h. die Durchschnittshöhe des von Bildung
nach Regeln und Mustern abhängigen Kunstgeschmacks) zu steigern
vermöchten. Dadurch würden sie auch den Dilettantismus
bekämpfen und die Flut mittelmäßiger Gedichte
eindämmen. Wer sich im deutschen Vers- und Strophenbau praktisch
geübt hat, wer die poetischen Formen mit Beachtung aller Anforderungen [RIII]
und Feinheiten in den Kunstgriffen nachbildete, wer einsehen
lernte, wieviel zu einem guten Gedichte gehört, der wird sich zweifellos
ernstlich scheuen, dem im Geschmack gehobenen Publikum halbreife
Früchte aufzutischen.
Viele meinen, daß ästhetisches Fühlen, genießendes Verständnis
der Dichter und dichterisches Hervorbringen gar keine besondere
Schulung nötig habe, während doch in Wahrheit die Dichtkunst, wenn
sie es zur Meisterschaft bringen will, die schwerste aller Künste ist,
weil sie zur Erfüllung ihrer höchsten Aufgaben eine größere Fülle und
Tiefe lebendigen Wissens und Könnens voraussetzt, als die andern
Künste, bei welchen die technischen Schwierigkeiten schon durch deren
handgreifliches Arbeitsmaterial mehr in die Augen springen. Aus
einem Marmorblocke eine Göttin oder aus den Farben einer Palette
ein schönes Bild hervorzuzaubern, erscheint dem Laien schwieriger, als
aus der unsichtbaren Sprache, die er selbst im Munde führt, ein schönes
Gedicht zu schaffen; denn er weiß nicht, daß die Sprache einem Dichter,
der nicht auf bereits ausgetretenen Bahnen wandelt, ein noch spröderer
Stoff ist, als dem Bildhauer der härteste Marmor (Bodenstedt). Die
Verskunst setzt energische Schulung voraus; sie muß, wie das Zeichnen,
das Malen, das Klavierspielen und die musikalische Komposition gründlich
erlernt und nachhaltig geübt werden. Ohne Anweisung, ohne
Abstraktion der Regeln aus den besseren Dichtwerken &c. hätten ja
auch die klassischen Dichter gewisse, aus der ältesten Zeit sich herschreibende
Gesetze der Dichtkunst so wenig geübt, als mancher Dichterling
unserer Tage oder die Dichter des 14. und 15. Jahrhunderts.
Goethe gesteht, daß seinen Meisterdichtungen recht ernstes Ringen,
rücksichtslose Selbstkritik und Belehrung seitens anderer vorausgegangen
seien; und Herder ist der Ansicht, daß die Poesie nicht die Domäne
einiger hervorragender Geister sei, sondern einer Gesamtheit, die wir
Volk nennen. Friedrich Rückert, dessen Ahnen Bauern waren, hat
eine unausgesetzte Schulung an sich vollzogen und sich zum klassischen
Dichter emporgerungen.
Die Poesie ist eben nichts weniger als ein angeborenes Vorrecht
von nur wenigen Menschen. Fähigkeit und Anlage zur Poesie hat
der ewige Baumeister aller Welten in größerem oder geringerem Grade
in des Menschen Brust gelegt, und es kann daher ein jeder ─ ohne
Dichter werden zu wollen ─ ebenso gut einen gelungenen Vers bilden [RIV]
lernen, als er es ohne Schriftsteller werden zu sollen ─ zur Herstellung
eines guten Prosastücks zu bringen vermag.
Es soll freilich nicht behauptet werden, daß Schulung an sich
zum guten klassischen Gedichte führen müsse, daß also einzig und
allein die Virtuosität in der Technik den großen Dichter mache. Wir
Deutsche verlangen vom Dichter neben Virtuosität in der Technik noch
Tiefe und Gediegenheit des Gedankens; diesen kann nur derjenige mit
der Form verschmelzen, welcher die Melodie aus dem Rhythmus und
das Feuer der Begeisterung aus dem Wohllaut der Metapher durch
seinen zur Klarheit, Lebendigkeit und Gewandtheit des Geistes und
der Phantasie führenden, poetischen Entwickelungsgang seinem geistigen
Jch vermählt hat. Einen jeden zum großen Dichter bilden zu wollen,
dürfte überhaupt und im allgemeinen eine unlösbare Aufgabe sein,
weil ja neben Anleitung zum Vers- und Strophenbau der ganze
Bildungsgang in Betracht kommt. Aber einen phantasiereichen
Menschen, einen talentvollen, harmonisch entwickelten Jüngling,
eine dem Jdealen zustrebende Jungfrau auf Pfade zu
leiten, auf denen unsere klassischen Dichter Großes leisteten,
das muß eine würdige, ─ eine lohnende Aufgabe sein!
Noch nach einer anderen Richtung möchte der vorliegende Band
eine eigenartige Stellung und Bedeutung beanspruchen. Durch Behandlung,
Einteilung und Gruppierung des dichterischen Stoffes erwächst
nämlich dem Lernenden Kenntnis vom Bau der Sprache und der
Dichtungen, sowie Einsicht in Gesetz und Regel; er lernt das Schöne
in Form und Jnhalt empfinden; es tritt ihm die Anschaulichkeit und
Feinheit des dichterischen Gegenstandes wie der Unterschied in der
dichterischen Stilhöhe entgegen; er ist veranlaßt, die Laute in ihrer
Mischung und Anordnung zu vergleichen, die Härten zu vermeiden,
das jeweilige Reim-Echo behufs Erreichung zierender Reime zu prüfen,
in den Geist der Strophik im Hinblick auf Stoff und Form einzudringen
u. a. m. Ohne Zweifel wird dadurch der frische, lebendige,
sprachliche Ausdruck begünstigt oder gefördert, die Fähigkeit form= und
inhaltsvoller Darstellung von Jdeen und Gefühlen gesteigert, das Urteil
erweitert, der ästhetische Geschmack veredelt, die Phantasie belebt und
somit der Lernende ─ ohne jegliche poetische Fiktion ─ mehr als
durch irgend eine andere Unterrichtsdisciplin in eine höhere Sphäre
menschlichen idealen Seins und ästhetischen Fühlens emporgehoben. [RV]
Dies ist die gleichsam pädagogische Bedeutung unserer
Arbeit.
Ein namhafter Dichter hat einmal geäußert, daß niemand auf
poetischen Gebieten mitzusprechen berechtigt sei, der nicht die Praxis
mit der Theorie verbunden habe. Wir setzen hinzu: Nichts Vollendeteres
könnte es geben, als eine Nation, in welcher jeder Gebildete
hierbei mitzusprechen vermöchte, in welcher jeder seinen Vers ebenso
zu bilden verstünde, wie seinen Prosaaufsatz; dann würde das Dilettantische
nur geringe Verbreitung finden; dann würden die wirklich
bedeutenden Dichter, getragen von der höheren ästhetischen Mittelbildung
der Nation, in Wahrheit Leitsterne des Jahrhunderts sein! ─
Hiermit kommen wir auf unsere Übungen selbst zu sprechen.
Schon ein Blick in das Jnhaltsverzeichnis wird darthun, daß wir
allen Rhythmen, Strophen, Formen, Gleichklängen, Dichtungsgattungen
&c. unsere Beachtung zuwandten. Wir haben eine systematische
Folge vom einfachen Jambus bis zu den schwierigsten deutsch
nationalen und fremden Strophenbildungen eingehalten und den Weg
gezeigt, den der zur Selbständigkeit geführte Kunstjünger zu wandeln
hat. Überall schickten wir die präzise Anleitung und die praktischen
Vorschriften und Winke über Gesetze und Regeln voraus, so daß der
Schaffende nicht erst die Handwerksvorteile mühsam zusammenzusuchen
oder zu abstrahieren braucht; überall bahnten wir eine Anleitung zur
Kritik an und suchten die Voraussetzungen für das eigene dichterische
Schaffen zu formulieren oder die Regel aufzustellen.
Aber auch die Bildung und Behandlung aller jener Formen der
Lyrik, Didaktik, Epik und Dramatik haben wir gezeigt, welche irgend
eine Schwierigkeit in der Technik bieten, oder deren Handhabung
besondere Kunstgriffe beansprucht. Jene wenigen Dichtungsgattungen,
welche in ihrer äußeren Form nicht von den in diesem Bande behandelten
abweichen, konnten um so eher weggelassen werden, als wir das
präzise Maß wahren mußten. Auch übergingen wir einige stofflich
umfangreiche Gattungen, deren Technik und Bau mit allen ihren Feinheiten
bereits in den betreffenden Paragraphen der beiden ersten Bände
dieser Poetik abgehandelt sind, so daß auf diese erschöpfende Quelle
verwiesen werden kann.
Alle Handgriffe im Aufbau der prosaischen Gattungen (Roman
und Novelle) wurden mit einer wohl in allen Litteraturen ohne Beispiel [RVI]
dastehenden Ausführlichkeit bekanntlich im zweiten Band unserer
Poetik behandelt und durften daher in diesem Bande nicht wiederholt
werden.
Das Gleiche ist hinsichtlich der Technik des Dramas der Fall.
Die Paragraphen 20─43 und 149─177 des 2. Bandes dieser Poetik
wurden ja auch bereits von den geachtetsten Dichtern als eine erschöpfende
Dramaturgie begrüßt. (Die praktische Anleitung zu einem
Dramolett bietet übrigens S. 165 ff. dieses Bands.)
Es lag weiter im Bereiche der Anforderungen an unser Werk,
auch die Übersetzungen aus fremden Sprachen zu berücksichtigen.
Da gute Übersetzungen der Gedichte Wiederholungen
derselben in anderen Sprachen sind, so muß unseres Erachtens
das Verständnis und die Befähigung angebahnt werden, solche Übersetzungen
zu liefern, bei denen Harmonie zwischen Jnhalt und Form
herrscht, wie sie im Original besteht. Es muß die Übersetzung
mindestens der guten Kopie des Gemäldes zu vergleichen sein, wie
dies beispielsweise von den Schlegel-Tieckschen, oder Baudissinschen
Übersetzungen Shakespeare'scher Dramen, besonders aber von Em.
Geibels, Th. Kaysers, Osw. Marbachs Übersetzungen klassischer Dichter,
und Ferd. Freiligraths Übertragungen neuerer Dichter zu rühmen ist.
Es genügte uns deshalb nicht, nur durch geschichtliche Darstellung des
Anfangs und der Entwickelung deutscher Übersetzungskunst in deren
Wesen und Begriff einzuführen; vielmehr haben wir aus den sämtlichen
Übersetzungen aller Zeiten Grundsätze und Anforderungen an
Übersetzung und Übersetzer abstrahiert und an markanten Beispielen
gezeigt, wie der Lernende durch Vergleichung und Benützung des ihm
gegebenen Stoffes zur Höhe des vollkommenen Übersetzers zu gelangen
vermag.
Auch die Praxis der Dialektdichtungen durften wir nicht
unbeachtet lassen. Wie viele Denkmale deutscher Dialekt-Poesie sind
von so hohem Werte, daß sie im Lichte unserer hochdeutschen Poesie
immerhin zum klaren Verständnis gebracht zu werden verdienen! Selbst
die historische Vergleichung verdienten diese Denkmale; denn es ist mindestens
die Erwägung wertvoll, ob die neue Bildung einer allgemeinen
hochdeutschen Poesie an die Zerrüttung der dialektischen Laut= und
Tonverhältnisse, oder ─ wie es sicher der Fall ist ─ an den Einfluß
der Accentuation im niederdeutschen Dialekt geknüpft war u. s. w.
Bei den von uns gewählten Beispielen leitete uns der pädagogische
Erfahrungssatz, daß der Schüler dasjenige gern erstrebt, was
ihm erreichbar erscheint, während ihn allzuhohe Ziele leicht entmutigen
können. Wo es sich darum handelte, ästhetisch zu wirken, die Schönheit
der Sprache zu zeigen, Herz und Geist zu erheben und die Phantasie
zu beleben, da sind die allerbesten klassischen Beispiele geboten
worden; wo es jedoch nur auf nackte korrekte Form ankam, mußten
zuweilen Lösungen eintreten, welche lediglich den Nachweis der Regel
ergaben und unschwer erkennen ließen, wie leicht der gegebene Stoff
zu bearbeiten sei &c.
Zum Schlusse danken wir noch für die unzähligen Ermutigungen
und Auszeichnungen, welche die beiden ersten Bände unserer Poetik
seitens kompetenter Richter, seitens unserer namhaftesten Dichter &c.
gefunden haben. Für eine der lohnendsten Errungenschaften unseres
Werkes erachten wir es aber, daß der uns seitdem befreundet gewordene
treffliche Dichter Dr. Faust Pachler, 1. Kustos der k. k. Hofbibliothek
in Wien, bei der Korrektur des vorliegenden Bandes uns in zuvorkommender
Weise seine ergiebige Beihilfe lieh; desgleichen der verdiente
Philologe und Schriftsteller, Gymnasialdirektor Dr. G. Autenrieth,
sowie der bekannte Übersetzer Hofrat Dr. E. v. Zoller und andere
hervorragende Fachgelehrte.
Möge unser Volk nunmehr auch an diesem dritten und letzten
Bande der deutschen Poetik freudigen Anteil nehmen, damit unsere
seit drei Decennien rastlos geförderte große Arbeit den erstrebten und
ersehnten wesentlichen Beitrag liefere für endliche Begründung und
Vollendung einer Wissenschaft der Poetik, für Wertschätzung und Bewunderung
deutscher Poesie, wie für Pflege und Verallgemeinerung
deutschen poetischen Geistes!
Stuttgart, 13. Juli 1883.
Dr. C. Beyer.
[RVIII][RIX]Schiller.
Goethe.
Gisbert Frhr. v. Vincke.
[E1]1. Wir beginnen die praktische Anleitung und Einführung in den
deutschen Vers- und Strophenbau mit Bildung jambischer Verstakte
(⏑ –), welche am leichtesten herzustellen sind. Es ist für den Anfang
gestattet, die prosaischen Wendungen des Stoffes beizubehalten, da es
lediglich darauf ankommt, daß möglichst reine Accentjamben gebildet
werden.
2. Nicht die (auf der geregelten Folge von kurzen und langen
Silben beruhende) sog. Silbenquantität ist es also, worauf unsere
Übungen abzielen, sondern der von betonten und unbetonten Silben
abhängende deutsch=accentuierende Rhythmus. Der Accent muß in unserer
accentuierenden Sprache wie ein Heiligtum gepflegt werden.
3. Lediglich betonte, vom Accent getroffene Silben (Stammsilben)
dürfen zu Arsen (Hebungen) gewählt werden. Dieselben können also
nie in die Thesis (Senkung) gestellt werden, wohl aber gehören unbetonte
bis mitteltonige Silben in die Thesis.
4. Man muß sich hüten, sprachlich unbetonten Silben durch Versetzung
in die Arsis den Hochton (den rhythmischen oder Verston) zu verleihen,
wie dies im Beispiel „Das fūrcht | bărē | Geschlecht | der Nacht“
geschah; es würden sonst Sprache und Rhythmus miteinander in Streit
geraten.
(Es giebt nur zwei richtige Betonungen des Wortes furchtbare, nämlich:
„fūrchtbărĕ Geschlēcht“, d. i. das fürchterliche, oder fūrchtbārĕ, d. i. fūrchtlōsĕ. [2]
Aber furchtbārĕ und fūrchtlōsĕ spricht niemand, höchstens fūrcht ̆ barĕ, wo sodann
fūrchtbār reiner Spondeus [– –] wird.)
5. Eine betonte Silbe kann den Vollton einbüßen und für die
Thesis geeignet werden, wenn sie sich mit der nachfolgenden so verschmilzt,
daß man von einer Art Enklisis (Zurückwerfen des Accentes)
sprechen könnte, z. B. Fraŭ Mēisterin sagte zu &c., oder: Hĕrr Vāter,
ihr &c., oder: Ăch, Mūtter, ăch, Mūtter &c.
6. Umgekehrt kann ausnahmsweise sogar ein Artikel oder eine
Präposition zur Länge erhoben und für die Arsisstellung geeignet werden,
wenn der Vollton sie trifft: a. der weit von seinem Substantiv
abgerückte Artikel z. B.: O zeigt | mir dēn | von ihr | gelieb | ten
Freund! b. die den Gegensatz hervorrufende Präposition z. B.: Nĭcht
vōr | dem Walde liegt der Feind.
7. Es ist nicht nötig, daß jeder Satz mit einem Jambus endige.
Vielmehr können einzelne Sätze trochäisch (– ⏑) schließen und die nachfolgenden
Sätze trotzdem mit Jamben beginnen, da die Pausen hinzugerechnet
werden dürfen.
8. Da unsere Sprache trochäischen Grundcharakter hat, also
das Einsetzen mit der Arsis fordert, so werden dem Lernenden mehr
trochäische Satztakte in die Quere kommen, als er wünschen mag. Er
wird dieselben vermeiden können, wenn er Wörter mit Vorsilben einfügt
(z. B. vĕrgēben, gĕlēiten, bĕsprēchen, ĕrnǟhren &c.).
9. Ein Kunstmittel, jambische Takte zu erhalten, besteht auch
darin, daß man zwischen volltonige, schwere Silben (z. B. That, Wort)
sog. Flickwörter oder auch Flexionssilben einschiebt (z. B. Thāt und
Wōrt, oder Thātĕn, Wōrte).
10. Aus phonetischen Gründen ist eine Abwechselung der Vokale
in den Arsen wünschenswert.
11. Zu vermeiden sind mehrere, dicht hinter einander kommende,
einsilbige Wörter, da jedes derselben den Hochton verdient und somit
durch Vereinigung vieler derselben der Rhythmus ins Schwanken gebracht
werden kann.
12. Da wir uns in unserer Einführung in die Technik des Versbaus
auf Anregung durch nur wenige Beispiele beschränken müssen, so
ist es jedem anheimzugeben, sich nach weiterem Material umzusehen.
Zur Umbildung der Prosarede in den jambischen Rhythmus eignen
sich wegen ihrer fortlaufenden, dem dichterischen Ausdruck freien Spielraum
gewährenden Perioden vorzugsweise Monologe, beschreibende und
erzählende Lesestücke und Naturschilderungen &c.
(Wir erwähnen in Sophokles' Aias den berühmten Monolog 815 ff.,
Monologe in Shakespeare's Julius Cäsar, in Schillers Tell und Wallenstein.
Ferner Erzählendes z. B. in Wallenstein der Bericht über die Schlacht bei
Neustadt, oder in der Jungfrau von Orleans: „Wir hatten sechzehn Fähnlein
aufgebracht“ u. s. w.)
Aufgabe. Das nachfolgende Bruchstück aus Charikles und Theages
von Herder soll in jambische Verstakte umgebildet werden
Stoff.
Die heilige Stille, die die Nacht
um sie verbreitete, die hellen Himmelslichter,
die als Lampen über ihnen
aufgehängt schienen, auf der einen
Seite einige zurückgebliebene Schimmer
der Abendröte, und auf der andern
der hinter den Schatten des Waldes
sich sanft erhebende Mond ─ wie
erhebt dieser prächtige Tempel, wie
erweitert und vergrößert er die Seele!
Man fühlt in diesen Augenblicken so
ganz die Schönheit und das Nichts
der Erde; welche Erholung uns Gott
auf einem Stern bereitet hat, auf
dem uns Mond und Sonne, die beiden
schönen Himmelslichter, abwechselnd
durchs Leben leiten! Und wie
niedrig, klein und verschwindend der
Punkt unseres Erdenthales sei, gegen
die unermeßliche Pracht und Herrlichkeit
aller Sterne, Sonnen und Welten
u. s. w.
Lösung.
Dĭe hēiligĕ Stīllĕ, dīe dĭe Nācht
um sie verbreitet, auch die hellen Himmelslichter,
die als Lampen über ihnen
aufgehängt erschienen, hier auf dieser
Seite ein'ge Schimmer goldner Abendröte,
die zurückgeblieben, dorten auf
der andern ─ hinter Waldesschatten
sich erhebend ─ still der Mond. Wie
hoch erhebt doch dieser prächt'ge Dom,
wie sehr erweitert und vergrößert er
die Seele! Fühlt man doch in solchen
Augenblicken ganz die Schönheit wie
das Nichts der Erde, ja, man fühlt
Erholung, uns von Gott auf einem
Stern bereitet, wo den Menschen Mond
und Sonne, diese beiden Himmelslichter,
wechselnd durch das Leben leiten, und
wie gegen aller Sterne, Sonnen,
Welten Pracht und unermeßnen Schöne,
so verschwindend klein der Punkt des
Erdenthales sei u. s. w.
(NB. Man suche hier, wie bei allen folgenden Lösungen, Versehen aufzuspüren,
Kritik zu üben und z. B. nachzuweisen, wie in Z. 1 „die die“ unschön
wirkt, wie Z. 2 „auch die“ von sehr zweifelhafter Länge ist, wie
Z. 4 in „aufgehängt erschienen“ die Vorsilbe er die Änderung „aufgehangen
schienen“ empfiehlt u. s. w.)
1. Wir gehen sofort zur bequemen Form des jambischen Viertakters
(⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑ –) über, welcher ebenso akatalektisch (vollzählig), wie
katalektisch (unvollzählig) sein kann, z. B.:
(Hamerling.)
2. Wollte man nur vollständige (akatalektische) Viertakter bilden,
ohne sich um Cäsur oder die syntaktischen Pausen zu kümmern, so
könnte man die Verse (wie im vorigen Paragraphen) in fortlaufenden
Zeilen schreiben.
3. Wenn sämtliche Verse akatalektisch (vollständig) sind, so ist zur
Wahrung des Verscharakters darauf zu achten, daß die syntaktischen
Ruhepausen ans Ende derselben zu stehen kommen, um die Jncision
(Versabschnitt) zu markieren.
4. Satztakt und Worttakt darf der Lernende nicht zu oft zusammenfallen
lassen. Vielmehr muß er unserer Sprache den Schein unbegrenzter
freier Bewegung wahren und der Monotonie und Monorhythmik
vorbeugen.
5. Ständige Diäresen (Zusammenfallen des Verstaktes mit dem
Satztakte) am Ende des zweiten Taktes sind zu vermeiden, weil sonst
der Vers halbiert würde und das Ganze das Gepräge jambischer Zweitakter
erhalten müßte.
6. Es ist hier des Wohllauts wegen mehr als bei der vorigen
Übung auf freundlichen Wechsel der Sprachlaute zu halten. Ein
Kunstgriff hierbei ist im allgemeinen: a. gedehnten Silben den Vorzug
vor geschärften in der Arsis zu geben, b. volle und kräftige Vokale
öfter eintreten zu lassen, als das fade e oder das dünne i &c.
7. Auch in den Thesissilben sollte dieser Wechsel einige Beachtung
finden. Anstatt der vielen Endsilben mit dem fast tonlosen e, können
zur Abwechselung kleine Formwörtchen wie: in, vor, zu, um, auf &c.
in die Thesis gerückt werden.
8. Da diese Wörtchen meist mit einem Vokal beginnen, so müssen
zur Vermeidung des Hiatus (Zusammentreffen zweier Vokale) zuweilen
die ihnen vorhergehenden Flexionssilben elidiert werden
(z. B.: hätte in == hätt' in, hätte auf == hätt' auf &c.). Die
mäßige Anwendung des Hiatus muß gewöhnliche, dem Alltagsleben
angehörige Wendungen ausschließen.
9. Nach einer syntaktischen Pause ist der Hiatus gestattet, da ja
die Elision an dieser Stelle die Cäsur (Verseinschnitt) aufheben würde,
ein Hinüberlesen über diese Cäsur aber verwerflich wäre.
10. Die Elision vor einem Konsonanten (die sog. Apokope) sollte
nur höchst ausnahmsweise beliebt werden, weil sie eine Härte ergiebt.
Es darf elidiert werden: Hätt' er, nicht aber Hätt' der &c., oder
Hätt' man &c.
Aufgabe. Die nachfolgende Sage ist in jambischen Viertaktern
wiederzugeben, und zwar sind akatalektische Verse zu bilden.
(Vgl. übrigens S. 2 Ziffer 7.) Das Material für den einzelnen Vers ist
durch Taktstriche abgegrenzt. Es ist bei Lösung dieser Aufgabe die Beibehaltung
der prosaischen Wendungen des Stoffs gestattet, damit um so größere Sorgfalt
der Bildung reiner Accentjamben und der Vermeidung des Hiatus, wie der
Beachtung der obigen Vorschriften zugewendet werden kann.
Die Witwe. (1760 n. Chr. Aus dem Hildesheimschen.)
(Von Karl Seifart. Sagen &c. Göttingen 1854.)
Stoff.
Einer armen Witwe | bei Hildesheim
hatten | die Werber ihren einzigen
Sohn | genommen und in den
siebenjährigen Krieg geschleppt. | Die
arme Frau konnte weiter nichts thun, |
als weinen und beten, daß ihr der
liebe Gott | doch ihre einzige Stütze |
am Leben erhalten möge. | Das that
sie denn auch jeden Morgen. | Aber
Jahre vergingen, | und keine Nachricht
kam von ihrem Sohne. | Die
harten Nachbarn lachten | und meinten,
sie solle sich doch nur über ihren Sohn |
zufrieden geben. | Dem wäre nur geschehen,
| was so manchem Mutterkinde
| im Kriege geschehe. | Aber die
Frau ließ sich nicht irre machen; | sie
konnte nicht daran glauben, | daß Gott
ihr ihre einzige Stütze | nehmen würde,
und sie betete | nach wie vor für das
Wohlergehen ihres Sohnes. | Da war
es ihr einmal in der Kirche, | als ob
sie in einen tiefen Schlaf | fiele, und
doch standen | ihre Augen weit offen,
so daß sie | Wunderbares schaute. |
Sie sah in eine weite, weite Welt, |
darin lagerten viele Tausende | fremder
Völker, | und unter den Völkern
stand ein König | mit goldener Krone, |
Lösung (mit Beibehaltung der Prosawendungen
des Stoffs).
[6]
der einem schönen, jungen Soldaten
einen Kranz | auf den Kopf setzte. |
„O Gott, das ist ja mein Franz
Karl!“ | rief die Frau laut, | so daß
die andern Beter alle erschrocken | umschauten
| und meinten, der Frau | sei
etwas zugestoßen. | Die Frau aber
fühlte eine wunderbare | Freude in der
Brust | und ging himmlischen Trostes
voll | aus der Kirche. | Da sah sie
draußen die Jungen | zusammen laufen,
| schmucke Reiter trabten | unter
Trompetenblasen daher, | und ─ bald
wäre die Frau vor Freuden | gestorben,
denn all den Reitern | voran stolzierte
als Oberst | ihr Franz Karl | und suchte
seiner Mutter Haus auf. |
(NB. Weiteres Material zu Übungen im jambischen Viertakter bieten
Märchen und kleine, freundliche Erzählungen.)
1. Satzende und Ende des Blankverses (⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑ –) brauchen
nicht unbedingt zusammen zu fallen, vielmehr darf der Satz zuweilen
in die neue Verszeile hinüberragen. Zu oft soll dies freilich nicht
geschehen, weil dies zwar jambischen Rhythmus, nicht aber jambische
Quinare ergeben würde. Das Enjambement (Überschreiten) sollte in
der Lyrik nie, im epischen Gedicht nur selten vorkommen.
2. Der Miltonsche jambische Quinar hat stets männlichen Schluß,
der Shakespearesche gestattet bald weibliche, bald männliche Endung.
Um nicht in Zweifel über die Versgliederung zu geraten und das
Ende der Blankverse zu markieren, haben bessere Dichter (seit Lessing)
den Shakespeareschen Quinar angewandt, also den letzten Takt zuweilen
hyperkatalektisch (überzählig) gebildet, z. B. Vers 2 und 3 der folgenden
Probe:
(Herder.)
[7]3. Es dient zur Wahrung des Verscharakters, die syntaktischen
Pausen und Ruhepunkte (Satzende, Satzeinschnitt, Vordersatzschluß,
Nachsatzende) häufig ans Ende der Quinare zu verlegen.
4. Hohe markierende Bedeutung hat der Einschnitt, wenn die
überzählige Silbe den Charakter einer schweren Silbe erhält. Doch
muß diese hemmende Wirkung mit dem Satzende zusammenfallen. Wo
dies nicht der Fall ist, wie in folgendem Beispiel, ist sie wegen ihrer
hemmenden Gewalt störend und fehlerhaft, selbst da wo das Fehlerhafte
durch Recitation gemildert werden kann:
(Herder, Der entfesselte Prometheus.)
5. Zur Unterbrechung der Monotonie, wie zur Markierung der
Jncision und zur Steigerung der malerischen Kraft beginnt man zuweilen
die frische Verszeile mit einem Spondeus (– –) oder einem
Trochäus (– ⏑), z. B.:
(Oehlenschlägers Correggio.)
(Herder, Der entfesselte Prometheus.)
Diese Versanfänge verlangen Berechnung, wenn sie den Rhythmus
nicht stören sollen.
6. Zur Vermeidung der Eintönigkeit darf auch innerhalb der
Zeile zuweilen ein Spondeus oder ein Anapäst stehen.
Z. B. ein Spondeus:
(Goethes Faust.)
oder ein Anapäst:
(Lindners Brutus u. C.)
7. Eine Feinheit ist es, den Spondeus (– –) nur hie und da an
ungeraden Stellen (also im 1., 3., weniger im 5. Takt) eintreten zu
lassen, um nicht den Verscharakter zu schädigen. Bei den, nach Dipodien
(zwei Takten) gemessenen Versen der Alten mußte die Dipodie
mit einem Jambus schließen, weshalb eben nur in ungeraden Takten
Spondeen sein konnten.
8. Empfehlenswert ist es, Cäsuren mit Diäresen abwechseln zu
lassen. Bei weiblichem Versschluß wirken die Diäresen freundlicher,
bei männlichem die Cäsuren. Man sollte die Cäsur im 5. Takt des [8]
hyperkatalektischen Quinars vorsichtig (d. h. nicht zu oft nacheinander)
gebrauchen, weil sonst die beiden letzten Silben als trochäisch empfunden
werden, was den Rhythmus verrücken müßte, namentlich wenn
noch dazu innerhalb des Verses die Cäsuren überwiegen sollten.
9. Die syntaktische Cäsur kann nach jeder Silbe eintreten. Sie
steht nach der ersten, wenn der Blankvers mit einem Ausruf oder mit
einem einsilbigen, komparativisch oder fragend gebrauchten Wörtchen beginnt,
und dann ist sie von großem Wert, z. B.:
(Lessing, Nathan.)
10. Die sogenannte provençalische Cäsur am Ende des 2. Taktes,
welche die Troubadours pflegten, verhindert, daß man bei trochäischen
Satztakten an trochäischen Rhythmus glaubt. Eine untergeordnete
Cäsur kann in die Mitte der Zeile (am liebsten nach der 5. Silbe) zu
stehen kommen.
Schiller bediente sich der Diärese am Schluß des zweiten Taktes
sehr häufig. Lessing wich ab. Dies machte freilich manchen Vers mehr
oder weniger unmusikalisch.
11. Setzt man die syntaktische Cäsur in den letzten Takt, so läuft
man Gefahr, daß die letzte Silbe gleich einer Thesis zur ersten Silbe
des nächsten Verses genommen, oder die Kürze des 1. Taktes der folgenden
Verszeile auf diese Weise zur Länge erhoben wird, wodurch
mindestens eine Verwischung der Jncision eintritt, z. B.:
(Oehlenschläger.)
12. Was die Satztakte betrifft, so ist es durchaus kein Fehler,
wenn einzelne derselben zwei oder mehrere Verstakte umklammern. Jm
Gegenteil tragen lange Verstakte nicht selten zum freundlichen Accentwechsel
bei und verleihen dem Satzaccent eine bestimmte Höhe, z. B.:
(Goethe, Faust.)
(Das ditrochäische [doppeltrochäische] Wort „tausendfacher“ dient
hier zur Verbindung von drei jambischen Takten. Bei Platen finden
sich Wortkolosse, die nicht selten vier und fünf Takte verbinden, z. B.
im Trimeter [§. 4]:
(Platen, Mathilde von Valois.)
[9](Vgl. bei Platen auch die freilich nicht hierhergehörigen, ungeheuerlichen
Satztakte „Freischützkaskadenfeuerwerkmaschinerie“, „Demagogenriechernashornangesicht“
&c., die einen Trimeter ausfüllen.)
Selbstredend dürfen allzulange Satztakte schon aus ästhetischen
Gründen nur spärlich angewendet werden; sie würden in größerer Anzahl
Fluß und Beweglichkeit des Rhythmus beeinträchtigen.
13. Aus ästhetischen Gründen warnen wir vor allzuviel Konsonantenanhäufungen
im jambischen Quinar wie in jedem Rhythmus.
Wer die nötige Vorsicht in der Form schon im Anfang dichterischer
Übung walten läßt, wird bei vorgerückter Fertigkeit seine ungeteilte
Aufmerksamkeit dem Jnhalt zuwenden können.
14. Gut gearbeitete reimlose Quinare finden sich z. B. in: Götterdämmerung
von H. Heine; Der Schwester Traum von Hauff; Frau
Generalin von Varnbüler von Mörike; Herakles auf dem Oeta von
Geibel; Lebwohl von Gerok &c.
15. Als Beleg, wie fleißig und ernst bedeutende Dichter in der
Bildung von Quinaren verfuhren, bieten wir nachstehendes Beispiel
aus Goethe's Jphigenie. (Vgl. Goethe's Jphigenie. Freiburg 1883.)
Dritter Prosa-Entwurf. 1781.
Jphigenie. Heraus in eure Schatten, ewig rege Wipfel des heiligen
Hains, wie in das Heiligtum der Göttin, der ich diene, tret' ich mit immer
neuem Schauer und meine Seele gewöhnt sich nicht hierher! So manche
Jahre wohn' ich hier unter euch verborgen, und immer bin ich wie im ersten
fremd, denn mein Verlangen steht hinüber nach dem schönen Land der Griechen,
und immer möcht' ich übers Meer hinüber, das Schicksal meiner Vielgeliebten
teilen. Weh dem! der fern von Eltern und Geschwistern ein einsam Leben
führt, ihn läßt der Gram des schönsten Glückes nicht genießen, ihm schwärmen
abwärts immer die Gedanken nach seines Vaters Wohnung, an jene Stellen,
wo die goldne Sonne zum erstenmal den Himmel vor ihm aufschloß, wo die
Spiele der Mitgebornen die sanften, liebsten Erdenbande knüpften.
Ausarbeitung. 1787.
Jphigenie.
Aufgabe 1. Der nachfolgende Stoff soll in jambische Quinare
verwandelt werden. (Die Verszeilen sind so gut als möglich durch
Taktstriche angegeben.)
Stoff. Verkehre viel mit deinen Kindern; | Tag und Nacht sollst du sie
um dich haben und sie lieben | und dich lieben lassen schöne Jahre lang. |
Nur während des kurzen Kindheitstraumes | sind sie dein, nicht länger! Schon
mit der Jugend | schleicht vieles durch ihre Brust, was du nicht bist, | und
mancherlei lockt sie an, was du nicht besitzest, | und sie erfahren von einer alten
Welt, | welche ihren Geist erfüllt; die Zukunft schwebt | ihnen vor. So geht
die schöne Gegenwart | verloren. Nun zieht der Knabe mit dem Wandertäschchen
| voll Notwendigem hinaus. | Weinend siehst du ihm nach, bis er verschwindet.
| Nimmer wird er wieder dein! Er kehrt | zurück, nun liebt er und
wählt sich eine Jungfrau. | Sie leben beide, andere leben auf | aus ihm ─
du hast nun einen Mann an ihm erhalten, | einen Menschen, ─ aber kein
Kind hast du mehr! | Nun bringt dir die vermählte Tochter ihre Kinder | manchmal
in dein Haus, um dich zu erfreuen. | Du hast an ihr eine Mutter, aber
kein Kind mehr. | Darum gehe fleißig mit deinen Kindern um! | Sei Tag und
Nacht um sie und liebe sie | und lasse dich lieben einzig schöne Jahre lang.
Lösung. Von Leopold Schefer.
Aufgabe 2. Eine kurze Scene aus einem Drama des Verfassers
(„Der geräuschlose Feldzug“ 1874. 2. Aufl.) soll in jambische
Quinare umgewandelt werden. (Weiteres Material zur
Erlangung größtmöglicher Übung bietet jedes Prosadrama.)
Stoff.
Leopold. Hoheit, der Krieg, der viele rauh macht, ─ mich hat er weicher
gestimmt, als je. Jn Feindesland empfand ich oft ein Verlassensein,
das ich zuvor nie kannte. Die Sehnsucht zog mich zurück in Jhre stille,
idyllische Residenz, wo mir ein Stern aufgegangen war von ewigem,
mildem Glanze, der meine Hoffnung wurde bei Sieg und bei Gefahr. Jhre
Briefe, Hoheit, die früheren Zeichen Jhrer hohen Gunst, beglückten mich,
wie mich der Ausruf ermuthigte, mit dem Sie mich empfingen. Geliebte
Fürstin, bin ich Jhnen wirklich teuer? Darf ich kühn mein Auge mit
der Frage erheben, die der Mann im Leben nur einmal an das Weib
seiner Liebe richtet? (Tumult unten.)
Fürstin (bewegt). Sie dürfen es, Leopold. Der Himmel hat Sie mir gerade
in der schweren Stunde wiedergeschenkt, wo ich Jhren Tod so innig beweinte,
wo schon die schwarze Rotte ihre Hand ausstreckte ─ nach
meiner Ehre und meines Landes Freiheit!
Leopold (auffahrend). Das wagte man gegen die Fürstin! Man täuschte Sie
sogar mit meinem Tode?! (Geschrei unten.) „Nieder mit den Jesuiten!!“
(Wüster Lärm.)
Fürstin. Gerechter Gott! Was geht in der Stadt vor?
Lösung.
Leopold.
Fürstin.
Leopold.
(Wüster Lärm.)
Fürstin.
1. Der neue Senarius (⏑–⏑–⏑ | –⏑–⏑–⏑– |) ist für unsere
Sprache ein etwas breites Gefäß, für welches der Satz oft nicht ausreicht,
so daß zur Ausfüllung nicht selten Flickwörter herbeigezogen
werden müssen.
2. Er ist für uns nicht unwichtig, da wir ihn bei Übersetzung
der griechischen Tragiker nötig haben, ganz abgesehen von den vielen
deutschen Gedichten, die in diesem Versmaß geschrieben sind. Außerdem
weist uns das Urteil Schillers (dessen Montgomery-Scene in
der „Jungfrau“ aus Senaren besteht) auf diesen Vers hin. Nach
seinem Geständnis wurde es ihm schwer, „von den schönen und volltönenden
Senaren zu den lahmen Fünffüßlern zurückzukehren“.
3. Die nach Dipodien messenden Alten konnten die einzelnen
Dipodien mit einem Spondeus (––) beginnen. Es kam nur darauf
an, daß die Dipodien mit einem Jambus schlossen. Wenn wir dies
im Deutschen nachahmen wollten, so müßten wir uns (da unser Senar
ein Accentvers ist) wenigstens steigender Spondeen (z. B. Glāubst dū́?
Tūrnī́er) bedienen und dieselben also nur im 1., 3. und 5. Takt anwenden.
Der Verscharakter würde nicht gestört werden, da der Jambus
(im 2., 4. und 6. Takt) doch immer das letzte Wort behalten könnte.
Die Einfügung von steigenden Spondeen beugt der Monotonie vor
und hemmt die allzurasche Bewegung.
4. Ein fallender Spondeus (z. B. Dḗnkmāl, Nṓrdwīnd) stört den
rhythmischen Fluß in auffallender Weise und ist nur dann zu gestatten,
wenn er die Jncision oder vielmehr den Beginn des neuen Verses
markiert, oder wenn er den Satzaccent unterstützt, in welchem Fall er
sogar als Schönheit empfunden werden kann, z. B.:
(Schiller, Jungfrau II, 7.)
(Vgl. auch Lenau II, 32: Sā́atkȫrner seines Ruhms &c.)
An Stelle des Spondeus kann auch ein Trochäus (–⏑) treten.
5. Unsere deutsche rhythmische Form bleibt anspruchsloser, als die
griechische. Es liegt dies in unserem ruhigeren Volkscharakter, der die
Beweglichkeit des südländischen nie geteilt hat. Alle deutschen Dichter,
welche sich einredeten, die Rhythmik der ältesten Völker auf unsere
Sprache übertragen zu sollen, sind gescheitert, sind unpopulär geworden
oder geblieben. Bei den Alten galten zwei Kürzen als eine Länge,
wodurch es sich erklärt, daß wir bei ihren Nachahmern Daktylen und
Anapäste im Trimeter finden. Bei uns ist die Auflösung der Arsislänge
in 2 Kürzen undenkbar. Es kann also höchstens ein Anapäst (⏑⏑–)
eingefügt werden. Ein Daktylus (–⏑⏑) könnte nur am Anfang an
Stelle des Trochäus (–⏑) eintreten. Viele Anapäste einzumischen ist
gefährlich, da diese anstürmenden, leicht beschwingten Takte sich dem
Ohre rasch empfehlen.
6. Die Cäsuren sind den Diäresen im Senarius vorzuziehen, da
letztere die Bedeutung der Cäsuren verdunkeln könnten. Die erste Vorschrift
ist, eine stehende Diärese inmitten des Verses zu vermeiden, weil
dieselbe den Senar zum Alexandriner gestalten würde.
7. Als Grundform des Senars könnte man es bezeichnen, wenn
die Cäsur im 3. Takt sich befindet. Jn diesem Falle kann man ein
umklammerndes Wort einfügen, um nicht in den trochäischen Rhythmus
zu geraten.
8. Am schönsten erscheint die vorherrschend weibliche Cäsur im
4. Takt.
Beispiele:
a. im 3. Takt: Die Note: 1Kin | der sNote: 2chla | fen, Note: 3C mor | de nicht | den sü | ßen Schlaf.
(Platen IV, 26.)
b. im 4. Takt: DuNote: 1rch Feu'r | unNote: 2d Was | ser geNote: 3h | ich, Note: 4C wie | Pamina that.
(Ebenda IV, 24.)
9. Würden trochäische Worte nach ihr folgen, so könnte der Rhythmus
leicht ins Schwanken geraten; in der Regel folgt ein einsilbiges
Wort, wodurch der Vers seinen jambischen Haltpunkt behält.
10. Weniger schön und beliebt ist die Cäsur im 5. Takte, obgleich
sie noch wirkungsvoll genug erscheint, z. B.:
11. Ein Vorkommen der Diärese mit der Cäsur in der gleichen
Verszeile ist statthaft. Beispiel:
Entdecke &c.(Platen IV, 24.)
12. Eine Cäsur ist am Anfang (also im 1. Takt) nur dann gestattet,
wenn ein Ausruf oder ein einsilbiges bedeutendes Wörtchen
(etwa ein Jmperativ, eine Negation &c.) den Vers beginnt.
13. Da der letzte Verstakt, der höchst selten mit einem einsilbigen
Satztakt schließt, dem Vers sein abschließendes Gepräge verleiht, so
befindet sich im letzten Takt nur höchst ausnahmsweise die Cäsur.
14. Rhythmische Pausen treten ein, wo das Satzende mit dem
Versende zusammenfällt. Um die freie Bewegung durch das Einzwängen
des Gedankens in den engen Raum von sechs Jamben zu
hindern und der Eintönigkeit vorzubeugen, ist es erlaubt, hie und da
längere Sätze in die neuen Verszeilen hinüberragen zu lassen, sofern
nur der Charakter des Senars gewahrt ist, z. B.:
(Platen IV, 25.)
[15]15. Ein Kunstgriff ist es, daß man da, wo der Jnhalt über den
Vers hinüberflutet, zur Ausfüllung der folgenden Zeile einen kurzen
Satz einfügt &c.
Aufgabe. Nachfolgender Stoff ist im neuen Senarius zu
geben.
Göttliche Reminiscenz.
Stoff. Vor langer Zeit sah ich ein wundersames Gemälde | in einem
Karthäuserkloster, das ich oft besuchte. | Heute trat es mir mit frischen Farben
vor die Seele, | als ich einsam im Gebirge wandelte, | umgeben von wild umhergeworfenen
Felsentrümmern. |
An einer jähen Steinkluft, deren Saum | von zwei Palmen überschattet
| nur wenig Gras den emporklimmenden Ziegen bietet, | sieht man den
Jesusknaben auf Steinen sitzend; | ihm ist ein weißes Vließ als Polster untergelegt.
| Mir erschien das schöne Kind nicht allzu kindlich. | Der heiße Sommer,
welcher sicherlich sein fünfter schon war, | hat seine, bis zum Knie herab | von
einem gelben, purpurumsäumten Röcklein | bedeckten Glieder und seine gesunden
Wangen sanft gebräunt; | aus seinen dunklen Augen leuchtet stille Feuerkraft;
| doch den Mund umspielt ein fremder, unnennbarer Reiz. | Ein alter
Hirte, welcher sich freundlich zu dem Kinde niedergebeugt hat, | übergab ihm
soeben ein versteinertes, seltsam gestaltetes Meergewächs | zum Zeitvertreib. | Nachdem
der Knabe das Wunderding beschaut, | spannt sich sein weiter Blick wie
betroffen | dir entgegen, doch wirklich ohne Gegenstand, | durchdringend ewige,
grenzenlose Zeitenfernen: | als wittre durch die überwölkte Stirn ein Blitz | der
Gottheit, ein Erinnern, das im nämlichen Augenblick erloschen sein wird; und
das welterschaffende | Wort von Anfang zeigt lächelnd als ein unwissendes,
spielendes Erdenkind dir sein eigenes Werk.
Lösung. Von Mörike.
(NB. Zu rügen wäre hier die fehlerhafte Skansion Mörike's Z. 1:
Vŏrlǟngst statt Vṓrlǟngst sāh ĭch ĕin; ferner die falsche Versbetonung, Z. 5:
„Trăt ēs mĭt“ &c.)
1. Der neue Nibelungenvers läßt sich leicht aus 2 jambischen
Dreitaktern bilden, deren erster weibliche Cäsur hat, also hyperkatalektisch
ist.
Schema: ⏑–⏑–⏑–⏑ | ⏑–⏑–⏑–.
2. Nach dem deutschen Accentqualitätsprinzip ist es gestattet, hie
und da Anapäste in den neuen Nibelungenvers einzufügen, wodurch derselbe
an Schönheit gewinnt.
Aufgabe. Die nachfolgende Sage (der Gebrüder Grimm) soll
in reimlose Nibelungenverse umgewandelt werden. Wir verweisen
dabei auf die gereimte strophische Bearbeitung von Chamisso (1831)
und die Rückertsche aus dem Jahre 1817. Sollte bei der Lösung
hie und da ein ungesuchter Schlußreim sich ergeben, so braucht derselbe
keineswegs unterdrückt zu werden, da wir ja den Reimversen
zusteuern.
Das Riesenspielzeug.
Stoff. Jm Elsaß auf der Burg Niedeck, die an einem hohen Berge
bei einem Wasserfalle liegt, waren die Ritter vor der Zeit große Riesen.
Einmal ging das Riesenfräulein hinab ins Thal, wollte sehen, wie es da [17]
unten wäre, und kam bis fast nach Haslach auf ein vor dem Walde gelegenes
Ackerfeld, das gerade von den Bauern bestellt wurde. Es blieb vor
Verwunderung stehen und schaute den Pflug, die Pferde und die Leute an,
was ihr alles etwas neues war. „Ei,“ sprach sie und ging hinzu, „das nehm'
ich mir mit.“ Da kniete sie nieder zur Erde, spreitete ihre Schürze aus, strich
mit der Hand über das Feld, fing alles zusammen und that's hinein. Nun
lief sie ganz vergnügt nach Hause, den Felsen hinaufspringend; wo der Berg
so jäh ist, daß ein Mensch mühsam klettern muß, da that sie einen Schritt
und war droben.
Der Ritter saß gerade am Tische, als sie eintrat. „Ei, mein Kind,“
sprach er, „was bringst du da? die Freude schaut dir ja aus den Augen
heraus.“ Sie machte geschwind ihre Schürze auf und ließ ihn hinein blicken.
„Was hast du da so Zappeliges darin?“ ─ „Ei, Vater, ein gar zu artiges
Spielding! So etwas Schönes hab' ich mein Lebtag noch nicht gehabt.“
Darauf nahm sie eins nach dem andern heraus und stellte es auf den Tisch,
den Pflug, die Bauern und ihre Pferde, lief herum, schaute es an, lachte
und schlug vor Freude in die Hände, wie sich das kleine Wesen darauf hin
und her bewegte. Der Vater aber sprach: „Kind, das ist kein Spielding, du
hast da etwas Schönes angestiftet! Geh nur gleich und trag's wieder hinab ins
Thal!“ Das Fräulein weinte, es half aber nichts. „Mir ist der Bauer kein
Spielzeug,“ sagte der Vater ernsthaft, „ich leid's nicht, daß du mir murrst;
kram' alles sachte wieder ein und trag's an den nämlichen Platz, wo du's
genommen hast! Baut der Bauer nicht sein Ackerfeld, so haben wir Riesen auf
unserem Felsenneste nichts zu leben.“
Lösung. (Mit Beibehaltung der Prosawendungen.)
(NB. Der Lernende möge die letzte Zeile bessern, indem er fragt: Wer
wäre nicht auf der Welt? Die Änderung muß lauten: Wä̆r' dĕr Bāuĕr nĭcht
āuf dĕr Wēlt. Jn dieser Art fehlen so viele, z. B. Kleist (vgl. S. 28 Z. 7),
Gregorovius u. s. w. Die Bezüge müssen logisch und grammatikalisch richtig
und schon beim ersten Lesen verständlich sein!)
1. Bei Bildung des Alexandriners, dieses jambischen Sechstakters,
ist darauf zu achten, daß nach dem 3. Takte eine ständige Diäresis
eintritt (⏑–⏑–⏑– | ⏑–⏑–⏑– | ). Der Satztakt des 3. Verstaktes darf
somit nicht den 4. Takt überbrücken.
2. Nach Günthers u. a. besonders aber Rückerts Vorgang (Frauentaschenbuch
1825, S. 411) ist es im Deutschen gestattet, dem Alexandriner
zuweilen weibliche Endungen zu geben, wodurch er um eine
Thesis verlängert wird, also hyperkatalektischen (überzähligen) Abschluß
erhält (wie in den S. 19 Z. 4 und 5 angeführten Versen).
3. Es ist nicht nötig, daß jederzeit mit der stehenden Diäresis
eine syntaktische Pause verbunden werde; im Gegenteil würde fort= [19]
gesetztes Zusammenfallen der Diäresis mit einer syntaktischen Pause dem
Verse klappernd=monotonen Charakter verleihen und jeden Alexandriner
als zwei jambische Dreitakter erscheinen lassen, z. B.:
Aufgabe. Nachstehendes Bruchstück soll in Alexandrinerverse
verwandelt werden. Selbstredend ist für die Lösung der Reim
nicht nötig.
Stoff. Jm Lande Madras lebte der Fürst Aswapati, der durch seine
Tugenden alle Sterblichen überstrahlte. | Er war gottselig und pflichtliebend;
dem Bedrängten verhieß er seinen Schutz, den Armen verlieh er Gaben; er
liebte sein Volk und wurde von demselben wieder geliebt; im Niedrigsten ehrte
er eben den Menschen. | Bei allem Glück und Reichtum entbehrte er des
lieblichen Kindersegens. |
Täglich flehte er die Götter um dieses Glück an, ja, er hatte der Gottheit
des Feuers bereits achtzehn Jahre hindurch Opfer dargebracht. | Endlich
erschien die Gottheit Sawitri und sprach: Du sollst belohnt sein. | Bitte Dir
eine Gnade aus, doch vergiß nicht, Gutes zu wünschen. |
Aswapati sprach: Verleihe mir, hohe Göttin, den lieblichen Kindersegen,
um den Dich mein Beten und Opfern täglich neu anflehte. |
Es sei, erwiderte die Göttin; wisse, daß ich Deinen Wunsch dem Urvater
der Götter und der Welt vorgetragen habe. | Der durch sich selbst seiende,
gnädige Gott hat Dir eine Tochter verheißen | u. s. w.
Lösung. Von Fr. Rückert (Ges. Ausgabe XII, 261).
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1. Da der Grundrhythmus unserer Sprache trochäisch (–⏑) ist,
so fallen bei trochäischen Versen Satz- und Verstakte leicht zusammen.
Wenn auch dadurch hie und da eine besondere rhythmische Wirkung
erzielt wird, wie z. B. in der Stelle:
so würde doch bei ununterbrochen sich folgenden Diäresen jeder Takt
als ein kleines Ganzes im Vers sich abheben und abschälen und die
Versverbindung lockern.
2. Man kann die Verbindung der Verstakte durch Einfügung
von jambischen Satztakten erzielen (z. B.: Lāß bĕglǖckt Gĕdūld ĕrflēhn
dĕm Frēund'). Oder man kann hiezu auch ditrochäische und
mehrsilbige Satztakte wählen, z. B.:
(J. Hammer.)
(Sallet.)
3. Erinnert soll auch hier werden, daß bei Bildung katalektischer
(unvollzähliger) Verse die rhythmischen Pausen den Verstakten anzurechnen
sind.
4. Wichtig ist, daß in den Arsen (Stammsilben) volltönende Vokale
mit einander wechseln, sofern mehrere trochäische Verstakte mit
trochäischen Satztakten zusammenfallen (koincidieren).
5. Ferner ist zu beachten, daß in trochäischen Versen ausnahmsweise
sinkende Spondeen (─́–), sowie Daktylen (–⏑⏑) nicht bloß zulässig,
sondern zur Verminderung der Eintönigkeit hie und da sogar
erwünscht sind (besonders im dramatischen Vers).
6. Um nach einsilbigen Arsen jambische Satztakte zu erhalten,
wähle man Satztakte mit den thetischen Vorsilben ge, er, zer, em, emp,
ent, ver, be &c.
7. Es ist bei Bildung von Satztakten vorerst weniger auf blühende
poetische Ausdrucksweise, als auf korrekte Form zu achten. Somit
kann die Prosarede noch beibehalten werden, wenn der Lernende sie
nicht verändern will.
Aufgabe. Nachstehender Stoff soll in trochäische Verstakte
umgebildet werden. (Dieselben sind in fortlaufenden Zeilen zu
schreiben.)
Stoff.
Jm Gefilde vor Bagdads Thoren
waren zur Feier des Neujahrsfestes
tausend Zelte aufgeschlagen. Der große
Kalif Harun saß mit allen Zeichen
seiner Würde auf dem Throne, umgeben
von seinen Kronbeamten, zunächst
aber von seinen drei geliebten
Söhnen Amin, Assur und Assad.
Die Menge lag in den Gärten zerstreut,
wo Trank und Speise verteilt
wurde. Unter Jasminlauben ruhten
Frauen und Männer; doch die Knaben
tanzten mit den jüngsten Mädchen.
Jndessen trat ein Mohr mit einem
Pferd am Zügel vor den Pavillon
des Herrschers. Es war kein Roß
aus arabischem Blute und auch kein
Hengst aus Andalusien, vielmehr war
es von Künstlerhand aus Holz gebildet,
die Hufe waren von Erz und
die Mähnen von Gold &c.
Lösung. Von Platen.
Tāusĕnd | Zēltĕ | wārĕn | āufge
| schlagen | durchs Ge | filde vor
den Thoren Bagdads, um das Fest
des neuen Jahrs zu feiern. Auf dem
Throne saß der große Harun als Kalif
mit allen Würdezeichen, rings im
Zirkel seine Kronbeamten; doch zunächst
die drei geliebten Söhne Prinz Amin
und neben Assur Assad. Durch die
Gärten lag zerstreut die Menge, Trank
und Speise wurde rings verteilt ihr.
Unter Lauben, aus Jasmin gebildet,
ruhten Fraun und Männer; doch die
Knaben schlangen Tänze mit den jüngsten
Mädchen. Vor des Herrschers Pavillon
indessen trat ein Mohr mit einem
Pferd am Zügel. Nicht ein Roß war's
aus arabschem Blute, nicht ein Hengst
aus Andalusien war es! Nein ─
von Künstlerhand aus Holz gebildet,
Erz die Hufe nur und Gold die Mähne.
1. Der trochäische Viertakter, welcher unter dem Namen „spanischer
Trochäus“ große Beliebtheit erlangte, hat nicht selten eine Diärese am
Ende des 2. Taktes. Der Lernende hat darauf zu achten, daß dieselbe
nicht zur stehenden Diärese werde, weil dadurch der Vers in
trochäische Zweitakter auseinander fallen würde.
2. Der trochäische Viertakter kann akatalektisch (–⏑ | –⏑ | –⏑ | –⏑ |
vollzählig) und katalektisch (–⏑ | –⏑ | –⏑ | – unvollzählig) sein.
3. Es empfiehlt sich mit Rücksicht auf die Markierung des Versschlusses,
zuweilen katalektische Verse mit akatalektischen wechseln zu
lassen.
4. Die bequemste Form ist der akatalektische und der katalektische
ungereimte trochäische Viertakter, auf die wir uns fürs erste beschränken.
5. Für lebhafte Aktion paßt dieses Versmaß mit seiner sinkenden
Tendenz nur dann, wenn die Satztakte von Takt zu Takt übergreifen
und Cäsuren ergeben. Bei geschickter Bauart kann dieser Vers als
lyrischer, folglich auch als dramatischer Vers auftreten und fliegen
und fortreißen. Wir empfehlen ihn nicht, weil ihn unsere Schauspieler
nicht sprechen können, und weil er unsere Dichter häufig zum Rhetorischen
und Bombastischen verleitet. Er eignet sich besonders zu
leichten, humoristischen, geistreichen poetischen Erzählungen und Romanzen
und zu kleinen epischen Gedichten elegischer Natur. (Jn einigen
poetischen Erzählungen [z. B. Heines] nimmt er sich freilich höchst
langweilig aus.)
6. Da viele trochäische Satztakte mit Vokalen endigen, so liegt
die Gefahr der Hiate nahe, die zu vermeiden sind.
7. Allzuviele Spondeen dem Verse einzufügen, würde den trochäischen
Rhythmus beeinträchtigen und dem Verse ein schweres Gepräge verleihen.
Platen vervehmt die trochäischen Viertakter (oder Halbtrochäen,
wie er sie im Hinblick auf den nach Dipodien gemessenen antiken Tetrameter
[Achttakter] nennt), indem er (Ges. Werke IV, 77. Ausg. 1854)
im Unmut über Müllners „Schuld“ sich also vernehmen läßt:
Mit Recht bekämpft G. von Vincke Platens Anschauung, indem
er (in seinem „kleinen Sündenregister“ S. 44, 1882) pathetisch ausruft:
Aufgabe. Der nachstehende Stoff soll in ungereimten trochäischen
Viertaktern wiedergegeben werden.
Stoff.
Einen Tag vor seinem Tode ließ
Cid seine Freunde um sich versammeln
und sprach als Feldherr folgendes zu
Lösung. Von Herder.
Tāgĕs | nōch vŏr | sēinĕm | Tōdĕ |
Ließ Cid seine Freunde kommen,
Und als Feldherr sprach er so:
ihnen: Jch weiß, daß der Mohrenkönig
Bukar, der Valencia eingeschlossen hält,
meinen Tod ersehnt; verschweigt ihn
diesem Saracenen. Und die kostbaren
Spezereien und der Balsam des Sultans
von Persien sind wohl zum Einbalsamieren
meines Leichnams gesandt.
Wohl, meine Freunde, laßt meinen
Leichnam waschen und mit Myrrhen
einbalsamieren. Sodann kleidet ihn
vom Haupte bis zur Sohle. San Jago
wird euch begleiten; aber kein Klagegeschrei
erschalle, und keine Thräne
werde um mich geweint. Vielmehr ─
wenn ich gestorben sein werde ─ laßt
in die Trommeten blasen und mit
Pauken, Cymbeln und Klarinetten das
Feldgeschrei zur Schlacht erheben. Und
wenn ihr meinen Leichnam nach Kastilien
begleitet habt, soll es kein Mohren=
Seewolf erfahren; alle sollen hier zurückbleiben.
Sattelt meinen Freund Babieça,
legt mir meine Waffen an, gürtet
mir die Tizona an und setzt mich so
auf mein Roß. Neben mir soll Gil
Diaz, Don Jeronymo, der Bischof, und
mein tapferer Freund Bermudes gehen;
Jhr aber, Alvar Fañez Minaya, zieht
eilig zur Schlacht gegen Bukar! Gott
wird Euch den Sieg verleihen, San
Pedro hat mir dies selbst verkündet.
Dies sprach der Feldherr ruhig, und
der Ehrenbalsam des Sultans war
ihm zum Triumph gesendet.
1. Der trochäische Quinar (oder der serbische Trochäus) findet
sich wie der trochäische Viertakter in der Regel akatalektisch (vollzählig)
und nur beim Strophenschluß katalektisch (unvollzählig).
2. Er stimmt zur Klage, zum Ton der Schwermut.
3. Es fehlt ihm ein klassisches Vorbild, weshalb wir aus den
Beispielen neuerer Dichter die Regeln abstrahieren müssen.
4. Sollte durch das Zusammenfallen von Diäresen mit syntaktischen
Pausen innerhalb des Verses der Verscharakter schwankend
werden, so muß von Zeit zu Zeit ein katalektischer Vers eingeschaltet
werden, welcher die Jncision markiert und der Vermischung des Verscharakters
vorbeugt.
5. Goethe mischt in der Braut von Korinth ─ des Wechsels
halber ─ kürzere Zeilen ein.
6. Durch Einfügung jambischer Satztakte sind Cäsuren anzubringen,
um auf diese Weise die allzuvielen Diäresen zu vermeiden,
welche der trochäische Charakter unserer Sprache nur allzusehr begünstigt.
7. Die Nachahmer der serbischen Volkslieder haben nicht selten
Daktylen eingemischt, was anerkennend zu beachten ist. Jhre Quinare
nähern sich aufs glücklichste dem daktylischen Hexameter. Auch Platen
belebte die Monotonie in den Abassiden durch Daktylen. Einen Nachfolger
hat er erst heute gefunden. Tandem (Pseud. für Spitteler)
hat 1883 sein allegorisches Lehrgedicht „Extramundana“, das er als
kosmische Epik („individuelle Mythologie“) einführt, in diesem Versmaß
erscheinen lassen.
8. Manche gebrauchten den Vers zum Sonett, Jmmermann zum
Lustspiel („Auge der Liebe“); freilich hat es ihm niemand nachgemacht.
Bei Übergreifung der Satztakte in die Verstakte würde man den trochäischen
Quinar zum Bühnenvers gebrauchen können; niemand hat
den Mut und kaum Einer das Geschick, ihn an Stelle des üblichen
jambischen Quinars als Theatervers zu verwenden.
Aufgabe. Folgender Stoff soll in trochäische Quinare umgewandelt
werden. Das Material für je einen Vers ist durch
Taktstriche abgegrenzt. Doch sind Überschreitungen dieser Maße
gestattet.
Nach zehn Jahren.
Stoff. Nach langer Jrrfahrt trat ich ein | ins Haus der Schwester.
Helles Jauchzen | von unbekannten Kinderstimmen schallte mir entgegen. | Und
im Gemach, in welches der Abend | seine goldenen Strahlen durchs Weinlaub
hindurch warf, | sah ich vergnügte Knaben spielen, | sieben an der Zahl.
Sie | tummelten sich im Schimmer | froh umher; frisch wie die Rosen | blühten
ihre Wangen. ─
Sie waren alle noch nicht geboren, | als ich auszog in die Welt, | selbst
ihre Namen kannte ich nicht. | Sie sahen mich mit ihren großen Augen | verwundert
an, so daß ihr Spiel verstummte. | Die Älteste nahte schüchtern | und [25]
fragte mit dem Tone der Mutter: Wer bist du? | Da nahte auch schon
die Schwester. Jch sank ihr | in die Arme. Dann zeigte sie mir voll
Wonne | ihre Kinder, des Hauses Schatz, | der sich so lieblich gemehret; dann
nannte sie | den heimgekehrten Onkel den Kindern. | Nun entstand ein großer
Jubel. | Die entschlossenen Buben kletterten an mir empor, | um mich zu küssen;
die Mädchen bogen | mein Haupt herab; und selbst das Kleinste, das sich erst
vor meinem Bart gescheut hatte, | langte mit den Händchen nach mir.
Wie wohl ward mir's, so ganz umschlungen | und umrankt vom frischen
jungen Leben, | das mich wie eine Bienentraube am Bienenstocke | umhing und
mich nach tausend Wundern fragte. | Aber ein leiser Wehmutshauch | ging mir
doch durchs Herz, denn diese Küsse | und Fragen, die rings auf mich einstürmten,
| mahnten mich zugleich: Soviel Schritte | diese Kinder ins Leben thaten,
so viel Schritte | bist auch du dem Tode zugeschritten, | und täglich rascher reift
in ihnen | das Geschlecht, welches dereinst über deinem Grabe | wandeln
soll, um selig zu sein oder zu weinen. | Und ich legte meine Hände wie
segnend | auf ihr Haupt und dachte still bei mir: | Seid mir gegrüßt, ihr holden
Todesboten, | ich danke euch, daß ihr so lieblich | den ernsten Gruß an mich
bestellt habt. | Wachset freudig auf zu vollem Leben, | daß, wenn ich einst dahin
sein werde, | ihr mit euren Brüdern vollenden könnt, | was ich und mein
Geschlecht nicht vermochte.
Lösung. Von Em. Geibel.
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1. Der jambische Rhythmus verträgt recht wohl anapästische (⏑⏑–)
Verstakte. Durch dieselben erhält der jambische Vers noch größere
Beweglichkeit und Beschleunigung, als ihm von Natur schon eigen ist.
2. Werden alle jambischen Verstakte eines Gedichtes, oder auch
nur die Mehrzahl derselben, in Anapäste verwandelt, so entstehen
anapästische Verse. Bei Vorwiegen der jambischen Verse spricht man [27]
von jambisch=anapästischem Rhythmus und nennt die Verse gemischt
(logaödisch).
3. Die Alten (Äschylus, Sophokles, Aristophanes) verwendeten
den Anapäst, um der Leidenschaft den nötigen Ausdruck zu verleihen.
Jm Deutschen bedient man sich desselben in Gedichten, die ein mutiges
Fortschreiten, lebhaften Schwung und leichte Beweglichkeit der Gefühle
beweisen sollen.
4. Da ein Jambus ebensoviel Zeit beansprucht, als ein Anapäst,
so können im anapästischen Rhythmus überall auch Jamben stehen.
(Vgl. Poetik I, 254 ff.) Jhr Vorkommen muß indes ein beschränktes
sein, wenn der anapästische Rhythmus nicht verwischt werden soll.
5. Aus diesem Grunde beginnt man die anapästische Reihe in
der Regel mit einem Jambus.
6. Um nicht allzusehr ins Rollen zu geraten, ist es geboten, hie
und da syntaktische Pausen einzufügen, oder auch am Schluß der
Sätze den verlangsamenden Jambus oder auch einen steigenden Spondeus
anzuwenden. Durch geschickte Benützung übergreifender Satztakte
wird das anapästische Versmaß, besonders das verlängerte, amphibrachisch
(z. B. ⏑–⏑ | ⏑–⏑ | ⏑–⏑ | ⏑–⏑).
7. Daktylische Satztakte eignen sich hie und da zur Bildung von
anapästischen Viertaktern, da sie schöne Cäsuren ermöglichen.
Aufgabe. Der nachfolgende Stoff soll unter Beachtung des
Obigen im anapästischen Rhythmus wiedergegeben werden; die
Einfügung von Jamben ist gestattet.
Stoff.
Empfangt mich, ihr heiligen
Schatten! Jhr hohen, belaubten Gewölbe,
welche der ernsten Betrachtung
geweiht sind, empfangt mich und
haucht mir ein Lied zum Ruhme der
verjüngten Natur ein! Und ihr, lachende
Wiesen, mit euern labyrinthischen
Bächen, ihr betauten, blumigten Thäler!
Jch will mit eurem Wohlgeruche Zufriedenheit
atmen. Jch will euch besteigen,
ihr duftigen Hügel, in goldene
Saiten will ich die Freude singen, die
um mich herum aus der beglückten
Flur lacht. Aurora und Hesperus
sollen meinen Gesang hören. Auf
rosenfarbenen Wolken, umgürtet mit
Lösung von Kleist. (Anapäste und
Jamben.)
Ĕmpfāngt | mĭch, hēi | lĭgĕ Schāt | tĕn!
Jhr ho|hen belaub|ten Gewöl|be, der
ernsten Betrachtung geweiht, empfangt
mich, und haucht mir ein Lied ein zum
Ruhm der verjüngten Natur! ─ Und
ihr, o lachende Wiesen, voll labyrinthischer
Bäche! betaute, blumigte Thäler!
Mit eurem Wohlgeruch will ich Zufriedenheit
atmen. Euch will ich besteigen,
ihr duftigen Hügel! und will
in goldene Saiten die Freude singen,
die rund um mich her, aus der glücklichen
Flur lacht. Aurora soll meinen
Gesang, es soll ihn Hesperus hören.
Auf rosafarbnem Gewölk, mit jungen
Blumen umgürtet, sank jüngst der [28]
jungen Blumen, sank jüngst der Frühling
vom Himmel. Sein göttlicher
Hauch wurde durch alle Naturen gefühlt.
Der Schnee schmolz auf den
Bergen, die Ströme traten aus den
Ufern, die Wolken zergingen in Regen,
Wellen schlug die Wiese, der Landmann
erschrak. Noch einmal hauchte der
Frühling. Da flohen die Nebel und
verliehen der Erde den blauen Äther;
wieder trank der Boden die Flut und
die Ströme traten zurück in ihre vom
Schilf begrenzten Betten. Zwar streute
der weichende Winter, so oft er in den
Nächten wiederkehrte, von seinen oft
kräftigen Schwingen Reif, Schneegestöber
und auch Frost, und er rief die
gewaltigen Stürme. Diese kamen mit
donnernder Stimme vom Nordpol angezogen,
verheerten heulend die Wälder
und durchwühlten die Meere bis auf
den Grund. Da hauchte der Frühling
noch einmal seinen belebenden Odem,
und die Luft wurde sanft; aus den
Stauden, Blumen und Saaten entstand
ein grüner Teppich und bekleidete Thäler
und Hügel &c.
Frühling vom Himmel. Da ward sein
göttlicher Odem durch alle Naturen gefühlt.
Da rollte der Schnee von den
Bergen, dem Ufer entschwollen die
Ströme, die Wolken zergingen in Regen,
die Wiese schlug Wellen, der Landmann
erschrak. ─ Er hauchte noch
einmal: Da flohen die Nebel und
gaben der Erde den lachenden Äther,
der Boden trank wieder die Flut, die
Ströme wälzten sich wieder in ihren
beschilften Gestaden. Zwar streute der
weichende Winter bei nächtlicher Wiederkehr
oft von kräftig geschüttelten
Schwingen Reif, Schneegestöber und
Frost und rief den unbändigen Stürmen:
Die Stürme kamen mit donnernder
Stimm' aus den Höhlen des Nordpols,
verheerten heulende Wälder,
durchwühlten die Meere von Grund
auf. ─ Er aber hauchte noch einmal
den allbelebenden Odem. Die Luft
ward sanfter; ein Teppich, mit wilder
Kühnheit aus Stauden und Blumen
und Saaten gewebt, bekleidete Thäler
und Hügel &c.
1. Am gebräuchlichsten sind neben anapästischen Achttaktern (Tetrametern)
die anapästischen Viertakter (Dimeter).
2. Ununterbrochen fortlaufende anapästische akatalektische Viertakter
würden wohl der flüssigen Rede entsprechen, aber es würden
keine Absätze entstehen. Um diese zu erreichen, möge man zuweilen
einen katalektischen Viertakter oder auch einen Zweitakter einfügen.
Durch dieses Kunststück haben die Dichter von jeher ihre anapästischen
Systeme gebildet, z. B. Grosse, Geibel, Schiller, welcher katalektische
Nachsätze einfügt.
Anapästische Systeme hatten schon die Alten eingeführt; insbesondere
war der Paroemiacus (⏑⏑–⏑⏑─́ | ⏑⏑–⏓), ein katalektischer anapästischer
Dimeter, von jeher unterbrechender Vers oder Schlußvers
eines solchen Systems. (Vgl. Hephäst. und Scholl.)
3. Platen, der sich dieses Vorteils bedient, schließt mehrfach die [29]
Strophe durch einen katalektischen Viertakter ab, dessen Schlußtakt ein
fallender Spondeus ist. Er hemmt dadurch gleichsam mit einem stoßförmigen
Schlag die Bewegung und markiert die Jncision.
(Platens Werke IV, 102.)
4. Wie im vorstehenden Platenschen Beispiel findet sich in den
meisten akatalektischen anapästischen Viertaktern nach dem 2. Verstakte
eine männliche Diärese, wenn auch keine stehende. (Freilich giebt es
auch Ausnahmen, bei denen der Satztakt aus dem 2. Verstakte in den
3. hinüberragt, wie diese von Rückert:
Der Lernende möge dies nachahmen. Er vermeidet hiedurch, daß der
Hörer beim Lesen von Anapästen den Eindruck von Daktylen erhält;
auch heben sich die Anapäste deutlicher ab.
5. Beim katalektischen Vers rechnet man die Pause hinzu.
6. Noch machen wir darauf aufmerksam, daß beim katalektischen
anapästischen Viertakter der 3. Verstakt weder ein Jambus noch ein
Spondeus sein darf, sondern nur ein Anapäst, ähnlich wie im Hexameter
der vorletzte Takt zur Gewinnung eines freundlich hemmenden
Schlußfalls nur ein Daktylus sein darf.
Aufgabe. Nachstehender Stoff soll in anapästischen Viertaktern
wiedergegeben werden. Je der sechste derselben soll katalektisch
sein und den Satz abschließen.
Stoff.
Auf, ihr Genossen, erstickt eure
Zweifel | und eröffnet den Tanz. Der
sehnsüchtig wartende Freund | hat dies
leere Gefilde betreten: | Der Dank feiere
ihn nunmehr in Ergießungen | nie
müden Gesanges. Es zerfällt freiwillig
| der Willkomm in gemessene
Silben. ‖
Auf, ihr Genossen, umtanzet ihn, |
die gewaltige Hymne beginnt, | die
wie ein Glücksbote, wie ein von dem
Lösung von Platen.
[30]
Jdagebirg | Ganymeden keck geraubter
Aar, | die Gestirne vorbei, siegesstolz
sich wiegt | auf des Wohlklangs silberner
Schwinge. ‖
Auf, ihr Genossen, ruft | den
Romantiker, welcher sein Dasein | in
melodischen Traum lullt. Es erschien
Dir, o Poet, | der erwartete Gast,
nach welchem Du | sehnsüchtig Seufzer
längst erhubst. ‖
1. Der anapästische Achttakter (oder der aristophanische Tetrameter)
wird in der Regel katalektisch gebildet, so daß die Pause des
letzten Verstaktes hinzugerechnet werden muß, um ihn vollständig erscheinen
zu lassen. Man könnte sagen, er bestehe aus zwei anapästischen
Viertaktern, von denen der letzte katalektisch ist.
2. Er hat eine stehende Diärese am Schluß des 4. Taktes, weshalb
man ihn nicht selten gebrochen schreibt, so daß die akatalektische
Anfangshälfte den Vordersatz, das zweite katalektische Hemistichium
dagegen den Nachsatz bildet.
3. Herkömmlicher Weise wird der anapästische Achttakter nie zu
Strophen vereint, sondern nur in der fortlaufenden Rede verwandt.
4. Rückert markiert den Schluß der sehr langen Zeile durch die
Katalexis wie durch Anwendung der Assonanz.
5. Die im vorigen Paragraphen gegebenen Regeln für Bildung
des anapästischen Viertakters gelten auch für den Achttakter.
Aufgabe. Anapästische Achttakter. Von den gebrochenen
7 Schlußzeilen des Stoffes sollen die 6 ersten akatal. Zweitakter
sein; die letzte Zeile soll mit einem katalekt. Viertakter abschließen.
Stoff. Anapäst, du sausender Aar, kehre zurück zur Freundin, | welche
im Gemache sich härmt und sich hinaus sehnt aus dem Dämmer der Krankheit!
| Auf dem schattigen Platze mit seinem säuselnden Laube, wo der Fußtritt
des Menschen verhallt, | wo der Kuckuck und das freundlich blickende Häschen
bis in die Nähe sich wagen, | wo der Freund rastet und durch die Bäume
den blauen Himmel sieht: | Jch entsende Dich von hier, daß du als mein [31]
Bote die sandige Landschaft durcheilest! | Vernimm denn meinen Befehl: Die
Ereignisse des Tages, den wir heute mit Wandern zubrachten, | berichte mit
schwungvoller Rede und in jauchzend gehobenen Maßen. | Vergiß nicht des
Stromes in der Ebene mit der Schafschwemme, | wo der ängstlich zappelnde
Bock den Waschenden umriß, | vergiß auch nicht das Moor am Waldessaume
mit den weidenden Kühen, | noch der friedlichen Rast im Schatten der Gartenmauer.
| Erzähle auch vom Walde, und von der Najade, | welche von Rosen
umblüht, vom Moos übergrünt und vom durstigen Eppich umrankt wird. | Was
du geschaut, behalte, und sobald du das Städtchen erreicht hast, | senke dich aus
deinen schwindelnden Höhen auf den Baum nieder, | der vor ihrem Fenster
steht, | und fächle ihr Genesungsluft des Gebirges zu, | und dein von der mailichen
Luft verklärtes Auge leuchte in das Düstere:
Lösung. Von Gottfr. Kinkel.
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Obwohl der ausländische (exotische) Hexameter für uns Deutsche
in keiner Weise zu den empfehlenswerten Maßen gehört, so muß man
sich doch mit ihm vertraut machen, um die deutschen hexametrischen
Dichtungen ihrem Werte nach würdigen zu können.
1. Der Hexameter ist ein ursprünglich aus 6 Daktylen bestehender
Vers. Um seinen ins Unendliche forthüpfenden Gang zu zügeln und
sein Ende zu markieren, setzte man an Stelle des letzten Daktylus
einen hemmenden Spondeus (– –) oder Trochäus (– ⏑). Zur Vermeidung
der Eintönigkeit der übrigbleibenden fünf Daktylen hat man
als hemmendes Mittel je nach Bedürfnis den einen oder den andern
der ersten 4 Daktylen mit einem Spondeus vertauscht, nicht aber den 5.,
der als Charakteristikum für den Hexameter unangetastet bleiben mußte.
Das bewegliche Schema des Hexameters gestaltete sich nunmehr folgendermaßen:
2. Der deutsche Hexameter darf nicht gegen die deutschen Accentgesetze
verstoßen; er darf also niemals leichte Silben in die Arsis
bringen, oder die betonten wie unbetonte thetisch verwenden. Wir [33]
nennen ihn im Gegensatz zum quantitierenden Hexameter der Alten
Accenthexameter.
3. Manche deutsche Dichter, welche den deutschen Accentgesetzen
keine Rechnung trugen, haben durch Verlegung volltoniger Silben
in die Thesis unerträgliche Accentverschiebungen veranlaßt, welche kaum
ausnahmsweise durch rhythmische Malerei zu rechtfertigen sind. Der
Anfänger sollte zur Bildung seines Ohres jede Accentverschiebung zu
verbessern suchen. Es würde z. B. der Hexameter:
etwa so zu ändern sein:
Oder so:
4. Es ist besser, die zweite Thesis des Daktylus im Tongewichte
etwas schwerer zu halten, als die erste. Daktylen, wie heiNote: 5lsaNote: 3meNote: 1r, sind
unserem Ohre nicht so bequem, als wuNote: 5ndeNote: 1rsaNote: 3m, weil die Diäresis
(Einschnitt am Ende des Verstaktes) ein kräftiges Einsetzen des neuen
Verstaktes begünstigt. (Vgl. nachstehende Ziff. 14.)
5. Aus diesem Grunde würden sich einsilbige Thesen wie er, ich,
mich, mir, ein &c. in der 2. Thesis besser ausnehmen, als in der
ersten.
6. Bei den quantitierenden Alten spielte der Spondeus, dessen
eine Länge der anderen entsprach, eine große Rolle. Jn unserem
Accenthexameter kann es sich nur um sog. trochäische Spondeen (─́ –)
handeln, deren zweite Hälfte beim Lesen einen geringeren Tongrad
erhält (z. B. WeNote: 5ltmaNote: 3cht). Die ganze neuere deutsche Verskunst beruht
auf richtiger Anschauung dessen, was ein Spondeus ist und spottet
aller philologischen und antiquarischen, ja selbst Brücke's physiologischen
Beobachtungen. Die Sprache lebt, der Sprechende lebt und der Accent
richtet sich nach dem gegenwärtig Sprechenden!
7. Als Spondeus im Hexameter muß demgemäß der jambische
Spondeus, bei welchem die 2. Hälfte den Sinnton hat (z. B. gieNote: 4b
aNote: 5cht) selbstredend ausgeschlossen sein.
8. Da viele Trochäen (z. B. TrNote: 5übsaNote: 3l, laNote: 5ngsaNote: 3m, uNote: 5rbaNote: 3r) dem
trochäisch gelesenen Spondeus gleichen, oder ihm wenigstens im Tonwert
nahe stehen, so erhellt, daß der Trochäus im deutschen Accenthexameter [34]
zulässig ist. Durch seine Einführung erhält der Hexameter mindestens
größere Leichtigkeit und Biegsamkeit, als der antike Hexameter mit seinem
monotonen Geklapper. Die große Skala von Trochäen (z. B. HeNote: 5ilkraNote: 4ut,
heNote: 5ilsaNote: 3m, heNote: 5iliNote: 2g, heNote: 5ileNote: 1n) ermöglicht dem Dichter die Auswahl, so
daß der Unterschied in der Praxis nicht einmal erheblich zu sein braucht.
Gerade der Trochäus unterscheidet unseren dunklen Accenthexameter von
dem antiken Hexameter und gestattet eine große Mannigfaltigkeit in
den Satztakten, die dem antiken Hexameter fremd ist.
9. Selbst die Gegner des Trochäus im Hexameter müssen diesen
Verstakt tolerieren, wenn nach seiner Arsis eine kräftige Cäsur eintritt,
indem z. B. die Arsis ein einsilbiges Stammwort bildet und die Thesis
die Vorsilbe des Stammworts vom nachfolgenden Daktylus (z. B. Macht;
Ge | walt &c.). Jn solchen Fällen räumt nämlich die rhythmische Pause
der nachfolgenden Thesis eine erhöhte Bedeutung ein, die der Länge
des Spondeus nichts nachgiebt. Beweis:
Macht; Ge walt
10. Der Trochäus eignet sich für den 1., 4. und letzten Takt am
besten. Selbst Homer hat im 4. Takte einigemal den Trochäus angewandt.
11. Am Schluß des Hexameters wirkt der Spondeus kräftiger als
der Trochäus.
12. Schon bei den ersten Übungen hat man sich zu bestreben, die
Hauptcäsur in den 3. Takt zu bringen.
13. Eine Diäresis am Ende des 3. Taktes ist streng zu vermeiden,
da sie den Hexameter halbieren würde.
14. Um die einzelnen Verstakte fester in einander zu fügen und
die störenden Diäresen (namentlich am Ende des 2. und 4. Taktes)
zu vermeiden, möge man sich amphibrachischer Satztakte bedienen
(⏑ – ⏑, z. B. beleben, erfreuen, Verrichtung &c.). Auch kretische Satztakte
(– ⏑ –) helfen über manche Schwierigkeit hinweg. Der Bacchius
(– – ⏑, z. B. Weinfässer) ist kaum als Notbehelf für den Daktylus
zulässig, auch wenn die zweite Silbe mitteltonig gelesen wird (z. B. frēigĕbĭg
== freNote: 5igeNote: 3biNote: 1g). Da wir im Hexameter den Trochäus gestatten, so
können wir dagegen recht gut amphimakrische Wörter, z. B. Wāssĕr | fāll,
anwenden. Die Silbe fall beginnt dann den neuen Satztakt.
15. Besondere Sorgfalt erfordert die Unterlassung des Hiatus [35]
im heroischen Versmaß, da die doppelte Mundöffnung der raschen Bewegung
des Versmaßes hinderlich sein muß.
Am allerwenigsten dürfte ein Hiatus zwischen die beiden Thesen
des Daktylus fallen. Der Hiatus „freundliche
Augen“ dürfte dieselbe
Nachsicht beanspruchen können, als der Hiatus zwischen 2 Jamben oder
2 Trochäen, da das erneute Atemholen und Einsetzen nach dem Daktylus
„freūndlĭchĕ“ möglich wäre. Niemals wäre jedoch der Hiatus
„Frēundĕ
ĭn“ oder „Höre
auf“ zu entschuldigen, da der rasche Versrhythmus
eine Unterbrechung zwischen den beiden Thesen des Daktylus
unmöglich macht. E nach e ist zu vermeiden. Freilich geht dies nicht
immer in der Prosa (z. B.: Meine Ehre. Deine Eltern). Die Poesie
hat eben andere Worte zu suchen.
16. Für die ersten hexametrischen Bildungen genügt die Beachtung
dieser Hauptsachen. Zu den Feinheiten im Hexameter gelangt man,
wenn man im Hinblick auf unsere Anforderungen wägt, prüft, vergleicht,
ergänzt, feilt. Tröstend muß der Umstand sein, daß selbst
Goethe's erste Hexameter (in Hermann und Dorothea) recht mangelhaft
waren, während seine späteren Bildungen strengeren Anforderungen bedeutend
näher kamen.
Aufgabe. Die nachfolgende Erzählung soll in Hexametern (in
gewöhnlicher Sprache) wiedergegeben werden.
Die Elster und ihre Kinder.
(Von Wilh. Grimm. Tierfabeln bei den Minnesingern. Aus den Abhandlungen
der Akademie der Wiss. Berlin, 1855.)
Stoff. Eine Elster führte ihre Kinder aufs Feld, | damit sie lernen
möchten, selbst ihre Nahrung zu suchen. | Das gefiel ihnen aber nicht. „Wir
wollen lieber ins Nest zurück,“ riefen sie, „da haben wir's bequemer; denn
du, liebe Mutter, trägst uns die Speise im Schnabel herbei.“ Doch die Alte
erwiderte: „Meine Kinder, ihr seid groß genug, euch selbst zu ernähren; meine
Mutter hatte mich viel früher ausgewiesen.“ „Aber die Bogenschützen werden
uns töten,“ antworteten die Kinder. „Nein, nein,“ sprach sie, „es gehört
Zeit zum Zielen; wenn ihr seht, daß sie die Armbrust in die Höhe heben und
an das Gesicht legen, um abzudrücken, so fliegt davon.“ „Das wollen wir
wohl thun,“ wandten die Kinder wieder ein, „aber wenn einer einen Stein
nimmt und nach uns werfen will, so ist dazu kein Zielen nötig, wie dann?“
„Jhr könnt ja sehen, wie er sich bückt,“ sagte die Alte, „wenn er den Stein
aufheben will.“ „Aber wie, wenn er einen Stein beständig in der Hand trägt
und jeden Augenblick zum Schleudern bereit ist?“ „Ei was ihr nicht alles
wißt!“ sprach die Mutter; „ihr könnt schon selbst für euch sorgen.“ Damit flog
sie weg und ließ sie allein.
Lösung a.
Takt 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 |
Ēinstmăls | fǖhrtĕ dĭe | Ēlstĕr dĭe | Jūngĕn spă | ziērĕn ĭm | Sā́atfēld |
Sie zu be | lehren, sich | künftig zu | suchen die | kräftige | Nahrung. |
Jhnen ge | fiel dies | nicht und sie | riefen: Wir | wollen im | Nest ruhn. |
Sieh! dort | haben wir's | tausendmal | schöner, wo, | Mütterchen, | Du uns |
Nährendes | herträgst | reichlich im | Schnabel. Da | sagte die | Elster: |
Kinder, ihr | seid nun ver | ständig ge | nug, euch | selbst zu ver | sorgen. |
Mir ward | früher ge | wiesen die | Thüre. Da | riefen die | Kinder: |
Tötliche | Pfeile der | Schützen, sie | finden die | Kinderchen | wehrlos. |
O, sprach | lächelnd das | Mütterchen: | Zeit braucht | immer das | Zielen. |
Drum, wenn ihr | sehet er | greifen die | Armbrust, | suchet das | Weite! |
Schreiend und | polternd er | widerten | nun die | Kinderchen | altklug: |
Wie, wenn | jemand sich | bückt, zu er | greifen ein | Steinchen des | Unheils? |
Während der | Werfer sich | schlau bückt, | müßt ihr be | ginnen den | Fluchtflug. |
Doch, wenn der | Gegner be | ständig den | Stein in den | Händen her | umträgt, |
Listig das | Schleudern be | ginnend, be | vor es die | Kinderchen | ahnen? |
Ei, was | alles ihr | Klugen schon | wißt, sprach | lächelnd die | Mutter. |
Sicherlich | braucht ihr nicht | fürder des | mütterlich | wachenden | Umblicks. |
Sprach's und ent | flog in die | Ferne, für | immer die | Jungen ver | lassend. |
Lösung b. Von Karl Putz.
1. Der Pentameter besteht aus zwei katalektischen daktylischen
Dreitaktern (
), oder aus zweimal
2½ Takten, oder auch aus 6 Takten, von denen die letzte Hälfte
des 3. und 6. Taktes eine Pause hat.
2. Nur in den beiden ersten Verstakten des Pentameters kann
statt des Daktylus ein Spondeus oder auch ein Trochäus gesetzt werden.
Jm letzten Hemistichium (Vershälfte) muß der Daktylus beibehalten
werden und zwar einesteils, um den daktylischen Grundcharakter zu [37]
wahren, andernteils um das Anhalten nach der ersten Hälfte (rhythmische
Pause) durch die neu beschleunigte Bewegung in Vergessenheit
zu bringen.
Beispiele des Pentameters:
a. mit dem Trochäus im Anfang:
(Platen.)
b. mit dem Spondeus im Anfang:
(Platen.)
(Rückert.)
c. mit daktylischem Anfang:
(Platen.)
3. Ein Zusammenziehen der beiden Hälften des Pentameters durch
ein überbrückendes Wort ist unzulässig (versrhythmisch unschön), weil
die letzte Silbe des ersten Hemistichiums ungebührlich lang ausgehalten
werden müßte, z. B.:
4. Der Pentameter kommt in der Regel nur in Verbindung mit
anderen Metren vor, insbesondere mit dem Hexameter.
Aus der Verbindung des Hexameters mit dem Pentameter entsteht
eine Zweizeile, welche unter dem Namen elegisches (oder epigrammatisches)
Distichon bekannt ist. Sie wurde um so lieber zu Elegien
und Epigrammen verwendet, als der zur präzisen Ausdrucksform
zwingende Pentameter dem ins Weite eilenden Hexameter einen freundlichen
Abschluß aufnötigt.
Eine Reihe solcher, durch den Jnhalt zusammenhängender Distichen
bildet das elegische Gedicht.
A. Das elegische Distichon.
1. Es gleicht in seinem Anlauf und Abfluß der Welle, die
ewig flieht und ewig wieder naht.
2. Es ist nicht unbedingt nötig, daß am Ende des Hexameters
eine syntaktische Pause eintritt, vielmehr kann der Jnhalt des Satzes
hie und da einmal in den folgenden Pentameter überlaufen.
3. Das Distichon bietet schöne Gelegenheit zur eigenen Produktion;
man braucht nur die Gedanken erst in Prosa zu notieren, um
ihnen sodann die Distichenform zu verleihen.
4. Jch erkläre mich für solche feste Formen, weil schon eine einzige
Strophe das ganze Gedicht ist. Der Schaffende wird dadurch
gezwungen, kurz zu sein und nur das Nötige zu sagen. Daher sind
die antiken und noch mehr die romanischen Formen (wohl auch die
orientalischen) die beste Schule.
Aufgabe 1. Der nachstehende Stoff ist zu einem Distichon zu
verwenden.
An die Erde.
Stoff. Gönne, o Erde, dem Baume, gen Himmel empor zu wachsen;
er wirft dir seine Früchte doch in den Schoß.
Lösung. Von Friedrich Hebbel.
Aufgabe 2. Nachstehender Stoff soll zu einem Doppeldistichon
verwendet werden.
Stoff. Ohne Ursache sei niemals schüchtern und befangen, alle, mit
denen du zu thun haben kannst, sind Menschen wie du. Alle haben Thorheiten
und Schwächen. |
Die besseren und die weiseren unter den Menschen hast du ohnehin nicht
zu fürchten. Sobald du dir vertraust, weißt du nach Goethe's Versicherung
auch zu leben.
Lösung.
B. Das elegische Gedicht.
1. Wenn dasselbe zarten, sanften oder auch wehmütigen Empfindungen
Ausdruck verleiht, nennt man es elegisches Lied.
2. Elegie heißt es, wenn es in gehobenen Gefühlen oder in
höherem, heroischem, dithyrambischem Geistesflug sich bewegt und reflektierender,
sinnend verweilender Beschaulichkeit Raum gewährt.
3. Bei einem elegischen Gedichte kann ausnahmsweise der Gedanke
aus einem Distichon in das andere überlaufen.
4. Um Stoffe zu elegischen Gedichten zu erhalten, ist das Beispiel
Schillers belehrend, der mehrere Partien seiner ästhetisch=philo= [39]
sophischen Abhandlungen aus Prosa in kleine elegische Gedichte umgewandelt
hat (z. B. Kolumbus, die Führer des Lebens &c. &c.).
5. Als eine instruktive Vorübung und Überleitung zur selbständigen
Produktion könnte die Veränderung strophischer elegischer Reimgedichte
ins elegische Versmaß empfohlen werden, weil der Lernende hier ein
vollendetes, poetisch durchgearbeitetes Material bereits vorfindet. Wenn
seine Bildung auch weit hinter dem Original zurückbleiben muß, so
befindet er sich während seiner Arbeit, die in diesem Falle nur die
Form zu berücksichtigen hat, doch in guter Gesellschaft. Wir empfehlen
alle jene Formen, die wir unter elegischem Lied im 2. Bande der
Poetik erwähnten.
Ohne hier eine Aufgabe zu geben, zeigen wir durch eine kleinste
Probe, wie wir es meinen:
Original. Von Friedrich Rückert.
Umbildung.
Die erste Strophe von „des Einsamen Klage von Herder“ würde
etwa so umzubilden sein:
Original.
u. s. w.
Umbildung.
u. s. w.
Aufgabe. Nachstehender Stoff ist zuerst a) mit möglichst
treuer Beibehaltung der Prosarede zu übertragen. Sodann kann
b) eine mehr freie Bearbeitung versucht werden.
Auf Jean Paul.
Stoff. Ein Stern ist untergegangen und das Auge des Jahrhunderts
wird sich schließen, bevor er wieder erscheint; denn in weiten Bahnen zieht der
leuchtende Genius und erst späte Enkel heißen freudig willkommen das, wovon
trauernde Väter weinend geschieden. Eine Krone ist gefallen von dem
Haupte eines Königs! Und ein Schwert ist gebrochen in der Hand eines
Feldherrn; und ein hoher Priester ist gestorben! Wohl mögen wir den beweinen,
der uns Ersatz gewesen und uns nun unersetzlich geworden. Jedem
Lande ward für jedes trübe Entbehren irgend eine freundliche Vergütung. Der
Norden ohne Herz hat seine eiserne Kraft; der kränkelnde Süden seine goldene
Sonne; das finstere Spanien seinen Glauben; die darbenden Franzosen erquickt [40]
der spendende Witz, und Englands Nebel verklärt die Freiheit. Wir hatten
Jean Paul, und wir haben ihn nicht mehr; in ihm verloren wir, was wir
nur in ihm besaßen: Kraft, Milde, Glauben, heiteren Scherz und entfesselte
Rede. Das ist der Stern, der untergegangen: der himmlische Glaube, der in
dem Erloschenen uns geleuchtet. Das ist die Krone, die herabgefallen: die
Krone der Liebe, die den beherrschte, der sie getragen, wie alle, die ihm unterthan
gewesen. Das ist das Schwert, das gebrochen: der Spott in scharfer
Hand, vor dem Könige zittern, und der blutleere Höflinge erröten macht. Und
das ist der hohe Priester, der für uns gebetet im Tempel der Natur ─ er
ist dahin geschieden, und unsere Andacht hat keinen Dolmetscher mehr. Wir
wollen trauern um ihn, den wir verloren, und um die andern, die ihn nicht
verloren. Nicht allen hat er gelebt! Aber eine Zeit wird kommen, in der
er allen geboren werden wird, und alle werden ihn beweinen. Er aber steht
geduldig an der Pforte des zwanzigsten Jahrhunderts und wartet lächelnd bis
sein Volk ihm schleichend nachkommt.
Lösung a. (Mit Beibehaltung der Prosawendungen.)
Lösung b. (Freiere Form.) Von Karl Putz.
Denkrede auf Jean Paul.
──────
1. Die Mischungen von verschiedenen Metren sind ziemlich vielfältig,
was auch unsere Übungen des 5. Hauptstücks darthun werden.
2. Die neueren Dichter beschränken sich meistenteils ─ sofern
sie nicht freie Accentverse vorziehen ─ auf Einmischung von Anapästen
(⏑⏑–) in den jambischen Rhythmus, sowie von Daktylen (–⏑⏑) in den
trochäischen.
3. Da wir dem jambisch=anapästischen Rhythmus mehrfache
Übungen im 3. Hauptstücke widmen konnten und im 5. Hauptstück die
gemischten antiken Maße berücksichtigen werden, so können wir uns
hier darauf beschränken, durch eine Aufgabe die Einmischung von Daktylen
in den trochäischen Rhythmus des deutschen Verses zu üben.
4. Um dem immer neu ins Stocken geratenden trochäischen
Verse größere Beweglichkeit zu verleihen, empfiehlt sich diese Einmischung
von Daktylen.
5. Der Anfänger hat sein Augenmerk auf Wiederkehr und Anordnung
des Daktylus zu richten.
6. Überhaupt verlangt die Symmetrie, daß dem Daktylus kein
Übergewicht eingeräumt werde.
Aufgabe. Viertaktige trochäisch=daktylische Verse.
Eibsee.
Stoff. Grauenvoll, schwindelnd sind die Felswände, die von Adlern
umschwebten Riesenberge, welche das Felsenantlitz widerspiegeln in dem stillen,
tannenbekränzten schwarzen Bergsee: Grauenvoll ist das heimliche Atmen,
Wogen, Weben, Todeslächeln, zu vergleichen Hertha's heiliger Waldsee auf
der vom Nordlicht umflammten Jnsel, wo den Wagen der Göttin weiße Kühe [43]
zum Wasser zogen, und wo Sklaven in der Nacht das heilige Götterbildnis
wuschen; aber der brausende See hat sie alle verschlungen. Denn wer einmal
das Göttliche geschaut hat, ist dem Tode unrettbar verfallen.
Lösung. Von Julius Grosse.
1. Die Allitteration (Stabreim) ist die Wiederkehr gleicher Anfangsbuchstaben.
Da sie zur symmetrischen Gliederung der poetischen
Gestaltungen verwendet wird, so muß sie ─ wie jeder Gleichklang ─
in ihrer Anwendung gesetzmäßig sein.
2. Sie darf nur die begrifflich bedeutenden Wörter ─ also nur
die Stammsilben ─ verbinden.
3. Nicht die Gleichheit beliebiger Wortanfänge ist also bei den
allitterierenden Versen das Wesentliche, sondern der Umstand, daß die
durch den Gleichklang ausgezeichneten Silben auch in der Arsis stehen
und den Begriffston tragen. Da somit nur die Hebungen allitterieren
dürfen, so sind Allitterationen wie Geld und Gemüt verwerflich, nicht
aber Allitterationen wie Gedanke und Dienst.
4. Der Dichter muß streben, den Eindruck der sinnlich starken
Hauptvorstellung wellenartig fortzuleiten und zu erhalten durch Worte,
welche dem Worte der Hauptvorstellung im Anfangsklange ähnlich sind.
5. Am Platze ist die Allitteration, wenn eine Grundvorstellung
wie ein Echo über die Verse hinüberklingen soll, wenn es sich also um
plastisch anschauliche oder malerische Darstellung handelt. Allitterieren
können hierbei alle Konsonanten von gleichem Klang, wie z. B. die
labialen v, f, ph, pf, b, p, w.
6. Dem die Hauptvorstellung tragenden centralen Hauptstab stehen
in der Regel zwei Liedstäbe (Stollen) gegenüber. Diese Stäbe haben
insgesamt die metrische Verbindung der Zeilen zu bewirken.
7. Alle Arsen eines Gedichts (nach Rückerts Beispiel s. Lösung 1)
allitterieren zu lassen, ist unmöglich durchführbar; ja, es ist schon schwer,
die wichtigsten Stäbe in einem längeren Gedicht durch Allitteration zu
verbinden. Jn dieser Schwierigkeit liegt sicher ein Grund für die
Unpopularität der Allitteration. (Ein anderer Grund mag immerhin
die Monotonie der Allitteration sein, in welcher nicht selten die nüchternste
Prosa mit dem schwülstigsten Bombast sich verbindet.)
8. Die Wirkung der Allitteration und ihre Bedeutung steigert sich,
wenn die allitterierenden Stäbe möglichst eng an einander gerückt
werden.
9. Aus der sinnlichen, ohrumstrickenden Wirkung der Allitteration
geht hervor, daß dieselbe hie und da noch recht gut zur Lautmalerei
verwertbar ist. Es ist nötig, daß der Dichter allitterierender Verse
über die malerische Kraft der Vokale und der Konsonanten sich insbesondere
unterrichtet (wir verweisen auf Poetik I, 119).
10. Mit der Allitteration verbinden neuere Dichter nicht selten
auch den weiter unten zu übenden Schlußreim, welcher der Allitteration
berechtigte Konkurrenz machte und sie heutigen Tags fast verdrängt hat.
11. Wir wählen von den Hauptformen der Allitteration je ein
Beispiel, es dem Lernenden überlassend, behufs weiterer Übungen Nachbildungen
anderer Formen zu versuchen.
Aufgabe 1. Allitterationslaut w. Der nachstehende Stoff
soll zu allitterierenden Versen verwertet werden, von denen der 1.
und 3. je sechs Trochäen zählen, während der 2. und 4. nur je
fünf Trochäen nötig haben. Das Material ist für je 2 Verszeilen
eingeteilt.
1. Es ist zunächst der Gedankengang des Stoffs auszubreiten und
zu verarbeiten.
2. Sodann sind die Hauptpfeiler für die verlangte Allitteration
w zu errichten, wie wir es unten unter b durch Überschreiben mit
anderer Schrift andeuten werden.
Stoff. Durch welche Mittel kann man sich gegen häßliche Schneewinde
schützen? Durch warmen Ofen, schützende Kleidung, feuriges Getränke und
unterhaltende Frauen.
Verarbeitung des Gedankens.
1. und 2. Vers. Kennst du die Mittel, durch welche sich ein verständiger
Mann gegen die häßlichen Schneewinde zu schützen vermag?
3. und 4. Vers. Durch geheizten Ofen, warme Kleidung, gutes Getränk
und freundliche Frauen.
Festsetzung der Hauptpfeiler für die verlangte Allitteration w.
[46]Weisst welche Weiser
Kennst du die Mittel, durch die sich ein verständiger Mann gegen
wüsten Winter-Winde Wehre wählt Warme Wohnung
die häßlichen Schneewinde zu schützen vermag? ‖ Durch geheizten Ofen,
weiche Watte, wollenes Wams, würzgen Wein willige Weiber
warme Kleidung, gutes Getränk und freundliche Frauen.
Lösung. Von Rückert.
Aufgabe 2. Mehrere Allitterationslaute. Der nachstehende
Stoff soll in vier katalektische trochäische Viertakter umgebildet
werden. Allitterationslaut der 1. Zeile ist f, der 2. und 3. l, der 4.
d und sch.
Stoff. Von allem, was ich sah, gefiel mir nichts mehr, seit er mir
fehlte. | Mein Auge vergoß Thränen, seit es litt, daß er wegging. | Wer mich
zum Vergnügen einladen wollte, bereitete mir eine Last. | O wie vorteilhaft
unterschied er sich von allen, die ich seither fand! |
Lösung. Von Fr. Rückert (Makame 10).
1. Die Assonanz ist die Wiederkehr gleicher Vokale oder Diphthonge
und soll als sog. freie Assonanz die betonten Silben der Verszeile
verbinden; als versgliedernde Assonanz ist sie die Wiederkehr gleicher
Vokale oder Diphthonge in den letzten Verstakten der Verszeilen.
2. Da nur der Vokal (oder Diphthong) reimt, so ist die größte
Reinheit der Vokale (oder Diphthonge) im Laut zu erstreben. Eine
Vermischung klangverwandter Vokale (z. B. von e mit ä und ö, ei mit
eu und äu, i mit ü) ist oft zu entschuldigen; bei Lautverschiedenheit würde
eine störend unterbrechende Verdunkelung der Assonanz bewirkt werden.
(Vokale und Wasser klingen ungleicher als Lieder und Übel.)
3. Nur Arsissilben dürfen assonieren.
[47]4. Assonanzen mit dem faden e haben nur geringe Wirkung und
sollten daher weniger geübt werden.
5. Um von vornherein namentlich auf die versgliedernden Assonanzen
am Zeilenende aufmerksam zu machen, ist zu raten, in den
ersten Zeilen der jeweiligen Dichtung Binnenassonanzen anzuwenden.
6. Die assonierenden Klänge dürfen nicht zu weit auseinander stehen,
wenn sie wirksam sein sollen. Man sollte daher in Vermischung nicht
assonierender Verse mit assonierenden möglichst sparsam sein. (Jn der
spanischen Art assoniert jeder gerade Vers, also bei vier Versen der
2. und 4.)
7. Die assonierenden Verse verlangen ein einfaches Versmaß und
klaren, freundlichen Rhythmus, wenn nicht die Aufmerksamkeit von
der Assonanz abgezogen werden soll.
Aufgabe. Nachstehender Stoff soll in akatalektischen jambischen
Quinaren wiedergegeben werden. Der assonierende a=Laut
soll als Vokal der letzten Silbe die Verszeilen schließen.
Stoff. Die Vianer kehren in ihre Stadt zurück, ziehen die Brücke auf
und verwahren das Stadtthor. Darüber wird Kaiser Karl sehr zornig; und
aufgebracht ruft er aus: „Zum Sturm, meine Ritter! Wer heute fehlt,
dessen Lehen in Frankreich, gleichviel ob es Schloß oder Stadt, Turm oder
Feste, Dorf oder Markt sei, soll dem Boden gleich gemacht werden.“ Da kommen
sie alle herbei. Die Schildner dringen gegen die Mauer vor, mit Hammer und
gestähltem Schaft schlagend. Aber die Vianer steigen auf die Mauern und
werfen Steine und Scheiter herab, wobei mehr als 60 Frankenjünglinge zermalmt
werden. Da spricht Herzog Naims im Bart: „Herr Kaiser, glaubt
Jhr, daß Jhr diese hohen Mauern mit ihren starken Zinnen und den festen,
jahrhundertalten Türmen, welche einst kräftige Heiden erbauten, mit Gewalt
gewinnen werdet? Jhr werdet es nicht vermögen. Daher rate ich, Zimmerleute
herbeirufen zu lassen, um Rüstzeuge zu erbauen.
Lösung. Aus Roland und Alda. Von Uhland.
(NB. Das nachfolgende Beispiel ist eine Tirade und französischer Art.
Das Schwänzchen „Davon die Mauern stürzen“ ist das Ausgehen des Atems,
und stets folgt sodann eine neue Assonanz.)
1. Die Verbindung der Allitteration mit der Assonanz steigert die
Anschaulichkeit und erhöht die Wirkung der nachahmenden sinnlichen
Fülle unserer Sprache.
2. Eine gewinnende, beliebte Form derselben, welche die freie
(onomatopoetische) Assonanz mit der Allitteration verbindet, ist die
sog. Annomination.
3. Die bequemere, ebenso wirkungsvolle Form verbindet die
Allitteration mit der versgliedernden Assonanz am Ende der Verszeilen.
4. Schwieriger ist die Verbindung von Allitteration mit Assonanz
inmitten der Verszeilen, wie wir dies bei Jordan finden. (Vgl. dessen
„Nibelunge“.)
Aufgabe. Nachstehender Stoff soll in Verszeilen von je vier
Arsen mit beliebigen Thesen gegeben werden, wobei Allitteration
und Assonanz inmitten der Zeilen einzufügen sind.
(Es wird sich empfehlen, erst den Stoff einzuteilen, sodann die Hauptpfeiler
für die Allitteration und für die Assonanz einzufügen, wie wir dies bei
der ersten Aufgabe des § 17 d. Bds. gezeigt haben.)
Stoff. Da hockte auf einem Aste des Baumes ein singender Zeisig; man
sah seine emporgeschnörkelte Zunge im Schnabel, beim Trillern vom Schlafe
überrascht. Doch kaum betritt Siegfried den mit Reif überzogenen Rasen, als
ein Gelispel in den Bäumen begann; es vereinigten sich die Sträucher, die
Blumen nickten und von den Blättern tauten die Eiskrystalle ab. Die Vögel [49]
rauschten in schnellem Flug mit hellem Gezwitscher empor; die hungernde Biene
durchsuchte nach Honig die Dolden der Fliedergebüsche. Das Heimchen sprang
von der Ähre herab, die Quelle ergoß ihr Wasser, die Frösche quakten, das
fliehende Ämschen wurde vom Laubmolch erhascht und verspeist, auf dem
Baume sang der Zeisig weiter. Alle Geschöpfe erwachten ─ zur Freude, zur
Gefahr, zur Verfolgung, zur Angst und zum Haß.
Lösung. Von Wilhelm Jordan.
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1. Wenn dem Dichter beim Erklingen eines Lautes sofort eine
ganze Summe aller möglichen Gleichklänge wie chladnische Klangfiguren
anschießt und wiederklingt, so ist dies zweifellos nur das Resultat fortgesetzter
Übung im Versbilden und im Reimsuchen. Von Fr. Rückert, [50]
der sich namentlich in seinen Makamen-Nachbildungen als ein personifiziertes
Reimlexikon erwies, hat es der Verf. d. B. nachgewiesen, daß
derselbe als junger Mann auf allen Biertischen, an Kirchenwänden,
in Notizbüchern &c. seine Reimübungen anstellte, so daß es erklärlich
ist, wie derselbe eine so einzige und vollkommene Herrschaft über den
Reim ausübte und eine so staunenswerte Reimvirtuosität erlangte, wie
vor und nach ihm kein Dichter der Welt. Wenn daher Anfänger im
Versebilden über Reimarmut unserer Sprache, über Mangel an Reimklängen
klagen, so möge ihnen Rückerts Vorbild Ermutigung einflößen.
Jedenfalls ist diese Art, durch Beachtung und eigene Übung Fertigkeit
im Reim zu erlangen, der Benützung eines Reimlexikons weit vorzuziehen,
wie ein solches von Peregrinus Syntax (Leipzig, Brockhaus 1826)
in 2 Bänden existiert und recht viel überflüssiges, für Poesie unbrauchbares
Material enthält.
2. Homer schrieb die blühendste Sprache, ohne Grammatik in
unserem Sinne gelernt zu haben, ─ und doch lernen wir Grammatik;
Mozart war Klaviertechniker, ohne Bertini's, Kramer's und Herz'
„Fingerübungen“ gespielt zu haben, ─ und doch üben wir diese
„Fingerübungen“, bevor wir ein größeres Musikstück einstudieren.
So möge auch der Anfänger im Versbau nicht glauben, daß ihm
die Muse den Lorbeer anders, denn als Lohn für schwere Mühen
reichen werde. Er möge also, bevor er sich an eine größere Dichtung
wagt, lang fortgesetzte Übungen im Suchen aller möglichen Reime
vornehmen.
3. Zunächst möge er prosaische Erzählungen, Novelletten und ähnlichen
Lesestoff unter Beibehaltung der Prosaform mit Reimen versehen.
Dadurch liefert er, ohne es zu beabsichtigen, die in unserer
Litteratur durch Rückerts Umbildungen eingeführte Makamenform,
welche bekanntlich nichts weiter ist, als eine Erzählung von regellosestem
Rhythmus in gereimter Prosa, wobei allerdings hie und da
lyrische Gedichte eingeflochten sind. Da übrigens der auf dieser Stufe
angelangte Lernende bereits die Fähigkeit erlangt hat, schulgerechte
Reimpaare zu bilden, so ist es keine zu große Zumutung, ähnliche
Gedichte in primitiver Form einzufügen, um die Makame vollständig
zu machen. Der die Leistungsfähigkeit beweisende Erfolg wird zweifellos
anfeuernd wirken.
4. Bei Bildung von Reimen in der Prosarede (Makame) sind
alle Arten des Vollreims (vgl. weiter unten Ziffer 9) nicht nur gestattet,
sondern sie werden dem Lernenden sogar zugemutet. Es übt
außerordentlich, wenn man Doppelreime, gleitende, schwebende Reime &c.
anwendet. Wahl und Anzahl der Gleichklänge ist also freigegeben.
5. Um alle möglichen Arten des Vollreims anwenden zu können,
mag der Text in beliebiger Weise erweitert, fortgesponnen, umgeordnet,
geändert und ergänzt werden.
6. Übungen in der Stellung und Aufeinanderfolge der Reime
verbinden wir in späteren Paragraphen mit der Lehre von der Strophe.
7. Auch in den einfachsten Reimübungen ist auf Reinheit des
Reims zu halten. Wir begreifen darunter die Gleichartigkeit des
reimenden Klangs, nämlich:
a. der Diphthonge. Somit dürfen sich nicht folgen ei─eu (z. B.
eitel─Beutel), ai─äu (z. B. Kaiser─Häuser), ai─eu (z. B. Mai─neu),
ei─äu (z. B. Weite─Geläute);
b. der Vokale. Unrein sind demnach i─ü (z. B. lieben─üben), e─ä
(z. B. bewegen─Schlägen), e─ö (z. B. beten─Nöten), ö─ä (z. B. hört─
erklärt);
c. der Konsonanten. Unrein wäre b─p (z. B. schreibest─kneipest),
b─f (z. B. Fabel─Tafel), g─ch (z. B. Tag─Fach), g─ck (z. B. mag─
Geschmack);
d. der Silbenquantität. Es darf nur die betonte Silbe Trägerin
des Reimes sein, nicht aber die Nachsilbe. (Unrein ist also Spiegelung─
Hoffnung, nicht aber sterblich─verderblich.)
e. Unrein ist endlich der Reim, welcher kurze Silben (⏑) auf gedehnte
bezieht (z. B. Herr─Meer, will─viel). Jnkorrektheiten im Buchstaben, sofern
der Klang sich deckt, mögen gelind beurteilt werden. Dem vollendeten Dichter
werden gewisse Freiheiten (wie z. B. der Reim Kuß auf Gruß) gern einzuräumen
sein; bei dem Anfänger aber muß auf möglichste Reinheit gehalten
werden, damit seine Freiheiten sich nicht bis zur Verwilderung häufen.
8. Wenn schon alle jene Begriffswörter anschaulich wirken, denen
man ihre onomatopoetische Entstehung ansieht, so sind besonders jene
Reimworte am wirksamsten, welche durch ihren Klang dasjenige schon
im voraus malerisch andeuten, was sie ausdrücken sollen.
9. Für unsere praktischen Übungen sind fürs erste folgende
Reimarten völlig genügend:
a. männlicher Reim, welcher mit der Hebung (Arsis) schließt, z. B.
Gebrauch─Hāuch;
b. weiblicher Reim, welcher mit der Senkung endigt, z. B. Liebĕ─Triebĕ,
glühĕnd─blühĕnd;
c. gleitender Reim, bei welchem 3 Silben reimen, von denen nur die
erste betont ist, z. B. schwḗllĕndĕ─quḗllĕndĕ;
d. schwebender Reim, bei welchem Spondeus mit Spondeus reimt:
a. steigend, z. B. bleīb nā́h─schreīb dā́, b. sinkend, z. B. Lā́ut stȫrt─Brā́ut hȫrt;
e. Doppelreim, welcher an eine Silbe (oder an die beiden Silben) des
Spondeus eine tonlose Silbe anfügt, z. B. Sangmeister─Klanggeister; Klinge
klang ─ Schlinge schlang.
f. Ghaselenreim, bei welchem a. ein Vollreim (männlich oder weiblich)
oder b. deren 2 mit dem identischen Reim (d. i. dem Reim, welcher das Wort
der Reimstelle ohne Veränderung wiederholt) verbunden wird, z. B. a. trägst
du mir im Herzen ─ schlägst du mir im Herzen; oder stets am
rechten Orte hat ─ stets die rechten Worte hat; b. schlägt mein Herz
─ trägt mein Schmerz. (Dieser Reim findet sich hauptsächlich beim Ghasel, das
übrigens häufig genug nur die unter a b c d verzeichneten Reimarten aufweist.)
Die weiteren künstlicheren Reimarten sind in unserer Poetik Bd. I,
S. 425 ff. abgehandelt.
Aufgabe. Es soll die nachfolgende Sage so erweitert und
ausgeführt werden, daß selbst die kleinsten rhythmischen Reihen
durch den Reim ausgezeichnet werden. Je öfter der gleiche Reim
sich wiederholt, je mehr Reimarten angewendet sind, desto besser
soll die Ausführung genannt werden. Der Rhythmus darf durchaus
regellos sein, da die ganze Aufmerksamkeit auf den Reim zu
legen ist. Dieser soll alle möglichen Kunststücke enthalten und in
allen erdenklichen Formen auftreten. Auch die Einführung der
Allitteration ist gestattet. An Stelle der Ghasele, welche sonst
den Makamen eingefügt sind, sollen zwei ungekünstelte Gedichte
in daktylischen Viertaktern mit Reimpaaren eingearbeitet werden;
das erste derselben soll das Wandern preisen, während das zweite
sagen soll, was man auf Erden selig sein heißt. Beide Gedichte
sind einem Dichter in den Mund zu legen, worauf dann wie ein
deus ex machina ein dritter Erzähler erscheint, der die Sage
weiter fortspinnt. (Klanggleiche unreine Reime ─ vgl. S. 51. 7. c
─ sind in den Lösungen vorerst noch zu tolerieren.)
Anstatt weitere Anforderungen in der Aufgabe zu stellen, zeigen
wir lieber in der Ausführung, wie kühn und frei der Schüler sich
bewegen darf, um zur Gewandtheit in Handhabung aller möglichen
Reimformen zu gelangen.
Die Teufelsbrücke. (Aus Gebrüder Grimms deutschen Sagen.)
Stoff. Ein Schweizer Hirte, der öfters sein Mädchen besuchte, mußte
sich immer durch die Reuß mühsam durcharbeiten, um hinüber zu gelangen,
oder einen großen Umweg nehmen. Es trug sich zu, daß er einmal auf einer
außerordentlichen Höhe stand und ärgerlich sprach: „Jch wollte, der Teufel
wäre da und baute mir eine Brücke hinüber.“ Augenblicklich stand der Teufel
bei ihm und sagte: „Versprichst du mir das erste Lebendige, das darüber geht,
so will ich dir eine Brücke dahin bauen, auf welcher du stets hinüber und
herüber kannst.“ Der Hirte willigte ein; in wenig Augenblicken war die
Brücke fertig; aber jener trieb eine Gemse vor sich her und ging hinten nach.
Der betrogene Teufel ließ alsbald die Stücke des zerrissenen Tieres aus der
Höhe herunter fallen.
Stoff und Gedankengang der einzuflechtenden Gedichte.
I.
II.
Lösung mit Beibehaltung der regellosesten Prosarede.
Die Makame von der Teufelsbrücke.
An einem heiteren Frühlingsmorgen, ─ zu scheuchen berufliche Sorgen, ─
rüsteten wir uns zu fröhlichem Lauf ─ und machten nach dem Zauberberg uns
auf, ─ wo wohlbekannt, ─ hoch über die schäumende Reuß gespannt, ─
seit alten Zeiten so genannt, ─ hängt die Teufelsbrücke, ─ von der wir mit
Grausen kamen zurücke. ─ Wir fürchteten nicht des Teufels Tücke, ─ drum ruhten
wir aus in der Teufelslücke, ─ wo der Fels ist zerrissen in riesige Stücke,
─ wo man zum erstenmal gewahrt die wundersame Teufelsbrücke. ─ Unser
sangeskundiger Begleiter setzte sich nieder, ─ er ließ erklingen fröhliche Lieder,
─ die entquollen, o herrliche Lust! ─ seiner göttlichen Dichterbrust. ─ Er
sang ─ bald süß, bald bang ─ aus Herzensdrang:
Der Dichter hatte geendet ─ und sich von uns gewendet. ─ Sein Auge
war vor Rührung mit Thränen genetzt, ─ als er sich wieder zu uns gesetzt. ─
Dann begann er mit geröteter Wange ─ in unvergleichlichem Gesange:
Wir wollten uns erheben, ─ dem Dichter den Zoll der Bewundrung
zu geben ─ und ihm zu sagen: ─ Bei dir zu sein ist Behagen, ─ niemand
wird verzagen, ─ du verstehst zu lenken der Launen Wagen, ─ die Sorge
zu fassen am Kragen, ─ zu besänft'gen den nagenden Magen ─ und den
Teufel zum Teufel zu jagen; ─ du hast dir die Ehrenkron' aufgesetzt ─ und
unsre Herzen mit Wonnen geletzt, ─ ja, unsre Augen mit Thränen genetzt. ─
Da trat im Nu ─ von der Seit' auf uns zu ─ (wir sind nicht wenig
erschrocken, ─ das Blut kam uns allen ins Stocken) ─ ein Scheusal mit
wilden, schwerhängenden Locken, ─ mit stierem Blick, ─ mit entblößtem Genick,
─ in der Hand einen Strick. ─ Bald begann er berichtend, ─ durch seine
menschliche Stimme unsre Befürchtung vernichtend: ─ Seht Jhr dort die
Weymouthsfichte, ─ die eben ─ umschweben ─ zwei teuflische Wichte; ─
dort spielt meine Unglücksgeschichte! ─ Damit ich Ruhe finden kann, o
habt Erbarmen ─ und höret an mich Armen! ─ Hier an diesem Ort ─
hab' ich begangen vor tausend Jahren einen Mord. ─ Erst wenn es gelungen,
─ mit Menschenzungen ─ dies Verbrechen ─ vor Menschen hier
auszusprechen, ─ kann ich mich lösen ─ aus den Krallen des Bösen. ─ [55]
Ein Mörder bin ich, ein arger Sünder, ─ meines Unheils Begründer ─ und
Verkünder, ─ der alle hundert Jahr' erscheint ─ und sein verlornes Leben beweint.
─ Wir versprachen ihn anzuhören ─ und sein Erzählen nicht zu stören.
─ Da fuhr er fort wild schaurig, ─ im Ton unendlich traurig: ─ Vor tausend
Jahren ─ lebte hier, im Bösen unerfahren, ─ ein junges Blut, ─ wohlgemut,
─ brav und gut, ─ voll kühnem Wagemut, ─ vor Fahrnis allzeit auf
der Hut. ─ Es zog ihn an ein Mädchen ─ vom Hirtenstand, mit Fädchen
─ dem Auge sichtbar nicht. ─ Die Brave war sein einz'ges Licht, ─ sein
schönstes Lob- und Preisgedicht. ─ Zu ihr zu eilen, ─ bei ihr zu weilen,
─ war ihm kein Fluß zu breit, ─ kein Weg zu weit. ─ Wollt' er nehmen
den Weg, den geraden, ─ mußt' er durchwaten ─ den Fluß ─ zu seinem
Verdruß. ─ Es war gefährlich ─ und sehr beschwerlich ─ zu durchschreiten
die schäumenden Fluten, ─ die leichtbeschuhten, ─ die ihn oft drohend zwangen,
─ zu bangen ─ und zu nehmen ─ für sein Liebesunternehmen ─
den nicht angenehmen, ─ unbequemen ─ fernen Krummsteg ─ mit großem
Umweg. ─ Oft bestieg er den verrufenen Zauberfels, ─ von wo stets in
lieblichstem Farbenschmelz ─ der Jüngling wahrnahm das Haus, ─ wo
die Allerliebste ging ein und aus. ─ Aus der Vogelperspektive ─ sah
er in unendlicher Tiefe, ─ er auf dem Liebesolymp ein Zeus, ─ da
unten die tosende furchtbare Reuß. ─ Mit höllischem Gebraus ─ und lärmendem
Gesaus ─ flutete sie dahin ─ seit Urbeginn ─ mit Würgersinn
─ erboste Wassermassen, ─ welche Liebesglück hassen, ─ und jene niemals
frei lassen, ─ die mit ihrem Schmerz nicht zu Glücklichen passen. ─ Der
Liebe Zauberfädchen ─ zog ihn zu seinem Mädchen. ─ Er rief mit lauter
Stimme Schall, ─ daß übertönt wurde der Wiederhall ─ vom Reußfall ─
mit seinem lärmenden Wasserschwall: ─ O heil'ge Anastasia, ─ ich wollte,
statt deiner der Teufel wär' da, ─ bauend aus einem Stücke ─ hinüber
eine Brücke. ─ Kaum hatt' er geäußert sein Begehren, ─ fing an das
Wasser der Reuß sich zu mehren, ─ und aus gewaltigem Wasserschuß, ─ abkühlend
seinen Herzverdruß, ─ ertönte des Teufels Willkommensgruß. ─
Drauf senkte sich der Wasserguß ─ und es erschien, welch Hochgenuß! ─
ein schöner Gemsenjäger ─ und kräftiger Bogenträger. ─ Doch als der Hirt
den Pferdfuß sah, ─ da war er einer Ohnmacht nah. ─ Der Teufel belächelte
des Hirten Wehruf ─ und Flehruf, ─ den zu großes Ängsten schuf ─
vor dem Pferdehuf. ─ Er verhöhnte des Hirten Ach ─ und sprach: ─ Du,
furchtsamer Rufer, ─ willst erreichen jenes Ufer? ─ Bau' doch deinem Liebesglücke
─ die sichere Brücke. ─ Oder, du Zauberfelserklimmer, ─ werde ein
kühner Schwimmer, ─ wenn du der Liebe Schimmer ─ willst nahe sein, ─
um diese zu frei'n, ─ die jetzt ist nicht allein, ─ und die für dich trägt
Herzens-Pein, ─ der deine Liebesworte sind Trostkost ─ und deine Küsse Trostmost
─ und deine Briefe Trostpost. ─ O wisse, Sterblicher! Noch heute
wirbt dein Feind um sie! ─ Drum auf, der Einsamkeit entflieh' ─ und
schleunig zu der Teuren zieh', ─ zu stören fremde Hausschau, ─ ja, Bauschau,
─ zu retten die Liebste vor Angst und Not ─ und vor der Liebe [56]
Nottod. ─ Mich dauert künftige Todnot, ─ drum komm' ich wie das Notbot
─ und bau' aus einem Stücke ─ hinüber dir die Brücke. ─ Fürs Bauen
in dieser hohen Region ─ verlang' ich einen geringen Lohn ─ von dir, verliebter
Erdensohn, ─ der ich selbst bin der Kronlohn ─ und Thronlohn.
─ So rief der Teufel im argen Hohn ─ (er wähnte sich als Sieger schon)
─ indem hinzu er setzte ─ dies Letzte: ─ Es soll als Preis das zuerst
über die Brücke Strebende, ─ Lebende ─ sein das mir zu Gebende. ─
Willigst du ein, ─ so soll sogleich die Brücke fertig sein. ─ Der Hirte war's
zufrieden; ─ da hört' er wieder die Reuß aufsieden. ─ Und mit Getöse
─ verschwunden war der Böse. ─ Doch in der Luft (wie wunderbar!) ─
bot dem erstaunten Blick sich dar ─ vom Bergesrand ─ zur Uferwand ─
hinüber wie ein Seil gespannt ─ von keinem Menschen noch gekannt ─
gebaut aus riesigem Eisenstücke ─ die schwindelnd hohe Teufelsbrücke. ─
Der Hirte war nun katzenschlau, ─ fern blieb er lang dem Brückenbau,
─ der war ihm gar zu wasserblau. ─ Dann rief er: Um dem Liebesdiebe
─ zu geben kräftige Liebeshiebe, ─ und zu begraben der Liebe Leid ─
nehm' ich mir Zeit. ─ Auf diesem Lebens-Raubbau, ─ dem höllischen Brückenschaubau,
─ wär' als erstes Lebendes, ─ Hinüberstrebendes, ─ dem Teufel
zu Gebendes ─ für all seinen Trug ─ auch eine Gemse genug. ─ Nun
begab er sich auf die Jagd an den Bergesrand, ─ wo er wußte den Gemsenstand.
─ Sieh doch! wie die Gemsen nach der Höhe zudringen, ─ und
der Brücke zuspringen! ─ Und er mit seinem Bogen ─ laut rufend kam
nachgezogen: ─ hei, Teufel, sei betrogen! ─ Kaum betrat eine Gemse die
Brücke, ─ so riß sie der Teufel in Stücke. ─ Dann fuhr der höllische
Schuft ─ durch die Luft ─ hinab in die wäss'rige Gruft. ─ Vor Ärger die
Fluten schlagend, ─ und seinen Zorn mit sich tragend, ─ schwur er in
schreckhafter Sprache ─ dem Hirten teuflische Rache. ─ Den andern Gemsen
ging es gut. ─ Da nahm sich auch der Hirte Mut. ─ Die Heiligen anflehend
zu seinem Glücke, ─ ging er ruhig über die Brücke ─ und rief: Von
diesem Steg ─ hinweg ─ eil' ich zu meinem Schatzplatz, ─ der soll mir
werden ein Schwatzplatz ─ und ein Schmatzplatz. ─ Er traf auch keinen
Liebesdieb, ─ erspart blieb ihm der Liebeshieb. ─ Der Teufel hatte gelogen,
─ drum war er jetzt betrogen. ─ Nun warb der Hirt' ohn Zeitaufwand ─
um seiner Allerliebsten Hand; ─ der Eltern Trotz er überwand, ─ bald
schloß sich zweier Liebesband. ─ Die Liebste sprach mit holdem Mund: ─
Gott segne unsern Herzensbund! ─ Jch liebte dich aus Herzensgrund ─ zu
jeder Stund. ─ Und er erwidert: Herzensstern, ─ dein dacht' ich immer
nah und fern, ─ in Appenzell wie in Luzern. ─ Könnt' ich dich meiden
Augenstern? ─ Jch habe dich von Herzen gern, ─ du Frauenkern ─ und
Minnestern! ─ Bald baute sich der Hirte ein Wirtshaus oder ein Schmaushaus,
─ und als er gab den Hausschmaus, ─ dies merket meine Hörer,
─ daß ihr nicht werdet Störer ─ oder gar Empörer: ─ da reizte mich
der Teufel, den Hirten zu bringen in Nöten ─ und den Schuldlosen zu
töten. ─ Jch gönnt' ihm nicht sein Eheglück, ─ bald lockt' ich ihn zu dieser [57]
Brück', ─ und warf ihm rasch den Judasstrick ─ um das Genick. ─ Hier
an diesem Ort ─ beging ich den Mord; ─ hier an diesem Grat ─ hab
ich begangen die blutige That. ─
Bei diesem entsetzlichen Wort ─ stürzte der Gespenstige fort ─ und
warf sich mit furchtbarem Fall ─ und dröhnendem Schall, ─ (es ertönte
gespenstig der Wiederhall ─) nicht in den tosenden Wasserschwall, ─ nein,
in das Steingerölle, ─ von welchem Feu'r und Dampf aufquoll wie von
der Hölle. ─
Uns ergriff ein Grauen, ─ das uns nicht mehr ließ zur Brücke schauen.
─ Es war uns nicht mehr plauderig, ─ und niemand war mehr zauderig,
─ die Luft selbst schien uns schauderig. ─ Jch rief: Weg, weg! ─ von
diesem Teufelswegsteg, ─ damit uns nicht auch wegfeg ─ mit Getöse ─
der Böse, ─ der Mächtige, ─ Verdächtige, ─ Niederträchtige, ─ der das
Edle verdächtigt, ─ sich der Guten bemächtigt. ─ Jch hab' in der Regel ein
Erzherz, ─ doch heute fühlt' ich Herzschmerz, ─ hier fehlte mir der Erzscherz, ─
statt dessen drückte Erzschmerz. ─
Wir rannten nach der Ebene zurück, ─ und kamen gesund an zum
Glück! ─ Nie hab' ich wieder den Zauberberg erklommen, ─ nie wieder zu
Gesicht bekommen: Teufelsbrücke, ─ Teufelslücke, ─ Teufelstücke.
Anleitung zur Kritik. Um Besserungsfähiges zu entdecken, möge
man unter Berücksichtigung des seither Gelernten prüfen: a. die logische Entwickelung
des Stofflichen, Jnhaltlichen, b. das Grammatikalische und Syntaktische,
(vgl. S. 18) c. die Reime (vgl. S. 51) u. s. w. Man ersetze
Reime wie geraden ─ waten, beschwerlich ─ gefährlich, Fels ─ Schmerz &c.
1. Hat sich der Lernende in der gereimten Prosarede genügend
geübt, so muß er, ─ um methodisch weiter zu schreiten, ─ die wenig
schwierige Form wählen, welche den gleichen Reim in den geraden
Zeilen verlangt, die ungeraden jedoch ungereimt läßt. Es ist dies die
Form des sogenannten Ghasels, oder besser: des Kita's (d. i. eines
wirklichen Bruchstücks eines Ghasels), zu welchem somit der Lernende
auf ungesuchter Weise wie von selbst gelangt.
2. Die Ghaselenform eignet sich ─ was hier schon bemerkt sein
soll ─ für einen Stoff, bei welchem Gedanke und Gefühl um einen
bestimmten Punkt sich konzentrieren, bei welchem der Dichter nur ein
gewisses Grundgefühl hat und die gleichen Erscheinungen stets wiederkehren.
3. Wenn dem Lernenden die Gewinnung des Reimes schwer wird,
so möge er den Jnhalt der beiden Zeilen so lange wenden und ver= [58]
stellen, bis das Reimwort sich ergiebt; z. B. beim Reime üren kann
der Satz:
so gewendet werden:
Der Satz: Der Feind verlangt die That ist beim Reime eint
etwa so zu wenden: Die That verlangt der Feind; beim Reime
angt: Der Feind die That verlangt u. s. w.
4. Jst das Reimwort nicht schon im Textessatz gegeben, so muß
es durch Herbeiziehen eines sinnverwandten Wortes ersetzt werden.
Beim Reime still wird z. B. das obige Beispiel etwa so heißen müssen:
Die That der Gegner will; beim Reimwort flucht: == die That
der Gegner sucht u. s. w.
5. Man vermeide schon hier abgenützte Reime. Ein Kunstmittel,
diese Reime erträglich zu machen, besteht darin, daß man ihnen durch
Verschmelzung mit einem anschaulichen Substantiv gesteigerte Bedeutung
oder den Charakter des Neuen verleiht, z. B. Herzenswonne, Freudensonne;
Freundesliebe, Freudentriebe; Seelenschmerz, Felsenherz u. s. w.
6. Zur Erreichung größtmöglicher Übung geben wir von einigen
der gebräuchlichsten Reimformen je ein Beispiel.
Aufgabe 1. Weiblicher Reim. Vokal a im Endreim ade. Das
Metrum sei der trochäische Viertakter, der Endreim erscheint in Zeile
1 und 2 und dann in allen geradzahligen Zeilen.
Stoff.
Jeder Blume am Meeresgestade |
und jedem Wasserschaum im Meere, |
jedem Sterne am Himmelszelte, | jedem
Sonnenstrahle | habe ich meine
Liebesschmerzen | thränenden Auges
fruchtlos vorgesungen. | nun will ich
sie den Steinen vorsingen, | um sie
abzuladen. | Möge der härteste aller
Steine | mir Gnade schenken!
Lösung. Von Moritz Graf Strachwitz.
Aufgabe 2. Weiblicher Reim. Vokal u im Endreim uche. Metrum:
der jambische, katalektische Viertakter. Reimstellung wie früher.
Stoff.
Dein Dach, o Buche, barg mich
vor Wind und Wetter wie ein Regen=
Lösung. Von Fr. Halm.
[59]
tuch; | gastfreundlich rauschtest du
meinem Besuch entgegen. | Jch segne
dich dafür, und mein Fluch treffe den, |
der dir mit Axt und Säge naht. | Zwar
tönt Fluch und Segen nicht aus einem
Zauberbuch. | Aber wie du mich mit
Wohlgeruch umweht hast, | so weht aus
frommem Dichterspruch Weiheduft entgegen.
|
Aufgabe 3. Männlicher Reim. Vokal o im Endreim or. Das
Metrum sei der jambische Viertakter. Reimstellung wie in Aufg. 1.
Stoff.
Die Liebe rief von der Himmelsthüre:
| Wer ist, der schaut zu Gott herauf?
| Wir sind, die schau'n empor zu
Gott, | rief zu der Lieb' eine Anzahl
Priester. | Die Liebe rief: Wie könnt
ihr schau'n? | Vor eurem Antlitz hängt
ein Schleier, | er ist gewebt aus Gier
und Haß, | durch den das Licht seines
Scheines beraubt wurde. | Vor eurem
trüben Blicke nimmt | die Sonne Wolkenschleier
an. | Die Gnade, die auf
Wolken sitzt, | hört nicht, was euer
dumpfer Ruf verlangt. | Und die Erhörung
steigt nicht herab, | wie euer Gebet
es wünscht. | O thut, eh' ihr zum
Himmel schaut, | euch Erdendunkels ab
zuerst. | Statt Gier und Haß nehmt
Lieb ins Herz, | und schaut zur Gottheit
dann hinauf. |
Lösung. Von Fr. Rückert.
Aufgabe 4. Männlicher Reim. Vokal i im Endreim icht.
Metrum: Der jambische Fünftakter. Reimstellung wie früher.
Stoff.
Solange die Sonne den Nachtflor
nicht durchbricht, | haben die Tagesvögel
keine Zuversicht. | Die Sonne
weckt die Tulpen auf; | daher sollst
Lösung. Von Fr. Rückert.
[60]
auch du jetzt erwachen, o Herz. | Das
Schwert der Sonne gießt im Morgenrote
| das Blut der Nacht aus, Sieg
erfechtend. | Voll Schlafs das Auge,
sprach ich: Es ist Nacht; | er sprach:
Aber nicht vor meinem Antlitze. | Solang
es graut, ist der Tag zweifelhaft;
| wer zweifelt am hellen Tage
noch an der Sonne? | Jm Osten
steht die Sonne, ich steh' im Westen, |
ein Berg, an dessen Haupt der
Schein sich spaltet. | Jch bin der
Schönheitssonne blasser Mond; | schau
weg von mir, der Sonn' ins Antlitz. |
Dschelaleddin nennt sich das Licht im
Ost, | des Wiederschein auch zeigen
meine Verse. |
Aufgabe 5. Gleitender Reim. Vokal a im Endreim altige.
Metrum: Der trochäische katalektische Viertakter.
Stoff.
Preis dir, allgewaltige, | vielgestaltige
Liebe! | Licht und Schatten und
das mannigfaltige Farbenspiel, | vereinige!
| Du bist eine strömende, | unerschöpft
reichhaltige Formenquelle. |
Fördere ans Licht | alles, was Lichtgehalt
hat. | Laß im Licht gedeihen
und blühen | alles, was Lichtgestalt
hat. | Mit deinem Hauche gleiche |
jeden Zwiespalt aus. | Und laß vor
deinem Blick alles, | was Mißgestalt
hat, vergehen. | Wie die Rosen sich
aufblättern, | so blättre die Falten
meines Gemüts auf | und ich singe
dir noch lange | die mannigfaltigsten
Lieder. |
Lösung. Von Fr. Rückert.
Aufgabe 6. Gleitender Reim. Vokal a im Endreim astete.
Metrum: Der jambische Viertakter.
Stoff.
O Zeit, in der ich rastete, | in
welcher mir nichts zur Last fiel, | in
der ich noch so wohlgemut | am Tisch
der Ruhe als Gast saß, | in der ich
nicht nach falscher Gunst | mit eiligen
Schritten mich bemühte. | Du flohst,
es rette mich das Glück, | da es weiß,
wie lang ich entbehrte, | wie lange ich
keine schöne Hand | mit meiner Hand
berührte. |
Lösung. Von Platen.
Aufgabe 7. Ghaselenreim. Diphthong ei im Endreim eise.
Metrum: Der jambische Viertakter.
Stoff.
Du bist mir der wahre Weise, | dies
sagt mir leise dein Auge. | Du bist
mir auf dieser langen Reise | ein Gastfreund
ohne Hehl. | Dein Leben liefert
mir den Beweis, | daß es auf Erden
noch Liebe giebt. | Du bringst mir den
Moschusduft der Liebe | und die Speise
der Wahrheit. | Jn deinem lieben
Kreise | wird mir's so leicht, so warm. |
Du bist eine Perle, | mir über alles
wert. |
Lösung. Von Platen.
Aufgabe 8. Ghaselenreim. Vokal e im Reim erz sein. Metrum:
Der jambische Viertakter.
(NB. Das Beispiel ist zugleich Probe des schwebenden Reims.)
Spielzeug.
Stoff.
O laß, was ich im Scherze gesagt,
| nicht ganz als Scherz dir gesagt
sein! | Besieh den Scherz, bevor du
lachst, | und du wirst tiefen Schmerz
entdecken. | Betrachte dein Spielzeug,
ehe du es zerbrichst, | und du wirst
finden, daß es ein Dichterherz ist. |
Lösung. Von Robert Hamerling.
1. An die Übungen in der Ghaselenform schließen sich die Übungen
in abwechselnd reimlosen und gereimten Verszeilen eng an. Sie sind
in ihrer Anwendung noch leichter als die Ghasele, da ja nur immer
ein Reim in der Strophe nötig ist. (Wir kommen bei der gebrochen
geschriebenen Nibelungenstrophe noch einmal auf diese Form zurück.)
2. Daß sich bei Zusammenstellung von je 2 ungereimten und
2 gereimten Verszeilen vierzeilige Strophen ergeben, ist nebensächlich,
kann aber immerhin als Überleitung zur Strophenbildung beachtet
werden.
3. Die Bildung reimloser und gereimter Verszeilen ist deshalb
sehr leicht, weil das große Material innerhalb zweier Zeilen zweifelsohne
mindestens ein Reimecho in sich schließt.
4. Mehr als 10 Takte sollten bei diesen Übungen beide Verszeilen
(mit Rücksicht auf die Architektonik des Reimes) nicht betragen.
5. Dilettanten wenden häufig den jambischen hyperkatalektischen
Quinar ohne ein strophisches Charakteristikum an. Noch beliebter sind
bei ihnen wegen leichter Handhabung die jambischen Viertakter. Der
Lernende thut gut daran, bei denselben die gereimte Zeile je um
1 ganzen oder ½ Takt zu verkürzen, weil dadurch der Abschluß markanter
wird.
Aufgabe 1. Männlicher Reim. Nachstehender Stoff soll in
jambischen Dreitaktern gegeben werden, von denen je die geraden,
reimlosen hyperkatalektisch (⏑ – ⏑ – ⏑ – | ⏑) sein mögen, während
die gereimten akatalektisch sind.
Liebesahnung.
Stoff.
Wohl schmücket unsere Jugend |
manch schöner Kranz; | ein sonniger
Äther | beglänzt sie, | ein warmer
Mai | bringt Blumen | und frohe
Lieder. | Doch um Eines | ist sie besonders
zu beneiden: | es sind nicht
die roten Wangen | und nicht das
rasche Blut, |
Lösung. Von Franz v. Kobell.
es ist die Ahnung der Liebe, | wenn
sie im Herzen keimt, | wenn sie die
Erde | zum Himmel verklärt, | wenn
die Welt | ihr Abglanz wird, | wenn
sie alles verschönt | mit ihrem Zauber.
| O daß die flüchtige, teilnamslose
Zeit | nicht verweilt | an jener
Lust des Daseins, | die uns der rasche
Wechsel | entzieht, | als ob den Himmel
| sein rasches Glück reue, | als
wäre es wie verloren, | ja, als wäre
es schade darum, | wenn er es der
armen Erde | zum vollen Besitz überließe.
|
Aufgabe 2. Weiblicher Reim. Nachstehender Stoff soll in
jambischen Viertaktern gegeben werden; die geraden, reimlosen
Zeilen sollen akatalektisch (⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑ –), die gereimten dagegen
katalektisch (⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑) sein.
Wasser und Wein.
Stoff.
Der stolze Wein sprach einst zum
Wasser: | Jch tafle mit den Fürsten; |
alle Ritter und Edle | dürsten nach
meiner Quelle; | ich befinde mich in
goldenen Bechern | und werde hoch
gepriesen. | Dir wird davon | nichts zu
teil. | Darauf entgegnete das Wasser: |
Jch bin mit meinem Schicksal nicht
unzufrieden; | im Morgenglanze küßte
mich | ein Mädchen von der Rose
hinweg, | und hat die Blume mir anvertraut,
| daß ich sie frisch erhalten
soll; | ich habe der Rose auch die
Knospen | gar kunstreich entfaltet. |
Lösung. Von Franz v. Kobell.
Jch danke dem Geschicke | für die Gunst
eines schönen Mädchens | und überlasse
dir gern deinen Prunk | und
deiner Edlen Blicke. | Schweigend vernahm
dies der Wein | und schalt hinfort
das Wasser nicht mehr. ─ Ja, schöne
Mädchen gelten zu allen Zeiten viel |
und werden jederzeit viel gelten. |
1. Jm Gegensatz zu den Gedichten mit abwechselnd reimlosen und
gereimten Verszeilen enthalten alle Reimgedichte lediglich gereimte Verse
und zwar in den verschiedensten Stellungen und Kombinationen.
2. Die wesentlichen Kombinationen in der Reimzahl und =Stellung
werden in der Strophenlehre zur Anschauung gebracht werden. Hier
beschränken wir uns auf drei charakteristische Formen.
a. Reimpaare.
Aufgabe 1. Nachstehender Stoff ist in jambischen Viertaktern
wiederzugeben. Männliche und weibliche Reime sind je nach Bedürfnis
gestattet.
Stoff.
Der jugendliche Beherrscher einer
halben Welt erhielt in seinem Königszelte
die Nachricht, daß von all seinen
Kriegern nicht ein einziger zurückgekehrt
sei, daß die Krieger scharenweise
an einer Quelle verschwänden. Da
besann er sich nicht lange. Rasch bestieg
er sein Schlachtroß und ohne jegliches
Gefolge sprengte er dem Bache
zu. Dort angelangt band er eilig
sein Roß an einen Baum und erklomm
nun den Hügel, wie es seine
Krieger auch gemacht hatten. Zum
erstenmal erfaßte ihn die Lust, frei
zu wandern. Er vergaß Stolz und
Eitelkeit seiner Würde und fühlte
menschlich rein, wie entzückend die
Natur sei.
Lösung. Von Karl von Thaler.
b. Drei Reime.
Aufgabe 2. Ein Reimgedicht mit drei einander folgenden
Reimen, also nach dem Reimschema: a a a, b b b &c. &c. Jambisch
anapästischer Rhythmus. Dreitakter; die das Ganze abschließende
Pointe kann ausnahmsweise in einem Viertakter gegeben werden.
Rachelust.
Stoff.
Möchte doch das Veilchen, das ich
bringe, | und das Liedchen, das ich
singe, | zu deinem Herzen sprechen. |
Jch habe dir das Veilchen gebracht |
und das Lied gesungen | und du hast
nicht an mich gedacht. | Ein andrer
ist dir zugeneigt | und bringt dir ebenfalls
Blumen und Lieder, | dieser hat
deine Gunst erworben. | Wäre ich doch
dieser andre, | um mich rächen zu
können! | Nie würde ich deine Wünsche
erfüllen; | und wenn du mich noch so
sehr bitten würdest, | Lieder | und Veilchen
würde es nicht mehr geben. | O
wäre ich doch der andre! |
Lösung. Von Franz v. Kobell.
c. Gekreuzte Reime.
Aufgabe 3. Ein Reimgedicht mit ununterbrochenen Reimversen.
Jambische Viertakter. Die ungeraden Zeilen können hyperkatalektisch
sein, um weibliche Reime zu erhalten, dagegen sollen
die geraden Zeilen männlich reimen. Das Gedicht soll gekreuzte
Reime (a b a b) erhalten.
Waldleben.
Stoff.
O geheimnisvolles Träumen | der
vom Duft durchzogenen Waldesnacht. |
O tritt ein, dann erblüht goldne
Märchenpracht | aus Büschen und
Bäumen. | Jn grünem Golde | spielt
das Licht der Sonnenstrahlen. | Die
neckende Blütendolde des Grases streift |
Lösung. Von Otto Roquette.
[66]
den Blumen ums Gesicht; | die Riesentanne
erhebt sich rauschend | aus dem
umgebenden Buchengrün, | und erzählt
von der Vorwelt in dunklen
Worten, | als Greis, der doch immer
noch lebenskühn ist; | und an ihrer
knorrigen Wurzel | entspringt der
Bach, | der immer neue Frühlingslust
bringt, | wenn auch mancher Ast verdorrte.
| So tränkt mit jugendlichen
Quellen | die ewige Lebensflut | den
reinen Trieb verglühter Sonnen, | den
weder Sturm noch Glut zu welken vermochte.
|
1. Wenn wir auch nicht der Ansicht sind, daß in unserer poesiearmen
Zeit Dichterschulen wie in Griechenland zur Zeit der Sappho
und des Alkäos &c. erstehen werden, so meinen wir doch, daß in unsern
geselligen Vereinigungen viel für Pflege der Poesie geschehen könnte,
und daß daher eine Anregung hierzu willkommen sein dürfte. Gebildete
Männer und Frauen, Dichter und Dichterfreunde &c., könnten sich unter
versgewandter Leitung vereinigen, um dichterische Übungen zu veranlassen,
Jnteresse für unsere dichterische Kunst zu wecken und das
Vestafeuer deutscher Poesie vor dem Erlöschen zu bewahren.
2. Zur Zeit des Meistersanges waren es schlichte Handwerker,
welche sich (mit freilich nur geringem Verständnisse) der lyrischen Poesie
annahmen und ohne Poetik, ohne Kenntnis der poetischen Gesetze die
Meisterschulen in Nürnberg, Mainz, Straßburg, Augsburg, Frankfurt,
Regensburg, Memmingen &c. gründeten. Metrum, Reim, Melodie &c.
wurden bei ihren Nachahmungen der Minnesinger genau beachtet und
bildeten die sogenannte Tabulatur. Schüler konnte jeder sein; Schulfreund
hieß, wer die Tabulatur kannte; Singer, wer einige Melodien
zu singen vermochte; Dichter, wer Lieder nach Melodien anderer zu
bilden verstand; Meister, wer neue Töne erfand. Es bestanden also
5 Grade. Auf einer Art Bühne (Gerüste, Gemerke) versammelten sich
die Vorstände (Merker). Der Singer stellte sich auf den Singstuhl
(eine Art Kanzel). Der erste Akt war das Freisingen. Vier Merker,
von denen einer die Ordnung bestimmte, waren Richter. Der eine
verglich den Jnhalt, ob er auch streng biblisch sei. Der zweite untersuchte,
ob den Regeln des Lieds (Bars) genau entsprochen wurde. Der
dritte prüfte den Reim, der letzte die Melodie. Der 1. Preis (silbernes [67]
Gehäng mit einer Münze, den König David als Harfenspieler darstellend),
sowie der 2. Preis (seidene Blumen) gaben Anrecht auf die
Stelle eines Merkers.
3. Ein solcher Apparat war damals nötig, um Eifer zu wecken
und Aufmerksamkeit zu erzielen, damit Wesen wie Form gewahrt wurde.
Das genießende Beschauen der dichterischen Gaben erbte sich eben so
traditionell von Generation zu Generation weiter wie die Kunst, regelrecht
zu schaffen. Es dürfte verdienstlich erscheinen, neuerdings eine Tradition
zu begründen, die fortwirkt, ohne wie bei jenen zu verknöchern. Wir
sind daher mit Vereinigungen zufrieden, welche das genießende Beschauen
unserer dichterischen Gaben bezwecken, daneben aber auch Minderbegabte
in die Technik der Poesie einzuführen vermögen.
4. Da die Umbildung mittelhochdeutscher Gedichte ins Hochdeutsche
ebenso leicht auszuführen sein dürfte als die Übertragung in andere
Versformen und Rhythmen, und da es in pädagogischer Beziehung für
den Lernenden ermutigend ist, den Erfolg seiner Thätigkeit zu sehen,
so widmen wir der Übertragung einzelner Dichtungen gebührende Rücksicht.
5. Wir bemerken, daß in allen jenen Fällen die Veränderung
des Ausdrucks, ja, selbst die Einfügung eines neuen Gedankens gestattet
ist, in welchen das hochdeutsche Reimwort dies nötig macht.
6. Das Reimgeschlecht darf je nach Bedürfnis geändert werden.
Aufgabe. Nachstehendes Gedicht von Walther von der Vogelweide
soll ins Hochdeutsche übertragen werden.
Gefährdetes Geleite.
Original. (Ausg. v. Frz. Pfeiffer.)
Ich saz ûf eime steine:
und dahte bein mit beine,
dar ûf sast' ich den ellenbogen;
ich hete in mîne hant gesmogen
daz kinne und ein mîn wange.
dô dâhte ich mir vil ange,
wes man zer werlte solte leben.
dekeinen rât kond' ich gegeben,
wie man driu dinc erwurbe,
der keines niht verdurbe.
diu zwei sint êre und varnde guot,
der dwederz dem andern schaden
tuot,
daz dritte ist gotes hulde,
der zweier übergulde:
Lösung. Von K. Simrock.
die wolte ich gerne in einen schrîn.
jâ leider des enmac niht sîn,
daz guot und werltlich êre
und gotes hulde mêre
zesamene in ein herze komen.
stîg' unde wege sint in benomen:
untriuwe ist in der sâze,
gewalt vert ûf der strâze,
frid' unde reht sint sêre wunt:
diu driu enhabent geleites niht,
diu zwei enwerden ê gesunt.
1. Viele unserer Fabeldichter haben ältere Stoffe abweichend von
den älteren Quellen oder mit Zusätzen neu bearbeitet, was zur Lehre
dienen kann.
2. Die beste Belehrung, wie aus einer Fabel durch Fortspinnen
des Geschichtlichen der Fabel und durch Veränderung einzelner Umstände
eine neue Fabel gebildet werden kann, giebt Lessing in seinen
„Abhandlungen über die Fabel“. (Der Lernende vgl. das Wesentliche
II, 166 unserer Poetik.)
3. Der Fabeldichter braucht sich nicht sklavisch streng an ein bestimmtes
Versmaß zu halten; er kann auch je nach seinem Stoffe
einzelne Zeilen verkürzen oder verlängern, sofern die Pausen in Anrechnung
kommen.
4. Bei der Fabel kommt es vor allem auf Einfachheit der Darstellung
an, auf kindlich=naive Ausdrucksweise.
Aufgabe 1. Nachstehender Stoff soll im jambischen Rhythmus
erzählt werden. Die Länge der Zeilen und der rhythmischen
Reihen ist dem Belieben anheimgegeben.
Stoff.
Ein alter Haushahn hielt auf
einer Scheuer Wache. | Er sah einen
Fuchs herbei eilen. | Schon von weitem
rief dieser dem Hahne zu: „Freue dich,
Freund, | ich bringe frohe Kunde: |
Der Krieg der Tiere unter einander
hört auf. | Von nun an wird
Friede und Freundschaft herrschen. |
Lösung. Von Fr. v. Hagedorn.
[69]
Jch bringe auch dir den Frieden. |
Komme herab, daß ich dich herzen kann.“ |
Jn diesem Augenblicke schielte der
Hahn nach der Seite. Als der Fuchs
nach dem Grunde fragte, antwortete
der Hahn: „Halt, Greif und Bellard, |
die Hunde, welche du kennst, sehe ich
daher kommen.“ | Da ergriff der Fuchs
die Flucht: „Was ficht dich an?“ rief
ihm der Hahn zu. | „Gar nichts,“
erwiderte der Fuchs im Davonlaufen,
„der Streit ist ganz gewiß zu Ende, |
aber ich fürchte, daß die Hunde noch
nicht davon unterrichtet sind.“ |
Aufgabe 2. Eine zweite Fabel im jambischen Rhythmus ist
zu bilden. Man möge Alexandrinerverse wählen. Zuweilen kann
auch ein fünf=, vier- oder dreitaktiger Vers eingefügt werden,
da die Pausen in Anrechnung gebracht werden dürfen.
Die Milchfrau.
Stoff. (Nach Lafontaine's bekannter Fabel.) Eine Bauersfrau, geliebt
von ihrem Manne und gesund an Leib und Seele, ging am frühen Morgen
zur Stadt. Auf ihrem Kopfe trug sie einen großen Topf mit vier Stübchen
süßer Milch. Sie eilte, denn sie wollte die erste Milchverkäuferin in den Straßen
der Stadt sein. Sie dachte bei sich: Die erste Milch ist teuer, und wenn
ich Glück habe, nehme ich mindestens sechs Groschen ein; für diese kaufe ich
fünfzig Eier; diese geben fünfzig Hennen, davon verkaufe ich soviele, als für
den Ankauf eines kleinen Schweines nötig sind. Wie glücklich macht der
Gedanke, meinem Manne eine Freude zu bereiten! Wie mag er aufschauen,
wenn das Schwein erst gemästet sein wird und ich dafür eine Kuh mit einem
Kälbchen erhandeln kann. Das Kälbchen will ich täglich auf die Weide bringen:
„Hei,“ rief sie und that vor Freude einen Sprung. Sie wollte sagen: „Hei,
wie lustig wird es hüpfen und springen!“ Da lag auch schon der Topf in
Scherben am Boden. Mit Schrecken sah sie alle ihre Pläne vernichtet. Eine
Weile betrachtete sie sprachlos die weiße Milch auf dem schwarzen Boden.
Dann wandte sie sich weinend der Heimat zu. Der Mann beruhigte sie, indem
er sie ermahnte, keine Luftschlösser zu bauen. „Das wahre Glück“, so setzte
er bedeutungsvoll hinzu, „besteht in der Zufriedenheit.“
Lösung. Von Gleim.
(Man vgl. auch die Bearbeitung II, 229 unserer Poetik.)
C. Mannigfaltige Umbildungen der nämlichen Gedichte.
Aufgabe. Zur Gewinnung größtmöglicher Fertigkeit versuche
man, selbst auszuwählende kleinere mittelhochdeutsche Gedichte lautlesend
umzubilden:
1. in regelrechte hochdeutsche Verse mit reinen Jamben,
2. in trochäische Verse mit reinen Trochäen,
[71]3. in jambische Verse mit eingefügten Anapästen,
4. in trochäische Verse mit eingefügten Daktylen. ─
5. Weiter möge man jeden Vers dieser Gedichte zuerst um je
einen Verstakt verlängert, dann um je einen Verstakt verkürzt
vorlesen, und zwar ebenso im jambischen, wie im trochäischen
Metrum.
6. Endlich können Übungen im Reimgeschlecht und in der
Reimart erfolgen. Diese Übungen werden den Lernenden befähigen,
mit Erfolg zur Strophenbildung überzugehen.
Beispiele: Zu Beispielen für 1─4 empfehlen wir: „Deutsche
Liederdichter des 12. bis 14. Jahrh. Eine Auswahl von Karl
Bartsch. 2. Aufl. 1879. Der angefügte, erschöpfende Glossar macht dieses
Buch ebenso für Vorlesungen, wie besonders für unseren Zweck wertvoll.
Ein Beispiel für Ziffer 5 und 6 ist Rückerts Parabel „Der thörichte
Mann“, welche der Dichter nach der im jambischen Quinar geschriebenen
Übersetzung Hammer-Purgstalls aus dem Divan Mewlane Dschelaleddin's
(vgl. Hammer-Purgstalls Geschichte der schönen Redekünste Persiens, Wien 1818)
in jambischen Viertaktern (also um 1 Takt verkürzt) und mit meist abweichenden
Reimen nachgedichtet hat. ─
1. Übungen in der deutschen Strophik (d. i. im kunstvollen Bau
deutscher Strophen) wurden bis jetzt systematisch nirgends angestellt.
Man kannte antike Strophen und pflegte sie: von einer deutschen
Strophik sprach ─ Seyd und Wessenberg ausgenommen ─ überhaupt
niemand. Auch die Handbücher der Poetik behandelten die deutsche
Strophenbildung höchst oberflächlich oder gar nicht, bis wir dieselbe
in unserer Poetik zum erstenmale zum System erheben und eine deutsche
Strophentheorie schaffen konnten.
2. Die Strophe verlangt nach Jnhalt und Form einheitlichen
Bau und bestimmte Abgeschlossenheit, um als abgerundetes Teilganzes
zu erscheinen.
3. Somit ist das bei der antiken Strophe erlaubte Hinüberziehen
des begonnenen Satzes in die folgende Strophe in unserer deutschen
Strophe unstatthaft.
4. Eine Ausnahme ist zu gestatten, wenn die fortlaufende Handlung
eines Stoffes ein Aufhören oder einen syntaktischen Ruhepunkt
nicht gestattet. Jn jedem Falle muß sich aber das Strophenschema
dem Ohre und dem Auge erst sicher eingeprägt haben. Nie darf also
das Enjambement am Anfange eines Gedichts eintreten; also niemals
schon am Ende der 1. oder 2. Strophe.
5. Zur Einführung in die Technik der Strophe, die eine Naturnotwendigkeit
unserer Sprache ist, beschränken wir uns (anschließend
an das im 1. Bd. unserer Poetik Gelehrte) lediglich auf die praktischen
Gesichtspunkte, indem wir darlegen:
I. Die Anfänge der Strophenbildung und die Entwickelung derselben,
II. Die Länge der Verszeilen und der Strophen,
[73]III. Rhythmus und Reim bei den Strophen,
IV. Verbindung längerer Strophen und das strophische Charakteristikum,
V. Einteilung des Gedichtstoffes.
1. Der Anfang aller Strophenbildung ist die Zweizeile (Distichon,
Reimpaar). Diese ist die elementarste Form der Strophe.
2. Schreibt man die Zeilen des Reimpaars gebrochen, so entstehen
Vierzeilen.
3. Fügt man der Zweizeile einen einzeiligen Abgesang an, so
entsteht die Dreizeile.
4. Durch Anfügen dieses Abgesangs an die Vierzeile entsteht die
Fünfzeile, welche zur Sechszeile hindrängt, sofern ihre ersten vier
Zeilen aus Reimpaaren bestehen. Die 5. Zeile wird nämlich in
diesem Fall als halbes Reimpaar empfunden, das seine zweite, fehlende
Hälfte verlangt.
5. Die Vierzeile mit dreizeiligem Abgesang ergiebt die Siebenzeile.
6. Durch Brechung der Langzeilen bei der Vierzeile entsteht die
Achtzeile.
7. Die Neunzeile baut sich auf aus 2+2+5, oder 3+3+3.
8. Die Zehnzeile setzt sich zusammen aus 4+4+2, seltener
(namentlich bei Dilettanten) aus 5+5 u. s. w.
9. Die Ausdehnung der Strophe geht meistens nur bis zur Oktave
oder auch noch bis zur Decime. Doch giebt es noch zahlreiche
Elf=, Zwölf=, Dreizehn- und Vierzehnzeilen. Übervierzehnzeilige Strophen
gehören zu den Seltenheiten.
10. Jede Strophe besteht aus Gliedern und Untergliedern. Meist
bilden Vordersatz und Nachsatz ein Glied.
Die Periode:
besteht aus 2 Gliedern von je einem Vordersatz und einem diesem entsprechenden
Nachsatz. Jeder Satz bildet eine Verszeile, so daß die
ganze Periode eine symmetrische, vierzeilige Strophe ergiebt, welche
Heine also gestaltet hat:
11. Ähnlich ist der Bau jeder Strophe zu analysieren.
12. Bei Beurteilung der Strophenglieder werden auch die Pausen
hinzugerechnet.
A. Zeilenlänge.
1. Die Zeilenlänge hängt ab von der Stimmung und vom Stoffe.
Von der Stimmung: Leidenschaftlich erregter Jnhalt läßt sich
nicht in knappe Formen einzwängen, denn die leidenschaftliche Sprache
ist wortreich und bedarf eines weiten Maßes. (Die Leidenschaft an
sich spricht nicht langatmig. Aber der dichterische Ausdruck der Leidenschaft
ist stets wortreich.)
Dagegen empfehlen sich kürzere Zeilen für wenig erregten, spielerischen,
tändelnden Jnhalt (Beispiel: Rückerts „Alle die Dingerchen“),
ferner für Niedliches (Beispiel: Goethe's „Ein Blumenglöckchen vom
Boden hervor), für kaleidoskopisches Vorbeihuschen, bewegliches Leben
(Beispiel: Goethe's „Verschiedene Empfindungen an einem Platze“), für
entschlossenes Vorgehen (Beispiel: Goethe's „Frech und froh“), für
neckisches Wesen (Beispiel: Goethe's „Gefunden“), für raschen Wechsel
des Gefühls, Entschiedenheit, Energie, wie für leidenschaftsvolles Vorgehen
&c. u. s. w.
Vom Stoffe: Bei größerer Ausbreitung des Stoffes, bei breiterer
Aufrollung der Gedanken, bei Darlegung eines reichen Stoffes,
bei dem wir uns unbeschränkt ausgedehnt äußern wollen, sind längere
Zeilen am Platze.
2. Stellt man alle lyrischen Gedichtstrophen nebeneinander, wie
wir sie in der That von Kürnberger bis in die Neuzeit vereinen konnten,
so ergiebt sich als mittlere Ausdehnung des lyrischen Verses (des Liedverses)
der Viertakter, und zwar in allen Rhythmen.
3. Der Viertakter ist auch der Vers für die meisten Epen, selbst
für unser liedartiges nationales Nibelungenepos, sofern man unter
Hinzurechnung der Jncisionspausen den Nibelungenvers als einen
doppelten Viertakter (Tetrameter) ansehen könnte. Besonders das
romantische Epos hat diesen Vers mit Vorliebe angewandt.
B. Strophenlänge.
4. Es ist eine interessante Erscheinung, daß die meisten Dichter
selbst bei kurzzeiligen Gedichten kurze Strophen gewählt haben. Viel= [75]
leicht ist dies im Schönheitsgefühl begründet, welches eine gewisse Proportionalität
der Hauptteile zu den Unterabteilungen verlangt.
Leider ist die Strophenlänge bei vielen Dichtern von der zufälligsten
Willkür oder dem unwillkürlichsten Zufall abhängig. Man merkt ihrer
Planlosigkeit gar bald an, daß sie über die Symmetrie der Strophen
und deren architektonischen Aufbau nie nachgedacht haben.
C. Normen für die Zeilen- und Strophenlängen.
5. Jm allgemeinen wird wohl hinsichtlich der Ausdehnung von
Zeilen und Strophen Folgendes festzusetzen sein:
a. Bei größerer Ausbreitung des Stoffs, bei breiterer Aufrollung
der Gedanken, wie bei Darlegung eines reichen,
ernsten Jnhalts sind längere Zeilen und kürzere Strophen
am Platze.
b. Die Zeilenzahl der Strophe entspricht den Gruppen, in
welche der Stoff eingeteilt wird.
c. Wenn die Kurzzeilen ohne rhythmischen Absatz zusammen
gelesen werden können, so daß mehrere derselben wie eine
einzige Zeile erscheinen, so ist eine längere Ausdehnung der
Strophe bei Kurzzeilen wohl gerechtfertigt.
d. Jm andern Fall ist die kurze Strophe berechtigt, wenn die
Langzeile mehrere Kurzzeilen vereinigt und in 2, 3 oder
gar 4 Teile (Zeilen) geschrieben werden könnte, wie dies
beispielsweise in Anastasius Grüns Antworten („Dichter,
bleib' bei deinen Blumen! Nicht an Thronen frech gemeistert“),
oder in Platens „Nächtlich am Busento lispeln“ oder
in vielen Ghaselen Rückerts (vgl. z. B. S. 320 in Östliche
Rosen, der Ausg. von 1822) &c. der Fall ist.
6. Platen scheint bei seinen doppelzeiligen Strophen von dem
Satze ausgegangen zu sein, daß sich das Ganze zum Hauptglied verhalten
müsse, wie das Hauptglied zu den Nebengliedern. Dies ist
jedenfalls zu beachten, denn es bedeutet die Anwendung des Gesetzes
vom goldenen Schnitt und der Proportionalität. (Poetik I, 84.)
A. Rhythmus.
1. Bezüglich des Rhythmus ist in der Praxis vorerst das eine
zu beachten, daß sich für lebhaftes frisches Fortschreiten der Jambus
eignet; für eiliges Aufwärtsdrängen und Weiterjagen ─ also für
Marschlieder, Spottgedichte ─ der Anapäst; für elegisches Jnsichkehren,
für Ernstes, Gemessenes, Beschauliches der Trochäus; für leidenschaftvolles
Reflektieren der Daktylus &c. &c.
B. Reim.
2. Jm allgemeinen ist der Reim der Strophen vom Charakter
eines Gedichts abhängig. Soll dieses der Ausdruck von Kraft und
Energie sein, so muß es männliche Reime haben, während ein tieflyrisches
Gedicht (wie z. B. das Sonett) weibliche Reime beansprucht.
Jn der Oktave mit ihren weichen Vordersätzen und bestimmt abschließenden
Nachsätzen können weibliche mit männlichen Reimen abwechseln.
Ähnlich ist es bei ähnlichen Strophenformen. (Vgl. 7. Hauptstück.)
3. Strophen lebhaften, beweglichen, übersprudelnden, heiteren Jnhalts
sollten den daktylischen (schwebenden) Reim tragen, wobei selbstredend
der Reim jeder letzten Verszeile der Strophe männlich sein
müßte.
4. Bei Gedichten mit heiterer Grundstimmung sollten insbesondere
Reimklänge mit den hellen Vokalen i und e gewählt werden, während
in ernsten Gedichten nur männliche oder weibliche Reime mit den
dunklen Vokalen a o u am Platze sind.
5. Kunstvollere Reime, Fremdwörter in der Reimstelle &c. können
sich anerkannte Dichter gestatten; bei einem Dichterling, der sich durch
fabrikmäßige Produktion von Oktaven, Terzinen oder andern nicht einmal
verstandenen Formen den Charakter eines Dichters verleihen
möchte, nehmen sie sich mindestens sehr sonderbar aus. Diese ungewohnten
Reime meistern unsere Sprache und lenken vom Jnhalt ab.
Wie oft verstümmelt der komische Reim die Wortform, wie oft bringt
er minder bedeutende Anschauungen in die Reimstelle!
6. Um die Strophe im Anfange eines Gedichtes schon durch den
Reim als Teilganzes abzuheben, ist es empfehlenswert, in der nächstfolgenden
(zweiten) Strophe nicht allzu ähnliche Reimworte anzuwenden.
Wenn also z. B. die erste vierzeilige Strophe die Reime Blick ─
Geschick brachte, darf die zweite nicht Glück ─ zurück wählen,
weil man dies für ein Reimecho (─ wenn auch für ein unreines ─)
ansehen und die beiden Vierzeilen als eine einzige Achtzeile auffassen
könnte.
1. Bei längeren Strophen, welche nicht schon durch den Periodenbau
und durch den Gedanken verbunden sind, ist darauf zu achten,
daß das Reimband sie zusammenhalte, wie dies beispielsweise bei den
Huitains der alten Franzosen (a b a b b c b c), bei der Siebenzeile
der Engländer (a b a b b c c) und bei der Kanzone der Jtaliener
der Fall ist, wo die Coda durch den Reim an die Piedi sich anschließt &c.
Daher sollte z. B. bei unseren achtzeiligen Strophen wenigstens ein
Reim die erste Strophenhälfte mit der zweiten verketten. Schon vier= [77]
zeilige Strophen zerfallen häufig in zwei Reimpaare, wenn das erste
Reimpaar dem zweiten im Reimgeschlecht entspricht und mit dem Gedanken
abschließt. Jch erinnere an die vierzeiligen Strophen des
Freiligrathschen Löwenritts, die (mit Ausnahme der 2. und 3.) sämtlich
als Reimpaare zu schreiben sind. Das gleiche ist bei mancher
neuen Nibelungenstrophe Uhlands der Fall. Bei der alten Nibelungenstrophe
verlängerte man in verständnisvoller Weise je eine (die 4te) Verszeile,
um der Strophe ein charakteristisch abschließendes Gepräge zu verleihen,
während Uhland diese charakteristische Schleppe abgeschnitten hat.
2. Zusammengefügt können zwei Reimpaare zu einer Vierzeile
dadurch werden, daß beim folgenden Paar das Reimgeschlecht wechselt.
3. Um Strophenabschluß und strophische Abgrenzung in der Praxis
zu markieren, empfiehlt sich die Anwendung irgend eines der nachfolgenden
Strophenmerkmale:
a. Abwechselung der Reime, der Reimstellung, der Reimverschlingung,
der reimenden Vokale &c.
b. Refrain.
c. Regelmäßige Wiederkehr längerer und kürzerer Zeilen.
d. Abwechselung im Tongrade.
e. Abwechselung im Rhythmus.
f. Anwendung verschiedener Kola.
1. Es ist dem Anfänger zu raten, seinen erzählenden Stoff zunächst
in kleine Gruppen abzuteilen (abzugrenzen), und dann erst an
die Ausarbeitung dieser Teile zu Strophen zu gehen. Der Meister
überfliegt sein Material und versifiziert es ohne weiteres; der Lehrling
muß sich erst die Wege öffnen, bevor er zu gehen versucht.
2. Auch der Verfasser lyrischer Gedichte thut gut daran, seinem
Stoffe eine Gliederung angedeihen zu lassen. Jede dumpfe Empfindung
des Lyrikers wird durch Umsetzung in Gedanken zum klaren Gefühl.
Diese zu klaren Gefühlen führenden Gedanken sind einer Disponierung
fähig. Freilich darf der Gedanke beim lyrischen Gedichte nicht dominieren,
er darf nur die Grundlage für die Empfindung sein.
3. Es ist vorteilhaft, unsere sämtlichen Strophenschemata (Poetik I,
634) zu studieren, um entscheiden zu können, welches Strophenmaß für
einen bestimmten Stoff zu wählen ist.
4. Die Ausdehnung der Strophe (ob dieselbe nämlich 2=, 3=, 4=
und mehrzeilig sei) hängt meist von den Stoffgruppen ab.
Wir geben bei den Aufgaben im jambischen Versmaße Gedichte
von der Zweizeile bis zur Achtzeile, um den Einblick in den Aufbau
zu ermöglichen. Bei den übrigen Versmaßen beschränken wir uns auf
die gebräuchlichsten Formen.
1. Es ist bei mehrzeiligen Strophen der ästhetischen Wirkung
halber zu raten, mit akatalektischen und hyperkatalektischen Reimpaaren
zu wechseln, oder mit andern Worten, neben dem männlichen Reim
auch den weiblichen anzuwenden.
2. Die Recitation hyperkatalektischer Verse verschmilzt die Schlußsilbe
des Verses mit der Anfangssilbe des folgenden Verses gewissermaßen
zu einem Anapäst.
3. Jst das Gedicht in seinen Versschlüssen katalektisch, so ist beim
Recitieren die Pause hinzuzurechnen.
4. Wichtig ist bei Bildung des Gedichts, daß in die Reimstelle
stets ein Begriffswort zu stehen komme, welches mehr oder weniger
den Jnhalt der ganzen Zeile in sich vereint, zugleich aber durch die
Erinnerung an den Gleichklang der vorhergehenden Zeile auch den
sinnlichen Eindruck und Jnhalt des vorhergehenden Verses wiederzuspiegeln
vermag. Dieser Reim verleiht unendlichen Klang und Schmuck;
er wirkt ästhetisch und verstärkt den versaufbauenden Rhythmus.
Aufgabe 1. Reimpaare. Metrum: der jambische Viertakter.
Erinnerung.
Stoff.
1. Unser Herz ist ein Totenschrein, |
in welchen man die gestorbene Liebe
legt. ‖ 2. Doch wenn Abends der Mond
am Himmel erscheint, | wird die tote
Liebe lebendig. ‖ 3. Und sie umschwebt
dich im blassen Mondenschein | mit
thränenfeuchtem Antlitz. ‖
Lösung. Von Otto von Leixner.
Aufgabe 2. Dreizeilige Strophen. Jambische Viertakter.
Behufs eines strophischen Charakteristikums erhält je die letzte (3.)
Verszeile der Strophen katalektischen Abschluß, also weiblichen
Reim. Reimschema a a b.
Morgenlied.
Stoff.
1. Niemand ahnt noch den Sonnenaufgang;
die Morgenglocken sind noch
nicht erklungen. ‖ 2. Die Stille der
Lösung. Von L. Uhland.
[79]
Nacht ruht auf dem Walde; die Vöglein
zwitschern leise im Traume. ‖
3. Nur ich bin hinausgegangen ins
Feld und habe ein Lied gedichtet und
es laut gesungen. ‖
Aufgabe 3. Vierzeilige Strophen mit gekreuzten Reimen a b a b.
Jambischer Rhythmus. Abwechselnd hyperkatalektische Viertakter
mit akatalektischen.
Klar muß es sein.
Stoff.
1. Klarheit will ich haben, ich
vermag zu entsagen, | wenn es das
Schicksal verlangt. | Viel leichter kann
ich entsagen, als den Zweifel ertragen, |
der meine Kraft aufreibt. ‖ 2. Jch kann
mich aus den Schmerzen befreien, |
denn die Stürme stählen den Mut. |
Nur Furcht und Hoffnung | wirken verzehrend
wie die Sonnenglut. ‖ 3. Der
Feige und Ohnmächtige | mag dem
trügerischen Lichte vertrauen; | ich verlange
ganze Schmerzen und volles
Glück; | ich kämpfe nicht gegen wesenlose
Schatten. ‖
Lösung. Von Eduard Tempeltey.
Aufgabe 4. Fünfzeilige Strophe. Schema: a b a c b. Metrum:
die a=Zeilen seien jambische Viertakter, die b=Zeilen Dreitakter,
die c=Zeilen katalektische Viertakter (⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑).
Das Bettelmädchen.
Stoff.
1. Ein Bettelmädchen lauscht am
Thor, | zitternd vor Frost. | Ein junger
Ritter tritt heraus | und wirft ihr
seinen Mantel hin, | fragend, ob sie noch
etwas haben wolle. ‖ 2. Das Bettelmädchen
antwortet nichts; | es friert
sie gar zu sehr. | Mit glühendem
Blick kehrt sie dem Ritter den Rücken. |
Sie läßt seinen Mantel liegen | und
sagt: ich will nichts mehr. ‖
Lösung. Von Friedr. Hebbel.
Aufgabe 5. Sechszeilige Strophe. Reimschema a b a b c c.
Metrum: a= und c=Zeilen akatalektische jambische Viertakter,
b=Zeilen katalektische Viertakter (⏑ – ⏑ – ⏑ – ⏑). Diese katalektischen
Viertakter, sowie das abschließende Reimpaar verleihen der
Strophe ihr charakteristisches Gepräge.
Dank im Glücke.
Stoff.
1. Vergiß es, daß du einst | arm
gewesen bist, | daß du mit Thränen
des Jammers | täglich deinen Morgensegen
gebetet hast. | Vergiß die Armut
früherer Zeiten, da du nun glücklich
bist, | wie man ja auch am Tage die
Träume vergißt. ‖ 2. Der Edelstein
denkt nicht mehr | an seine Herkunft, |
und die Perle erinnert sich nicht
mehr | ihrer Geburtsstätte, | wenn
beide | im Lockenhaare funkeln. ‖
3. Dein Dankgebet sei Freude, | wo
du auch weilest; | und wo du ein Bild |
von Erdenleid erblicken magst, | da
lindre die Not, | und an meiner
Brust empfange Dank dafür. ‖
Lösung. Von Hermann Lingg.
Aufgabe 6. Siebenzeilige Strophe. Reimschema: a b b a c c a.
Metrum: a=Zeilen akatalektische jambische Viertakter, b= und c=
Zeilen hyperkatalektische Viertakter.
An den Genius. (Während einer Krankheit.)
Stoff.
1. Du Genius der Dichtkunst, | der
du mein Herz mit heiligem Feuer entflammtest,
| erhalte mein Leben, | bis
ich ein deiner würdiges Werk schuf. | Dann
mag mein Staub | zu Staub werden, |
einem Tropfen gleich, der zum Meere
zurückkehrt. ‖ 2. Du hast in meine Brust |
die Sehnsucht gelegt, Gott und die
Welt zu erkennen, | und in Liedern
Lösung. Von Em. Geibel.
[81]
zu singen, | was ich geschaut; | o laß
mich nicht sterben, | bis ich mit reinen
Sinnen | die Lust des erfüllten Wunsches
genossen. ‖ 3. Jn meinem Herzen
schläft noch so viel. | Wenn ich einer
der Auserwählten bin, | so erbarme
dich des noch nicht Gewordenen, | und
schenke mir Leben, bis ich das Ziel
erreicht habe, | damit ich Ruhe im
Grabe finde | und mich tröstend beglücke
der Kranz, | der sich dereinst
um mein Saitenspiel winden wird. ‖
Aufgabe 7. Achtzeilige jambische Strophen; hyperkatalektische
Dreitakter mit gleitendem Reim in den ungeraden Versen. Vers 6
und 8 seien akatalektische Dreitakter. Der Versrhythmus könnte in den ungeraden
Zeilen der letzten thetischen Silbe durch Hinzunahme einer rhythmischen Pause
das Übergewicht von einem Takte verleihen.
Jhre Stimme.
Stoff.
Ach jene lieblichen, | wie vor der
eigenen Schönheit | ins Stocken geratenden,
| innigen Klänge; | sie locken
mir, gleich verschwebenden | Akkorden
der Lust, | mit erbebenden Klängen | das
Herz aus der Brust. |
Und ach, schon hat die Zauberflut
| mein lauschendes Herz | mit
Lispelwogen | umfangen; | süß umronnen
| folgt es diesem Tönebann |
und fällt in das leidvolle Liebesnetz, |
das aus Tönen gesponnen ist. |
O, in Perlen rinnende Flut, | in
welcher ich lauschend schwimme, | o du
das Herz verlockend=erobernde, | bethörende
Stimme! | Selbst wenn das
Zauberreich der Klänge | zum Chore
sich vereinte, | es würde doch nicht so
verlockend | an mein Ohr sich drängen.
Lösung. Von R. Hamerling.
1. Die Nibelungenverse können reimlos (vgl. § 5) oder gereimt
sein. Die gereimten treten als Zweizeilen (Nibelungen-Distichen, Reimpaare),
wie insbesondere als Vierzeilen (die sog. neuen Nibelungenstrophen)
auf.
2. Die neue Nibelungenstrophe umfaßt zwei männliche Reimpaare.
3. Von einem strophischen Charakteristikum könnte bei ihr höchstens
insofern die Rede sein, als mit dem Ende der 4. Zeile die syntaktische
Pause zusammenfällt.
4. Viele Dichter schließen auch den Satz schon am Ende des
2. Nibelungenverses, weshalb ihre vierzeiligen sog. neuen Nibelungenstrophen
nur in der Schreibung als strophische Teilganze erscheinen.
Bei der Recitation fallen sie in 2 zweizeilige Strophen auseinander.
5. Als ein Schönheitsmittel empfiehlt sich bei den Nibelungenversen
die Einfügung von Anapästen.
6. Wegen der bedeutenden Zeilenlänge der Nibelungenverse ist in
der Nibelungenstrophe die Einfügung von Cäsurreimen von schöner
Wirkung. Anastasius Grün versucht diese Form in der ersten Strophe
von „Des Herrschers Wiege“, während er den Cäsurreim in den ferneren
Strophen wegläßt. Es empfiehlt sich für diese Form gebrochene
Schreibung. (Vgl. den folgenden Paragraphen.)
Aufgabe 1. Zweizeilige Strophen ohne Anapäst.
Der Christbaum.
Stoff. 1. Du bist wieder gekommen, schöne Weihnachtszeit, | in der
mir treue Elternliebe den Christbaum weihte! ‖ 2. Heute heult kalter Sturm
übers Meer, | nur im Geiste sehe ich das Weihnachtsfest. ‖ 3. Erinnerung
malet mir, was ich entbehre, | und so ist mir im Meere das Weihnachtsfest
des Erinnerns beschert. ‖ 4. Als Kind bot mir dieser Abend so viel des
Schönen, | die Freude rötete mir stets die Wangen. ‖ 5. Heute peitscht mir
der eisige Wind die Flut ins Angesicht, | und färbt meine Wangen mit Purpur
wie vordem. ‖ 6. Einst winkte mir der gabengeschmückte Tannenbaum, | nach
dessen Zweigen ich sehnsüchtig blickte. ‖ 7. Heute sind 3 Masten meine Weihnachtsbäume,
| verziert mit des Eises Silberstangen. ‖ 8. Einst strahlten die
Lichtlein durchs Grün des Baumes, | heute schimmern viele Sterne im Himmelsraum.
‖ 9. Starr und unverwandt blickt mein Auge zur Höhe, | wie es dereinst
den Christbaum angeschaut. ‖ 10. So habe ich alles wieder, was ich
schmerzlich entbehrt, | so ist mir auch im Meere ein Weihnachtsbaum geworden. ‖
Lösung. Von Heinrich von Littrow.
Aufgabe 2. Vierzeilige neue Nibelungenstrophe ohne Mittelreim
und ohne Anapäst.
Graf Eberhard der Rauschebart.
Stoff. 1. Jst denn im Schwabenlande jeglicher Sang verschollen, |
wo doch dereinst die Ritterharfe vom Staufen niederklang? | Wenn aber der
Sang nicht verschollen ist, warum vergißt man, | die Waffenthaten der tapfern
Väter zu rühmen? ‖ 2. Man bildet leichte Liedchen und schreibt Sinngedichte, |
man höhnt die holden Frauen, die doch sonst den Gegenstand des Liedes bildeten;
| die Heldenstoffe, die längst ihres Sängers warten, | läßt man zur
Seite liegen. ‖ 3. So steige denn aus deinem Grabe, | du alter Rauschebart,
mit deinem Heldensohne hervor. | Noch in deinen alten Tagen schlugst du dich
mannhaft, | durchbrich mit hellem Schwerterklang auch unsere Zeiten. ‖
Lösung. Von L. Uhland.
Aufgabe 3. Vierzeilige neue Nibelungenstrophe mit Cäsurreim
und Anapästen.
Den Sorglosen.
Stoff. 1. Erhebt euch vom Mahle. Der Wein ist blutig rot, | aus
jedem Pokale und aus jeder Schüssel grinst der Tod entgegen. | An einem
Härchen sehe ich über euern Häuptern das Schwert hängen; | ihr aber bleibt
sorglos sitzen. ‖ 2. Jst euch die schottische Sitte nicht bekannt, | wenn ein
blutiger Stierkopf auf den Tisch gestellt wurde? | Das schwarze Büffelhaupt
auf blutiger Schüssel | war die Aufforderung zur Rache. ‖ 3. Von den Sitzen
sprangen alle empor, | das Blut spritzte, die Rache begann; | sie schlug die
Faust, die eben noch nach dem Becher reichte, vom Stumpfe, | und ehe die
Lippe den Becher berühren konnte, flog das Haupt vom Rumpfe. ‖ 4. Erhebt
euch vom Mahle, trotzt dem Tode. | Seht ihr nicht den Stierkopf, die Aufforderung
zur Rache? | Lange gährt es schon; rührt euch, | damit nicht euer
Kopf verloren sei, bevor die Lippe den Becher berühren kann. ‖
Lösung. Von Moritz Graf Strachwitz.
1. Alle Nibelungenverse mit Cäsurreim eignen sich für gebrochene
Schreibung, ja, sie drängen zu ihr hin.
2. Schreibt man Nibelungenreimpaare ohne Mittelreim gebrochen,
so entstehen Strophen mit unterbrochenen Reimen (x a x a &c.). Es
reimt in denselben nur die 2. mit der 4. Zeile, nicht aber die 1.
mit der 3.
3. Wird die vierzeilige Nibelungenstrophe gebrochen geschrieben,
so ergeben sich selbstredend achtzeilige Strophen, die ebenso wenig vierzeilig
geschrieben werden dürfen, als die vierzeiligen Nibelungenstrophen
zweizeilig.
4. Auch bei den gebrochen geschriebenen Nibelungenversen ist die
Einfügung von Anapästen ein Schönheitsmittel.
5. Die gebrochen geschriebenen Nibelungenverse ohne Mittelreim
sind leicht zu bilden, da die Reime nur sehr spärlich folgen.
6. Dies gilt auch für andere abwechselnd reimlose und gereimte
Verse, bei welchen mit Rücksicht auf die Architektonik des Reims die
Zeilenlänge nie mehr als höchstens 5 Takte betragen sollte, da in diesem
Fall die Entfernung des Reimechos ja immer 10 Takte umfaßt.
Aufgabe 1. Halbgereimte neue Nibelungenverse mit Anapästen.
Das Blatt im Buche.
Stoff.
1. Meine alte Muhme | besitzt ein
altes Büchlein, | in welchem | ein altes
dürres Blatt liegt. ‖ 2. So alt und
dürr sind wohl auch die Hände geworden,
| die ihr das Blatt in der
Jugend gepflückt haben. | Was mag
nur die Alte denken? | Sie weint, so
oft sie das Blatt ansieht. ‖
Lösung. Von Anast. Grün.
Aufgabe 2. Halbgereimte neue Nibelungenverse mit Anapästen,
bei welchen (nach Analogie der verlängerten 4. Langzeile
in der mittelhochdeutschen Nibelungenstrophe) ein strophisches
Charakteristikum durch Verlängerung der 4. Halbzeile um 1 Takt
geschaffen wurde.
Stein- und Holz-Reden.
Stoff.
1. Auf der Lüneburger Heide |
steht ein alter Stein, | daneben eine
alte, | wohl tausendjährige Eiche. ‖ 2. Es
ziehen im Frühling | fröhliche Gesellen
vorbei; | sie singen von deutscher Freiheit,
| aber ihr Sang verhallt in der
Ebene. ‖ 3. Da spricht der Stein zur
Eiche, | wie wenn er vom Traum erwachte:
| „Ging nicht die Freiheit
vorüber? | Erwache, deutscher Baum!“ ‖
4. Da fuhr ein Brausen | durch die
Krone des Baumes, | und seine alten
Äste | trieben tausend Knospen. ‖
5. Die Sänger zogen weit fort durch
die Heide; | die Eiche hat ihnen von
oben | traurig nachgeschaut. ‖ 6. Dann
dehnte sie sich in der Wurzel, | um
den Sängern nachzusehen. | Des Liedes
Nachhall klang | durch ihr Blätterdach.
‖ 7. Jm Herbste | hörte sie den
letzten Hall verklingen, | dann schüttelte
sie sich zornig, | daß das letzte Laub
von den Ästen fiel. ‖ 8. Und zum
alten Steine sprach sie: | „Jch will
nun wieder schlafen. | Du, wunderlicher
Träumer, | sollst mich nicht mehr stören.“ ‖
Lösung. Von Gottfried Keller.
Aufgabe 3. Ganz gereimte neue Nibelungenverse mit freier
Anwendung des Anapästs.
Stoff.
1. Dein blaues Auge ist ein Spiegel
von bösem Schimmer, | in welchem ich
mich nimmer müde schaue. ‖ 2. Doch
bei allem Schauen ersehe ich wenig
Gutes, | niemals spiegelt sich mein
eigenes Antlitz wieder. ‖ 3. Zwei fremde
Augen sind es, welche mich spottend anblicken;
| es malt sich in deinem Auge,
du schönes Kind, ein fremder Mann. ‖
Lösung. Von Moritz Graf Strachwitz.
1. Bei Bildung mittelhochdeutscher Nibelungenverse sind vor allem
die sechs Hebungen jeder Verszeile zu beachten, die Senkungen sind
willkürlich.
2. Wesentlich ist das Vorhandensein der weiblichen Cäsur nach dem
3. Takte. Selbstredend ist auch die gleitende Cäsur gestattet.
3. Bedeutungsvoll bleibt das strophische Charakteristikum in der
mittelhochdeutschen Nibelungenstrophe.
4. Man erhält es durch Verlängerung einer Verszeile (in der
Regel der vierten) um eine Hebung, oder auch durch Einfügung von
Anapästen oder Spondeen ins Strophenende.
5. Zur Verschönerung trägt die Anwendung des Cäsurreimes bei.
A. Langzeilen.
Aufgabe. Ohne Cäsurreim.
Stoff. König Richard Löwenherz rief: Laßt meinen Sänger Blondel |
herzukommen, damit er meinen Schmerz mit Tönen stille. | Jch war oft wunder
am Herzen, als jetzt am Leibe; | aber immer heilte sein Gesang alle meine
Schmerzen. ‖ u. s. w.
Lösung. Von Fr. Rückert.
B. Gebrochene mittelhochdeutsche Nibelungen-Verszeilen.
Aufgabe 1. a. Ohne Cäsurreim.
Zwei Särge.
Stoff.
1. Jm Dome stehen einsam | zwei
Särge, | in dem einen ruht König Ottmar,
| im andern der Sänger. ‖ 2. Der
König führte einst mit Macht | sein Scepter,
| drum hat er noch das Schwert
in der Rechten | und die Krone auf dem
Haupte. ‖ 3. Neben dem stolzen König |
liegt der Sänger; | ihm hat man die
Harfe | in die Hände gelegt. ‖ 4. Die
Burgen zerfallen, | und der Schlachtruf
erschallt, | aber das Schwert in
des Königs Hand | bleibt unbeweglich. ‖
5. Doch wenn das Land in Blüte
steht | und die milden Lüfte erwachen, |
da klingt noch die Harfe des Sängers
fort | in ewigem Gesang. ‖
Lösung. Von Justinus Kerner.
Aufgabe 2. b. Mit Cäsurreim.
Hoffnung.
Stoff.
1. O milde Blume Hoffnung, |
ich begieße dich jeden Tag; | du hast
dich dem weinenden Herzen | zum
Eigentum ergeben. ‖ 2. Deine Blüten
und Blätter | streben dem Himmel entgegen.
| Doch bedarfst du nicht das
Sonnenlicht, | wohl aber ein menschliches
Herz. ‖ 3. Jhr schönen Gartenblumen,
| was soll mir euer Schein? |
Jch will nur die einzige Hoffnungsblume
| pflegen und warten. ‖
Lösung. Von Hermann Kletke.
1. Die einfachste Form einer Alexandrinerstrophe ist die Verbindung
von zwei Alexandrinerversen (vgl. § 6) zu einem Distichon
durch den Reim.
2. Die übrigen Formen entstehen aus der Verbindung von mehreren
Alexandrinerversen, von denen ─ zur Erlangung eines strophischen
Charakteristikums ─ in der Regel eine Zeile verkürzt wird (zuweilen
auch deren 2).
3. Man unterscheidet neunzeilige (Geibelsche Form), sechszeilige
(Freiligrathsche Form), seltener vierzeilige und fünfzeilige Alexandrinerstrophen.
4. Jm Französischen finden wir mehrfach vierzeilige Alexandrinerstrophen
mit gekreuztem Reim (a b a b), sowie (aus 4 + 9 zusammengesetzte)
dreizehnzeilige, bei denen der Schlußvers ein jambischer Viertakter
ist. (Vgl. z. B. Lamartine's méditations poétiques.)
5. Jm Deutschen hat man sich (außer in Übersetzungen) zu
alexandrinischen Vierzeilen nicht entschließen mögen, wahrscheinlich weil
gekreuzte Reime (wegen der beträchtlichen Zeilenlänge des Alexandrinerverses
und der ständigen Diärese im 3. Takte) in architektonischer Beziehung
mißlich erscheinen mochten. Rückert hat mehrfach 2 Alexandriner=
Reimpaare (a a b b) verbunden, wobei er meistenteils im Reimgeschlecht
wechselte.
6. Eine freundlich gebaute, uralte alexandrinische Vierzeilenform
mit gekreuzten Reimen danken wir v. Löwenstern († 1648). Die erste
Alexandrinerzeile dieser Form hat akatalektischen (männlichen), die 2.
und 4. hyperkatalektischen (weiblichen) Schluß; die 3. Zeile ist nur
ein halber Alexandriner, dessen mit der ersten Zeile korrespondierender
Reim um einen halben Vers näher gerückt wird. Das Ohr erwartet
infolge des alexandrinischen Rhythmus das Reimecho schon in der
2. Zeile und wird nun durch die vertagende weibliche Endung derselben
auf den sogleich folgenden Reim der 3. Zeile hingelenkt, wie
andererseits die Endung der 2. Zeile ihr Echo dadurch um ½ Vers früher
bekommt. Die Reime klingen sehr freundlich zusammen. Beispiel:
Wenn ich | in Angst | und Not | mein Au | ge heb' | empor | |
Zu dei | nen Ber | gen, Herr, | mit Seuf | zen und | mit Fle | hen, |
So reichst | du mir | dein Ohr, | ||||
Daß ich | nicht darf | betrübt | von dei | nem An | tlitz ge | hen. |
7. Bei der sechszeiligen Alexandrinerstrophe reimen sich folgende
Zeilen: 1─2, 4─5, 3─6 (also Schema: a a b c c b). Jn der Regel
hat Vers 1 + 2, sowie 4 + 5 weiblichen, 3 + 6 dagegen männlichen
Schluß; doch kann männliches und weibliches Geschlecht auch in umgekehrter
Folge wechseln.
8. Meist verkürzt man, um ein strophisches Charakteristikum zu
gewinnen, nur eine Zeile, in der Regel die letzte. Zuweilen ist noch
eine mittlere Zeile verkürzt.
9. Die verkürzte Zeile ist ein jambischer Viertakter. Verkürzung
auf Dreitakter ist selten; Freiligrath bietet eine solche, aber sie entbehrt
des Wohllauts der übrigen Formen. Man könnte sich übrigens
recht gut eine Verkürzung auf Zweitakter denken.
10. Die alexandrinische Fünfzeile hat zwei Reime; es reimen sich
die Verse 1 + 3 + 4 einer=, und 2 + 5 andererseits. Das Schema ist
also: a b a a b oder a a b a b. Die b=Reime sind es, welche vom
Dichter nach Belieben verkürzt werden können.
Aufgabe 1. Alexandriner-Distichon. Nachstehende Materien
sollen zu Gnomen (oder zu Epigrammen) verwertet werden. (Zur
Vergleichung stellen wir die Lösungen Schefflers [Angelus Silesius]
und Rückerts einander gegenüber.)
Die Überschriften mag der Lernende nach Maßgabe des Stoffes
erfinden.
Stoff. a. Erst wenn dein Herz weich wie Wachs geworden, | drückt
der heilige Geist das Bildnis Jesu hinein. ‖
b. Wer ein Ziel erreichen will, darf sich nicht zersplittern. | Wie ein Schütze
muß er sein, der ein Auge schließt, um mit dem anderen um so sicherer zu zielen. ‖
Lösungen.
Zu a. Dein Herz.
(A. Silesius.)
(Fr. Rückert.)
Zu b. Das Ziel.
(A. Silesius.)
(Fr. Rückert.)
Aufgabe 2. Freiligraths zweite Alexandrinerstrophe. Nachstehender
Stoff soll Strophen ergeben, welche aus je fünf Alexandrinerversen
und einem abschließenden jambischen Viertakter bestehen.
Afrikanische Huldigung.
Stoff. 1. Jch werfe mich vor deinem Throne nieder, o König; | ich
führe dieses Heer von hunderttausend Hufen, | diesen Raub und diesen Sklaventroß
| und diese Schar von Ringern und Schützen | zurück vor dein Schloß. ‖
2. Die Schlacht ist gewonnen; wir haben gesiegt; | der König der Feinde fiel,
so gut er auch fechten mochte. | Jch schlug ihm mit meinem scharfen Säbel
den Kopf ab. | Sein Rumpf liegt in der Wüste. | Erlaube, daß ich dir sein
Haupt | auf dieser Schale verehre. ‖ 3. Es trieft weder von Öl, noch von
Narden und Salben; | es trieft von Blut. | Doch dir soll das Dschaggasblut
zum Salböl werden. | Jch salbe dich zum Könige über das von mir geraubte
Reich. | Die volle Schale ergieße ich | über deine Krone. ‖ 4. Und jene
goldne Krone, | welche bisher dieses Haupt geschmückt, ziere von nun an das
deinige. | Heil, daß ich sie auf deinem Haupte prangen sehe. | Führt die Gefangenen
vor! schwingt eure wuchtigen Keulen, | und der Trompetenschall und
das Heulen der Erschlagenen | übertöne der Jubelruf: Heil dir, Fürst von
Dahomeh! ‖
Lösung. Von F. Freiligrath.
Trochäischer Rhythmus.
1. Man läßt sich durch den trochäischen Grundcharakter unserer
Sprache häufig verleiten, nur trochäische Satztakte aneinander zu reihen,
wodurch ein Überschuß an Diäresen entsteht und das Gedicht monotonen,
leierartigen Charakter erhält.
Es ist daher bei Bildung trochäischer Verse und Strophen erstes
Erfordernis, Satztakt und Verstakt nicht allzuoft zusammenfallen zu
lassen und die durch Übergreifung der Satztakte entstehende schmückende
Cäsur nicht zu vernachlässigen.
2. Es ist von allzu häufiger Verwendung des trochäischen Maßes
abzuraten (vgl. I, 262). Am meisten eignen sich zur dichterischen Verwertung
der trochäische Viertakter, der Fünftakter und der Achttakter.
3. Bei den Kompositionen im trochäischen Viertakter empfiehlt
sich eine schmückende Diärese am Ende des 2. Takts.
4. Um beim trochäischen Fünftakter die Verstakte zu überbrücken,
kann hie und da ein amphibrachisches Wort (⏑ – ⏑), also ein
Wort mit Vorsilbe eingefügt werden (z. B. Gerede, Vertrauen, Beschwerde).
5. Beim trochäischen Achttakter ist darauf zu halten, daß die
erste Vershälfte nicht katalektisch abschließt, weil dadurch eine Pause
entstehen würde, welche gleich einer Jncision die Verszeile in 2 Teile
trennen müßte, die ganz gut in 2 Zeilen geschrieben werden könnten.
6. Gesetz ist es, daß im trochäischen Achttakter am Ende des
4. Taktes eine stehende Diärese sich befinde, die besonders Marbach
in „Äschylos' Tragödien“ (1883 S. 73) treffend beachtet.
Aufgabe 1. Achtzeilige Strophen. Reimschema: a a b b c d c d.
Trochäische Viertakter. Die a=, b= und d=Zeilen sollen katalektisch
(– ⏑ | – ⏑ | – ⏑ | –) sein, die c=Zeilen dagegen akatalektisch
(– ⏑ | – ⏑ | – ⏑ | – ⏑).
Wiegenlied.
Stoff.
1. Schlafe ein, mein Kindelein |
im Frieden der Liebe! | Ruhe sanft, |
das Auge deiner Mutter hält Wache. |
Jch streue Blumen auf dich | und auf
dein Lager. | Wirst du dereinst zum
Lohne | Blumen auf das Grab deiner
Mutter pflanzen? ‖ 2. Schlafe beim
Dämmerlicht des Abends, | schlafe fest,
Lösung. Von Herzog Ernst II.
zu Sachsen-Koburg.
[93]
mein Kind! | Jm Traume mögen
dir Engel erscheinen, | du selbst bist
ja ein Engelein. | Wenn am Morgen
Thränen quellen, | so schlage den
Blick auf, | damit deine Äuglein |
das stille Mutterglück wieder schauen. ‖
3. Und wenn ich einstens zur Ruhe
gehe, | so schließe du mir die Augen
zu. | Dann, gute Nacht, mein geliebtes
Kind. | Gott im Himmel wird über
dich wachen. | Bleib ihm lebenslang
getreu, | wenn auch dein Lebensschifflein
vom Sturm bedroht sein wird. |
Nimmt dich dann dein Schöpfer von
dieser Welt, | so werde ich dich dort
wiedersehen. ‖
Aufgabe 2. Sechszeilige Strophen. Reimschema: a a b c c b.
Gereimte trochäische Viertakter. Die a= und c=Zeilen sind akatalektisch,
die b=Zeilen katalektisch.
Jn zarter Frauenhand.
Stoff.
1. Seine heimatlosen Lieder | legt
der wandernde Dichter | gern in die
Hand der Frauen. | Muß er auch
ruhelos kämpfen, | so weiß er doch gut
aufgehoben, | was sein Herz durchzog.
‖ 2. Wenn zarte Frauenhände |
sein Buch durchblättern, | knüpfen sie
mit ihm ein luftiges Band, | und er
hat das Gefühl, | als ob zarte Frauenhände
| segnend auf sein müdes Haupt
sich legten. ‖
Lösung. Von Albert Träger.
Aufgabe 3. Vierzeilige Strophen. Trochäische Fünftakter.
Männliche und weibliche Reimpaare.
Wandel der Sehnsucht.
Stoff.
1. Die Fahrt schien mir allzu
lang; | ich sehnte mich | aus der weiten
Meereswüste | nach der lieben
Heimat zurück. ‖ 2. Endlich erschien
Lösung. Von N. Lenau.
[94]
das lang ersehnte Land. | Voll Jubel
eilte ich an den Strand, | wo mich
die Vertrauten meiner Jugend grüßten:
| die heimatlichen Bäume. ‖
3. Heimatlich verwandt | erschien mir
der Vögel Gesang; | o ich hätte vor
Freuden | jeden Stein umarmen mögen.
‖ 4. Da fand ich dich, | und
alle meine Freuden sanken dir zu
Füßen; | in meinem Herzen | blieb
nur hoffnungslose Liebe. ‖ 5. Nun
sehne ich mich wieder hinaus | in das
dumpfe Getöse der Fluten. | Auf den
wilden Meeren möchte ich | nur mit
deinem Bilde mich unterhalten. ‖
Aufgabe 4. Zweizeilige Strophen. Trochäische Achttakter.
Weibliche Reimpaare.
Jm Walde.
Stoff. 1. Ast in Ast verschlungen und Krone an Krone steht der Eichwald;
| in guter Laune sang er mir heute sein altes Lied vor. ‖ 2. Eine junge
Eiche am fernen Waldesrande begann sich zu regen; | dann ging es an ein
Sausen und Biegen; ‖ 3. in mächtigem Zuge nahte es, zu breiten Wogen schwoll
es an, | und hoch, durch die Wipfel sich wälzend, kam es wie eine Sturmflut
herangebraust. ‖ 4. Und nun sang und pfiff es schauerlich oben in den Wipfeln; |
dazwischen erdröhnte von unten das Knarren der Wurzeln. ‖ 5. Zuweilen
schwang gellend die höchste Eiche ihren Schaft allein. | Dann aber fiel der
Bäume Chor um so donnernder ein. ‖ 6. Einer wilden Meeresbrandung war
das schöne Spiel zu vergleichen; | weißlich schimmernd war das Laub südwärts
starr hingestrichen ‖ 7. So streicht ─ bald laut bald leise ─ der alte Hirtengott
seine alte Geige, | indem er seine Wälder in der uralten Weltenmelodie
unterweist. ‖ 8. Unaufhörlich schweift er auf und nieder | in den alle Lieder
umfassenden sieben Tönen der alten Tonleiter. ‖ 9. Und die jungen Dichter
wie die jungen Finken lauschen in dunkeln Büschen | und nehmen die Melodien
in sich auf. ‖
Lösung. Von Gottfr. Keller.
Daktylischer Rhythmus.
1. Bei diesen Strophen ist wie bei den hexametrischen Versen auf
solche Daktylen zu halten, welche dem deutschen Accent Rechnung tragen.
Also sind nur Stammsilben in die Arsis zu stellen, nicht aber
Formsilben, Artikel und unbetonte Silben. Jn der Thesis müssen
alle schweren Silben vermieden werden.
2. Die Einfügung des Trochäus und des trochäischen Spondeus
in den daktylischen Vers ist gestattet, da der Trochäus dieselbe Zeit
beansprucht, als der Daktylus.
3. Zwei Kürzen am Schluß des Verses würden mit Ungestüm
zum nächsten Vers weiter drängen. Deshalb schließt man den längeren
daktylischen Vers nur mit einer einzigen Thesis, also mit einem die
rasche Bewegung hemmenden trochäischen Spondeus oder einem Trochäus.
Es können aber auch beide Thesen fallen.
Aufgabe. Vierzeilige daktylische Strophen. Viertaktige,
katalektische Verse. Reimschema: a a b b.
Stoff.
1. Auf einem fernen Berge steht
ein Schloß, darin sich Ritter und
Volk wacker tummeln. ‖
Lösung. Von C. Beyer.
2. Obgleich ermüdet und bestaubt, komme
ich guten Mutes im Schloß an. ‖
3. Mein ganzes Hab und Gut ist Stift
und Papierrolle und, wenn ich auch
keine Habe besitze, so rühme ich mich
doch des Ritteradels und des Minnesanges.
‖ 4. So trete ich ins Schloß
und fühle sofort, daß es ohne Kampf
um die Minne nicht abgehen wird,
denn das Töchterlein des Ritters wird
von vielen Hervorragenden umworben.
‖ 5. Und muß ich nun wirklich
auf ihre Liebe verzichten, so ist mir
doch nicht verwehrt, ihre Schönheit zu
preisen. Wie gerne würde ich weiter
wandern, wenn ich nur nicht damit
die Schmerzen der Trennung auf mich
laden würde. ‖
Trochäisch-daktylischer Rhythmus.
Daktylische Takte wechseln mit trochäischen. Das über den Daktylus
im vorhergehenden (33.) Paragraphen gesagte ist auch hier ins
Auge zu fassen.
Aufgabe. Akatalektische trochäisch=daktylische Zweitakter.
Der erste Takt sei Daktylus, der zweite Trochäus. Reimschema: a a b b.
Stoff.
Jch strebe weder | nach Reichtum
noch nach Ehre, | Herrschaft und Würde |
würden mir nur eine Last sein.
Selbst um das Wissen | bekümmere
ich mich nicht weiter | als draußen
im Walde | Maus und Käfer.
Lösung. Von V. v. Scheffel.
Die fremden | Schwindelgestalten |
plagen uns nur, | statt uns zu laben.
Mir sei | himmlischer Frieden beschieden,
| ein sorgenloses Herz | und
fröhliches Wesen,
Herzerfreuender Gesang, | erheiternde
Spiele, | Musik | und Tanz.
Solches gefällt mir, | solches
wünsche ich mir; | mit Rosen im
Haare | möchte ich dereinst sterben.
Jambisch-anapästischer Rhythmus.
1. Das Streben, in anapästischen Maßen sich zu versuchen, hat
Schiller durch Gedichte wie Die vier Weltalter, Die Worte des Glaubens
&c. angefacht. (Der Lernende möge diesen Gedichten eine Anregung
entnehmen.)
2. Das Geheimnis der Wirkung liegt im beweglichen Fluß und
dem freundlich gefälligen Rhythmus der anapästischen Verse.
3. Durch Einfügung von Jamben in die anapästischen Verse erleiden
dieselben eine angenehme Verzögerung, wie andererseits der jambische
Rhythmus durch Einfügung von Anapästen eine Beschleunigung erhält.
4. Es empfiehlt sich, die anapästischen Reihen mit einem Jambus
beginnen zu lassen, da ja jede Bewegung am Anfange langsamer ist,
als im weiteren Verlauf.
5. Jm deutschen anapästischen Vers braucht man den Jambus
nicht an eine bestimmte Stelle zu rücken; über seine Stellung entscheidet
vielmehr Versrhythmus und Satztakt.
Aufgabe. Zweizeilige jambisch=anapästische Strophen
(Distichen). Anapästische akatalektische Viertakter.
Vorübergehn.
Stoff.
1. Jch gewahrte die Leiden am
Thore, | da grüßte ich und ließ sie
Lösung. Von Karl Siebel.
[98]
vorüberziehen. 2. Jch gewahrte die
Freuden, wie sie ins Fenster sahn, | da
grüßte ich und ließ sie vorüberziehen.
3. Was soll ich denn erhoffen und ersehnen?
| Jch ersehne das Vorübergehen.
a. Reimstrophen mit charakteristischem Strophenabschluß.
1. Die einzelnen Formen des strophischen Charakteristikums konnten
wir bereits bei Einführung in die Strophenlehre (§ 26 dieses
Bands) anführen, da dieselben in den Übungen auf dem Gebiete der
Strophik zur Anwendung gelangen müssen. Aus diesem Grunde
haben wir a. a. O. (§ 26) die betreffenden Übungen verschieben können
und brauchen nunmehr nur noch die charakteristische Form des Refrains
nachzuholen.
2. Man versteht unter Refrain oder Kehrreim bekanntlich die in
jeder Strophe eines bestimmten Gedichts regelmäßig wiederkehrende
Wiederholungsformel, welche meist ganze Zeilen (Kehrzeilen) unverändert
oder mit geringen Abweichungen wiederbringt. Die unveränderte
Wiederholung heißt fester Kehrreim, die veränderte ist als flüssiger
Kehrreim bekannt. Man spricht von Anfangs=, Mittel- und Endrefrain,
je nachdem derselbe am Anfang, in der Mitte oder am Schluß
der Strophe steht. Die gebräuchlichste Form, auf welche wir uns in
unserer nachstehenden Übung beschränken, ist der Endrefrain. Er gleicht
einer Säule, welche dem lockeren Gefüge der Strophe einen wunderbaren
Halt verleiht. Zudem ist er der ideale Punkt, in welchen die
Stimmung einer jeden Strophe ausläuft.
Aufgabe. Fünfzeilige Strophen. Reimschema: a a b b a.
Metrum: a=Zeilen jambische Dreitakter, b=Zeilen Viertakter.
Die letzte Zeile der Strophe wiederholt sich (Refrain).
Ein Stündlein wohl vor Tag.
Stoff.
1. Als ich noch schlief, | es mochte
eine Stunde vor Tagesanbruch sein, |
sang leise auf dem Baume vor meinem
Fenster | ein Schwälblein. | Es mochte
eine Stunde vor Tagesanbruch sein. ‖
Lösung. Von Ed. Mörike.
[99]
2. Es sang: Höre, was ich dir sagen
will. | Jch muß deinen Schatz anklagen.
| Während ich dieses singe, |
herzt er eine andere Geliebte: | Es ist
wohl eben eine Stunde vor Tagesanbruch.
‖ 3. Jch rief: O weh mir!
Sprich nicht weiter! | Jch will nichts
mehr hören. | Flieg hinweg von meinem
Baum! | Liebe und Treue ist wesenlos
wie der Traum, | den man träumt
eine Stunde vor Tagesanbruch. ‖
b. Verbindung der Allitteration mit dem Reim.
1. Der Erste, welcher die Allitteration mit dem Vollreim verband,
war Otfried im Evangelienbuch (868 n. Chr.). Er hat die 1.
und 3. der vier Arsen jeder Verszeile durch Accentzeichen ausgezeichnet
und dadurch die Accentuierung der Stammsilben wesentlich gefördert.
Jndem er weiter im Schlußreim den stärksten Accent schuf, zu welchem
immer mehr das Steigen und Sinken der ganzen Tonreihe hindrängte,
hat er den nachhaltigsten Anstoß zur Weiterentwickelung des accentuierenden
Prinzips in unserer Sprache geliefert und gezeigt, daß auch der
Reim die Aufgabe des allitterierenden Wortes übernehmen kann.
2. Nach dem Siege des Vollreims kam die Allitteration ins Abnehmen.
3. Erst in der Neuzeit hat man wieder erkannt, welchen Zauber in
ästhetischer Beziehung, welche musikalische Wirkung, welche lautmalende
Fähigkeit die Allitteration hat, weshalb einzelne Dichter, die (im
Gegensatz zu Jordan) nicht auf den Vollreim verzichten mochten, die
Allitteration in Reimgedichten zur Anwendung brachten.
4. Um einzelne markante Beispiele zu erwähnen, so schließt Rückert
jede Strophe seines in alle Schullesebücher übergegangenen Gedichts
„Roland der Ries'“ mit gleichem Reim (Macht, Schlacht, Wacht,
Nacht &c.). Schlegel führt im Sonett „Was ist Liebe?“ den Allitterationslaut
L durch; Rückert im gereimten Rosenlied den Allitterationslaut
r (ebenso Müller von der Werra im Rüpellied). Mit Geschick
haben sonst noch die Allitteration mit dem Endreim verbunden: Bürger
(im Lied von der Einzigen), Goethe (in „Es war ein König in Thule“),
Heine (in „Es blasen die blauen Husaren“), Uhland (in „Jn Liebesarmen
ruht ihr trunken“), Fouqué (in vielen Dichtungen), W. Müller u. a.
Aufgabe. Nachstehender Stoff soll zu einem zweistrophigen
Gedicht von je 4 Verszeilen verwertet werden,
in welchem der Allitterationslaut L den Eindruck fortsetzen
soll, den der L=Klang durch die Erinnerung an das Wort
Liebe hervorruft.
Metrum: Der jambische Quinar. Zur Gewinnung eines
strophischen Charakteristikums kann irgend eine Zeile jeder
Strophe verkürzt werden.
Stoff.
Du sangst mir, o Freund, sonst
Gesänge von Frauenliebe und =Leben
vor. Mein Ohr hing an deinem
Munde. Mein Herz erbebte in Freude
und Zuneigung.
Du singst nicht mehr. Deine Lyra
ist mit Spinngewebe überzogen. Sprich,
wird mir dein süßer Gesang die verlorene
Freude nie wieder zurückgeben?
Lösung. Von Chamisso.
c. Verbindung des Vollreims mit der Assonanz.
1. Eine Verbindung der freien Assonanz (innerhalb der Verszeile)
mit der versgliedernden Assonanz (am Ende der Verszeile),
welch letztere durch Übereinstimmung auch der Konsonanten zum
Vollreim wurde, finden wir bei unseren ersten Dichtern, z. B. bei
Uhland:
oder bei Goethe:
2. Als eine einfachere Verbindung der Assonanz mit dem Vollreim
ist es zu betrachten, wenn der gleiche Assonanzlaut in Verbindung
mit dem Vollreim durch das ganze Gedicht sich hindurchzieht.
3. Wir finden eine solche Verbindung im Gedicht von Rückert I, 462
unserer Poetik.
4. Als eine weitere Form dieser Verbindung kann das Ghasel
betrachtet werden, sofern es den gleichen Vokal in allen geraden Zeilen
beibehält.
5. Jn neuester Zeit hat Johannes Fastenrath die Assonanz dem
Vollreim namentlich in seinem spanischen Romanzenstrauß vermählt,
wo er den gleichen Assonanzlaut (zum erstenmal in der Romanze)
durch das ganze Gedicht hindurchführt und die verschiedenartigsten
Reime anschießen läßt (vgl. z. B. seine Romanze La Virgen de la
Servilleta, wo der ü=Laut bis ans Ende durchgeführt ist).
6. Für unseren praktischen Zweck mag die im § 24 geübte Ghaselform,
sowie die spanische Romanzenform genügen.
Aufgabe. Nachstehender Stoff ist im spanischen Trochäus
so wiederzugeben, daß der Assonanzlaut ü am Ende der geraden
Zeilen mit dem Reime sich verbindet.
La Virgen de la Servilleta.
Stoff.
1. Als du geboren wurdest, Murillo,
durchzog ein Glühen die Lüfte,
die Sonne schien glühender, tausend
Düfte durchströmten die Natur. 2. Die
Engel stiegen zu dir nieder voll Schönheit
und Güte und schütteten auf
deinen Busen Lilien und Blüten von
Orangen. 3. Auf den Altären und
in den Tempeln herrschte wunderbares
Entzücken, denn das Kindlein sollte sie
dereinst mit Gemälden zieren. 4. Als
das Kindlein größer wurde, sah es
im Traume herrliche Bilder, und es
malte wieder, was es im Traume gesehen.
u. s. w.
Lösung.
Von Johannes Fastenrath.
u. s. w.
1. Die Verse sind frei heißt: sie sind nach Arsenzahl, Ausdehnung
und Anordnung der Verstakte ganz von dem Belieben und dem subjektiven
Empfinden des Dichters abhängig; es fehlt ihnen jeder metrische
Einteilungsgrund.
2. Jn der Regel hat jeder Vers die Ausdehnung einer rhythmischen
Reihe: gleichviel ob kürzer oder länger.
3. Der Parallelismus der korrespondierenden Zeilen verlangt
oft das Auseinanderbrechen einer rhythmischen Reihe, oder die Verbindung
von zwei derselben.
4. Jede Zeile ermöglicht am Schlusse das Atemholen, das jedoch
keineswegs Bedingung ist.
5. Eine freie Strophe hat gewöhnlich den Umfang eines Gedankens,
einer Periode. Das Ende der Periode bedeutet in der Regel
auch das Ende der Strophe. Doch giebt es Ausnahmen, welche durch
den Jnhalt diktiert werden.
6. Die freien Strophen können gereimt und ungereimt sein. Der
Reim ist ein wichtiges Formelement.
7. Zu ihrer Handhabung gehört große dichterische Gewandtheit,
Geist und Empfindung.
Aufgabe. Nachstehender Stoff ist in Accentversen und
freien Strophen anzureihen.
Sturm.
Stoff.
1. Der Sturm wütet, | er peitscht
die Wellen, | daß sie wildschäumend
erbrausen, | und sich auftürmen, | und
es wogen die Wasserberge, | und das
Schifflein erklimmt sie; | hastig sich
mühend ersteigt es den Berg, | um
plötzlich niederzustürzen | in den gähnenden
Flutenabgrund. ‖ 2. O Meer, |
du bist die Mutter der Schönheit, |
o schone meiner, du Großmutter der
Liebe. | Schon umflattert mich | die
leichenwitternde Möve, | welche am
Mastbaum den Schnabel wetzt, | gefräßig
nach dem Herzen lechzend, | das
deine Tochter rühmt | und das dein
schalkhafter Enkel | als Spielzeug erwählte.
‖
Lösung. Von H. Heine.
3. Mein Bitten und Flehen ist
umsonst! | im Sturme verhallet mein
Ruf, | er wird vom lärmenden Tosen
übertönt. | Das brausende, pfeifende,
heulende Meer | gleicht einem
Töne-Tollhaus; | und zwischendurch
vernehme ich | Harfenlaute, | Gesang, |
ergreifend und vernichtend ertönt er, |
und ich erkenne die Stimme. ‖ 4. Fern
an der schottischen Küste, | wo das graue
Schlößlein steht, | die brandende See
überragend, | erblickt man am Bogenfenster
| eine schöne kranke Frau, | zart
und blaß, | die Harfe spielend und
singend, | und der Wind durchwühlt
ihre Locken | und trägt ihren Gesang |
über das sturmbewegte Meer. ‖
Kritische Notiz zur vorstehenden Lösung.
Dergleichen Verse sollten gleichviel Hebungen haben, um musikalisch zu
wirken. So z. B. sollten die 2 ersten Verse auf Seite 102 als Einer geschrieben
sein oder die anderen kürzer. Man möge versuchen, die Schlußverse
auf Seite 103 so zu teilen:
Eine Hebung mehr oder weniger thut hier wenig zur Sache. Aber im
ganzen sollte Gleichmäßigkeit herrschen. So könnte beispielsweise auch stehen:
1. Das Sonett ist eine Art Epigramm von 14 Verszeilen, welches
in den ersten 8 Versen breiteren Raum für die Exposition zum
epischen Vordersatz gewährt, während die 6 folgenden Zeilen den lyrischen
Nachsatz (die Klausel) bilden. Die englischen Abarten (das Shakespearesche,
sowie das Spencersche Sonett) sind beachtenswert. Die
Shakespearesche Form mit 3 kreuzreimigen Vierzeilen und einer zweizeiligen
Schlußstrophe haben wir bereits I, 534 dieser Poetik erwähnt.
Die Spencersche Form ist noch schöner und vollendeter (abab, bcbc,
cdcd, ee). Sie baut sich wie die Spencerstanze (vgl. § 41 dieses
Bands) auf dem französischen Huitain (Achtzeile) auf; nur hat sie
lauter gleichlange Verse.
2. Da das Sonett aus 8zeiligem Aufgesang und 6zeiligem Abgesang
besteht, so muß vor allem der für dasselbe bestimmte Stoff
in zwei Gruppen abgegrenzt werden. Zuvor ist jedoch der Gedanke
zu prüfen, ob er dieser Form zu vermählen ist.
3. Beide Stoffteile müssen sich nämlich zu einander verhalten,
wie Vordersatz zu Nachsatz, oder Satz zu Gegensatz. Der letzte Teil
(die beiden Terzinen) giebt gewissermaßen die Moral. (Das Epigrammatische
des Sonetts kann sich ausnahmsweise auch in der letzten
Zeile der zweiten Terzine, also in der letzten Verszeile konzentrieren.)
4. Aus diesem Grunde darf niemals der Jnhalt aus dem ersten
Hauptteil in den zweiten überlaufen. Vielmehr muß zwischen den
beiden Hauptteilen des Sonetts ein Ruhepunkt und eine syntaktische
Pause angebracht werden.
5. Da jeder Teil wieder aus zwei Unterabteilungen besteht, so
umfaßt das Sonett vier Teile, nämlich 2 Quartette und 2 Terzinen.
(Prokesch-Osten [vgl. Kleine Schriften Bd. 6] scheidet in 8 und 6 Zeilen;
nur ein Sonett schreibt er in 3 Abschnitten d. i. in 4 + 4 + 6 Zeilen,
die übrigen sämtlich in 2 Abteilungen d. i. in 8 + 6 Zeilen. Schönaich=
Carolath setzt einmal [S. 104 seiner vortrefflichen „Dichtungen“ 1883]
die beiden Terzinen an den Anfang, um mit den beiden Quatrains
zu schließen. Das Mißliche des materiellen Übergewichts des 8 zeiligen
Schlußteils mildert er, indem er den Jnhalt aus den beginnenden
Terzinen in die Quartette überlaufen läßt und den Nachsatz erst mit
der achten Zeile beginnt. Wir müssen uns aus ästhetischen Gründen
für Beibehaltung der traditionellen Sonettenform erklären, welche in
ihrer formellen Schönheit und Proportionalität das Gesetz vom goldenen
Schnitt bestätigt. Wenn der Lehrsatz der Ästhetik: „Gewicht ersetzt
die Maße“ richtig ist, und somit der kürzere Teil bei einem Zusammengesetzten
dem längeren das Gleichgewicht zu halten vermag, so müssen
auch die beiden Terzinen am Schluß des Sonetts den beiden Quatrains
die Wagschale ebenso halten können, wie z. B. der kürzere
Abgesang im lyrischen Gedicht die beiden Stollen des Aufgesangs aufzuwiegen
vermag.)
6. Die Reime der lyrischen Sonettform sind mit Rücksicht auf
die im Sonett herrschende weiche Stimmung in der Regel und dem
Herkommen gemäß weiblich. Diese weiblichen Reime haben freilich das
Mißliche der kaum zu vermeidenden Endsilbe en. Bei vielen Dichtern
sind die durchaus weiblichen Reime nichts weiter als affektierte Nachahmung
der italienischen Art; die italienische Sprache bringt aber
männliche Reime nur mit äußerster Mühe auf, wie denn beispielsweise
der ganze Ariost deren höchstens 3 oder 4 haben mag.
7. Dem Anfänger ist für die beiden Quatrains der schon von
Petrarka beliebte umarmende Reim anzuraten, da derselbe das Auseinanderfallen
in Zweizeilen verhindert und daher auch in der Vierzeile
Verwendung findet. (Erwähnenswert bleibt die ältere italienische
Sonettenform, bei welcher die erste Hälfte eine Siciliane ist, welcher
eine um 2 Zeilen verkürzte, anfänglich darauf reimende folgt.)
8. Aus Gründen des Wohlklangs möchten wir uns gegen die
Anwendung von Fremdwörtern auch in den fremden Formen erklären.
Aufgabe. Reim der beiden Quatrains aren, onte (durch
Jahren und thronte diktiert), Reim der Terzinen unden, auchen
(durch verbunden und tauchen gegeben).
Das Liebesfrühlings-Haus.
Stoff. 1. Sei, Haus, uns gegrüßt, das so reich an Liebesjahren
ist, und in welchem der Schöpfer unzähliger Liebesgedichte thronte; du
trotzest dem Zahn der Zeit, denn dich beschirmen die Götter.
2. Du trägst Rückerts Bild, dessen Frühlingsblume in deinen Räumen
weilte; er hat dir den seiner Braut gewährten Aufenthalt dadurch belohnt,
daß nun jeder zu dir wallfahrtet.
3. Möge mein Volk seinem Geist verbunden bleiben und in seine Dichtungen
sich versenken.
4. Dann erst wird es erkennen, welche anregende Kraft und welchen
Segen die tiefempfundenen Lieder Freimund Reimars atmen.
Lösung. Von C. Beyer.
1. Das Ritornell ist eine einzelne, für sich verständliche Dreizeile.
Die erste Zeile, welche häufig kürzer ist, als die beiden folgenden,
bringt meist einen Pflanzennamen als Anrede, während die beiden
andern den vollen Jnhalt des Textes bieten. Man nennt dieses Ritornell
das Blumenritornell.
2. Das Ritornell von Arricia hat die erste Zeile ebenso lang,
als die zwei übrigen, und stets hat die zweite Zeile andere Selbstaber
gleiche Mitlauter, und fast immer reimt die erste auf die
dritte, z. B. hangen, singen, bangen; minder, leider, Kinder.
3. Die zweite und dritte Zeile sind jambische Quinare, von denen
der letzte mit der ersten Verszeile reimt oder assoniert.
4. Die Mittelzeile ist reimlos.
5. Nur in seltenen Fällen vereinigen sich mehrere Ritornelle zu
einem Ritornellen-Cyklus.
6. Wenn jedoch ein Gedicht aus mehreren Ritornellstrophen besteht,
so hängen dieselben doch nicht durch das Reimpaar zusammen,
wie dies bei den Terzinen der Fall ist (vgl. § 40 dieses Bandes).
Aufgaben. Die erste Verszeile soll mit der dritten reimen.
Bei den Lösungen der Aufgabe b soll die erste Zeile verkürzt
sein.
a. Das Blumensträußchen.
Stoff. a. Du hast alle Sommerhäuschen nach der Liebsten durchsucht.
Endlich hast du sie gefunden und ihr ein Blumensträußchen gegeben.
b. Die Weinrebe.
b. Edle Weinrebe! Längst hat Frost und Kälte nachgelassen, damit du
blühen kannst.
Lösungen.
a.
b.
1. Die Terzine besteht aus 3 jambischen Fünftaktern. Obwohl
sie häufig genug nur weiblich gereimt ist, so ist doch (und nach Rückerts,
Heyse's u. a. Vorgang) aus ästhetischen Gründen die Abwechselung
des weiblichen mit dem männlichen Reimgeschlechte anzuempfehlen, um
der Eintönigkeit entgegen zu treten und Gelegenheit zur Anwendung
unserer vielen männlichen Reime zu bieten.
2. Zu vergessen ist nicht, daß den Schluß jeder Terzinendichtung
eine isoliert stehende Zeile bildet, welche mit der mittleren Zeile der
letzten Strophe reimt.
3. Besondere Beachtung verdient, daß jede Terzine für sich ein
strophisches Teilganzes zu bilden hat. Es ist also am Schluß einer
jeden Terzine (mit Ausnahme der letzten) ein syntaktischer Ruhepunkt
zu setzen, ─ eine selbst von Freiligrath (dem es Chamisso rügt), wie
von vielen neueren Dichtern übersehene Forderung.
Aufgabe. Jm Nachstehenden ist immer der Stoff für eine
Strophe abgeteilt. Der Terzinenreim für Zeile 1 und 3
jeder folgenden Strophe ist durch gesperrten Druck angedeutet.
Doch kann der Lernende nach Belieben abweichen.
Mein Vaterland.
Stoff. 1. Jch habe mein Vaterland stets geliebt. Doch wo ist
das Vaterland hienieden, wenn der Krieg die Völker gegen einander hetzt? ‖
2. Jst das ein Vaterland, wo die farbigen Grenzpfähle stehn, welche die
Völker wie Herden trennen? ‖ 3. Oder ist es da, wo die deutschen Adlerfahnen
vor Fremden wehen, die im Donner der Kanonen für ihre Sprache kämpfend
den Tod erleiden? ‖ 4. Mein Vaterland ist der Menschheit ganze Breite, wo
der Friede Gottes uns überschwebt und wo man Gott verehrt. ‖ 5. Es ist
da, wo die Eintracht wohnt, wo man mit Wonnen Lieder singt und Freiheitsmut
die Brust schwellen macht. ‖ 6. Es ist da, wo das Leben aus nie erschlossenem
Grund emporquillt und Menschen wohnen, die geistiges Leben
lieben. ‖ 7. Es ist da, wo es Liebe giebt und treue Augen erglänzen;
es ist die weite Welt. ‖ 8. Mein Vaterland hat keine irdischen Grenzen. ‖
Lösung. Von Julius Grosse.
1. Der Begriff Stanze ist ein ziemlich weitgehender, elastischer.
Man kann darunter zunächst und im weitesten Sinn die um 1 oder [109]
2 Verse verkürzte (oder auch um 1 oder 2 Verse verlängerte) Achtzeile
begreifen, nämlich folgende Formen:
a. Die im nächsten Paragraphen zu übende älteste Form der
Stanze mit nur 2 überschlagenden Reimen: die Siciliane;
b. Die in diesem Paragraphen zu behandelnde italienische
Form mit 3 Reimen: die Oktave oder Stanze im engeren
Sinn;
c. Die nach dem Muster des französischen Huitain (Achtzeile)
gebildete deutsche Achtzeile, welche 3 Reime hat und als
deren häufigste Form wir Heyse's Urica bezeichnen. Es
giebt noch ein altfranzösisches Huitain mit der Form
a a a b c c c b, wobei wie immer die Verslänge ungleich
sein kann, wenn nur die Symmetrie nicht aufgehoben ist.
Bezeichnen wir mit dem Accentzeichen (') unter dem Buchstaben
die längere Zeile, ferner mit 2 Accentzeichen (")
eine noch längere Zeile, so stellt sich das Schema ungefähr
so her: a a̗ a b c c̗ c b, oder auch a a a b̗ c c c b̗,
oder a a a̗ b c c c̗ b u. s. w. Oder so a a̗ a b͈ c c̗ c b͈ u. s. w.
(Ähnlich, nur daß jede 4. Verszeile stets den Reim b hat,
findet man lange Gedichte auch im Orientalischen; auch Beispiele
im Hariri. Nur arbeitet der Araber meist so: a a a a b b b a
c c c a, wonach der Reim a das Band des Ganzen ist.);
d. Die englische Spencerstanze mit 3 Reimen in 9 Versen,
wo an die französische Stanze ein Alexandriner angefügt ist;
e. Die englische Siebenzeile (Shakespearestanze) mit 3 Reimen
in 7 Versen (Shakespeare's Muster). Sie ist, wie schon
das Schema a b a b b c c zeigt, eine um das dritte a verkürzte
italienische Stanze, welche nach dem altfranzösischen
Balladen- und altitalienischen Canzonengesetz des an die
Strophe reimenden Anhanges gebaut ist (wie er auch im
Huitain vorkommt);
f. Die Stanze (Waltherstanze), welche Walther von der Vogelweide
anwandte: a b a b c c c oder a b a b c d d c.
g. Die spanische Decime, eine Stanze mit 5 Reimen in
10 Versen.
2. Die Stanze oder Oktave im engeren Sinn, deren Technik
dieser Paragraph darthun soll, besteht aus 8 fünftaktigen jambischen
Versen, von welchen die 6 ersten alternierend reimen, während die
beiden letzten ein Reimpaar sind: a b a b a b c c.
3. Jhre Schönheit beruht auf dem melodischen Reimwechsel, dem
rhythmischen Ebenmaß von Vorder- und Nachsatz, auf der schönen Geschlossenheit
der 6 ersten Reimzeilen, welche durch Abwechselung des [110]
Reimgeschlechts eine angenehme, wellenartige Bewegung ergeben. Hierzu
kommt das freundliche, charakteristisch abschließende Reimpaar, welches
den Satz und den Sinn schließt und die Moral giebt.
4. Da die Einfügung männlicher Reime die Gliederung der Oktaven
in zweizeilige, aus Vorder- und Nachsatz bestehende Perioden
erleichtert, so empfiehlt sich für unsere Sprache die Abwechselung von
weiblichen und männlichen Reimen, so zwar, daß die Markierung des
abschließenden Nachsatzes (die 2., 4. und 6. Zeile) männlich ist.
5. Der männliche Schluß bei den Nachsätzen der 3 ersten Perioden
verleiht unserer deutschen Oktave ein charakteristisches Gepräge.
6. Aus ästhetischen Gründen der Symmetrie und des Wohllauts
raten wir dem Lernenden die Beibehaltung der traditionellen Reimfolge
a b a b a b c c.
7. Sorgfältig ist die inhaltliche Verbindung der 5. Zeile mit der
4. herzustellen, damit die Strophe nicht wie 2 Vierzeilen erscheine.
8. Die Zeilenlängen Schillerscher und Wielandscher Oktaven sind
wegen ihrer Willkürlichkeit zu tadeln. Wohl aber ist die ausnahmsweise
Einfügung von Alexandrinern zulässig, da ja hyperkatalektische
Quinare unter Hinzurechnung der Pausen den Alexandrinern gleichwertig
sind. Eigentliche Oktaven im engeren Schulsinne sind dies
freilich trotz ihrer 8 Zeilen ebensowenig, als z. B. die französischen
Huitains, wohl aber sind es Stanzen.
9. Den Wohlklang fördert es, wenn am Schluß je des 2. Taktes
eines jeden Verses eine Diärese gesetzt wird.
10. Ebenso ist es von Bedeutung, auf der 10. Silbe den Wortaccent
mit dem rhythmischen zusammenfallen zu lassen. Somit dürfen
beispielsweise Satztakte wie „Verheimlichungen“, „Heimlichkeiten“,
„herrliche“ &c. nicht den Vers schließen, was ja auch schon gegen die
Gleichheit der Silbenquantität des Reims verstoßen würde.
11. Viele gleichartige einsilbige Worte neben- und nach einander
müssen vermieden werden, da jedes von ihnen den Hochton
wie den Tiefton erhalten kann.
12. Zur Vermeidung der Eintönigkeit ist die ausnahmsweise Einfügung
von Anapästen gestattet. Allzuviele Anapäste würden den jambischen
Grundcharakter der Oktaven in Frage bringen.
13. Die von Rückert auch als lyrische Form verwertete Oktave
hat meist weibliche Reime.
14. Daß die Oktave auch für humoristischen Jnhalt geeignet
ist, beweisen die Oktaven von Graf v. Schack, die manche klägliche,
von prosodischen Jnkorrektheiten &c. wimmelnde Nachäffung gefunden
haben.
15. Die Oktave eignet sich insbesondere zu Prologen und zu
Epilogen, zu Festdichtungen, zu Widmungsgedichten, zu kulturhistorischen
Gedichten &c.
Aufgabe. Theodorichs Reue.
Stoff. 1. Mit tiefem Schmerz hört Theodorich den Preis des Toten,
aus seinen Augen brechen Thränen, ihn erfaßt ein Grauen, als wenn er gerichtet
worden wäre. Er seufzt tief und birgt sein weinendes Gesicht an die
Mauer der Säule, dann legt er sein königliches Geschmeide ab und eilt hinaus
in die finstere Nacht. ‖ 2. Jm Hofe eines Klosters vernahm man in der nämlichen
Stunde der folgenden Nacht den Ruf: „Steht auf, ihr Mönche, öffnet
das Thor, hier bin ich, nach dem ihr geschickt habt.“ Theodorich trat ein, vor
einer Nische lag ein vertieftes Grab. Ein Mönch sprach zu den übrigen: „Dieser
hat sich erboten, den Toten einzumauern.“ ‖ 3. Sie trugen mit seiner Hilfe
Odoakers Leichnam zur Gruft hinab, und allein, wie wenn er ihm etwas
abzubitten hätte, bog sich Theodorich über ihn. Dann schloß er den marmornen
Sarg, ergriff die Kelle, fügte Stein an Stein zum stillen Haus und bei
ihm saß der Mönch mit der Leuchte in der Hand. ‖ 4. Als am andern Morgen
die Gebetglocke ertönte, trat Theodorich aus dem Kirchengang und horchte
auf dem Marmorblock der letzten Stufe nach dem Klang derselben. Dann strich
er sich den Schweiß von der Stirn, ein tiefer Ernst lag auf seinen Zügen;
da flog vor allem Volke ein Adler über ihn hinweg. ‖
Lösung. Von Hermann Lingg.
1. Alle bei der Oktave gegebenen Vorschriften &c. haben mehr
oder weniger auf die Siciliane Anwendung, welche ja die Vorläuferin
der Oktave ist und aus 8 jambischen Verszeilen besteht, wie jene.
2. Sie schließt ihre Glieder durch den Reim zusammen (ab ab ab ab).
3. Ein strophisches Charakteristikum ist bei der Siciliane nicht
nötig, da sie in der Regel ein für sich bestehendes, in sich abgeschlossenes
Ganzes, also ein fertiges Gedicht bildet.
4. Demnach schließt sie ─ wie das Schema zeigt ─ auch nicht
mit einem Reimpaare ab, sondern mit einer vierten aus Vorder= und
Nachsatz bestehenden Periode.
5. Je nach dem Jnhalt hat die Siciliane männlichen oder weiblichen
Reim, oder auch abwechselnden männlichen und weiblichen Reim.
Aufgabe. Das Menschenherz.
Stoff. Ein dem Wassertod entflogenes Bienchen wird das trügerische
Gleißen des Wassers meiden; | ein durch die Angel belogenes Fischlein wird
nicht mehr an den Köder gehen; | ein Lamm, das man dem Wolf entrissen,
wird gern im schützenden Stalle bleiben; | nur das so oft betrogene Menschenherz
läßt sich immer von neuem ins Unglück ziehen. |
Lösung.
1. Diese Form, welche aus 10 trochäischen Viertaktern besteht,
ist in Spanien beliebt, wo der Grundcharakter der Sprache jambisch
ist. Jn unserer deutschen Sprache mit ihrem trochäischen Gepräge
ist sie weniger empfehlenswert, da nicht jeder Dichter es versteht, durch
überbrückende Satztakte die Diäresen zu vermeiden.
2. Um das Auseinanderfallen der Strophen in 2 Fünfzeilen zu
vermeiden, muß man die syntaktische Pause möglichst selten ans Ende
der 5. Zeile verlegen. Daher sollte das Schema a b a b a | c d c d c
möglichst vermieden werden.
3. Nachahmenswert ist das Beispiel Rückerts und in neuester Zeit
Johannes Fastenraths (vgl. die vielen Decimen in seinem Calderonbuch),
welche den syntaktischen Ruhepunkt ans Ende der 4. Zeile setzen.
4. Am gebräuchlichsten ist das Reimschema: abba, accd, dc,
sowie das aus 2 Vierzeilen mit abschließendem Reimpaar bestehende:
abab, bccb, dd.
Aufgabe. Nachstehender Stoff soll zu einer Decime verwendet
werden. Schema: abba, accd, dc.
Stoff.
Jch denke an dich, großer Calderon!
| Um dich würdig zu besingen,
bete ich zu Gott, | denn auch in der
Kunst betrete ich | das Heiligtum der
Religion. | Jch bete zu Gott, | wenn
ich mich dessen erinnere, was er dir
verliehen. | Durch die Gaben deines
Geistes | durftest du in einer Weise
Zeugnis von ihm ablegen, | daß jeder
anbetend die Knie beugen wird, | der
sich zu dir erheben will. |
Lösung. Von Johannes Fastenrath.
1. Der Reim in dieser, meist aus 8 jambischen oder auch trochäischen
Versen bestehenden poetischen Form ist durch die beiden ersten Zeilen
geboten. Das Schema ist in der Regel a b b a b a a b oder
a b a a b a a b.
2. Die beiden ersten Zeilen enthalten den laufenden Gedanken
für das Triolett; sie sind also gewissermaßen als Thema für die Weiterführung
zu betrachten.
3. Nachdem die erste Zeile als vierte Zeile wiedergekehrt ist und
zwei weitere Zeilen den Jnhalt fortgesponnen haben, schließen die beiden
ersten Zeilen das Ganze wie ein Refrain ab. Somit kehrt im Triolett
der gleiche Gedanke dreimal in gleicher oder verwandter Weise wieder.
4. Es ist eine Schönheit, wenn die wiederholten (oder nur kaum
veränderten) Verse eine neue Wendung im Gedankengang erzielen.
5. Die Verse brauchen nicht von gleicher Länge zu sein, wie schon
der Meister dieser Form, Charles d'Orléans, beweist. Jch setze zum
Beleg ein improvisiertes Triolett von Faust Pachler her:
Es versteht sich von selbst, daß die a=Zeilen unter sich gleich lang
sind und ebenso die b=Zeilen unter sich.
6. Von Abarten sind hier erwähnenswert die von Tandler in
9 Versen, wo die erste a=Wiederholung nicht den 4., sondern den
5. Vers bildet, sowie die von Klamer-Schmidt ebenfalls in 9 Versen,
wo die a=Wiederholung bereits auf der 3. Zeile eintritt.
7. Andere Abarten, deren wir im ganzen 14 verzeichnen könnten,
gehören nicht hierher. Die wichtigsten derselben, welche in der deutschen
Poesie zur Anwendung gelangt sind (nämlich: a. das zweistrophige
Triolett, b. das Rondel oder dreistrophige Triolett, c. das eigentliche
Rondeau oder Ringelgedicht, welches aus 13 jambischen oder trochäischen
Versen besteht und in 2 ungleiche Strophen von 8 und 5 Zeilen zerfällt
&c.) haben wir Bd. I S. 579─583 dieser Poetik ausführlich
abgehandelt.
Aufgabe. Ein Triolett ist zu bilden, dessen Grundgedanke
ist: Das geistig Schöne steht doch höher als das sinnlich Schöne.
Dieser Gedanke durchleuchtet das bestimmende Reimpaar:
Jm weiteren Verlauf kann angeführt werden: Zwar nenne ich
dich nicht geschmacklos, wenn du nur Geschmack für jenes Schöne hast, das
du sehen oder hören kannst (also für bildende Kunst und Musik). Aber die
Poesie wirkt nicht auf die Sinne, sondern auf den Geist, und darum steht sie
und der Geschmack dafür höher und ist edler, wie der Geist edler ist als der
Körper.
Lösung. Von Faust Pachler.
1. Der Lernende, welcher unsere sämtlichen Übungen mit Erfolg
durchgearbeitet hat, wird gut daran thun, wenn er zu seiner Selbstvertiefung
einen Augenblick inne hält und nunmehr unter Zugrundelegung
eines bestimmten dichterischen Stoffes Umbildungen in allen
möglichen Formen vornimmt.
2. Da durch diese Umbildungen gewissermaßen ein Examen und
eine Art Rekapitulation beabsichtigt ist, so möge der Anfänger bei Ausführung
der Teilaufgaben sich immer erst das Regelwerk der einzelnen
bezüglichen früheren Paragraphen ansehen.
3. Jndem wir durch unsere nachstehende, methodisch geordnete Aufgabe
die Hand zur Wiederholung unseres ganzen Systems bieten,
wollen wir doch nicht alle Möglichkeiten erschöpfen, sondern wir lassen
dem Lernenden noch viele Wege offen, die dem warmen Vertiefen in
die beiden ersten Bände sich von selbst erschließen werden.
4. Der Lernende möge die Lösungen immer erst dann vergleichen,
wenn er die eigene Lösung vollendet haben wird.
5. Wesentlich ist bei allen Lösungen die strenge Beachtung des
deutschen Accents, um unserem Accentprinzip (gegenüber dem quantitierenden)
zum Sieg zu verhelfen, ─ eine Aufgabe, welcher unser
ganzes Streben in allen Bänden dieser Poetik gewidmet war.
Aufgabe. Es sollen Umbildungen des nachfolgenden Gedichts
hergestellt werden und zwar:
1. im Jambus,
2. im Trochäus,
3. im Anapäst,
4. im sog. Mutakarib (Versmaß des Schah-Nameh und
des Jskandernameh ⏑─́– | ⏑─́– | ⏑─́– | ⏑–),
5. im Distichon,
[116]6. im jambischen Sechstakter (Trimeter),
7. im anapästischen Achttakter (Tetrameter),
8. im Alexandriner,
9. in Hinkejamben,
10. im Hendekasyllabus,
11. in der Allitteration,
12. in der Assonanz,
13. in der mittelhochdeutschen Nibelungenstrophe,
14. in der Ghaselenform,
15. in der Sonettform,
16. in der Oktave,
17. in der Siciliane,
18. im serbischen Trochäus,
19. in der neuen Nibelungenform (a. Gebrochene Nibelungenstrophe
mit eingefügten Anapästen. Reimschema:
xaxa. b. Gebrochene Nibelungenverse ohne
Anapäst),
20. im trochäischen Viertakter,
21. im jambischen Viertakter &c.
Das sterbende Alpröslein. Von C. Beyer.
Stoff.
Lösungen. Von Karl Putz.
1. Jambus.
2. Trochäus. (Fünftakter.)
3. Anapäst.
4. Mutakarib. (⏑─́– | ⏑─́– | ⏑─́– | ⏑–)
(NB. Das Mutakarib kann in unserer Sprache nur anapästisch skandiert
werden [vgl. § 47], also so: ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ ⏑ –.)
5. Distichon.
6. Trimeter.
7. Anapästische Achttakter.
8. Alexandriner.
9. Hinkejamben.
10. Hendekasyllabus.
11. Allitteration.
12. Assonanz.
13. Alte Nibelungenstrophe.
14. Ghasel.
15. Sonett.
16. Oktaven.
17. Sicilianen.
18. Serbische Trochäen.
19. Romanzenform (mit Anapästen).
(Ohne Anapäst.)
20. Trochäischer Viertakter.
21. Jambische Viertakter (mit charakterist. Strophenschluß).
Jn ähnlicher Weise, wie dies die Übungen des § 44 darthun,
lassen sich Übungen mit jedem beliebigen Stoff anstellen. Man nehme
beispielsweise das Schützenlied aus Tell (3. Akt 1. Sc.), von dem die
erste Strophe etwa so in der Umwandlung aussehen würde:
a. Um einen Trochäus verlängert:
b. Jambisch:
c. Anapästisch:
d. Daktylisch:
Der Lernende, welcher nach Vollendung ringt, wird die Aufgaben dieses
Bandes bis zur Geläufigkeit wiederholen, dazu sich neue Aufgaben stellen, um dieselben
mit der Ausdauer eines Rückert zu lösen. (Vgl. S. 50 d. Bds.) Τῆς
δ'ἀρετῆς ἱδρῶτα θεοὶ προπάροιθεν ἔθηκαν! zu deutsch: Vor die Tugend
setzten die Götter den Schweiß! (Hesiod in „Werken und Tagen“. V. 266.)
Jn der That war zu allen Zeiten dem gewissenhaften, ernsten und ausdauernden
Streben niemals die Palme des Erfolges versagt!
1. Nachdem wir in genügender Anzahl Übungen in jambischen,
trochäischen, anapästischen und jambisch=anapästischen, daktylischen und
künstlichen Reimstrophen geboten haben, lassen wir der Vollständigkeit
halber und zum Abschluß der Strophenbildungen noch einige Übungen
aller möglichen Rhythmen folgen, nämlich die gebräuchlichsten, beliebtesten,
vierzeiligen antiken Strophen, welche durch Zusammensetzung
vorgeschriebener Metren herzustellen sind. Große Odenmaße, die nur
mit Zuhilfenahme des Bleistifts zu skandieren sind, lassen wir begreiflicherweise
gerne bei Seite.
2. Unser ernstes Bemühen, den deutschen Accent in seine Rechte
einzusetzen, möchte sich auch bei Bildung antiker Strophenformen bewähren.
Jndem wir ─ um nur eines zu betonen ─ von Spondeen
u. dgl. sprechen, könnte es für den Kurzsichtigen, Halbgebildeten oder
Eingebildeten den Anschein gewinnen, daß wir unserem Prinzip nicht
so ganz treu bleiben, sondern dem sog. Quantitätsprinzip Konzessionen
machen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Das Quantitätsprinzip ─
dies soll allen Anhängern desselben nachdrücklichst an dieser Stelle
wiederholt sein ─ ist nicht mehr zu rehabilitieren, und selbst wenn es
im Alt- und Mittelhochdeutschen nachzuweisen wäre, so darf es doch
für uns nicht mehr existieren. Das in der neuhochdeutschen Metrik
zu beachtende Gesetz darf nur das der Accentqualität sein!
Die Accentqualität richtet sich aber nach der Sprachweise, nach
der Prosa und ist durch und durch musikalischer und zugleich logischer
Natur. Jeder Vers sollte so gebaut sein, daß er ohne darüber geschriebenes
Schema schon prima vista richtig gelesen, resp. betont werden
muß, so zwar, daß diese richtige Betonung weder vom Studium [126]
noch vom Zufall abhängig wäre. Platen, den Ludwig Eichrodt einen
Sprachverderber nennt, fehlt in dieser Beziehung gewöhnlich, was viele
seiner Schüler vergeblich zu bemänteln suchen. Freilich erschließt keiner
wie er das Geheimnis der Form, ja, gerade durch seine Verstöße und
seine Konsequenz thut er es; er verdient daher ernstes Studium und
alle neueren Dichter werden bekennen müssen, daß sie in der Lyrik ─
was Praxis anlangt ─ formell ihm, sowie innerlich dem großen
Rückert das meiste verdanken. (Man vergleiche Enks deutsche Zeitmessung
mit Bezug auf Platen, sowie Rückerts Kritik des Siebenmeers.)
Aber alle Verdienste Platens haben seine fehlerhaften, undeutschen Betonungen
nicht entschuldigen können.
Wir haben es oft genug ausgesprochen und wiederholen es hier
ausdrücklich, daß unser Spondeus entweder ein Hochton mit einem
Tiefton oder umgekehrt ist, daß es im Deutschen also nur fallende oder
steigende sog. Spondeen giebt. Der sog. Spondeus „Ā́cht gīeb“, oder
„Gīeb ā́cht“ kann als tonlich schlechter Trochäus oder schlechter Jambus
aufgefaßt werden. Man ersieht dies, wenn man ein Wort zusetzt,
z. B.: „Ācht giĕbt ēr, nĭcht sīe“; oder „Gĭeb ācht ĭn dēinĕm Krēisĕ“;
man ersieht es ferner bei Spondeen wie Bā́umōbst und Ṓbstbāum.
Die sog. tonlosen Silben und die Pausen bestimmen alles weitere,
und die Volkssprache hilft auch dem verknöchertsten Pedanten auf die
richtige Spur. (Jch erinnere beispielshalber nur an die Melodie ihrer
Schnadahüpfl. Mancher Schulmetriker würde sicher unser „Ob's d'
hergehst“ &c. als Molossus (– – –) bezeichnen, während es doch Amphibrach
(⏑ – ⏑) ist, denn der schwere Ton liegt auf „her“.)
Das, was Spondeus heißt, ist im Deutschen nur unter besonderen
Umständen möglich: nämlich durch zwei Worte von gleichem Gewicht,
zwischen denen eine oder zwei Senkungen verloren gegangen sind,
oder wenn in einem Worte sämtliche Silben schwer für die Zunge sind.
„Feldhauptmann“ wäre zu lesen – ⏑ ⏑, „Feldlager“ – ⏑ ⏑. „Jm
Feld lagert“ bildet einen Antispast (⏑ ─́ – ⏑) und hat den richtigen
Spondeus, aber doch nur durch Konzession. (Dieser Antispast ist nämlich
, wobei das Zeichen ⏜ die unterdrückte Senkung bedeutet.)
„Gieb, gieb“ ist ein echter, reiner, unkonzessionierter Spondeus, aber
auch mit unterdrückter Senkung. Wir Deutschen lösen niemals eine
Länge in zwei Kürzen auf oder rechnen zwei Kürzen für eine Länge.
Nicht die Länge der Silbe, nicht ihr sprachlicher Wert, sondern nur
ihre logische oder syntaktische Bedeutung und endlich der Rhythmus im
ganzen, sowie das nachbarliche Verhältnis im einzelnen bestimmt, was
sie ist: ihre Bedeutung hängt also nur vom Accent ab.
Dies vorausgeschickt, können immerhin auch die antiken Maße
größtenteils nachgeahmt werden; aber die Verteilung der Accente, da= [127]
mit sie der antiken Form gleichkommen, ist sehr, sehr schwer! Vor der
Hand und bis das deutsche Accentgesetz überall praktische Geltung,
Verwendung und Anerkennung gefunden haben wird, heißt es eben, sich
so gut als möglich mit „steigenden“ und „fallenden“ Spondeen behelfen.
3. Was die Strophik betrifft, so halten wir dafür, daß ein Übergreifen
einer Strophe in die andere im Deutschen gerade so gegen alle
Regel der Melodie ist, wie das Übergreifen des Sinnes von einem
Hexameter in den andern. Es wäre wohl vom deutschen Dichter zu
verlangen, das Versmaß äußerlich richtig zu stellen und den Stoff
nach Fuß und Elle abzumessen. Die meisten unserer Dichter (am
seltensten der Meister der Ode, Johannes Minckwitz) gestatten sich bis
in die Gegenwart nach Art der Alten das Überlaufen einer Strophe
in die andere.
4. Man sollte in der Kritik antiker Maße die allergrößte Strenge
walten lassen, denn sie nähern sich in unserer neuhochdeutschen Sprache
am meisten der Prosa, die ja gleichfalls reimlos ist. Je höheren
Schwung sie verlangen und zeigen, desto natürlicher muß ihre Sprache
klingen, desto logischer müssen sie sein.
1. Jn der sapphischen Strophe waltet trochäisch=daktylischer Rhythmus,
so zwar, daß jeder trochäischen Verszeile nur ein daktylischer
Takt eingefügt ist.
2. Dieser den monotonen, trochäischen Gang unterbrechende Daktylus
findet sich bei den Alten in den drei ersten Zeilen der vierzeiligen
sapphischen Strophe je als dritter Takt eingefügt, während er im vierten
(abschließenden sog. adonischen) Vers am Anfang steht, wie nachstehendes
Schema beweist:
– ⏑ – ⏒ – ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏒
– ⏑ – ⏒ – ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏒
– ⏑ – ⏒ – ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏒
– ⏑ ⏑ – ⏒
Horazisches Schema der kleinen sapphischen Strophe:
3. Die Schönheit der sapphischen Strophe liegt in der melodischen
Abwechselung des Daktylus mit dem Trochäus, wozu sich in vielen
Fällen noch der Spondeus gesellt. Platen und Voß fügten als zweiten [128]
und letzten Takt eines jeden Verses einen Spondeus ein. Andere
(z. B. Matthisson und Hölty), denen der Spondeus nicht wesentlich
war, oder die ihn an die Spitze des Verses rückten, haben den Daktylus
schon als zweiten Takt eingefügt (z. B. Eīnsām wāndĕlt dĕin
Frēund ĭm Frǖhlĭngsgārtĕn). Ein kirchlicher Dichter verlegte den
Daktylus sogar an den Anfang der Verse.
4. Die größte Geschmeidigkeit verliehen der sapphischen Strophe
Dichter wie Klopstock, Stolberg, Matthisson &c. dadurch, daß sie den
Daktylus in jeder Verszeile um je einen Takt tiefer hinabrückten. Wir
empfehlen diese Form nicht, weil sie die Auffassung eines einheitlich
gebauten Verses mindestens sehr erschwert.
5. Vielmehr entscheiden wir uns bei unseren Übungen für jene Form,
welche nach dem Trochäus den Spondeus und sodann den Daktylus bringt.
6. Der Rhythmus der sapphischen Strophe verlangt mehrfach
Spondeen und weibliche Versschlüsse; auch fordert er die Vermeidung
des Zusammenfallens von Satz- und Verstakten.
Aufgabe. Nachstehender Stoff soll zu sapphischen Strophen
verarbeitet werden.
Segen der Schönheit.
Stoff. 1. Wenn ich sinnend über den Marktplatz gehe, fühle ich mich
inmitten der wogenden Menschenflut einsam, und ich seufze. ‖ 2. Doch wenn
plötzlich aus dem Menschengewühl ein freundliches Frauenantlitz auftaucht und
mich anblickt, ‖ 3. um meinem Blicke ebenso rasch wieder zu entschwinden,
dann ist mir das Herz wie umgewandelt. Nimmermehr sänge oder erzählte
ich, wie mir zu Mut ist, es glänzt mein Blick, ‖ 4. das Blut wallt freier,
im Vorwärtsschreiten tröste ich mich und bin erstaunt über den Segen der
Schönheit; mit einemmal erscheint mir die Welt freundlich.
Lösung. Von Rob. Hamerling.
(Verteilung kurzer rhythmischer Reihen wie: „es | glänzen die Blicke | mir“
auf drei Verszeilen sind in Hinsicht auf die äußerliche Schönheit bedenklich.)
1. Die alkäische Strophe hat in den beiden ersten (alkäischen)
Versen jambisch=anapästischen Rhythmus, oder (bei Verstärkung der
Cäsur durch eine syntaktische Pause) jambischen und daktylischen Rhythmus.
Die 3. Verszeile ist ein hyperkatalektischer, jambischer Viertakter;
die letzte führt daktylisch=trochäischen Rhythmus ein.
Schema: ⏑ – ⏑ – ⏒ | – ⏑ ⏑ – ⏑ ⏓
⏑ – ⏑ – ⏒ | – ⏑ ⏑ – ⏑ ⏓
⏑ – ⏑ – ⏒ – ⏑ – ⏑
– ⏑ ⏑ – ⏑ ⏑ – ⏑ – ⏑
2. Die Schönheit dieser Strophe liegt in ihrer Beweglichkeit,
sowie in dem schönen Rhythmuswechsel, der einen charakteristischen
Strophenabschluß ermöglicht und sie mehr als andere antike Strophen
für unsere Sprache empfiehlt.
3. Wesentlich ist die Cäsur inmitten der beiden ersten alkäischen
Verse, die freilich manche Neuere nicht durchweg beachtet haben.
4. Die 5. Silbe der alkäischen Verse ist bei Horaz niemals eine
Kürze. Platen hat sich ihn zum Muster gewählt.
Aufgabe. Nachstehender Stoff soll in alkäische Strophen
übertragen werden.
Abendstimmung.
Stoff. 1. Jch schreite am Meere dahin. Feierlich still ist die Natur.
Der Mond gießt sein Licht über die brandenden Wogen des Meeres. ‖ 2. Jenseits
des Meeres kenne ich ein Grab, wo Dornen und Unkraut wuchern. ‖
3. Du fernes, verlassenes Grab, ob dich wohl der Mond in der Nacht küßt,
wenn der Wind die Gräser bewegt? Mich erfasset großer Schmerz und dazu
läuten aus der Ferne die Glocken. ‖
Lösung. Von Ernst Ziel.
(Das freundliche Gedicht würde noch größeren Eindruck machen, wenn die
beiden letzten Zeilen [d. h. ihr Jnhalt] die 5. und 6. Zeile ergeben würden.)
1. Man unterscheidet zwei Formen asklepiadeischer Strophen.
Die erste enthält drei asklepiadeische Verse und einen abschließenden
glykonischen Vers, während die zweite an Stelle des dritten asklepiadeischen
Verses einen pherekratischen Vers eingefügt hat und dadurch
dreigliedrig wird: ein trikolisches Tetrastichon.
1. Form: – ⏒ – ⏑ ⏑ – | – ⏑ ⏑ – ⏑ –
– ⏒ – ⏑ ⏑ – | – ⏑ ⏑ – ⏑ –
– ⏒ – ⏑ ⏑ – | – ⏑ ⏑ – ⏑ –
– ⏒ – ⏑ ⏑ – ⏑ –
2. Form: – ⏒ – ⏑ ⏑ – | – ⏑ ⏑ – ⏑ –
– ⏒ – ⏑ ⏑ – | – ⏑ ⏑ – ⏑ –
– ⏒ – ⏑ ⏑ – ⏒
– ⏒ – ⏑ ⏑ – ⏑
2. Es herrscht der Choriambus (– ⏑ ⏑ –) vor und zwar ist in der
letzten Zeile 1 Choriambus, in den andern Zeilen je 2 Choriamben
zwischen einen halbierten gestellt. Die beiden ersten und die beiden
letzten Silben jedes Verses ergeben wieder einen ganzen Choriambus.
3. Der den Hauptteil der Strophe bildende asklepiadeische Vers
gleicht dem Pentameter durch den Einschnitt des Verses in der Mitte;
ja, er müßte als solcher erkannt werden, wenn sein vorletzter Takt
anstatt eines Trochäus ein Daktylus sein würde. Der Unterschied
liegt darin, daß beim Pentameter der 1. Takt ein Daktylus sein kann,
während der vorletzte ein solcher sein muß. (Vgl. Poetik I, 357.)
4. An Schönheit gewinnen die Verse der asklepiadeischen Strophe,
wenn sie mit einem trochäischen Spondeus beginnen. Klopstock, Platen
u. a. haben ihre Strophen (nach Horazens Vorgang) mehrfach
auf diese Weise gebildet (I, 522 dieser Poetik. Vgl. Platens Werke
II, 179).
5. Bei den neueren Dichtern ist der erste Takt meist ein reiner
Trochäus.
Aufgabe. Nachstehender Text soll in der Form der 2. asklepiadeischen
Strophe wiedergegeben werden.
An die Gräfin Pieri in Siena.
Stoff. 1. Nur wenigen Frauen fielen Schönheit und Reiz anheim;
auch Reichtum ist selten verteilt. Aber viel seltener findet sich mit Reichtum
und Schönheit ein teilnehmendes, großes Herz vereint. ‖ 2. Mit diesen Vorzügen
ausgestattet, sehe ich dich dem würdigen Gatten geeint. Seinem Dasein
verleihst du zwar nicht Prunk, wohl aber Gehalt. ‖ 3. Dichtkunst, Musik,
Geselligkeit heben dein Leben empor (wie es der Deutschen ziemt), ja, erheben
dich aus dem einförmigen Kreislauf des schlaftrunknen Jtaliens. ‖ 4. Mit
Gastfreundschaft nahmst du den Dichter auf. Dafür bietet er dir den Scheidegruß,
weil der Frühling gekommen ist und er an die Abreise denken muß. ‖
5. Es ist schön, sich seinen Herd zu gründen; doch nicht minder schön ist es,
unabhängig sich selbst zu leben, zu reisen und wohlwollende Menschen kennen
zu lernen, ─ gleichsam zu stehen auf hohem Verdecke zu Schiffe.
Lösung. Von Platen (Werke II, 186).
Diese Lösung zählt zu den schönsten Oden Platens; leider ist die Skansion
nicht durchweg korrekt. Man vergleiche:
Platens Skansion.
Str. 1. Aūch Rēichtǖ́mĕr
Str. 1. Eīn tēilnḗhmĕndĕs
Str. 2. Dēm Schȫnhēit ĕs ŭnd āuch
Gābĕn
Str. 3. āus ēinfȫ́rmĭgĕm
Deutsche Betonung.
Ăuch Rēichtü̆mĕr
Ĕin tḗilnēhmĕndĕs
Dĕm Schȫnhĕit ē̆s ŭnd ăuch Gābĕn
ăus ḗinfȫrmĭgĕm
Die letzte Strophe klingt nicht gut; auch würde die Umstellung der beiden
letzten Zeilen zu empfehlen gewesen sein.
(Jm Sinne des § 66 der Poetik, Bd. II.)
Goethe. ──────
Geheimnisse, allgemeine Gesichtspunkte, Kunstgriffe, Fingerzeige &c.
1. Wer ein Gedicht machen will, wird dazu durch einen Gedanken, durch
eine Empfindung, durch eine bestimmte Gelegenheit veranlaßt.
2. Um den jeweiligen Stoff zu gewinnen, muß er sich die Frage vorlegen:
Was will ich besingen? An welchem Gedanken soll sich mein Gedicht
aufranken? Welchem Gefühle soll es Ausdruck verleihen? Welche Lehre oder
Nutzanwendung soll verkörpert wexden? Was will ich erzählen? Was soll
dramatisch zur Darstellung gelangen? Was oder wieviel giebt das Gefühl, der
Einfall, der Anlaß, die Begebenheit; oder viel häufiger noch: Jst das auch
genug?
3. Wo liegt die Pointe und wie gelange ich dazu?
4. Die auf diese Weise anschießenden Gedanken bringe der Lernende
(wenigstens im Anfange seines Produzierens) zu Papier, disponiere dieselben,
ordne sie (behufs strophischer Einteilung) in Gruppen, suche sie zu idealisieren
und ─ zu versifizieren.
5. Er muß geradeaus schauen, niemals seitwärts, und er darf nur bieten,
was er beim Geradeausschauen erblickt, ─ sonst nichts!
6. Er muß steigern, viel, aber nicht alles bringen.
7. Er muß das Besondere, das etwa Persönliche &c. zum Allgemeinen
erheben.
8. Er muß klar ─ und vor allem natürlich sein.
[134]9. Der Charakter des Stoffes wird Rhythmus, Versmaß, Strophenschema
(wie wir dies in den Aufgaben dieses Hauptstücks zeigen werden) meist von selbst
ergeben. Der Lernende muß aber darnach wohl prüfen, ob nicht durch Verlängerung
oder Verkürzung eines Verses oder einer Strophe, durch veränderte
Reimstellung &c. &c. dem Gedichte eine größere Wirkung verliehen werden kann.
10. Und wenn dies bei Einer Strophe nötig geworden, muß er darauf
achten, wie er es bei den andern auch so mache, ohne daß der Leser etwas
von Überarbeitung merkt.
11. Je strenger die gewählte Form und je enger die Strophe ist, desto
besser wird sie für die Übung sein. Wenn der Dichter nur wenig Raum hat,
so wird er das Überflüssige (oder doch nicht Notwendige) wegwerfen lernen
und bald sehen, wie nüchtern ist, was er behielt. Er wird es ausschmücken
wollen und es dabei nach allen Seiten drehen und wenden, bis es klappt.
12. Die dichterischen Erwägungen, Ausschmückungen, Wendungen &c.
brechen sich erst beim Versifizieren Bahn.
13. Jn der Ausführung soll der Lernende seiner Phantasie freien, vorwärtsdrängenden
Spielraum lassen, sofern er von dem Grundgedanken und dem
Ziel seines Vorwurfs nicht abweicht.
14. Die praktische Antwort auf die Frage: Wie entsteht ein Gedicht?
bieten die nachstehenden Aufgaben mit ihren Lösungen, die nicht durchweg als
Muster oder Schablonen aufgefaßt werden dürfen, wohl aber als instruktive
Beispiele für die Technik, wie sie vom pädagogisch unterrichtlichen Standpunkt
kaum besser zu wählen sein möchten.
15. Selbstredend müssen wir uns nach und nach immer mehr darauf
beschränken, das zu Übende lediglich andeutungsweise und im großen Umriß
zu bieten, um allmählich zur selbständigen Produktion überzuleiten.
16. Für Diejenigen, welche durch unsere bisherigen praktischen Übungen
noch nicht die erforderliche Fertigkeit im Bilden der Formen erlangt haben sollten
(so daß sie bei unserer nunmehrigen Bevorzugung des Jnhalts und Beschränkung
auf denselben auch noch mit erheblichen Formschwierigkeiten zu kämpfen haben,
vgl. S. 136 Ziff. 5), wiederholen wir die Forderung: behufs Vertiefung
in der Technik noch inne zu halten und insbesondere folgende
Formen bis zur Geläufigkeit zu üben:
a) Das antike Distichon (Epigramm in 2 Zeilen);
b) das italienische Ritornell (Dreizeile);
c) die Vierzeile (a b a b oder a b b a in losen Einfällen nach Art
von Rückerts Vierzeilen oder Halms Meinungen und Stimmungen);
d) die Achtzeile in allen Formen (vgl. § 41);
e) das Sonett in den Hauptformen (also petrarkisch, spencerisch,
shakespearisch);
f) das Ghasel (§ 21);
g) das Triolett und das Rondeau (§ 44).
Dies wären die bekanntesten Formen, welche schon in Einer Strophe das
ganze Gedicht geben.
17. Aber auch der gewandtere Lernende kann einen Augenblick verweilen,
um sich noch in den schwierigsten Formen zu versuchen: a. in der Terzinenform
(§ 40), in der Sestinenform (I, S. 547 dieser Poetik), in der Kanzone
(I, S. 558 dieser Poetik), in orientalischen Formen (a a a b c c c b d d d b
e e e b u. s. w.), in französischen a a a b̗ b b b c̗ c c c d̗, wo jeder 4. Vers
kürzer ist.
18. Auch die Übungen in antiken Versen können vor Eintritt eigener
Produktion wiederholt und gesteigert werden.
19. Auf diese Weise bekommt der Anfänger die Technik der Sprache und
der Dichtkunst in die Hand; dazu wird ihm auch das Übersetzen aus
fremden Sprachen (wo er nur mit dem Formellen zu thun hat), wesentlich
nützen. Dies betonen wir hier ausdrücklichst, indem wir auf das 8. Hauptstück
verweisen.
20. Wenn der Lernende auf diese Art Gewandtheit und Leichtigkeit erlangt
hat, wird er mit Erfolg zu den leichteren, einheimischen Gedichtformen,
bei denen die Aufmerksamkeit nunmehr dem Jnhalt zuzuwenden ist, übergehen
können. Diese Formen sind im Grunde genommen ja auch nur Nachahmungen.
Unterschied der Versbehandlung in der Lyrik, Didaktik, Epik und
Dramatik.
1. Der nämliche Vers ist in der Lyrik strenger nach musikalischen Grundsätzen
zu behandeln, als in den andern Arten; er hat die allergrößte Freiheit
im Drama.
2. Exempla docent! Wir finden in Goethe's Jphigenie, im Tasso, in
Die natürliche Tochter &c. kaum Einen dramatischen Vers, in Kleists Stücken
kaum Einen lyrischen, im Nathan fast nur einen Prosavers, bei Hebbel einen
häufig gepreßten dramatischen, bei Halm einen meist lyrisch überschwenglichen,
bei Grillparzer (außer in den Trochäenstücken) abwechselnd einen weich lyrischen
oder hart dramatischen, bei Schiller nicht selten einen lyrisch überschwenglichen,
meist aber schwungvoll dramatischen Quinar. Bei Rückert wie bei Uhland begegnen
wir einem undramatischen Quinarjambus u. s. w.
3. Es ist nicht das, was man Sprache nennt, es ist die Vers=, nicht
die Wortbehandlung, die das Charakteristische hierbei ausmacht.
4. Und fast möchte man den meisten neueren Dichtern den augenfälligen
Beweis liefern, daß sie das eigentliche Verhältnis ihres Verses zu dem versifizierten
Gedanken nicht kennen.
5. Wie oft erinnert Goethe's weicher Vers an den ruhigen Fluß der
epischen Rede! Wie oft Halms süßlicher an den Würzduft eines überfüllten
Blumengartens, an lyrisch stimmende Mondnacht oder Sonnenpracht! Wie
verschieden würden diese Dichter den gleichen Gedanken ausdrücken!
6. Der Anfänger möge sich behufs seiner gediegenen Durchbildung und [136]
Vertiefung eine kritische Vergleichung der gegebenen Muster nicht verdrießen
lassen. Der Zeitaufwand wird sich bei seinen ferneren Arbeiten tausendfach
lohnen!
Allgemeines und Besonderes. Disposition. Gesichtspunkte und
Grundsätze.
1. Goethe sagt: Die Welt ist so groß und das Reich des Lebens so
mannigfaltig, daß es an Anläufen zu Gedichten nie fehlen wird. Aber es
müssen alles Gelegenheitsgedichte sein, d. h. die Wirklichkeit muß die Veranlassung
und den Stoff dazu hergeben. Allgemein und poetisch wird ein
spezieller Fall eben dadurch, daß ihn der Dichter behandelt. Alle meine Gedichte
sind Gelegenheitsgedichte; sie sind durch die Wirklichkeit angeregt
und haben darin Grund und Boden.
2. Beim Gelegenheitsgedichte ist nicht nur die Gelegenheit ins Auge zu
fassen, sondern sehr häufig auch die persönliche Beziehung zur Feier oder zum
Gefeierten, d. i. zum Gegenstande. Gefühl und Anlaß, Zeitumstände und
persönliche Verhältnisse müssen entscheiden, ob das Gedicht allgemein oder ganz
besonders zu halten sei. Letzteres wird stets nur intim und für die Öffentlichkeit
kaum mitteilbar sein.
3. Wichtig ist für die Disposition des Aufbaus von Gelegenheitsgedichten
1. das Motiv, 2. die thematische Arbeit, 3. die Verzierung u. s. w. Die
praktischen Beispiele ergeben dem Strebsamen das Nähere.
4. Die von uns gelehrte Bestimmung der Strophen- und Verszahl ist
wichtig für den Anfänger. Der Meister wird die Strophenzahl niemals (oder
höchst ausnahmsweise) im voraus festsetzen.
5. Wir verwenden die bis jetzt geübten Rhythmen, Maße, Strophen &c.,
wie dieselben durch den Stoff diktiert werden, da wir von nun an den Schwerpunkt
unseres Unterrichts dem Jnhalt zuwenden müssen.
6. Wesentlich ist, daß unsere Gelegenheitsgedichte die wichtigen Dichtungsgattungen
der Didaktik, Lyrik, Epik und Dramatik vorführen, so daß wir das
vorliegende Hauptstück als die praktische Einführung in die im 2. Band unserer
Poetik gelehrten Dichtungsgattungen bezeichnen dürfen.
7. Dabei verfahren wir nach einem festen, auf pädagogischen Grundsätzen
beruhenden Plan, indem wir mit den leichtesten Dichtungsgattungen beginnen
und (der Mahnung des großen Pädagogen Pestalozzi eingedenk) recht stufenweise
zum Schwereren fortschreiten.
8. Wir üben zunächst die einfachsten Formen aus dem Gebiet der
Didaktik: also die Rätselspiele, welche der Prosa verwandt sind und sich durch
den Umstand empfehlen, daß sie gern von jungen Leuten gebildet werden, die
meist nichts weiter als Volksverse zu bilden vermögen. Sodann behandeln
wir die wichtigsten Formen der Didaktik, der Lyrik und der Epik bis hinauf
zu den einfachen Formen der dramatischen Poesie, deren gründliche Erfassung [137]
und Übung zweifelsohne befähigen wird, Stoffe zu größeren Dramen nach den
im 2. Bande unserer Poetik gebotenen dramaturgischen Vorschriften erfolgreich
zu verarbeiten.
──────
1. Die leichteste Form der Gelegenheitsgedichte ist das zur allegorisch=didaktischen
Poesie gehörige Rätselspiel.
2. Um das in Frage stehende Rätselwort in seinen Merkmalen
richtig fixieren zu können, hat sich der Anfänger für eine der nachstehenden
Rätselformen zu entscheiden:
a. Das Palindrom lautet von vorne wie von rückwärts gelesen
gleich (z. B. Edom ─ Mode);
b. die Homonyme gebraucht das nämliche Wort doppelsinnig
(z. B. Tībĕr und Tĭbēr-Tiberius);
c. der Logogriph oder das Buchstabenrätsel erzielt durch
Weglassung, Zusatz, Vertauschung eines oder mehrerer Buchstaben
einen neuen Sinn (z. B. Pflug, Flug, Lug);
d. das Anagramm versetzt einen oder mehrere Buchstaben,
um ein neues Wort entstehen zu lassen (z. B. Ampel ─
Lampe);
e. das Worträtsel malt den Begriff, das Wesen, den Nutzen,
die eigentliche oder auch uneigentliche Bedeutung des zu
erratenden Wortes (z. B. Korb in seinem Gebrauch und
in seinem figürlichen Sinn);
f. die Charade oder das Silbenrätsel giebt die Bedeutung
der Silben an, um sodann das zu erratende Wort umfassend
anzudeuten (z. B. Augen, Blick, Augenblick).
3. Die Formen a bis c sind poetische Spielereien und stehen der
Hauptsache nach an der Grenzscheide der Poesie und der Prosa.
4. Die Formen d bis f sind einer poetischen Behandlung fähiger.
5. Erstes Erfordernis bei Bildung der 3 letzten Formen ist eine
genaue Kenntnis von Begriff, Wesen, Jnhalt, Bedeutung &c. des in
Frage stehenden Wortes.
6. Es empfiehlt sich, das Einzelne in Prosa zu notieren, um es
sodann erst zu versifizieren.
7. Selbstredend ist darauf zu achten, daß der Stoff ebenso durch
seinen Jnhalt wie durch die zu erhaltende dichterische Form das Jnteresse
fesselt. Doch sind wir gerade bei den Rätseln aus dem in
Ziffer 3 angegebenen Grunde in der Auswahl weniger streng.
8. Wir geben von jeder Rätselform eine Aufgabe mit einer aufs
notwendige beschränkten Anleitung, die den Anfänger befähigen soll,
ähnliche Worte zu wählen und in analoger Weise Rätsel zu bilden.
1. Bildung eines Palindrom.
Aufgabe. Das Palindrom soll (in seiner ersten Verszeile)
das Wort Edom dem Worte Mode (in der zweiten Verszeile)
gegenüberstellen.
1. Man werde sich zunächst über den Begriff der Worte klar, um den
Stoff zu gewinnen.
Stoff. a. Von Esau's Beinamen Edom (d. i. der Rote) erhielten
bekanntlich seine Nachkommen den Namen Edomiter. Das von ihnen
bewohnte Land Edom war sehr kriegerisch und verhielt sich feindlich
gegen die Juden, denen es beim Zug nach Kanaan den Durchzug verweigerte;
es wurde später von Saul erobert und von David unterworfen.
b. Liest man das Wort Edom rückwärts, so entsteht das Wort Mode:
ein Begriff, den die Juden zu allen Zeiten pflegten; Modeartikel
findet man in allen ihren Buden.
2. Es handelt sich darum, das Wesentliche dieses Stoffes in zwei Sätzen
zusammenzufassen.
3. Der Anfänger wird bei der Versifizierung an Langzeilen denken.
Doch wurde von jeher instinktiv bei derartigen volksmäßigen, prosaverwandten
Spielereien dem jambischen Viertakter der Vorzug gegeben.
Lösung.
(NB. Zu Versuchen empfehlen wir die Rätselwörter Nebel ─ Leben;
Amor ─ Roma; Stab ─ Bast; Gras ─ Sarg &c.)
2. Bildung einer Homonyme.
Aufgabe. Die Homonyme soll die durch den Accent verschiedenartig
gewordenen Wörter Tībĕr und Tĭbēr in verschiedenem
Sinne gebrauchen.
1. Behufs Feststellung des Stoffes ist zu notieren:
Stoff. Der Tībĕr ist der bekannte Fluß, an welchem Rom liegt;
Tĭbēr oder Tiberius war jener römische Tyrann und Wollüstling,
welcher 37 nach Chr. unter Decken erstickt wurde.
2. Es empfehlen sich für den geringen Stoff ─ ähnlich wie bei der
vorigen Aufgabe ─ jambische Viertakter.
3. Der einfache Jnhalt begünstigt die volksmäßigen Reimpaare.
[139]Lösung.
(NB. Zu weiteren Versuchen empfehlen wir Flügel [vom Vogel] und
Flügel [Klavier]; Römer [Gebäude in Frankfurt a. M.] und Römer [Jtaliener];
Acht; Hut; Kiel; modern &c.)
3. Bildung eines Logogriph.
Aufgabe. Von dem Worte Pflug soll zu diesem Behufe der
erste, sodann der 2. Buchstabe weggenommen werden.
1. Stoff. Es ist Charakteristisches von jedem, durch die Weglassungen
neu entstehenden Wort niederzuschreiben, also etwa:
a. vom Pflug, daß er ruhig seine Bahnen zieht,
b. vom Flug, daß er die Luft durchschneidet und das geistige
Kriterium des Jdeengangs eines Dichters ist,
c. vom Lug, daß er in unserem Gedicht durch Kopfabnahme des
zweiten Wortes entsteht.
2. Der breitere Stoff des den Verstand herausfordernden Jnhalts verträgt
längere Zeilen, da jede Zeile eine Behauptung zu geben hat. Es
dürften sich Alexandriner empfehlen, welche durch ihre konstante Diärese einen
Ruhepunkt ermöglichen.
3. Bei der voraussichtlich vierzeiligen Strophe sind Reimpaare angezeigt.
4. Behufs enger Verbindung der Reimpaare wie zur Erreichung eines
abgerundeten Abschlusses ist Wechsel des Reimgeschlechts um so mehr nötig, als
mit Rücksicht auf den Parallelismus membrorum (der Glieder) keine einzige
Zeile verkürzt werden darf.
Lösung.
(NB. Für weitere Bildungen schlagen wir vor: Schmerz, Merz, Erz,
Herz, Scherz; Tasche, Asche; Ziegel, Jgel; Hammel, Hummel, Himmel; Semele,
Seele; Greis, Reis, Eis; Treue, Reue; Mohren, Ohren &c.)
4. Bildung eines Anagramms.
Aufgabe. Das Wort Rose, bei welchem durch Versetzung des
e das Wort Eros entsteht, soll zu einem Anagramm die Veranlassung
geben.
1. Stoff. Das Gedicht möge ohne weiteres sagen, daß durch Versetzung
des letzten Buchstabens vom fraglichen Worte der Name
eines Gottes entsteht. Sodann führe es Eigenschaft oder Bedeutung
dieses Gottes (Eros) näher aus.
2. Um die bei Rätseln beliebten jambischen Viertakter zu erhalten, möge
jeder Satz (Periode) sich über zwei Zeilen erstrecken und männlich abschließen.
3. Auf diese Weise erhalten wir männliche und weibliche Reime.
4. Wird der Aufgesang aus 2 zweizeiligen Sätzen und der Abgesang
aus einem das Ganze charakteristisch abschließenden Reimpaare bestehen, so
ergiebt sich für die Lösung folgendes Schema: a b a b c c.
5. Das Reimpaar c c kann verlängert werden und weiblichen Schluß
erhalten. Dies gestaltet die Strophe auch äußerlich anmutend.
Lösung. Von Th. Körner.
(NB. Weitere Übungen können folgende Worte behandeln: Ampel, Lampe;
Leib, Blei; Nagel, Angel, Algen &c.)
5. Bildung eines Worträtsels.
Aufgabe. Es soll ein das Wort Schiff behandelndes Worträtsel
gebildet werden.
1. Für Erlangung guten Stoffes sind die sämtlichen Merkmale zu vereinigen,
welche den Begriff Schiff ergeben oder ahnen lassen.
Stoff. Der allegorische Stoff darf den Namen Schiff, den er meint,
nicht gebrauchen. Aber er darf das Schiff tropisch als einen Vogel
bezeichnen, als einen Fisch (wegen der Leichtigkeit, mit welcher es
die Wellen zerteilt), als einen Elefanten (sofern es wie dieser
Türme trägt), als eine Spinne (weil es wie diese lebhaft die
Füße bewegt). Der Stoff darf schließlich von den Eisenzähnen
(Anker) sprechen, die sich so fest anzuklammern vermögen, daß das
Schiff jedem Sturme Trotz zu bieten vermag.
2. Geben wir jeder Behauptung eine gebrochen zu schreibende Langzeile
von 8 Jamben, so erhalten wir 12 jambische Viertakter.
3. Der Satzabschluß begünstigt männlichen Reim. Es ist also Wechsel
des Reimgeschlechts insofern angezeigt, als der Cäsurreim beim jambischen
Rhythmus nur weiblich sein kann.
4. Die sechs Behauptungen und Vergleiche (Vogel, Fisch, Elefant,
Spinne, Eisenzahn, Kraft) ergeben sechs Langzeilen oder 12 Kurzzeilen, also
eine 12zeilige Strophe mit dem reimwechselnden Schema: a b a b c d c d e f e f.
Lösung. Von Fr. Schiller.
(NB. Zu weiteren Worträtseln empfehlen wir: Feuer, Regenbogen u. a.,
die Schiller und Körner poetisch behandelt haben.)
6. Bildung von Silbenrätseln (Charaden).
Aufgabe. Jn der zu bildenden Charade soll das Charakteristische
von den Augen und dem Blick derselben angedeutet werden,
um das Ganze der Zusammensetzung (Augenblick) ahnend zu erschließen.
1. Stoff. Die beiden ersten (die Augen) werfen das dritte (den Blick)
uns zu. Mahnung: Ergreift das Ganze (den Augenblick) rasch,
denn plötzlich wird es entschwunden sein.
2. Wir bilden zwei ausgedehnte Sätze, von denen der erste die erste
Hälfte des Stoffs giebt, während der zweite die letzte Hälfte ausdrückt.
3. Bei gebrochener Schreibung entstehen wie bei der vorigen Aufgabe
weibliche und männliche Reime im Wechsel.
4. Die Satzlänge reicht zu jambischen Quinaren aus.
Lösung. Von Th. Körner.
(NB. Zu Charaden empfehlen sich: Nacht-Schatten; Steuer-Mann; Roß=
Bach; Bach-Stelze; Rhein-Fall; Licht-Schere; Gold-Papier &c.)
1. Es ist vor allem darauf zu achten, daß der erste Teil des
Epigramms (der Vordersatz) nur exponiere, während der zweite (Nachsatz [142]
oder Klausel) die Pointe zu geben hat, wie dies in charakteristisch
kürzester Weise beim epigrammatischen Distichon der Fall ist, wo der
Hexameter die Erwartung andeutet, während der Pentameter den Aufschluß
giebt.
2. Als präzise Form für das Epigramm ist auch das (§ 38)
behandelte Sonett zu erwähnen, das in den ersten acht Versen der
Exposition (oder dem Vordersatz) breiteren Raum gewährt, während
die sechs folgenden Zeilen den lyrischen Nachsatz (die Klausel) bilden
können, wie dies im allgemeinen die A. Möserschen Sonette (9─20
in „Schauen und Schaffen“) zeigen.
3. Zuweilen können mehrere Vordersätze durch einen einzigen
Nachsatz ihren Abschluß erhalten. Dies ergiebt das ausgebreitete
Epigramm.
4. Beliebte Epigrammformen sind:
a. das einfache Epigramm, wie es in elegischer Form
(vgl. S. 38), oder in Ritornellform, oder in Vierzeilenform
&c. in der Gelegenheitsdichtung (als Stammbuchvers &c.)
sich einführt;
b. das ausgebreitete Epigramm, welches bei Widmungen
(z. B. an Täuflinge, Brautleute &c.), ferner in Trinksprüchen
&c. vielfach Verwendung findet.
1. Einfache Epigramme.
Aufgabe. Wir veranlassen: a. einen Stammbuchvers,
welcher den Ausspruch einer Frau: „Jch liebe dich“ preist;
b. einen Stammbuchvers, welcher sich durch „Gedenke mein“
selbst empfiehlt.
1. Die Gedanken des Materials dürften folgende sein:
Stoff. Zu a:
Exposition:
Klausel:
Zu b:
Exposition:
Klausel:
2. a. Schon die erste Verszeile des Stoffes bei a deutet auf trochäischen
Rhythmus hin, für den sich auch der zögernde Jnhalt des Verses
eignet;
b. Dagegen verträgt der vorwärtsblickende, feierlich=elegische Jnhalt
des Stoffes von b jambischen Rhythmus.
3. a. Die erste rhythmische Reihe bei a ist ein trochäischer Viertakter und
kann ohne weiteres als Maß für die kleine Strophe dienen;
b. Die rhythmische Reihe bei b ist ausgebreiteter und erheischt als
Gefäß mindestens den jambischen Quinar.
4. a. Wenn bei a die Exposition 1 Zeile erhält, so beansprucht die
Klausel deren 2; es empfiehlt sich somit für das Epigramm a die
italienische Ritornellform (§ 106);
b. Der Stoff unter b kann auf 4 Zeilen ausgebreitet werden, von
denen die beiden ersten exponieren, während die zwei letzten die
Klausel bieten. Die Schlußzeile mag zur Gewinnung eines freundlichen
Abschlusses um 1 Takt verkürzt werden.
Lösung. (Stammbuchverse.)
a. Ritornellform. Von R. Hamerling.
b. Vierzeile. Von E. Geibel.
2. Ausgebreitetes Epigramm.
a. Widmung an einen Täufling.
Aufgabe. Exposition wie Klausel eines dem Täufling
zu widmenden Epigramms sollen in mehrere Sätze auseinander
gebreitet sein.
1. Die Gedanken des Materials dürften etwa folgende sein:
Exposition: Alles, was Liebe bieten kann, habe ich als Wunsch
für dich ersonnen: Liebe und Hoffnung wünsche ich, endlich Glauben
an das Schöne, Gute und Wahre;
Klausel: Glaube, Liebe, Hoffnung im Verein gleichen der Sonne.
2. Der würdevolle Stoff beansprucht lebhaften (jambischen) Rhythmus.
3. Als breiteres Gefäß für den Jnhalt ist der Quinar anzuraten.
4. Schon eine oberflächliche Disponierung des Stoffes ergiebt 4 Doppelverse
für die Exposition und deren 2 für die Klausel, somit ein 12zeiliges
Epigramm.
5. Um den Abschluß der Exposition äußerlich zu markieren, möge das
vierte Reimpaar mit dem Reimgeschlecht wechseln.
Lösung.
b. Bildung eines Trinkspruchs.
1. Der poetische Trinkspruch beschränkt sich in der Regel auf eine
Person, auf eine die Stimmung charakterisierende Personifikation, oder
auf einen naheliegenden, humoristisch zu behandelnden Gegenstand; er
beleuchtet seinen Stoff von allen Seiten, um ─ ähnlich wie die
Priamelform ─ Vordersätze als Prämissen für die Pointe zu gewinnen.
Zuweilen erweitert sich der Trinkspruch zu einem mehrstrophigen
Gedicht, indem der Dichter von irgend einer Thätigkeit oder einem
Vorzuge ausgeht, um im weiteren Verlauf durch geschicktes Heranziehen
verwandter oder steigerungsfähiger Momente eine Person auszuzeichnen
oder zu besingen. Jmmerhin bleibt er eine Art Epigramm.
2. Wir veranlassen im nachstehenden einen Trinkspruch auf
Goethe's Geburtstag. Der Stoff mag sich folgendermaßen aufreihen:
Stoff. Wenn auch Goethe im Grabe ruht, so lebt er doch. Andere
aber, welche tot sind, scheinen zu leben; sie bewegen sich und
scheinen mit Sorgen zu kämpfen. Goethe ist durch eine Kluft von
allen Sorgen geschieden. Er lebt und wirkt, da wir streben ihm nachzuringen.
Wir trinken darauf, daß unser Streben gelingen möge.
3. Selbstredend ist bei einem, die Unterhaltung belebenden Trinkspruch
nur der jambische, oder ─ bei größerer Lebhaftigkeit ─ der
jambisch=anapästische Rhythmus angezeigt.
4. Die längere Reihe und der feierliche Charakter des Stoffs
weisen auf den Quinar und auf die Oktavenform hin.
Lösung. (Oktavenform.) Von A. v. Chamisso.
Aufgabe. Poetischer Gruß mit einem Blumenstrauß.
Disposition. 1. Das Gedicht soll zwei Gedanken ausprägen: a. der
herbstliche Frost hat ein paar Blumen für dich verschont; b. ich will ihm
gleichen und dir meine letzten Poesien widmen.
2. Die Gedanken des Stoffes mögen sich in folgender Ordnung anreihen:
Stoff. Jn trüben, kalten Tagen | hat der Herbst einige blühende
Blumen | aufgehalten, | damit du sie empfangest. | Jch will diesem
Herbste gleichen! | Wenn dereinst über meine poetischen Wälder | und
über die Blumen meiner Gedanken | eisige Lüfte wehen, | dann will
ich dich noch | mit dem letzten Grün schmücken. ‖
3. Die elegische Stimmung dieses Stoffes weist auf sinkenden, trochäischen
Rhythmus hin.
4. Die kleinen Stoffgruppen empfehlen den Viertakter.
5. Der Stoff enthält ─ nach Art des Epigramms ─ Exposition und
Klausel und ist somit auf eine einzige Strophe zu verteilen.
6. Zur Verbindung derselben ist es empfehlenswert, der Schlußzeile der
Exposition wie der Klausel das gleiche Reimecho zu verleihen. Die übrigen
Verse mögen durch umarmende Reime (a b b a) und Reimpaare zusammengefügt
werden.
Lösung. Von N. Lenau.
NB. Das Gedicht hat den Fehler, die Worte „kalten Tagen“ in 2 Verse
zu verteilen.
Aufgabe. Epistel eines Genesenen an seinen Arzt.
1. Disposition. Das Gedicht möge in seinem ersten Teile ausführen,
wie der genesene Dichter der heilkräftigen Nymphe eines Badeortes
opferte und ihr einen krystallenen Pokal schenkte. Die didaktische Pointe bildet
sodann der Befehl dieser Nymphe, den weingefüllten Becher ihrem Diener zu
widmen.
2. Der Stoff wird sich etwa folgendermaßen anordnen:
Stoff. Der jüngsten Nymphe im Schwesternchor, | welche Wunder
wirkt in ihrem bescheidenen Brunnen-Tempel | und sich selbst eine [146]
Zukunft prophezeit: | goß ich in frühester Tagesstunde | Opfermilch
aus | und schenkte ihr ein krystallenes Weihegefäß. | Jn der Tiefe
rauschend, sprach sie: | Meinem Diener bringe den Pokal | gefüllt
mit der Gabe jenes Gottes, | der meinen Berg mit seinen Reben
schmückt, | obwohl er meine Lippen nicht zu berühren wagt. |
3. Die antiken Bilder und Namen und die langen rhythmischen Reihen
weisen auf den neuen Senarius hin, dem ursprünglichen attischen Trimeter.
4. Wegen der fortlaufenden Rede möge derselbe reimlos sein.
5. Bei dem einzelnen Senare ist die wechselnde weibliche Cäsur zu beachten,
durch welche die nunmehr mit einer Arsis beginnende zweite Vershälfte
fallende Tendenz erhält, eine Abwechselung, welche ein Schönheitsmittel
des Verses ist.
Lösung. Von E. Mörike.
Aufgabe. Gedicht für einen Wohlthätigkeitszweck.
1. Disposition. Ein Gedicht zum Besten eines Asylvereins für Obdachlose
ist zu bilden, welches in seiner Einleitung den grimmig kalten Winter
mit seinen eisigen Ostwinden, Schneestürmen und Nordlichtern in der Absicht
schildert, in seinem Hauptteil die Hilfsbedürftigkeit der Obdachlosen zu malen,
Wahrheiten auszusprechen und schließlich zur wohlthätigen Liebe aufzufordern.
2. Die der Religion, der Moral und dem Leben entstammenden Gedanken
dieser Disposition ergeben sich von selbst. Wir breiten sie dem Anfänger wie
eine Paraphrase aus; der geübtere, kühne Kunstjünger mag sich dieselben selbst
schaffen.
Stoff. Der Winter mit seinen Ostwinden und seinen Schneestürmen
kommt ins Land gefahren. ‖ Bei Nordlichtschein jagt der beutegierige
durch unsere Steppen und fällt in unsere Hürden ein. ‖ Er legt dem
Lande seine Eisesfesseln an. ‖ Jhn hindert weder das Sonnenlicht bei
Tag, noch das blitzende Firmament bei Nacht. ‖ Venus ist wie eine
flammende Mondsichel anzusehen. ‖ Und das Frührot ist duftumwallt:
─ wehe, daß es Arme giebt, wenn in der eisigen Kälte die Wolke
zerstiebt. ‖ Wehe, daß aus den Nordlichtgarben kein Korn zu dreschen
ist. ‖ Wehe, daß kein Obdachloser an dem ewigen Himmelsfeuer seine
Hände wärmen kann. ‖ Wehe, daß das Himmelsgewölbe das einzige
Obdach für Kranke und Hungernde ist. ‖ Wehe, daß so manche Kinder,
Weiber und Greise ärmer daran sind, als die Vögel. ‖ Wehe, daß
inmitten unseres geselligen Getriebes, inmitten von Börsen, Bällen
und Waffenspielen Obdachlose sich finden können. ‖ Wehe über all'
die alten Wunden der Menschheit. Auf, helft nach eurem Teil! ‖
Ziehe hinaus, mein Lied, und erspähe warme Herzen. ‖ Singe das
Wort Liebe: nur die Liebe vermag die Welt zu heilen. ‖
3. Dieses für die großen Kreise des Volks bestimmte Gedicht muß volksmäßige
Form erhalten, also volksliedartige Verse und Strophen, ähnlich etwa
wie die wirksamen Volkslieder: Jnsbruck, ich muß dich lassen; Es wollt' ein
Jäger jagen; Jch hört' ein Sichlein rauschen; Des Pfarrers Tochter von Taubenheim;
Die Königskinder u. a. (Vgl. II, 83. 85. 86 dieser Poetik.)
4. Diese eben genannten Volkslieder sind sämtlich aus jambischen Dreitaktern
aufgebaut, für welche auch der obige Stoff besonders geeignet
erscheint.
5. Die kleinen volksmäßigen Strophen sollen aus je zwei Reimpaaren
bestehen, von denen behufs Erreichung eines strophischen Charakteristikums immer
das zweite männlichen Abschluß haben möge.
Lösung. Von F. Freiligrath.
NB. Trennungen wie Str. 5: kleine Mondsichel, und Str. 6:
kalten Frührots, und Str. 9: blanke Gewölb, sind nicht zu empfehlen.
──────
Aufgabe. Ein Abschiedsgedicht der Schwester an die
Braut zum Hochzeitstage.
Disposition. 1. Du scheidest heute von uns und lässest mich zurück;
ohne dich wird alles rings herum öde und leer sein. Jch darf an deinem
Hochzeitsfeste nicht klagen. Nimm den Brautkranz von mir; er möge dich in
der Ferne an die Heimat erinnern.
2. Diese Gedanken lassen sich etwa folgendermaßen erweitern:
Stoff. Noch heute wirst du uns verlassen. Dein Antlitz erglänzt in
Freuden wie dieser Kranz in Blüten. ‖ Mir bleibt der Schmerz
darüber, daß ich dich nicht mehr sehen soll. ‖ Jedem Orte, dem
Klaviere, den Blumen &c. wirst du fehlen. ‖ Jch hätte alle Ursache [149]
zu weinen und muß mich doch heiter zeigen! ‖ Laß mich meiner
Pflicht nachkommen und dir den Brautkranz überreichen. ‖ Trag'
ihn zum Andenken an uns und an die Heimat. ‖
3. Der jambische, fröhlich fortdrängende Rhythmus, den ein Brautgedicht
beanspruchen möchte, kommt mit jedem Takt ins Stocken, so daß das durch
und durch elegische Gedicht aus trochäischen Satztakten mit Anakrusis (Auftakt)
bestehen wird, also nur äußerlich jambische Form trägt.
4. Die sechs Stoffgruppen prädestinieren sechs Strophen, von denen jede
freilich nur 2 Langzeilen (oder 4 Kurzzeilen) umfassen kann.
5. Zum Abschluß der Langzeilen eignet sich männlicher Schluß. Es
werden demnach weibliche Reime mit männlichen wechseln, wodurch sich das
Reimschema a b a b ergiebt.
Lösung. Von Paul Heyse.
Aufgabe. Ein Geburtstagsgedicht für den Freund.
1. Disposition. Das Gedicht soll nachstehenden Gedanken dichterischen
Ausdruck verleihen: Du bist für die Freundschaft geboren; du bist der Frieden
─ umringt vom Frieden. Dich liebt die Sonne. Kind und Gattin gedeihen.
Die Schatten der Seligen mögen dich schützend umgeben.
2. Der Stoff ordnet sich folgendermaßen an:
Stoff. Freue dich über dein Los; dir ward eine treue Seele gegeben;
am heutigen Feste bezeugen wir's. ‖ Selig ist, wer im Hause
Frieden und Liebe findet; manches Leben ist verschieden wie Licht
und Nacht; du wohnst in goldner Mitte. ‖ Der gütige Gott bewahrt
deine Güter. ‖ Kind und Frau gedeihen dir; auch die geliebten
Schatten der Seligen sind an dich gewöhnt. ‖ Möget, ihr Schatten,
ihn behüten, und wenn widrige Winde über Land und Haus wehen, [150]
so ruhe sein Herz in eurer Erinnerung aus. ‖ Aus Freuden reden
wir von Sorgen. Das ernste Lied erfreut wie dunkler Wein. Morgen
ist das Wiegenfest vorüber und alles geht wieder seinen gewohnten
Gang. ‖
3. Der freudeentquollene Stoff mit seiner bewegten Tendenz bedingt jambischen
Rhythmus.
4. Die durchschnittlich längeren Reihen des Stoffes ermöglichen den dem
Charakter des Gedichts am meisten zusagenden Quinar.
5. Die sechs Gruppen des Stoffs verlangen zu ihrer Ausführung sechs
Strophen.
6. Der Stoff einer jeden Gruppe reicht zu 4 Verszeilen aus.
7. Zur Markierung des Schlusses einer jeden Strophe möge je die letzte
Zeile um einen Takt verkürzt werden.
Lösung. Von Fr. Hölderlin.
Aufgabe 1. Zum Geburtstage eines scheidenden Freundes
ist ein Gedicht zu bilden, das zugleich Abschiedsgedicht
wird.
1. Disposition. Das Festlied ist zum Abschiedsgesang geworden. Die
heimgegangenen Gestalten fragen, was dich aus unserer Mitte vertreibt. So
möchte auch ich fragen. Wenn du einstens zurückkehren wirst, so findest du bei
mir das alte Herz.
2. Diese Gedanken lassen sich folgendermaßen erweitern:
Stoff. Dein Wiegenfest ist zur Abschiedsfeier geworden. ‖ Witz und
Laune vermag ich heute nicht zu bieten, so nimm mit einem Abschiedslied
vorlieb. ‖ Nicht will ich in deine Zukunft blicken, vor der
mir bangt, da du dich dem Weltengewühle zuwendest; aber ich will
der schönen, entflohenen Stunden gedenken, die mich deinem Herzen
verbanden. ‖ Es nahen dir die freundlichen, längst heimgegangenen
Gestalten, um dich noch einmal zu grüßen. ‖ Und die Geister vergangener
Tage möchten dich fragen, wie du so kühn sein konntest,
so viel Teueres zurück zu lassen und Ungewissem nachzujagen. ‖
Auch mein Herz möchte diese Frage stellen, ohne deine Antwort zu
erwarten, die ich in deinen Augen lese. Denn nie wirst du den
Wiegentag wieder in so deutscher Weise im Bruder- und Freundeskreise
feiern. ‖ Vielleicht suchst du dereinst wieder den Frieden des
stillen Lebensabends auf; wenn du dann zu uns zurückkehren wirst,
so findest du auch noch beim Greise das alte Freundesherz.
3. Für diesen, das ununterbrochen fortquellende Gefühlsleben zum Ausdruck
bringenden Stoff eignet sich wegen seines lyrischen, ruhelosen Bewegtseins
jambischer Rhythmus.
4. Die längeren Stoffgruppen deuten auf Quinare.
5. Der Stoff zerfällt in 7 Gruppen, deren poetische Behandlung ein
siebenstrophiges Gedicht beansprucht.
6. Da der Stoff der Einzelgruppe für die Oktave nicht zureichend ist,
so empfehlen wir sechszeilige Strophen, die durch geschickte Reimverschlingung
gegen das Auseinanderfallen in 2 Dreizeilen zu sichern sind.
7. Das empfehlenswerteste Reimmuster ist das bekannte Reimschema von
Schillers Polykratesstrophe (a a b c c b vgl. I, 657 dieser Poetik).
Lösung. Von E. v. Houwald.
Aufgabe 2. Widmungsgedicht zum Feste einer goldenen Hochzeit.
1. Disposition. Das Gedicht soll folgende Gedanken ausführen: Schön
war euer Vermählungstag, schön war auch euer Silberfest, am schönsten ist
der goldne Hochzeitstag.
2. Diese Gedanken können also entwickelt werden:
[153]Stoff. Fünfzig Jahre sind seit eurem ersten Hochzeitstag verflossen.
Es war ein schöner Tag, an welchem zum erstenmal die Namen
Gatte und Gattin ertönten. Schön war auch der Tag, an welchem
ihr euer silbernes Ehejubiläum feiertet. Doch am schönsten ist es,
daß ihr euer goldnes Hochzeitsfest erlebtet. Drum nahen Kinder
und Enkel mit diesen Wünschen: Wir grüßen euch, indem wir gerührt
die reichen Jahre eures Ehestands überblicken. Heil euch, die
ihr in allen Wechselfällen Liebe bewahrt habt. Glücklich möget ihr
dereinst das Demantfest feiern.
3. Der freudig stimmende, fast dramatisch belebte Stoff verlangt jambischen
Rhythmus, jambische Quinare.
4. Bei der Unregelmäßigkeit der Stoffgruppen kann von symmetrischen
Strophen keine Rede sein. Es empfehlen sich vielmehr Reimpaare, oder (je
nach der zusammen zu schließenden Stoffgruppe) Strophen mit gekreuzten
Reimen.
5. Eine Abwechselung im Reimgeschlecht ist für Markierung der Strophenschlüsse
empfehlenswert.
6. Bei diesem improvisierten Gedichte können einzelne nicht ganz reine
Reime, sofern sie sich wenigstens im Laute decken (z. B. heute ─ Freude,
erreicht ─ verzweigt, Thaten ─ Pfaden) passieren.
Lösung.
Aufgabe 3. Widmungsgedicht für einen wiedergenesenen,
greisen Vater.
1. Disposition. Was soll das Gedicht erzielen? a. Es soll dem
Schmerz über die Erkrankung, und dem Jubel über die Wiedergenesung Ausdruck
verleihen; b. es soll ausführen, was vom Himmel für den Kranken erfleht
wurde, und c. es soll Wünsche darbringen.
2. Ohne noch auf die Ausführung dieser Disposition einzugehen, so deutet
schon die fortdrängende Absicht des zu schaffenden Gedichts in ihrer freudigen
Tendenz, sowie der feierliche Charakter des Stoffes auf jambischen Rhythmus
und auf eine kunstvollere Strophenform hin.
3. Es bleibt die Wahl zwischen Oktaven und Terzinen.
4. Wir entschließen uns für die schön verschlungenen Terzinen, die eine
ununterbrochene Verbindung des einheitlichen Gedankens ermöglichen.
5. Demzufolge ordnen wir unser Material in lose Gruppen an, von
denen jede den Stoff für eine Terzine ergeben soll. (Der Geübtere mag sich
den Stoff selbst ausspinnen.)
6. Wir deuten den Terzinenreim durch gesperrten Druck an; selbstredend
kann von unserem Reime je nach Neigung und Bedürfnis abgewichen werden.
Stoff. 1. Ernste Krankheit entzog dich uns. ‖ 2. Wir erflehten
dein Leben mit diesem Gebete: ‖ 3. Gnädiger Gott, lasse ihn
genesen; nimm uns die große Angst ab. ‖ 4. Gott erhörte unser
Flehen; der Genesung Kunde erscholl. ‖ 5. Vergessen waren alle
Mühen. Nun bringen wir diese Wünsche: ‖ 6. Neu wachse dein
Leben; der Himmel schenke Kraft zu neuen Thaten. ‖ 7. Er leite
dich in Freud und Leid. ‖ 8. Du mögest dich fühlen wie in einem
Frühlingshaine. ‖ 9. Der Sonnenschein des Glücks möge, über
dem Haine erglänzend, ein Bild des Edlen und Schönen hervorzaubern.
‖ 10. Jeder Baum sei ein Sinnbild neuer Kraft, jeder
bedeute ein neues Lebensjahr. ‖ 11. Jeder Zweig prophezeie einen
sonnigen Freudentag. ‖ 12. Jedes Blatt künde eine frohe Stunde. ‖ [155]
13. Aus dem Säuseln der Blätter ertöne dir frohe Kunde von
den Deinen ‖ 14. bis an dein glücklich Ende.
Lösung.
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
Aufgabe. Zum neuen Jahr.
1. Disposition. Zum neuen Jahre wünsche ich neuen Segen, neue
Hoffnung und ein neues die Schuld vergessendes Herz.
2. Der Stoff von jedem dieser Einzelwünsche kann zu einer Strophe
ausgebreitet werden, so daß sich ein dreistrophiges Gedicht ankündigt.
3. Die gedanklichen Momente mögen sich folgendermaßen entwickeln:
Stoff. Zum neuen Jahre wünsche ich neuen Segen, denn unergründlich
an Segen ist der Brunnen Gottes. Bald werden die Fluren
wieder mit grüner Saat und goldenem Korn überdeckt sein. ‖ Zum
neuen Jahre wünsche ich neue Hoffnung, denn noch jedes Jahr
brachte Vogelsang und Blumen, und so soll auch dieses Jahr uns
Freude bringen. ‖ Zum neuen Jahre wünsche ich ein neues Herz,
welches ─ einem frischen Blatt im Lebensbuch vergleichbar ─ keine
Schuld aufweist; ─ ausgetilgt und ausgeglichen sei der alte Zwist
und der alte Fluch.
4. Der nach Art des Jambus rasch fortdrängende Charakter des Stoffes
erfordert jambischen Rhythmus.
5. Der Stoff einer jeden Strophe besteht augenfällig aus zwei Teilen,
von denen der erstere den Aufgesang, der letztere den ausführenden Abgesang
zu bilden vermag.
6. Der Aufgesang reicht zu je zwei jambischen Viertaktern aus, der
längere Abgesang zu drei derselben. Es ergiebt sich somit eine fünfzeilige Strophe.
7. Da die Pointe jeder Strophe in ihren beiden Anfangszeilen (─ also
im ersten Stollen des Aufgesangs ─) gipfelt, so eignet sich dieselbe zur Wiederholung
am Schluß, wodurch die fünfzeilige Strophe siebenzeilig wird.
Lösung. Von K. Gerok.
B. Lyrik der Begeisterung.
Aufgabe. Zum Wiegenfeste eines Dichters und Gelehrten.
1. Hauptgedanken: Der zu Besingende liebt die Musen. Sein ganzes
Leben hat er dem Jdealen geweiht. Darum ist er dichterischer Huldigung würdig.
2. Die Einzelgedanken für die Ausführung der Ode erwachsen etwa
folgendermaßen.
Stoff. Es war dein höchstes Streben, Schönheit und Kunst zu pflegen.
Deine Leistungen zogen die ersten Geister der Nation an. ‖ Darum
bringen die Musen dir, als ihrem Beschützer, innige Wünsche
dar und winden dir den Lorberkranz.
3. Der vorstehende Stoff gliedert sich naturgemäß in zwei Hauptgruppen,
welche eine zweistrophige Ode verlangen.
4. Der begeisterungatmende Stoff weist auf den aufsteigenden Jambus
hin, der in den aufwärts dringenden leidenschaftlichen Anapäst übergedrängt
wird: also auf jambisch=anapästischen Rhythmus.
5. Die Ode mit ihrer leidenschaftlichen Erregung dichterischer Empfindung
verlangt den möglichst glänzenden sprachlichen Ausdruck, kühne Metaphern, kunstvolleren
Periodenbau &c.
6. Der begeisterten Bewunderung würde ein alltägliches Strophenschema
schlecht stehen. Vielmehr muß die Strophenform (dem Rhythmus entsprechend)
frei erscheinen, wenn diese auch innerhalb der Grenzen einer einheitlichen,
ästhetisch schönen Form zu halten ist.
7. Wir empfehlen neben dem aus dem Stoffe resultierenden jambisch=anapästischen
Viertakter den Wechsel mit kurzen Zeilen und einen syntaktischen Ruhepunkt
nach der 3. Zeile, so daß je die zweite Strophenhälfte mit der ersten
in parallele Berührung gebracht wird.
Lösung.
Aufgabe. Hochzeitsgedicht.
1. Disposition. Das Gedicht soll folgende Gedanken ausführen: Laßt
uns mit dem Becher anstoßen, laßt uns küssen und lieben, laßt uns Kränze
winden. Liebe ist die Quelle aller Güter und Wonnen; sie läßt sich nicht besingen,
nur Brust an Brust empfinden.
2. Der Stoff mag folgende Skizzierung erhalten:
Stoff. Laßt uns anstoßen; laßt uns leben und singen; laßt uns
in gehobenen Gefühlen nach dem Höchsten ringen; laßt uns lieben;
Liebe ist Leben, Leben ist Gesang. ‖ Laßt uns Kränze weben und
zerreißen ohne Falsch und Heuchelei, mit froher, frommer Gesinnung.
Die Liebe ist ein Gebet, ja, sie ist die Erhörung. ‖ Aus dem reichen
Liebesbronnen quellen Blumen, Sterne, Güter und Wonnen. Kein
Sänger vermag die Liebe zu besingen; sie läßt sich nur fühlen. ‖
3. Der elegische Stoff verträgt trochäischen Rhythmus, doch würde ihn auch
der lebendig verbindende jambische Rhythmus gut kleiden.
4. Die drei Gruppen, in welche der Stoff zerfällt, lassen sich in 3 Strophen
von je 8 Verszeilen einteilen.
5. Die kurzen rhythmischen Reihen reichen zur Ausfüllung von Viertaktern
aus, die durch das Reimband zu verbinden sind.
6. Das Reimschema ist: a a a b c c c b. Der b=Reim verhindert das
Auseinanderfallen der Strophe in zwei Vierzeilen.
Lösung. Von Ad. v. Chamisso.
Aufgabe. Ein Trostgedicht an einen Freund, dem die Gattin
starb, ist zu bilden.
1. Disposition. Nichts als einen Händedruck und einen Kranz kann
dir der Freund bieten. Gönne der Gattin die Ruhe, wenn auch dein Blick
sie oft suchen wird. Möge die Erinnerung Trost, die allbesiegende Zeit Linderung
verleihen.
2. Diese Gedanken lassen sich folgendermaßen erweitern.
Stoff. Alles, was dir mein Herz bieten kann, ist ein Händedruck
und ein Kranz. Möge die Gattin, die dich und die deinen so treu
geliebt, sanft ruhen. Nun trägt man sie dorthin, wo die stummen
Zeugen der Erinnerung stehen. Dein Blick wird noch oft auf ihrem
Hügel ruhn. Möge dir die Erinnerung Trost bringen, bis die allbesiegende
Zeit deinem Herzen Linderung gewähren wird.
3. Für diesen innigen, fortdrängenden Stoff eignet sich der jambische
Quinar, der auch reimlos sein kann.
4. Wenn er reimlos ist, so dürfte sich empfehlen, die Verse abwechselnd
männlich und weiblich zu schließen, wodurch sich der Rhythmus belebt.
5. Auch möge hie und da die Jncision durch eine syntaktische Pause
markiert werden.
Lösung. Von Th. Souchay.
Aufgabe. Hymnus zum Ernte- und Herbstdankfest.
1. Disposition. Danket dem Herrn durch Spiel und Gesang. Jhr,
Schnitter, stellt Garben aus; ihr, Winzer, Trauben; ihr, Mädchen und Knaben,
bringt Äpfel und Birnen; ihr, Alten, naht mit Blumen zum Preis des barmherzigen
Gottes.
2. Die Erweiterung und Aufbauschung dieses Stoffes muß vom Auflodern
des Gefühls diktiert sein und Andacht wie Bewunderung Gottes atmen. Die
einzelnen Teile der Disposition werden sich etwa folgendermaßen erweitern lassen:
Stoff. Dankt dem gnädigen Schöpfer und preiset seine Barmherzigkeit.
Ehrt ihn durch Saitenspiel und schmückt die Altäre. ‖
Jhr Schnitter tragt Garben herbei zum Zeichen, daß ihr auch der
Darbenden gedachtet und das Jahr gesegnet war, ‖
Jhr Winzer bringt Trauben und lindert die Not der Armen. ‖
Jhr Mädchen und Knaben kommt mit den reichen Früchten der
Bäume herbei. ‖
Nahet auch ihr, ihr Alten, singet dem Herrn und bringt Blumen
zum Zeichen, daß Gottes Liebe immer neu blüht. ‖
Danket eurem Schöpfer und jubelt im Chor: Gott ist getreu. ‖
3. Für diesen die höchste Begeisterung atmenden Stoff, der das Herz im
Gesang überfließen lassen möchte, eignet sich Liedform im Verein mit dem feierlichen
antik=daktylischen Rhythmus.
4. Durch Anwendung männlicher Cäsuren können hie und da rhythmische
Pausen angebracht werden, so daß der Rhythmus nach denselben anapästisch
anhebt und mancher daktylischen Reihe in ihrem Verlauf belebende, anstürmende
Wirkung verliehen wird.
5. Der Liedform entspricht noch der daktylische Viertakter. Er ist für
die musikalische Wirkungsweite des Reims geeigneter, als längere daktylische Verse.
6. Der Stoff der Gruppen dürfte auf je sechs Verszeilen auszubreiten sein.
7. Um den Einzelstrophen ein anmutiges Gepräge zu verleihen, mag die
5. Zeile jeder Strophe gebrochen geschrieben und mit dem Cäsurreim versehen
werden.
8. Auf diese Weise entsteht scheinbar ein dreizeiliger Abgesang, dessen
vom Reim gehobener Rhythmus ungemein ergreifend wirkt.
9. Die 3 zweizeiligen Gruppen jeder Strophe schließen männlich, so daß
sich folgendes Strophenschema ergiebt: a b a b c c b.
Lösung. Von Karl Gerok.
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Aufgabe. Ein zum Vortrage bestimmtes, an ein Vorkommnis
anknüpfendes, erzählendes Gedicht ist zu bilden.
1. Disposition der Begebenheit. Ein Freund hat einen Spaziergang
ausgeführt, bei welchem er sich die Taschen mit Petrefakten füllte,
dazwischen aber die Aussicht genoß. Bei einer Begegnung wird diese Begebenheit
humoristisch verwertet und der Wunsch nach Wiederholung des Spaziergangs
ausgedrückt.
2. Entwurf der Prosaerzählung. Ein als Petrefaktensammler
bekannter Freund unternahm vor einiger Zeit in Begleitung mehrerer Freundinnen
einen Spaziergang. Er äußert, daß er denselben gerne wiederholen
möchte, um aufs neue die gewohnten Pfade scherzend zu wandeln. Aber sodann [162]
möchte er auch wieder Petrefakten an jenem Hügel sammeln, an welchem
beim ersten Spaziergang ein warmer Regen die verschiedensten Species der
Liasformation bloß gelegt hatte. Er meint, das Sammeln sei damals eine
süße Mühe gewesen, denn er hätte doch dazwischen die entzückendste Aussicht
auf Gebirg und Thal, auf burggekrönte Felswände, auf Rebengrün und Matten
und auf die herrlichen Wälder in ihrer prächtigsten wechselnden Beleuchtung genießen
können, wie sein Auge Schöneres nie geschaut. Er fügt hinzu: Schade
sei es doch, daß man an solcher Stätte so wenig Zeit zum Schauen habe.
Daher erteilt er den Begleiterinnen den Rat, diese Herrlichkeiten am Petrefaktenhügel
künftighin zugleich für ihn mit zu genießen, da er es sehr beklagen würde,
wenn all das Schöne verloren ginge, während er seiner Lieblingsneigung nachgehe,
die für ihn auch Poesie sei.
3. Der Stoff, welcher im allgemeinen erbaulich=beschaulichen Charakter
hat, verträgt trochäischen Rhythmus, namentlich, wenn ihm in den anregenden
Partien durch einzuflechtende jambische Satztakte die erfrischende Bewegung des
jambischen Rhythmus verliehen wird.
4. Wir haben bereits betont, daß bei poetischen Erzählungen mit Rücksicht
auf die wünschenswerte Kürze der rhythmischen Reihen der Viertakter empfehlenswert
sei.
5. Die bequemste Reimform bei den häufig ausgedehnten poetischen Erzählungen,
auch bei Epen, ist das Reimpaar.
6. Der Anfänger beachte den Kunstgriff, bei längeren rhythmischen Reihen,
die je 2 Zeilen umfassen, der Verbindung halber hie und da gekreuzte Reime
eintreten zu lassen.
Lösung. Von Ed. Mörike.
NB. Die im Schwabenlande durch den Klang sich deckenden unreinen
Reime der Lösung &c. sind richtig zu stellen.
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Aufgabe. Gedicht zur Enthüllung eines Standbildes.
1. Disposition. Zur Enthüllung der Statue Schillers soll eine
lyrische Dichtung, welche Arien und Chöre enthält und unter Jnstrumentalbegleitung
zum Vortrag gelangt (Kantatine), geschaffen werden. Dieselbe mag
in der Eingangsarie den Dichter begrüßen.
Ein Frauenchor kann darauf sagen, daß die Frauen dem Dichter Blumen
darbringen.
Sodann soll ein Männerchor den Dichter preisen.
Ein Frauenchor feiert nunmehr den Sohn der Heimat.
Eine Arie schließt mit der Aufforderung, feierlich auf das Rauschen seines
Adlerfittigs zu lauschen.
2. Ausführung. Da die Kantatine mit einer präzisen sachlichen
Andeutung oder Reflexion zu beginnen hat und ihre Empfindungen handelnden
Personen in den Mund zu legen sind, so ist zunächst in einer Arie auszuführen,
wie Schiller, der Kunst entstiegen, seine Heimat neu begrüßt, und
wie alle Herzen dem auch im Bildnis Herrlichen entgegenfliegen.
Daran reiht sich ein Frauenchor,
welcher dem Dichter den Segen des Lenzes (Frühlingskränze) zu
Füßen legt.
Ein Männerchor erkennt an,
daß der Dichter mit Engelstimmen sang und ein überirdisches
Feuer in allen Seelen entzündete; daß er aus den Blicken der
Muse selige Wahrheit las und darüber den eigenen Schmerz
vergaß.
Ein Frauenchor gesteht,
daß Schiller, der Sohn der Heimat, im Bilde wie ein hoher
Fremdling erscheine.
Die unterbrechende Schlußarie mahnt, zu lauschen,
da des Adlerfittigs Rauschen und seines Bogens starker Klang
vernehmbar seien.
3. Der Ausführung der einzelnen Teile (Nummern) dieser Kantatine ist
ein größerer Spielraum geboten. Der Dichter hat lediglich ein liedartiges Maß
zu wählen, das zwischen dem Fünftakter und dem Zweitakter in der Mitte steht.
4. Für die sachliche Einleitung, wie für den korrespondierenden Schluß
empfiehlt sich der jambische Fünftakter; in den kurzen Chören genügt für den
beschränkten Stoff der jambische Dreitakter.
5. Von Künsteleien in der Reimstellung kann bei der Kantatine nicht
die Rede sein. Am gebräuchlichsten sind Reimpaare oder gekreuzte Reime.
Lösung. Von Ed. Mörike.
Frauen.
Männer.
Frauen.
Aufgabe. Es soll ein dramatisches Gedicht zur Körnerfeier
geschaffen werden.
1. Erwägung, welchen Charakter das Gedicht tragen soll?
Es möge ein Phantasiegemälde werden.
2. Welchen Gedanken im allgemeinen soll es Ausdruck verleihen?
Die Beantwortung dieser Frage führt zur Disposition im groben Umrisse:
3. Erdichtung der Disposition. Das Gedicht soll besingen, wie
Körners Leichnam von Kriegern nach der Eiche von Wöbbelin gebracht
wird, wo von seinen Freunden das Grab zugerichtet wurde.
Der Dichter nimmt an, daß unter dieser Eiche seit urdenklichen
Zeiten ein deutscher Barde ruht, dessen Geist den geweihten Platz
hütet, damit künftighin nur ein ebenso würdiger Sänger und Streiter
fürs Vaterland darin gebettet werde. Der Geist in Gestalt eines
ehrwürdigen Greises empfängt den Zug an der Eiche und widersetzt
sich der Einsenkung des Sarges, bis er erfährt, daß der Tote
Sänger und Held gewesen sei und für sein Vaterland den Tod
erlitten habe. Nun preist er den Toten, dessen Einsenkung nunmehr
erfolgt, dieses Grabes würdig. Der Greis verschwindet; verklärende
Stimmen erschallen. Das Stück schließt mit Verkündigung nahen
Kampfes fürs Vaterland und mit begeisterten Rufen &c. &c.
4. Um sich über die Personen und das Wesentliche dessen, was sie zu
sprechen und zu handeln haben, klar zu werden, ist zunächst ein Überblick über
die dramatische Begebenheit (Poetik II, 31) zu entwerfen, etwa in folgender
Weise:
Erster Prosaentwurf und erfindende Ausspinnung der Fabel.
Roher Stoff.
Beschreibung der Scene. Abendhimmel. Eichbaum. Offenes Grab.
Kriegerzug mit Fackeln, in der Mitte ein Sarg &c.
Der Kriegerchor schließt heranziehend mit dem Gesang eines Körnerschen
Liedes (etwa: „Gebet während der Schlacht“).
Der Greis, welcher das Grab bewacht, erkundigt sich nach dem Namen
des Toten, indem er bemerkt, daß dieses Grab nur das edelste Heldenherz
aufnehmen werde.
Der Zugführer fragt, ob jemand diesen Greis zum Wächter bestellt
habe.
Mehrere Stimmen verneinen dies und wollen den Greis wegdrängen.
Der Zugführer mahnt, das Alter zu ehren und die Bahre vorerst
abzusetzen. Dann giebt er dem Greise die Versicherung, daß in der [166]
That ein edles Heldenherz im Sarge schlummere; dies beweise der
Eichenkranz.
Der Greis verweigert trotzdem die Bestattung des Toten, indem er erklärt,
es genüge nicht, sich den Eichenkranz durch das Schwert verdient
zu haben.
Der Führer mahnt den Greis, den Zorn der Brüderschar nicht heraufzubeschwören:
der Tote sei ein Edler gewesen, welcher dem Ewigen
nachgestrebt habe; er fordert die Freunde zum Zeugnis heraus.
Ein Krieger rühmt, daß der Geschiedene ein edler Sänger gewesen sei.
Ein anderer Krieger rühmt, daß ─ wenn der Feind wie eine
lernäische Schlange erschienen sei ─ der Dichter Zriny's vorbildlichen
Tod gepriesen und durch solche Lieder, wie sie nur ein Tyrtäos gesungen
haben könne, den Mut belebt habe.
Der Greis erwidert, daß er wohl die Macht des Gesanges kenne, daß
aber der schwerterrufende Gesang kein Schwert sei: nur Schwerter
verlange die Schlacht!
Der Führer bezeugt, daß der Geschiedene auch das Schwert führte.
Ein dritter Krieger unterbricht durch das Zeugnis, daß der Sänger
auch ein tapferer Streiter war, welcher im Kampfe gleich einem mit
leuchtendem Speer die Feinde zerstreuenden Seraph erschienen sei.
Der Greis erkennt dies an, doch meint er, daß Greis und Jüngling,
Vater und Sohn in den Kampf gezogen seien, ohne daß jeder die
dritte d. i. die höchste Weihe erhalten habe.
Da deckt der Führer den Sarg auf und ruft hinweisend auf den
Leichnam: Dieser hat nicht nur gesungen und gekämpft, ─ er
ist auch für sein Vaterland gestorben!
Der Greis ist besiegt. „Legt den Edlen zu edlem Staub,“ spricht er,
„und gebt ihm ein Schwert mit hinab, damit, wenn einmal dem
Vaterlande Schande drohe, ein Pflüger dieses Schwert ausackere und
die Thaten der Ahnen verkünde. Doch nicht sein Schwert gebt ihm,
denn dieses taugt noch zum Kampfe: ein anderes wird sich finden.“
Ein Gräber tritt mit rostzernagtem Eisenschwerte vor und erzählt, daß
er dasselbe beim Graben des Grabes gefunden habe.
Der Greis neigt im Zurücktreten bestätigend das Haupt.
Der überraschte Führer mahnt, dem Greise zu gehorchen und das
Schwert in den Sarg zu legen.
Der Chor singt eine passende Strophe eines Körnerschen Liedes.
Nun befiehlt der Führer, den Namen des Toten in den Stamm zu
hauen, damit die Enkel dereinst Körners Eiche ehren.
Mehrere Stimmen sagen aus, der Greis sei in der Luft zerflossen;
sein Bart sei silberhell geworden, sein Gesicht glänzend, um seinen
Scheitel habe man einen Eichkranz gesehen und eine Harfe sei in seiner
Hand ertönt. ─ (Jn diesem Augenblick erbeben Stamm und Zweige
der Eiche wie im Sturmwind.)
Die Stimme des Greises spricht aus der Eiche: Zwei Barden ruhen
nun hier.
Einige Krieger rufen: Der Boden spricht.
Andere: Jn der Höhe tönt Geisterlaut. Sphärenmusik erklingt und
eine Stimme singt: Klaget nicht um mich; ich werde euch im Kampfe
das Kreuzespanier voraustragen.
Ein Chor von oben ruft: Es flammt das heilige Kreuzeszeichen, Sieg
wird euch werden!
Eine Stimme ruft: Freut euch, Brüder; ich sehe bewaffnete Streiter
Gottes in flammendem Gewande niedersteigen.
Der Chor dieser Streiter singt: Wir stehn euch bei, damit
ihr siegt.
Der Führer: „Vernahmt ihr den Gesang?“ Niederknieend ruft er
mit emporgehobenem Schwerte: „Führe uns, Herr, zum Siege!“
(Ausbrechendes Gewitter. Anzeichen eines nahen Kampfes. Hörnerklang.
Begeisterter Aufbruch der Lützower unter wildfreudigem Gesang einer
Strophe des Körnerschen Schlachtliedes.)
Die Körner-Eiche. Von Fr. Kind.
Erste dichterische Bearbeitung.
Abenddämmerung. Der Himmel ist ganz
mit trüben Wolken überlaufen. Unter
einer alten Eiche ein frisch aufgeworfenes
Grab. Ein Greis, der, in ein dunkles
Gewand gehüllt, am Stamm der Eiche
lehnt. Aus der Ferne nähert sich bei
dumpfem Gesang ein Zug Krieger mit
einigen Fackeln, einen aufgebahrten Sarg
in der Mitte. ──────
Chor der Krieger endet:
Der Greis.
Endgültige Lösung.
Dunkler Abend. Der Himmel ist ganz
mit Wolken überlaufen. Unter einer alten
Eiche ein frisch aufgeworfenes Grab. Ein
verhüllter Greis lehnt am Stamm der
Eiche. Totenmarsch hinter der Scene.
Dann nähert sich bei Fackelschein und mit
Gesang ein Kommando Lützower. Hierauf
ein Sarg mit kriegerischen Ehrenzeichen
und vielfachen Kränzen, hinterdrein, Paar
um Paar, Krieger von verschiedenen
Scharen und Waffengattungen. ──────
Chor der Krieger.
Der Greis.
Führer des Zugs.
Mehrere Stimmen.
Führer.
Greis.
Führer des Zugs.
Erster Krieger.
Zweiter Krieger.
Dritter Krieger.
Führer.
Greis.
Führer.
Ein Krieger.
Ein Zweiter.
Führer.
Ein Krieger.
Ein Zweiter.
Greis.
Führer.
Ein dritter, jüngerer Krieger.
Greis.
Greis.
Führer.
Dritter Krieger,
sich näher drängend.
Greis.
Führer.
Er wirft die Decke des Sargs zurück. Einige
Krieger mit Fackeln treten näher. Man erblickt
den blutigen Leichnam, mit Eichenblättern
umgeben.
Greis,
nach einer Pause.
Ein Gräber,
zu dem Führer.
Führer.
Er wirft die Decke des Sargs zurück. Einige
Fackelträger treten näher. Mehrere Krieger
umringen den Sarg und beugen sich darüber
hin.
Greis,
nach einer Pause.
Ein Schanzgräber,
zu dem Führer.
Der Greis neigt langsam und bedeutend das
Haupt, weicht einen Schritt zurück und steht
dann unbeweglich.
Führer.
Man legt das Schwert in den Sarg. Während
dieser hinabgelassen und mit Erde bedeckt
wird, singt das
Chor.
Führer.
Jn diesem Augenblick, bevor die Fackeln noch
herzukommen, tritt der Mond hinter den Wolken
hervor und beleuchtet die Rinde des Stamms;
der Greis ist verschwunden.
Führer.
Mehrere Stimmen.
Der Greis neigt langsam und bedeutend das
Haupt, weicht einen Schritt zurück und steht
dann unbeweglich.
Führer.
Man legt das Schwert in den Sarg. Während
dieser hinabgelassen und mit Erde bedeckt
wird, singt der
Chor.
Erste Salve.
Zweite Salve.
Dritte Salve.
Führer.
Zimmerer treten herzu. Die Fackeln sind
größtenteils heruntergebrannt und verlöscht.
Der Mond tritt hinter einer Donnerwolke
hervor und beleuchtet die Eiche. Man erblickt
den eingehauenen Namen in grünem Feuer.
Der Greis ist verschwunden.
Erster Krieger.
Führer.
Stimme aus der Eiche,
indem der erste Schlag in die Rinde geschieht.
Einige.
Andre.
Wunderbar liebliche Musik, die sich bald mit
Gesang verschmilzt.
Eine Stimme von oben.
Chor von oben.
Zweiter Krieger.
Dritter Krieger.
Zweiter Krieger.
Erster Krieger.
Stimme aus der Eiche.
Zweiter Krieger.
Dritter Krieger.
Wunderbar liebliche Musik. Alle Krieger,
malerisch gruppiert, blicken in die Höhe und
bleiben unverändert in derselben Stellung.
Eine Stimme von oben.
Chor von oben.
Stimme.
Chor.
Musik und Gesang verhallt.
Führer.
Er wirft sich zur Erde und erhebt betend sein
Schwert gen Himmel. Alle knien um ihn im
weiten Kreise.
Jn der Ferne ein lang aushaltender Donner.
─ Aufspringend mit hoher Begeisterung:
Alle,
wildfreudig mit Gesang einfallend:
Stimme.
Chor.
Musik und Gesang verhallt wie in die Ferne.
Führer.
Er wirft sich zur Erde und erhebt betend sein
Schwert gen Himmel. Alle knien um ihn im
weiten Kreise. Mit tiefer Jnbrunst:
Ein lang anhaltender Donner. ─ Darauf
Schießen im Hintergrunde, Trompeten= und
Hörnerruf. Er springt auf und ruft feurig:
Alle,
wildfreudig einfallend, mit gezogenem Schwerte
und gefälltem Bajonett fortstürzend:
Sprache ist die gemeinsame Redeweise eines ganzen Volks, Dialekt die
natürliche Redeweise einzelner Volksstämme. Die Schriftsprache ist somit das
Organ für viele Volksstämme, die Dialektsprache für einen einzelnen
Volksstamm.
Das natürliche Verhältnis ist dieses, daß sich nach und nach zwischen den
Volksstämmen eine gemeinsame Sprache ausbildete, die kein Gemenge war, sondern
welcher ein sich vordrängender Dialekt zu Grunde lag.
Jn Deutschland wurde eine solche gemeinsame Sprache Bedürfnis mit dem
Auftreten des Rittertums und der fahrenden Sänger. Der Bayer wollte in
Thüringen verstanden sein, der Schwabe am Rhein und der Österreicher im
Norden &c. Es bildete sich daher mit der Zeit eine gemeinschaftliche Sängersprache
aus, welche durch das Verleihen von Handschriften seitens der Klöster
wesentlich gefördert wurde. Freilich vermochten die einzelnen Dichter ihre
dialektischen Eigenheiten nicht mit einemmale abzulegen, und man merkt es bei
interessevollem Vertiefen in früheste Handschriften gar bald, ob dieselben einen
Schwaben, einen Thüringer, oder einen Österreicher &c. zum Verfasser haben.
Die Dichter hatten die beste Absicht, Schriftsprache zu schreiben, aber sie wurden
durch ihren Dialekt zur unabsichtlichen Färbung veranlaßt.
Als mit Beginn des 17. Jahrhunderts die neuhochdeutsche Sprache den
Sieg über das Niederdeutsche, wie über alle deutschen Dialekte vollendet hatte,
wurden diese Dialekte immer mehr verdrängt; die schöne Zeit der Dialektpoesie
war zu Grabe gegangen.
Da machten Ende des vorigen Jahrhunderts einzelne universelle Köpfe auf
die Bedeutung der Dialektpoesie aufmerksam. Herder vor allen meinte, daß
die Poesie um so schöner sei, je weiter sie sich von der modernen Kultur entferne.
Er belegte seine Behauptungen durch Volkslieder, ─ und der alte [176]
Volksgeist feierte seine Auferstehung. Mit dieser Würdigung des Volkstümlichen
stieg der Dialekt rasch im Ansehen. Unsere bedeutendsten Dichter ─ besonders
aber Goethe ─ haben die urwüchsige Kraft der Volksseele erkannt und manche
Eroberung auf diesem Gebiete gemacht. Eine stolze Reihe von Dialekt-Dichtungen
─ von J. H. Voß' niedersächsischen Jdyllen über J. P. Hebel, Grübel,
Sailer, Weitzmann, Nadler, Castelli, J. G. Seidl, Kobell, Schandein, Stelzhamer,
Stoltze, Holtei, Corrodi, Grimminger, Klesheim, Storck, L. Eichrodt,
Grasberger, Rosegger u. a. hinüber bis zu den allgelesenen Poesien Fritz
Reuters, Kl. Groths u. a. ─ bewies dem Sehenden, welche Fülle von
Traulichkeit, Naivetät, jugendlicher Frische, welch' ungezählter Reichtum von
individuellen, unübersetzbaren Wörtern, welch' unerschöpflicher Vorrat plastischer,
kerniger Formen und Begriffe, welche große Menge sinnlich bedeutender, flüssiger
Worte, Elemente und lebhafter Formen zu einem, oft den Bücherstil überragenden
besonderen Stil hier zusammengedrängt sind, ja, welche volltönende
Weichheit, Herzlichkeit und humoristische Munterkeit die Dialekte besitzen.
Die Dialektpoesie verdient daher nicht bloß benützt, sondern (wie dies
Goethe, Uhland, Mörike, Rückert u. a. gezeigt haben) auch ausgebeutet zu
werden.
Aus diesem Grunde dürfte es nicht unverdienstlich sein, wenn wir endlich
dem Dichter eine Bahn für Verständnis der Dialektpoesie zu brechen suchen,
indem wir vorerst Grundsätze, Winke, Kunstgriffe und Charakteristisches aus dem
bis jetzt vorliegenden Material der Dialektpoesie entrollen, um durch ─ so zu
sagen ─ aphoristische Bemerkungen zu richtigen Stand- und Gesichtspunkten
über Benützung und Ausbeutung anzuregen.
Die ersten Lieder, welche aus dem Drange des Volkes als geistige Bilder
seines Wesens und Treibens entstanden, lebten lange vor Entstehung einer
Schriftsprache als Gemeingut des Volks durch ihren volkstümlichen Jnhalt wie
durch ihre (Form und Gedanken zusammenhaltende) sangbare Melodie. Da
diese Lieder nach Erstehung einer gemeinsamen, nationalen Schriftsprache nicht
schriftlich aufgezeichnet wurden, sondern nur in mündlicher Überlieferung sich
erhielten, so trugen sie auch noch in den Zeiten der dialekt=abschleifenden Schriftsprache
das Gepräge ihres dialektischen Ursprungs. Als man sodann begann.
diese Volkslieder in hochdeutscher Sprache zu fixieren, ja, als Volkslieder in
hochdeutscher Sprache gedichtet und gesungen wurden, da hat sich die Macht
der alten Dialektlieder durch Beibehaltung oder Aufnahme mundartlicher Anklänge
bewährt, da hat man mit Vorliebe zu gleichsam paläontologischen Überresten
aus der Zeit der Dialekte gegriffen, welche nunmehr wie zu Versteinerungen
gewordene Bilder uns an die Wiege der Großeltern und in naive Zeiten
schöner, unentweihter Volksanschauungen zurückführen und erinnern.
Unsere besten Dichter von Goethe bis in die Neuzeit haben manchen ihrer
Lieder volksmäßiges Gepräge zu verleihen gesucht, indem sie dieselben den [177]
Dialektliedern näherten und damit Provinzialismen, Archaismen und naive,
dialektische Formen aufnahmen und die volksmäßige Ausdrucksweise auch in der
Redeform nachzuahmen suchten. Wir geben zum Nachweis einige beliebige
Proben:
(Uhland.)
(Mörike.)
(Geibel.)
(Dingelstedt.)
Es erhellt, daß diese Dichter nur noch den kleinen Schritt von der volksmäßigen
Ausdrucksweise zur volksmäßigen Aussprache zu thun brauchten, ─
um uns das Dialektgedicht zu geben. Dieser Schritt ist da und dort auch
gethan worden. Wir brauchen nur Gedichte wie das Goethe'sche Schweizerlied
anzuführen u. s. w.
Selbstredend hat der Dialektdichter nur ein beschränktes Stoffgebiet, da
mit dem Dialekt von selbst die spezifischen Eigentümlichkeiten einer kleinen Landschaft
und eines von ihr bewohnten, mit ihr verwachsenen Volksteiles hervortreten.
Seine Stoffe bewegen sich demgemäß meist in jenen Kreisen, in welchen
sich der Dialekt seine Heimstätte gewahrt hat: also innerhalb einer,
dem großen Weltverkehr entrückten, idyllischen, ursprünglichen,
ländlichen Natur, weshalb auch die Stoffe vorzugsweise einer objektiven,
plastischen Behandlungsweise fähig sind. Subjektive Gefühls- und Gedankenlyrik
ist im Dialekt weniger am Platze, da die Dialektpoesie höchstens noch
Gefühle, nie aber spekulierende Reflexionen begünstigt. Aus diesem Grunde
verträgt die Dialektpoesie auch nur solche Stoffe, welche einer naiven, d. i. einer
ungesucht unbefangenen, treuherzigen Sprache fähig sind. J. P. Hebel und
nach ihm besonders Fr. Reuter haben solche Stoffe meisterhaft verwendet.
Die Dialektpoesie fußt in ihren Stoffen auf einem emsig bewegten, arbeitsvollen
Leben und den darauf folgenden Feierstunden. Die letzteren sind
es, die den Gesang begünstigen. Das aus gethaner Arbeit entspringende Gefühl
der Pflichterfüllung läßt diese Stunden nicht verträumen, wohl aber mit
doppelter Lust genießen. Das genügsame Volk geht nicht über die Grenze
seiner Lebenslust hinüber. Hingabe an die Scholle, die den Bestand sichert,
Stolz auf die Heimat mit ihren Vorzügen und Erzeugnissen, Liebe zu der oft [178]
nicht einmal ganz empfundenen Schönheit der Natur, Lust und Leid, sowie der
bescheiden=vergnügliche Umgang mit seinesgleichen: das ist der goldene Feierabend,
der (dem Stoffe nach) in der Dialektdichtung seither erklang und der
auch in der Folge in ihr erklingen sollte oder wird. Auf Grund einer volksmäßigen
Anschauung bauen sich die seelischen Vorgänge, baut sich die Gefühls=
und Gedankenwelt auf, welcher der Dichter seine Stoffe zu entnehmen hat.
Jn Beantwortung der berechtigten Frage, bis zu welchem Grade eine
dialektische Behandlung irgend eines Gegenstandes gerechtfertigt sei, läßt sich im
allgemeinen behaupten, daß alle Stoffe, wofür die Durchschnittsbildung eines
Volks Jnteresse zeigt, zur Dialektdichtung geeignet sind, sofern diese Stoffe eine
volksmäßige Sprache vertragen und in volksmäßige, dialektisch individuelle Bilder
und Wörter gefaßt werden können. Alles, was dialektisch behandelt werden
will, muß wie der Dialekt selbst jene Traulichkeit, Naivetät, Gewandtheit und
jugendliche Frische atmen, welche das Hochdeutsche längst eingebüßt hat. Es
eignet sich für den Dialekt wenig das Oratorische, Hochpathetische; um so mehr
aber das Kernige, Einfache, Schlichte, Klare in der Phrase und alles Volksmäßige,
was den Schwulst und den gezierten, geschraubten Ausdruck ausschließt.
Besonders aber eignet sich für den Dialekt alles, was den treffenden Ausdruck
der auf gesundem Menschenverstand beruhenden, praktischen Moral verlangt:
die Spruchdichtung, ferner tiefe und innige, dabei aber ganz
natürliche Empfindungen, vorzüglich aber alle Arten der sowohl
derben, als schalkhaften Komik und Humoristik.
Wie es im Dialekt Eigenartiges giebt, so findet sich auch im Hochdeutschen
manches, was im Dialekt gar nicht, oder nur mit Umschreibung wiederzugeben
wäre, indem dabei Ton und Klangfarbe verwischt werden würden.
Wie sich das Volk in seinen Dichtungen nur an das wirkliche Leben
hält und bei seiner rastlosen Arbeit keine Zeit zur Schwärmerei findet, so muß
auch die Behandlungsweise des Dialektdichters Bilder schaffen, die der
Wirklichkeit nachgezeichnet sind. Um nur eines zu erwähnen, so kann
ein Kind aus dem Volke nicht „schlafen und träumen, bis Liebe es heißt auferstehn“;
aber dieses Kind kann sich doch auch seinen Betrachtungen hingeben
und in seiner eigenartigen Weise Ersehnen und Erfüllen zusammenhalten u. s. w.
Wenn die Ausdrucksform im Dialektgedicht der Volksanschauung und dem
Volksgefühl anzupassen ist, so muß auch die Sprache dem Volksmund entsprechen. [179]
Sie darf daher niemals eine hochtrabende sein. Aber da jeder
Dialekt eine Menge Nuancen und Abstufungen vom Edleren zum Gewöhnlichen,
vom Feineren zum Gröberen und Gemeinen hat, so soll der Dichter
möglichst oben bleiben und die edlere Ausdrucksweise bevorzugen. Auch im
Dialekt soll das Unschöne vermieden und das Schöne in naiv=idealer Weise
zur freundlichen Anschauung gelangen, und dieser Grundsatz muß nach Möglichkeit
auch da noch festgehalten werden, wo der derbe Humor zum Worte kommt;
denn auch beim urwüchsigsten Humor muß man sich immer noch in guter Gesellschaft
befinden. Die gröbere Sprache hat stets gröbere Stoffe im Gefolge,
die eben der Dialektdichter bei Seite lassen soll, um nicht zur Vergröberung
der Gefühlsweisen, der Sitten und des Ausdrucks beizutragen. Er soll ─
um mit Ad. Grimminger in „Moi Derhoim“ zu sprechen ─ „das Volksgemüt
in seinem Gemütssonntagsstaat“ darstellen. Als abschreckende
Beispiele können Gedichte der verschiedensten Dialektdichter dienen. Wir beschränken
uns auf folgende Probe von Weitzmann:
I. Übertragung ins Hochdeutsche.
Da das Verstehenlernen unbekannter Mundarten und das mühsame Zusammenstoppeln
der fremden Dialektausdrücke nach unvollkommenen Wörterbüchern
viele um den Genuß bringt, die Dialektgedichte als abgerundete Ganze,
als lebendige Schöpfungen in vollem Geisteszuge zu genießen und sich diesem
Vergnügen ungestört und unbefangen hinzugeben, so hat man es mehrfach versucht,
die wirkungsvollsten Dialektdichtungen ins Hochdeutsche zu übertragen.
(Jch erinnere nur an Robert Reinicks gelungene, empfehlenswerte hochdeutsche
Übersetzungen der J. P. Hebelschen Dichtungen, die mit Bildern und Zeichnungen
von L. Richter 1876 bereits in 6. Auflage in Leipzig bei Wigand
erschienen und in welchen der Dichter-Übersetzer dem Wortgeiste hie und da
die Worttreue geopfert hat, um den zarten Hauch natürlicher Unbefangenheit
nicht durch eine pedantisch=wortgetreue Übersetzung zu einer steifen, hölzernen,
kalten oder gar unverständlichen Wendung zu formen; mit Rücksicht auf die
Schlichtheit des Verses hat er auch in verständnisvoller Weise die Wortstellung
geändert, dem hochdeutschen Gedanken hochdeutschen Reim verliehen u. a. m.)
Doch hat man nicht immer die erwartete Anteilnahme seitens des größeren,
hochdeutschen Publikums gefunden, da sich mit der Verpflanzung des Dialektgedichts [180]
in fremden Boden häufig die Wärme des Kolorits, sowie Duft und
Farbe der Ausführung verloren haben, gleichsam also dem schönen Schmetterling
der Schmelz seiner Flügel abgestreift wurde. Diese Erfahrung müßte genügen,
um mindestens Unberufene von Umbildung der Dialektgedichte abzuhalten
und die Berechtigung der Dialektpoesie neben dem Hochdeutschen anzuerkennen.
Um derartige Übertragungen anschaulich zu machen, beschränken wir uns
auf eine charakteristische Probe aus einer süddeutschen Mundart.
Nürnberger Mundart.
Vorbemerkung. Abweichend vom Original hat sich die Übersetzung der
Reimpaare bedient, und da dieselben gleiche Zeilenlänge begünstigen, so hat
der Übersetzer durchweg akatalektische jambische Viertakter gebildet. ─ Man
bemerke in der hochdeutschen Übersetzung die reiche Ausmalung des Gedankens
gegenüber der volksmäßigen Behandlung im Original.
Der Käfer.
Original von Grübel.
Übertragung von Fr. Halm.
II. Übertragung ins Mundartliche.
Es ist ohne Zweifel die Frage berechtigt, ob es angemessen
sei, hochdeutsche Gedichte in Dialektform zu übertragen. Obwohl in
dieser Richtung gelungene Versuche zu registrieren sind, so möchten wir uns
doch nicht eben ermutigend aussprechen, da für die Übertragung des Hochdeutschen
der lokale Boden des Originals fehlt und kein Grund vorhanden
scheint, ein zuvor schon allen zugängliches Gedicht einem kleineren Kreise vielleicht
in mangelhafterer Gestalt zu empfehlen. Humoristische Gedichte eignen
sich noch am besten für Übertragung, doch liefern auch sie keinen Beitrag zur
Kenntnis von Land und Leuten und deren Gebräuchen und Sitten.
Dagegen könnte manchmal die in den Lokalboden verpflanzte humoristische
Pointe eines Gedichtes für sich ein passendes, dialektisches Genrebildchen ergeben,
wie dies beispielsweise die nachstehende Bearbeitung Reuters zeigt. Hier ist
freilich von keiner Übersetzung mehr die Rede, sondern von freier Benützung
eines entlehnten fremden Stoffes (Einfalles), der in neuer Form und Fassung
nunmehr zu einem völlig neuen Gedichte wird.
Romanze von Sangerhausen.
(Musenalmanach 1783.)
Aus Läuschen un Rimels, von Fritz Reuter.
Der Dialektdichter ist, ─ sofern er auf das Prädikat Dichter im edlen
Sinn Anspruch erheben will ─ innerhalb seiner Sphäre an dieselben poetischen
Gesetze gebunden, denen jeder Dichter im allgemeinen sich zu unterwerfen hat,
da ja die Dialektpoesie kein Tummelplatz sein soll, auf welchem Ausschreitungen
und Willkürlichkeiten gestattet sind. Eine Hauptanforderung ist Erwerbung von
Feinfühligkeit, Ausbildung des ästhetischen Geschmacks und des musikalischen
Gehörs, um entscheiden zu können, wo die Handlung nicht zu den Worten
paßt, wo die Ausdrucksweise unschön oder geschraubt klingt, wo das Bild aus
dem Rahmen fällt, wo Ungeschliffenes, Rohes, Unschönes in Klang und Wendung
zu beseitigen ist u. s. w. Nur wenige Dialektdichter verstehen es, die mundartlichen
Schätze zu heben und das Gold von den Schlacken zu scheiden.
Während sich nämlich im Dialekt einerseits die naiven Empfindungen der Volksseele,
die einfachen, ungeschminkten Gefühle der Natur künden und die Frische [183]
und Unmittelbarkeit ihrer Anschauungen ausprägen, enthält derselbe doch auch
genug Ausdrücke, welche von sprachlicher Schwerfälligkeit, Schlaffheit, Nachlässigkeit
&c. herrühren; ─ und nur ein feinfühliger Dichter wird mit sicherem
Griffe das Gediegene, Edle, Anmutige des Dialekts in das Reich der Poesie
einzuführen vermögen.
Sodann muß der Dialektdichter Meister der Form werden und ─ eingedenk
der Wahrheit, daß das Beste für das Volk gut genug ist ─ diese
Form nimmermehr mit gemeinem Jnhalt vermählen. Auch in der Dialektpoesie
ist der schönen Form ein hoher Vorzug einzuräumen, weshalb wir der Behauptung
widersprechen, daß sich die Dialektdichtung auf die primitivste Form
zu beschränken habe, nur weil meist Unberufene darin ihr Wesen trieben.
Verschiedene Dialektdichter (vgl. Hebel, der sogar fremde Formen anwandte,
Seidl, der allein 400 prächtige Vierzeilen schrieb, Rosegger, Reuter u. a.)
haben gezeigt, daß dem Dialektgedicht von tüchtiger Hand auch recht wohl
künstliche Verse und Strophen verliehen werden können. Der Veranlasser muß
eben Dichter sein, der sie in seiner Gewalt hat, um auch bei schwierigen
Formen (vgl. z. B. Grimmingers Nachtgang in „Moi Derhoim“) freundliche
Gebilde zu bieten. Man darf dem Dialektdichter nicht anmerken, daß seine
Arbeit eine mühevolle war, daß sein spröder Stoff Risse bekommen habe und
nun notdürftig übertüncht wurde. Form und Stoff müssen in ungezwungener,
naturgemäßer Weise harmonieren. Wo dies nicht der Fall ist, wird der Dichter
über seine Grenzen hinausgeschritten sein.
Mancher Dialektdichter liebt es, im Gedichte banale Witze, Späße &c.
anzubringen. Dies kann jedoch nur auf Kosten der Poesie und des guten
Geschmacks geschehen und liegt sicherlich außerhalb der Mission des Dialektgedichts.
Nicht Witzbold soll der Dialektdichter sein, wohl aber Humorist; nicht
Verstand, sondern Herz und Gemüt sollen im Dialektgedicht ihre Lichter
spielen lassen. Wo daher die Dialektpoesie statt mangelhafter Reimpaare und
zweifelhafter Späße gutgeformte Poesie und gemütreichen Humor bietet, da wird
sie sich dem herzigen, tiefgründigen Volksliede nähern und gleich demselben jenen
Reiz entfalten, welchen (nach Goethe) dasselbe auch auf den ausübt, der auf
höherer Bildungsstufe steht, so ungefähr, wie der Anblick und die Erinnerung
der Jugend ihn fürs Alter haben. Jm Grunde genommen schreiben unsere
Dialektdichter auch ihre Poesien nur für die gebildeten Kreise. Und wenn sich
die Nachfolger dies stets vergegenwärtigen wollten, so würden sie infolge ihrer
höheren Aufgabe und ihres ernsteren Auditoriums ihre Gebilde nach den Gesetzen
des Schönen bleibendem Genusse weihen.
Die Ausgangspunkte der deutschen Übersetzungskunst.
Die Kunst der metrischen Übersetzung aus fremden Sprachen ─ die
Übersetzungskunst ─ ist eine schwere Kunst, welche wie jede andere Kunst erlernt
und geübt werden muß. Es sind ja nicht bloß formale Momente, die
in Betracht kommen, sondern tausenderlei Anforderungen, die sich auf den
sprachlichen Ausdruck beziehen, auf Wiedergabe von unübersetzbaren Ausdrücken
(z. B. Humor, Galanterie), auf Nachahmung der Quellen, auf den zu übertragenden
Stil, der beispielsweise bei Herodot ganz anders ist, als bei dem
reflektierenden, oft in dunkler Kürze sich haltenden Tacitus oder bei dem pragmatisch=historischen
Thukydides &c. &c.
Ohne Zweifel hat das Übersetzen großen bildenden Wert, weshalb es
schon Plinius (im 9. Brief des 7. Buches) und Quintilian dringend empfehlen
und die größten Geister von Cicero an (der Xenophons Bücher von der Haushaltungskunst
und den Plato in seine Sprache übersetzte) bis in die Gegenwart
es übten. Trotzdem wurde die Einführung in die Übersetzungskunst bis heute
in keinem Lehrbuch darzulegen versucht, denn das von uns teilweise benützte,
übrigens schon Ende der 50er Jahre erschienene Buch von Gruppe handelt
von einzelnen Übersetzern aus den antiken Sprachen und ist lediglich eine
historische Studie, der nichts ferner liegt, als die Praxis der Übersetzungskunst
lehren zu wollen.
Alle jene Männer, welche uns fremde Dichtwerke übertrugen, haben die
Übersetzungskunst durch Übungen praktisch erlernen müssen, indem sie nicht selten
durch langjährige, irreleitende Abstraktionen die Regeln einzeln und jeder für
sich aufsuchten, bis sie zu festen Normen und Grundsätzen in Hinsicht auf
deutsche oder undeutsche Wortbildung, Wortbiegung, Wortfolge, Wendungen &c.
gelangten.
Unsere ältesten Übersetzungen stammen aus dem griechischen
(und lateinischen) Altertum; sie versuchten, den altklassischen Geist zum deutschen
Nationaleigentum zu machen.
Erst nachdem die Wirkungen des Griechentums erprobt waren,
begann man, auch aus den Litteraturschätzen anderer Völker zu
übersetzen. So wurden Shakespeare, Calderon, Ariost, Tasso &c. die
unsrigen; so sind uns (namentlich seit Gründung der morgenländischen Gesellschaft
in Kalkutta 1784) die Araber, Perser und Jnder näher geführt
worden; so übersetzt man nunmehr aus dem Französischen, Schwedischen,
Dänischen, Russischen, Serbischen, Ungarischen und allen halbwegs
bekannten Sprachen.
Für einen orientierenden Überblick über die Übersetzungen aus der frühesten
Zeit bis in die Gegenwart ist zunächst zu bemerken, daß bei den ältesten Übersetzungsversuchen
zur Zeit der Minnesinger (wo man nur nach Arsen skandierte)
von poetischer Kunst füglich nicht die Rede sein konnte. Ebenso wenig war
dies zur Zeit der Meistersänger der Fall, wo alle Kunst auf Silbenzählung
abzielte.
Erst in der Mitte des 16. Jahrhunderts steigerten sich die Anforderungen
an die Übersetzungskunst, namentlich seit durch K. Gesner der Versuch gemacht
worden war, das heroische Versmaß des Hexameters ins Deutsche zu
übertragen. Opitz (im 17. Jahrhundert) hob bereits als unterscheidendes
Moment zwischen unserer und der antiken Sprache den Accent hervor; er
führte den Jambus und den Trochäus ein und begründete die Nachbildung
weiterer künstlerischer Maße aus der antiken Litteratur. Das importierte
Maß des Hexameters, den zunächst Opitz' Zeitgenosse August Büchner in
Wittenberg aufnahm (sodann die Pegnitzschäfer in Nürnberg), machte rasch
Fortschritte, so daß bereits 1691 Christian Weise (in „Curieuse Gedanken von
deutschen Versen“) gereimte Distichen schrieb, die lediglich aus Daktylen bestehen.
Gottsched meinte, wir hätten lange und kurze Silben und vermöchten
daher die antiken Maße nachzubilden. Er selbst bildete in der „kritischen Dichtkunst“
reimlose Hexameter und gab verdienstvolle Proben von Distichen Anderer
(z. B. des Heräus).
Am gewaltigsten wirkte Klopstock auf die Übersetzungskunst durch sein
Studium der antiken Maße und deren praktische Anwendung in der Messiade,
wodurch er die Möglichkeit bewies, dem deutschen Hexameter gleichfalls rhythmische
Beweglichkeit zu verleihen. Klopstocks heller Blick erkannte, daß wir bei
Übersetzung des antiken Maßes in unserer Sprache den Spondeus durch den
Trochäus ersetzen können; auch entging ihm nicht, daß der Hexameter eine
leichtere (fließendere) Periodisierung gestattet; er bekämpfte den Amphibrachys
(⏑ – ⏑). Sein die freiere Übersetzung begünstigender Vorgang hatte großen Einfluß
auf die Übersetzungskunst; die Entwickelung derselben vollzog sich in engem
Zusammenhang mit allen jenen Bestrebungen, welchen wir das Aufblühen unserer
Litteratur, wie unserer wissenschaftlichen und künstlerischen Bestrebungen verdanken.
Seit Klopstock begann man ernstlich die Dichtwerke fremder Nationen zu
übertragen. Einzelne übersetzten in Alexandrinern, andere (z. B. Heinse den
Ariost 1782) in Prosa.
Lessing scheint in seinen Litteraturbriefen (31. Brief) noch die Übersetzung
in Prosa zu befürworten, indem er ausruft: „Da der Deutsche in seiner
poetischen Prosa am treuesten sein kann, warum soll er sich das Joch des
Silbenmaßes auflegen, wo er es nicht sein kann.“ Jn seinem Laokoon hält
er es für unmöglich, die Malerei, welche die Worte des Dichters mit hören
lasse, in eine andere Sprache zu übertragen.
Herder hat sich in seinen Fragmenten für die metrische Form poetischer
Übersetzungen entschieden, indem er dort ausspricht, daß er bei Übersetzung
Homers nicht gerne Poesie und Hexameter vermissen möchte. Zum Zusatz:
„aber Hexameter und Pentameter im griechischen Geschmack“ haben
ihn jedenfalls die stillosen, in der Prosodie prinziplosen Versuche Steinbrüchels
(3. Buch der Jlias, 1763) oder die früheren von Joh. Sprenger
(1610) veranlaßt, wie ihn ebenso wahrscheinlich Meinhards Versuche mit
Homer bestimmten, in „Krit. Wälder“ (1. Wäldchen) wiederum die Prosa=
Übersetzung zu empfehlen.
Es folgten Übersetzungen auf Übersetzungen. Eine der ältesten scheint die
(1757 zu Basel) in Hexametern erschienene: „Vier auserlesene Meisterwerke
so vieler englischer Dichter“ &c. zu sein, über deren schlechten Ausfall sich
Lessing in den Litteraturbriefen (39. Br.) ergötzt.
Zachariä übersetzte den Milton im Maße der Messiade, um die
im Deutschen bereits eingebürgerte antike Form zu haben. Dafür
versuchte nun wieder Bürger, dem freilich die philologischen Kenntnisse eines
Voß abgingen, den Homer in Miltons Blankvers zu übersetzen, wobei er seinen
(spezifisch Bürgerschen) Jambus mit allen Fehlern jener Zeit anwandte. (Sein
Vorgehen verteidigte er im Oktoberheft des deutschen Merkur 1776.)
Männer der verschiedensten Geistesrichtung und Bildung vereinigten
sich nunmehr in dem Bestreben, das homerische Epos unserer Sprache zu
vermählen. Zwei Jahre nach Bürgers Versuch (1778) erschien Bodmers
Übersetzung der Jlias im Hexameter, die allenthalben den lateinischen Ursprung
verrät. (Der Verfasser unterdrückt die Verbindungspartikeln, gestattet sich syntaktische
Abschlüsse, wo im Original die Rede fortfließt und hält sich nicht an
den Periodenbau Homers.)
Jugendlich frischer, wenn gleich noch ungenügend ist die Homerübersetzung
der Gebrüder Stolberg, die mit Wiedergabe des Sinnes zufrieden ist, ohne
sich pedantisch um das Einzelne zu kümmern. Sie ist wegen ihres Anschlusses
an die „Griechheit“ (griechischen Sinn, Geist, Form) als Anfang deutscher
Übersetzungskunst im eigentlichen Sinn anzusehen; sie veranlaßte das
Unterbleiben der oben erwähnten, von Bürger geplanten Übersetzung.
Voß als Begründer der deutschen Übersetzungskunst. Eine Epoche
in der Übersetzungskunst bildete J. H. Voß mit seiner Homerübersetzung. [187]
(Odyssee 1781; Homers Werke 1793.) Dichter und Gelehrter zugleich
erstrebte er vor allem Treue in der Übersetzung. Wort für Wort übertrug
er das Original, und er suchte schöpferisch selbst den griechischen Wendungen
und Wortbildungen gerecht zu werden. So wurde seine Versbildung charakteristisch,
originell, freilich häufig ungelenk, steif, hölzern, undeutsch. (Jch erwähne
u. a. nur der helmumflatterte Hektor (7, 234), hellumschiente
Achaier (1, 17), der Vermischer (5, 903), mir nicht ist's anartend
(5, 253) u. s. w.) Durch Einfügung von Trochäen und Spondeen gab er
seinem Hexameter einen dem Original entsprechenden, nicht hastenden, epischen
Gang. Den männlichen Gang des homerischen Hexameters, der im 4. Takt
auch keine weibliche Cäsur hat, erreichte er durch die männliche (epische oder
heroische) Cäsur im 3. oder 4. Takt. Auch die sogenannte bukolische Cäsur
(die nach I. 350 dieser Poetik richtiger bukolische Diärese zu nennen ist) wendet
er nach Homers Vorgang an u. s. w. So widerlegte er die Ansicht Lessings
von der Unübersetzbarkeit des Homer; so wurde er der Begründer der
deutschen Übersetzungskunst und ─ mit seinen weiter unten zu erwähnenden
Übersetzungen aus dem Lateinischen ─ der hervorragendste
Übersetzungsmeister aller Zeiten. Er war es, der den Deutschen erstmals
einen deutschen Homer gab, und der eben damit der Bildung des Jahrhunderts
den herrlichen Jnhalt des klassischen Altertums in würdiger Weise
wie durch einen Zauberschlag erschloß. Er bewies durch die That, was unsere
elastische Sprache zu leisten imstande ist. Goethe sagt daher mit Recht (im
westöstlichen Divan): „Wer jetzt übersieht, was geschehen ist, welche Versatilität
unter die Deutschen gekommen, welche rhetorische, rhythmische, metrische Vorteile
dem geistreich talentvollen Jüngling zur Hand sind, wie nun Ariost und Tasso,
Shakespeare und Calderon, als eingedeutschte Fremde, uns doppelt und dreifach
vorgeführt werden, der darf hoffen, daß die Litteraturgeschichte unbewunden
aussprechen werde, wer diesen Weg unter mancherlei Hindernissen zuerst einschlug!“
Schlegel (wie Voß ─ zugleich Dichter und Philologe) hat in Wiedergabe
(Übersetzung) des Maßes weiter bewiesen, wie die Elegie und das elegische
Distichon zu behandeln sind. Um das antike Prinzip durchzuführen, hat er mitunter
eine wunderliche Prosodik beliebt, indem er trochäische oder jambische Satztakte
(z. B. „wiewohl“) als Spondeen anwandte u. s. w. Seinem späteren Verbannungsedikt
des von ihm ursprünglich angewandten Trochäus aus dem deutschen
Hexameter neigten sich viele Philologen in ihren Übersetzungen freilich ohne endgültigen
Erfolg zu. Sein kaum 500 Hexameter umfassendes Beispiel (die Elegie
„Rom“) liefert noch nicht den praktischen vollgültigen Beweis für die Durchführbarkeit
des antiken Spondeus, während der Übersetzer Voß in 70 000 Hexametern
die Berechtigung des Trochäus im deutschen Hexameter praktisch und
glanzvoll beweist. Hiezu kommt, daß Schlegels freie Bearbeitung mit Voßens
Übersetzungen in Hinsicht auf Schwierigkeit gar nicht verglichen werden kann.
Auch die ersten hundert Verse der Odyssee in trochäusfreien Versen, mit
denen Fr. Aug. Wolf auf die Seite Schlegels trat, konnten höchstens den
Versifikator beweisen. Jhnen mangelt Voßischer Fluß; sie vernachlässigen die [188]
Cäsur im 4. Takt, sie verschieben den Accent und sind in ihrer Summe geradezu
unverdaulich &c. Doch waren sie von großem Einfluß auf viele Übersetzer bis
in die Gegenwart.
Goethe's Einfluß. Eine Steigerung der Anforderungen an den Übersetzer
bewirkte die klassische Ausdrucksweise Goethe's und später die Formenschönheit
Platens in deren Anerkennung seitens der Nation. Goethe, der viel
von Voß gelernt hat und sich auch seine Prosodie aneignete, drang mehr als
alle seitherigen Übersetzer in den griechischen Geist ein, den eigene Produktionen
(z. B. Hermann und Dorothea) wie auch Übersetzungen atmen. Wie prächtig
deutsch klangen seine antiken Maße im zweiten Teile des Faust, in der Pandora
&c.! Man erkannte das Genie im Gegensatz zum Privatfleiß der philologischen
und selbst der Voßischen Arbeitsstube. Goethe hatte gezeigt, welcher
Behandlung die deutsche Sprache fähig sei. Was Wunder, daß er der Maßstab
für die Übersetzer wurde!
Nunmehr verlangte man in allen Übersetzungen ungezwungene, unverrückte,
natürliche Sprachweise: ein ungekünsteltes schönes Deutsch. Es wuchs
der Mut, die geschraubte konventionelle Übersetzungssprache geschmacklos zu finden
und lieber einen weniger gesetzmäßigen Vers zu wünschen, wenn derselbe nur
dem deutschen Accent entsprechend gebildet wurde. Ja, man forderte eine
Umkehr zum Schönen, wodurch der Übersetzungskunst eine neue Aufgabe erblühte
und sie in ein höheres Stadium gerückt wurde.
Platens Einfluß. Den Einfluß Goethe's auf die Übersetzungskunst
bestätigte und verstärkte später Platen durch Reinheit und Wohllaut des Verses,
durch seine geniale Sprachbewältigung, durch seine Vornehmheit im Stil.
Nach Goethe und Platen wurde die Zahl der handwerksmäßigen Übersetzer
bedeutend geringer, da nur wenige solch hohem Maßstab zu entsprechen
vermochten.
Der Einfluß Goethe's und Platens wirkte wie Sonnenlicht belebend, befruchtend,
verschönend auf die sämtlichen Übersetzungen unseres Jahrhunderts,
was wir in einzelnen Gruppenbildchen in nachstehenden Kapiteln andeutend darthun
wollen:
I. Griechische Dichter.
a. Epik. (Homerübersetzungen. Hesiod. Bukoliker
.)
b. Lyrik. (Elegiker. Anthologie. Pindar.)
c. Drama. (Aristophanes' Lustspiele. Die
Tragiker. Moderne Bearbeiter.)
II. Römische Dichter.
(Horatius. Martialis. Catullus. Ausonius
. Tibullus. Plautus. Terentius.
Propertius. Persius. Juvenalis. &c.)
a. Epik. (Homerübersetzungen.) Das Streben nach einem besseren
Deutsch, als das Voßische ist, regte vor allem die Versuche neuer, deutsch [189]
lesbarer Homerübersetzungen an. 1822 erschien als Probe die Übersetzung
des 10. Gesangs der Odyssee von Konrad Schwenk, sowie des I. Buchs
derselben von Kannegießer. Beide schlossen den Trochäus aus, suchten aber
das gespreizte Voßische Übersetzungsdeutsch zu vermeiden, was ihnen freilich
am allerwenigsten an jenen Stellen gelang, wo es galt, zur Vermeidung eines
Trochäus einen Daktylus zu bilden (z. B. beförderen, gesteueret &c.).
Kannegießer suchte sich dem modernen Geschmack anzubequemen, indem er
sich im Hexameter sogar Binnenreime gestattete (z. B. zog und bog es geschäftig).
Voß Sohn veranstaltete 1837 eine neue Odysseeausgabe; aber er hat
doch nicht größere Erhabenheit im Ton mit größerer Einfachheit und Schönheit
zu einen vermocht.
Spätere Homerübersetzer haben zum Teil wieder die höheren Ziele über
dem Bestreben vergessen, trochäenfreie Hexameter herzustellen, (wobei sie
häufig Spondeen bildeten, die nicht als solche zu betrachten sind). Weniger
ist dies der Fall in der sehr verbreiteten Ausgabe des ganzen Homer von
E. Wiedasch in der Metzlerschen Sammlung (13 Bändchen) als bei Jakob,
welcher sogar das Gesetz der Cäsur im 3. und 4. Takt verletzt, halbierte Hexameter
bietet u. a. m.
Eine Art popularisierten Voß hat Monje (Frankfurt 1846) durch seine
Jliasübersetzung geliefert, die sich das Ziel setzte, den gelehrten Anstrich zu
vermeiden und die Einfachheit des Originals zu wahren. Sie wollte möglichst
treu sein und die Wörtlichkeit nur verlassen, wo sich diese mit dem fließenden
Versbau und dem lebensfrischen Ausdruck nicht vereinen läßt. Dadurch
wurde sie eine eklektische Überarbeitung, welche die Voßische Übersetzung keineswegs
überflüssig macht.
(Hesiod.) Neben dem gewaltigen Homer fand auch der Epiker Hesiod
seine Übersetzer. Bereits 1806 war die Hesiodübersetzung von Voß erschienen.
Neben minderwertigen Versuchen sind sodann zu erwähnen: Gebhard und insbesondere
Ed. Eyth, dessen im Versmaß der Urschrift erschienene Übersetzung
(1858) große Anerkennung fand. Eyth setzte sich große Einfachheit und Treue
zum Ziele. Die Rücksicht auf Treue gebot es ihm, die Feinheit und Abgeschliffenheit
in der äußeren Form des Verses, welche er für Homer in Anspruch
nimmt und diesem zu Teil werden läßt, weniger zu verlangen.
(Die griechischen Bukoliker.) Theokrit, Bion, Moschus wurden in
lesbarer, zuweilen an Goethe erinnernder Weise übertragen: vom halbvergessenen
Bindemann (1797), Voß (1808), Naumann, ferner von Mörike und Notter.
Besonders den letzteren war es um gefälligen, natürlichen Vortrag zu thun.
Eine vollständige brauchbare Übersetzung der erwähnten Bukoliker lieferte
F. Zimmermann. Die Jdyllen Theokrits übersetzte Fr. Rückert (1867) unter
teilweiser Anlehnung an Bindemann, dessen feineren Sinn und reinstes Gefühl
er rühmt, während er die übrigen Übersetzungen „harthörig“ und „ohrzerreißend“
nennt und die „gelehrten Verbesserer“ tadelt, die dem Theokrit „den Geist aus=
und den eigenen einblasen“.
b. Griechische Lyrik. Den Begriff der griechischen Lyrik, welche teilweise
nur durch die, in Goethe's Vorbild begründete Ermutigung übersetzbar
wurde, nehmen wir hier im weitesten Sinne. Die griechische Lyrik hat sich
in der Stufenfolge von Elegie, Jambus und Melos entwickelt. Es ist daher
auch der Jnhalt der Anthologie und des Epigramms hier zu erwähnen.
(Elegiker.) Die elegischen Dichter der Hellenen ließ E. Weber bereits
1826 erscheinen, indem er Passows Vorarbeiten benützte, wobei er freilich
weniger den künstlerischen Anforderungen Goethe's, als denen der Philologen
genügte. 1827 machte R. Naumann (Prenzlau) einen Versuch, der geringe
Beachtung fand u. s. w.
(Anthologie.) Dichterisch schwungvoll und in Goethe'schem Deutsch hat
uns Herder das griechische Epigramm übertragen (vgl. Deutsche Blumenlese
1785). Zwar zeigt er noch bedenkliche prosodische Mängel; auch hat er
sogar die beiden Daktylen im letzten Hemistichium des Pentameters vernachlässigt;
aber seine Epigramme verbinden griechischen Geist mit größerer Freiheit
in der Form.
An seine Weise sucht sich Fr. Jacobs (in „Tempe“ 1803, verbessert
in „Leben und Kunst der Alten“ 1824) anzuschließen; er bedient sich mancher
Freiheiten, indem er die Namen verändert, vom Satzbau abweicht u. a. m.,
doch ist er in seiner deutschen Prosodik, die nicht einmal die Länge der Stammsilben
beachtet, hinter ihm zurückgeblieben. Herder blieb Muster für alle späteren
Anthologie-Übersetzer bis in die Neuzeit: für Gottl. Regis (1856), wie
für Weber und Thudichum, welche 1869 die vollständige Sammlung herausgaben.
Stücke von Sappho, Alcäus u. s. w. finden wir auch in der Anthologie.
Als neueste, glückliche Übersetzung der Lieder der Sappho verdient Geibels
Klass. Liederbuch Erwähnung. (Bezüglich der lyrischen oder melischen Partien
im Drama verweisen wir auf die betreffenden Abschnitte.)
(Pindar.) Die Einbürgerung der durch Klopstock vermittelten Odenmaße
stellte oft unüberwindliche Anforderungen an den Übersetzer und erinnerte
unwillkürlich an Cicero's Ansicht, daß Maße von allzu großer Künstlichkeit dem
Ohre als regellos und wieder wie bloße Prosa erscheinen. Bei Pindar, der
sich häufig von der natürlichen Redeweise entfernt und sich nicht selten in
Schnörkel und Zieraten verliert, waren die Schwierigkeiten in Hinsicht auf Metrum,
Sprache, Charakter und Gegenstand früher kaum zu bewältigen, weshalb wohl
die älteste Übersetzung (1771) und auch spätere Versuche die Prosa wählten.
Man hielt ─ nicht mit Unrecht ─ Pindars Oden für ein Analogon zu dem,
was man in der bildenden Kunst den hieratischen Stil nennt, und meinte, es
herrsche in ihnen ein traditionelles Element vor, das ihnen eine Steifheit und
Schwerfälligkeit auferlege, die zum würdevollen Charakter zu gehören scheine,
die aber ─ weil sie das allgemein Gültige entbehre ─ keine Übertragung
in eine andere Sprache zulasse. Trotzdem fand Pindar die bekannten Übersetzer
Thiersch (1820), Mommsen (1846), Ludwig und L. F. Schnitzer [191]
(1860), welche zunächst eine getreue Nachbildung seiner kunstvollen Maße versuchten,
deren Ausführungen aber den Gedichten nicht zum Vorteil gereichten.
(Man kann behaupten, daß Thiersch ohne den griechischen Urtext kaum verständlich
sei; auch seinen Nachfolgern, sogar Mommsen, geht es an vielen Stellen
kaum besser, obwohl gerade der letztere sich viele Freiheiten gestattet, nur um
das Metrum genau einhalten zu können. Wo die Übersetzer größere Deutlichkeit
erstrebten, wurden sie nicht selten prosaisch.)
Daß Pindar auch lesbar zu übertragen sei, beweist zunächst unser, Goethe
so nahe stehender Wilhelm von Humboldt, der in seinem geistreichen Versuch
einer Übersetzung mehrerer Gedichte (Ges. Werke II, 264─355) trotz mannigfacher
Abweichungen vom Metrum, von der Gedankenverbindung &c. doch gerade
genug zu erhalten wußte, um Pindars Bedeutung und Eigenart erkennen zu lassen.
Vor allem aber zeigt Minckwitz, daß die dichterische Befähigung des
Übersetzers auch einen lesbaren Pindar zu vermitteln vermag. Seine Übertragung
liest sich nicht selten wie ein deutsches Original. Er ist bei seinen
Übersetzungen Pindarscher Hymnen weiter vorgeschritten als sein Maßstab und
Meister Platen: a. in der Form, welche auch die Epode zu den Pindarschen
Strophen als Dreigliederung anreihte und b. im freieren flüssigeren, deutsch
anmutigen Stil u. s. w.
c. Dramatische Dichtung. (Griechisches Lustspiel. Aristophanes.)
Da es in der Natur der Sache liegt, daß bei unserer Darstellung
der Übersetzungen des griechischen Drama wenig Raum für das Lustspiel bleibt,
so wollen wir im Voraus bemerken, daß auch Aristophanes schon frühe die Übersetzer
beschäftigte. Auf die steife Übertragung J. H. Voßens (1821) folgten
die freieren, lesbaren Übersetzungen von Droysen (1838 und 1871), Seeger
(1848), Minckwitz (1855) und Donner (1861); erwähnenswert ist noch die
Schnitzersche Übertragung, sowie „ausgewählte Komödien“ von Schnitzer und
Teuffel &c.
(Griechische Tragiker.) Die Übersetzungen der griechischen Tragiker
vor Goethe sind zum Teil vergessen. Jch erinnere nur an den ersten Versuch
in moderner Reproduktion von Spangenberg (Sophokles' Ajax 1608), an
Opitz (Antigone 1646), an die erste metrische Gesamtübersetzung eines griechischen
Tragikers: nämlich an Christian Stolbergs Sophokles (1787), die für den
Trimeter den Blankvers anwandte und für die Chormaße beliebige lyrische
Strophenformen (alkäische, sapphische) beliebte &c., eine Willkür, welche Föhse
(1804) zu seiner Übersetzung in Alexandrinern ermutigte; ich erinnere endlich
an Asts Übersetzung, welche zum erstenmal des Trimeters sich bediente.
Erst die in der Goethezeit entstandenen Übersetzungen erlangten Ansehen:
zunächst Solgers Übersetzung des ganzen Sophokles (1808). W. v. Humboldt
unternahm 1816 die Herausgabe von Äschylus' Agamemnon. Diese Arbeit
unterscheidet sich von dem 1802 erschienenen Versuch Fr. Leop. v. Stolbergs
vorteilhaft durch deutsche, freundliche Wiedergabe der einfach natürlichen Sprachweise
des Äschylus in Anapästensystemen und im Trimeter. Humboldts Arbeit, [192]
welche die Möglichkeit einer Äschylus-Übersetzung beweist, ist insofern von
größerer Bedeutung, als sie nachweisbaren Einfluß auf die Äschylus-Übersetzung
von Heinr. Voß (dem Sohne) übte; ebenso auf Gust. Droysens
moderne Übersetzung (1832), sowie auch auf die Sophokles-Übersetzung von
Thudichum (1827/38).
Übertroffen wurde Humboldt durch Ottfried Müllers Übersetzung: die
Eumeniden des Äschylus (1833), die in Sprache und Vers ─ namentlich auch
in den Chormaßen ─ vollendet ist. Ebenso wurde er überragt durch die
Äschylus-Übersetzung von Donner, besonders aber durch die von Johannes
Minckwitz (in der allen Bibliotheken warm zu empfehlenden, vollständigsten
Metzlerschen Sammlung: „Griechische und römische Prosaiker und Dichter in
deutschen Übersetzungen“).
Minckwitz, Dichter und Philolog, also berufenster Übersetzer, hat die imponierende
Aufgabe gelöst, die griechischen Tragiker im Geiste seines großen
Vorbilds Platen zu übersetzen. Er bestrebte sich, wörtlich und wortgetreu zu
sein, und dem Genius unserer Sprache gerecht zu werden. Er hielt es für
die hohe Aufgabe des Übersetzers, den besonderen Ton jeder Versart zu treffen
und die Schönheit des Versbaus doch nicht außer acht zu lassen. Seine
Äschylus-Übersetzung steht noch über seiner Sophokles-Übertragung und sie übertrifft
die Arbeiten Droysens, Voßens, ja selbst Donners, der doch sonst seine
Muttersprache zu handhaben versteht und zum mindesten eine lesbare (wenn
auch trochäusfeindliche) Homerübersetzung geboten hat. Verdienstlich ist es, daß
sich Minckwitz der uneigennützigen Mühe unterzog, Ödipus, Antigone; die
Phönizierinnen, den Kyklops und die Jphigenie auf Tauris des Euripides wiederholt
ganz neu zu übertragen. Es genügte ihm keineswegs die bloße, redigierende
Umänderung seiner Stücke. Obwohl seine Jugendversuche sogar die
Anerkennung des übersetzungsfeindlichen Gottfr. Hermann gefunden hatten, so
sah er sich doch zu einer völligen Neuproduktion veranlaßt. Ungerechten, ja
unvernünftigen Tadel fand sein Euripides nur bei Hartung, der doch hätte
anerkennen sollen, daß Euripides wegen seiner Kürze besondere Schwierigkeiten
bietet, und Minckwitz durch Anwendung großer formeller Freiheit den Euripides
lesbar zu machen wußte.
Als gute Übersetzer des Euripides (der schon von Manso 1785, Jakobs
1805, Bothe 1800, 1822, Franz von Prevost 1782 &c. übertragen wurde)
sind neben Minckwitz zu nennen: Donner (1841─52), Hartung (1848─53),
Fritze (1856─69) u. a.
Die Übersetzungen des Euripides hatten den Wunsch nach einem guten
Sophokles angeregt. Thudichums Übersetzung erschien 1837. Bedeutender
war die Übersetzung Donners, der das konventionelle Übersetzerdeutsch in einer
Weise zu vermeiden strebte, daß Preußens König seine Antigone (im Herbst 1841)
im Neuen Palais zu Potsdam aufführen ließ.
Die neueste Übersetzung des Sophokles von C. Bruch (1880) in den
Versmaßen der Urschrift giebt zwar das Metrische möglichst treu wieder, verfährt
aber mit dem dichterischen Ausdruck ziemlich willkürlich.
Moderne Bearbeitungen der griechischen Tragiker. Mehrere Übersetzer
der griechischen Tragiker haben (nach Schillers Vorgang, der die Jphigenie
in Aulis und Scenen aus den Phönizierinnen des Euripides übertragen hat)
eine Reproduktion der antiken Tragödie in modernen Versformen versucht: im
Dialog durch Einführung des Blankverses, in den lyrischen Partien durch die
Wahl einfacherer, uns geläufiger Rhythmen teils mit, teils ohne Anwendung
des Reims. Es läßt sich nicht leugnen, daß der langatmige, jambische Trimeter
für unser Ohr, das sich an den leichten Fluß des englischen Verses
gewöhnt hat, zumal in längerer Rede, etwas Schweres und Steifes, ja Unnatürliches
hat, während durch die Vertauschung desselben mit dem kurzen jambischen
Verse der Ton leichter und natürlicher wird. Ebenso bringen die in
freierem Rhythmus nachgebildeten Chorgesänge einen ganz anderen Eindruck
hervor, als die in das antike Versmaß gezwängten, den Worten des Originals
mehr oder weniger sich nachschleppenden Verdolmetschungen, bei welchen wir
nicht imstande sind, auch nur annähernd das zu fühlen, was die Griechen
beim Anhören ihrer Chorgesänge empfunden haben mögen: schon deshalb nicht,
weil uns Modernen die antike musikalische Begleitung fehlt. Um einen musikalischen
Eindruck zu erzielen, muß man, wie Schiller gezeigt hat, den
Reim zu Hilfe nehmen. Jn dieser Weise sind die griechischen Tragiker ganz
oder teilweise von Wilh. Jordan, C. Th. Gravenhorst, Oswald Marbach, Adolf
Wilbrandt, Theod. Kayser u. a. übertragen worden. W. Jordan (Sophokles)
und Ad. Wilbrandt (Stücke aus Sophokles und Euripides) verzichten auf
den Reim; letzterer hat überhaupt die Chorgesänge vielfach ganz frei umgestaltet.
Oswald Marbach, der Übersetzer des Sophokles (1867), hat in neuester
Zeit auch Äschylos' Tragödien meisterhaft übersetzt (1883). Nicht Worte, Verse
und Vorstellungen, sondern Gedanken, Empfindungen und Charaktere suchte der
gelehrte Dichter-Übersetzer treu wiederzugeben und neu zu beleben. Theodor
Kayser hat die beiden Ödipus und die Antigone des Sophokles, sowie die
taurische Jphigenie des Euripides ebenso mustergültig übersetzt (1878 ff.). Diese
Übertragungen stehen auf der Höhe der Übersetzungskunst: sie lesen sich wie
deutsche Original-Dichtungen und bleiben dabei doch dem griechischen Originale
treu. Geradezu bewundernswert ist die Kunst, mit welcher es Kayser in den
dichterische Kraft beanspruchenden lyrischen Partien wie keinem seiner Vorgänger
gelang, durch gefällige Verschränkung der Reime, durch angemessenen Wechsel
von längeren und kürzeren Versen, durch eine dem Jnhalt entsprechende Mannigfaltigkeit
der rhythmischen Bewegung alle Einförmigkeit zu vermeiden und einen
dem Original möglichst verwandten Eindruck hervorzurufen.
Schon lange vor Voß und nachdem man die griechischen Maße übertragen
und sich an griechischen Dichtern versucht hatte, wagte man sich auch an römische.
Zu erwähnen ist zuerst und besonders der geniale Ramler. Dieser, von
Lessing auch in Handhabung der Feile anerkannte Meister, hat zuerst die antiken [194]
Odenmaße des Horaz übertragen, wobei er freilich nur 20 der leichteren Oden
auswählte, jedoch große Feinheit und Sauberkeit namentlich seinen Vorgängern
gegenüber bekundete. Er läßt weg, setzt zu, wie es unsere Sprache verlangt,
so daß sich seine Übersetzungen fast wie Originalgedichte ausnehmen. Er verschaffte
den antiken Versmaßen große Geltung und half das Gefühl für Formbestimmtheit
wecken. Seinen Übersetzungen im Auszug aus dem Martial (1787)
und (1793) dem (neuestens auch von Alex. Berg übersetzten) Catull werden
große Vorzüge auch in Beziehung auf Reinheit der Form nachgerühmt, wenn
er auch im Hexameter ungeschickt ist und haarsträubende Pentameter enthält,
welche unsere Längen als Kürzen behandeln z. B.:
so daß auch auf Ramler das erheiternde Xenion passen würde:
(Anm. Nach damaliger Meinung, welche die deutsche Sprache quantitierend
messen wollte, mußten die Positionslängen das Wort „Klopstock“ zum
Spondeus und „Kirchturmsknopf“ zum Molossos (– – –) stempeln. Nach unserem
Standpunkt, der nach deutsch=musikalischem Accent- und Rhythmusgefühl über
Schwere und Leichtigkeit der Silben entscheidet, ist Klopstock Trochäus (oder
trochäischer Spondeus) und Kirchturmsknopf Daktylus, dessen Schwere noch
dazu durch das darauf folgende Wort „Daktylus“ gemildert wird. „Denen“
ist uns trotz seiner Beziehung und trotz des Parallelismus zu „jenen“ accentgemäß
eher Pyrrhichius (⏑ ⏑) als Trochäus).
Nach Ramler war es der durch seine Homer-Übersetzung hochverdiente
J. H. Voß, welcher auch in Übersetzung römischer Dichter Gewaltiges leistete,
wobei er leider seine stereotype Behandlungsweise beibehielt. Sein pedantisches
Erstreben der Treue führte ihn zu einer konventionellen Übersetzersprache, so
daß sich seine Metamorphosen des Ovid, sein Horaz, sein Tibull, sein Vergil
(gleich den Lukas Kranachschen bürgermeisterlich=wittenbergschen Typen in der
Malerei) außerordentlich ähneln und dem Freunde deutscher anmutiger Poesie
in ihrer Steifheit den Genuß stören. Sein bei Ovid, wie bei dem von ihm
gut ausgeführten Vergil bewiesenes Bestreben, dem römischen Charakter die
deutsche Sprache anzubequemen, rächte sich besonders in den Odenübersetzungen
des fein urbanen, in Ton, Ausdruck und sprachlichem Gehalte wechselnden
Horaz, indem bei Voß eine Beziehung der andern ähnlich sieht, und die
hölzerne Übersetzungssprache Leben, Geist, Lieblichkeit, Schmelz und Duft verscheucht.
Dies gilt auch mehr oder weniger von seiner Übersetzung einzelner
Teile des Ovidschen Festkalenders, der später von Karl Geib (1828), sowie
besonders von dem strengen E. Klußmann (1859) übertragen wurde, welch
letzterer den rhetorischen Accent des Originals nachahmt und die Vertauschung
des Spondeus mit dem Trochäus nicht gestattet.
Nach Ovid erschienen viele zum Teil hochbedeutende oder für die Genesis
der Übersetzungskunst erwähnenswerte lateinische Übersetzungen. Ludwig Trost,
der noch mit der Metrik zu kämpfen hat, übersetzte 1824 des Ausonius
Mosella; ebenso Böcking, der den Anforderungen der Zeit zu entsprechen sucht.
Gruppe bot 1838 in dem trefflichen Buche „die römische Elegie“ Übersetzungen
aus Catull.
Den Catull übersetzte übrigens bereits 1829 Schwenk, sodann noch
(1855) Th. Heyse. Beiden sind die lyrischen (erotischen) Stücke besser gelungen,
als die an Voßische Geschraubtheiten erinnernden, trochäenfreien epischen. Jn
die durch Goethe gewiesenen Bahnen trat Koreff mit seiner Tibull=Übersetzung
(1810), ferner Günther und Strombeck (1825). (Letzterer hatte
schon 1795 den Anfang mit der Ars amandi gemacht, die in neuester Zeit
Hertzberg übersetzte, sowie in freierer Form J. F. Katsch-Stuttgart. Die neuesten
Tibullübersetzer sind Teuffel und Binder.) Ebenso strebte in Ebenmaß und
Natürlichkeit Neuffer (1816) in seiner Übersetzung der Äneis von Vergil
dem Vorbilde Goethe's nach. Er läßt den Trochäus zu, giebt aber dafür an
manchen Stellen den Charakter seines Originals auf.
Köpke übersetzte (1809 und 1820) 9 Komödien aus den 20 erhaltenen
des Plautus, wobei er den Anforderungen unserer Sprache gerecht zu werden
versuchte, ohne den Geist der antiken Sprache zu verletzen. Plautus mit seiner
eigenartigen Metrik liebt es besonders in Bacchien (⏑ – –) geschwätzig zu sein,
was ihm Köpke prächtig nachmacht, wenn er auch hie und da einen Amphibrachys
einmischt. Köpke hat auch 2 Lustspiele des Terenz übertragen, dessen
älteste Übersetzung aus 1499 herrührt. Nach Köpke übersetzten den Terenz
Fr. Jakob (1845), Th. Benfey und Joh. Herbst. Den Plautus übersetzten
noch Donner, Geppert, Hertzberg und Wilh. Binder, der seine Lustspiele (von
1862 an) in mehreren Bändchen herausgab.
Den Propertius übersetzte Hertzberg; desgleichen v. Knebel, besonders
aber Binder, der 1868 auch den Lucretius übertrug, von welchem bereits die
(der Meinekeschen Übersetzung von 1795 folgende gute) Übersetzung v. Knebels
(1829, 1831) vorlag, die den naiven Ton des Lucretius noch besser trifft,
als den oratorisch pathetischen.
An Persius und Juvenalis, die wegen ihrer dunkeln Anspielungen
und rätselhaften Verbindungen lange Zeit für unübersetzbar gehalten wurden,
wagten sich Passow (1809), Donner (1821), Kaiser (1822), Weber (1838) &c.
Hauthals Übersetzung enthält Verse mit Sünden gegen die Prosodie, gegen die
Grammatik, gegen Logik und Geschmack.
Teuffels Persius will keine Jnterlinearversion liefern, sondern ein Portrait
(vgl. seine Grundsätze in Magers pädag. Revue. Febr. 1844).
Übersetzungen des Juvenalis haben sonst noch geliefert: Hausmann (1839);
Göckermann (1847); Siebold (1858), der den Trochäus meidet, Alex. Berg (1862)
und insbesondere Hertzberg und Teuffel (1867), die in metrischer und prosodischer
Beziehung übereinstimmen, von denen der eine (Teuffel) Weber und Siebold bei
seiner Arbeit vergleicht, während der andere jede Vergleichung unterläßt.
Stücke aus Martial bietet Gruppe im D. Musenalmanach 1855. Jn
den Bahnen Platens wandelt Joh. Merkel, der 1841 die Horazischen Episteln
übersetzte, dabei ebenso wie Platen den Trochäus zu vermeiden und Spondeen
an seine Stelle zu setzen suchte, wobei er freilich (wie Platen) nicht selten die
betonte Silbe in die Thesis des Verstaktes brachte.
Neben ihm sind als Horaz-Übersetzer zu nennen: Ludwig, Teuffel, Weber,
ferner Binder, Fritzsche &c.
Überragt werden sämtliche durch die Übersetzungen von L. Döderlein
(Satiren und Episteln, 1862) und von Th. Kayser (Oden, 1877), welche
─ ich möchte sagen ─ nach dem Vorbild eines Freiligrath Treue mit Wohllaut,
Anmut und Eleganz zu vermählen wußten.
(Bezüglich des letzteren ist geschichtlich zu konstatieren, daß seine Übersetzung
des 1. Buchs der Oden bereits 1867 erschien und von sichtlichem Einfluß
auf die viel später erschienene Bacmeistersche Übersetzung war, die sich zwar
durch poetische Sprache auszeichnet, aber der philologischen Treue ermangelt und
im Gegensatz zu Kayser vielfach mit den deutschen Betonungsgesetzen kollidiert.
Vgl. z. B. Betonungen wie sŏrglōs, ălsō Nĕigūng u. s. w.)
Eine Aufzählung aller minderwertigen Übersetzungen müssen wir in dieser
Genesis unterlassen; ebenso die für die Geschichte der Übersetzungskunst wenig
einschneidende Übersetzung neulateinischer Dichter, wenn gleich einzelne Übersetzer
derselben Verdienstliches leisteten, z. B. Herder (Balde's Oden), Kraft (Lessings
lateinische Epigramme in den Bl. f. bayr. Gymnasialschulw. 1883) u. s. w.
Überblick. Überblicken wir die Übersetzungen unserer deutschen Litteratur
in Bezug auf die in ihnen zu Tage tretenden Grundsätze, so finden wir, daß
oft die berufensten Übersetzer die entgegengesetztesten Wege einschlugen und namentlich
die verschiedensten Standpunkte in der Metrik einnahmen. Beispielsweise
bekennt Teuffel, daß er lange geschwankt habe, bis er zu einem feststehenden
Resultate gelangt sei. Aber dieses Resultat stand eben doch nur für ihn fest.
Donners Grundsätze sind wesentlich von den seinigen verschieden. Es ist bei
vielen Übersetzern soweit gekommen, daß einer dem andern Unkenntnis auf
den Gebieten der Metrik vorwirft u. s. w. Jeder Übersetzer hält es für notwendig,
seinen metrischen Standpunkt, von dem aus er allein beurteilt zu
werden wünscht, des Weitläufigeren auseinanderzusetzen, da es eben bis jetzt
keine allgemein gültige deutsche Metrik gab.
Wir sehen uns zu dieser Schlußbemerkung deshalb veranlaßt, weil mancher
weniger Eingeweihte sich wundern möchte, daß wir verschiedenen Übersetzern
Beifall zollten oder versagten, auch wenn sie bezüglich ihrer metrischen Grundsätze
von einander abweichen. Auch wollten wir es begreiflich erscheinen lassen,
daß wir im Nachstehenden uns der großen Mühe unterzogen, die Übersetzungsgrundsätze
nach dem Standpunke einer allverpflichtenden deutschen Metrik und [197]
Prosodik in der Absicht darzulegen, eine Einheit in der Übersetzungskunst
anzubahnen.
Moderne Sprachen und Litteraturen. Auf eine geschichtliche Entwickelung
und Darstellung der Übersetzungen aus den neueren Sprachen müssen
wir an dieser Stelle um so mehr verzichten, als wir es noch nicht an der Zeit
halten, eine erschöpfende Darstellung derselben zu liefern, andererseits aber die
bedeutendsten Vertreter (z. B. in Verdeutschung des Dante, Ariost, Tasso,
Calderon, Shakespeare, Byron &c. &c.) schon im 2. Bande dieser Poetik bei den
einzelnen Dichtungsgattungen erwähnt wurden. Selbstredend kann hier auch
nur beispielsweise einiges aus den modernen Sprachen gegeben werden, was
auch völlig genügen muß. Denn trotz der ethnologischen Verschiedenheit ist
doch der moderne Sprachgeist im ganzen genommen so einheitlich, die Nationen
einander so nahe gerückt, daß die allgemeinen Behandlungsregeln sich von der
einen auf die andere Sprache leicht übertragen lassen. Wo dies aber nicht
angeht, wie z. B. beim Magyarischen oder bei slavischen und orientalischen
Sprachen, da sind die besonderen Regeln eben nur durch das Studium dieser
Sprachen selbst zu gewinnen, und wir können natürlich nicht beabsichtigen, in
deren Feinheiten hier einzugehen.
Ebenso zwecklos wäre es, für die Übersetzung der ältesten oder älteren
orientalischen Sprachen hier Regeln geben zu wollen, denn wer sich deren aufstellen
will, wird seine Vorgänger (Gebr. Schlegel, Hammer-Purgstall, Herder,
Bopp, Rückert &c.) zum vergleichenden Studium benützen müssen.
Das Eine ist indes noch zu betonen, daß neben Goethe und Platen besonders
Freiligrath als Ausgangspunkt der heutigen Übersetzungskunst aus
modernen Sprachen insofern bezeichnet werden darf, als er durch unermüdliches
Feilen und Redigieren Treue mit Lesbarkeit zu verbinden und Übertragungen
herzustellen wußte, welche gleich den modernen Bearbeitungen
der griechischen Tragiker wie deutsche Originalgedichte sich
lesen. Mit großer Absichtlichkeit haben wir daher weiter unten einen Blick
lediglich in die Freiligrathsche Übersetzerstube eröffnet, um dem Anfänger zu
zeigen, wie selbst der Genius mühsam nach der Palme ringen muß, ferner
wie man es zu beginnen hat, um das Ziel der Übersetzungskunst zu erreichen:
Übersetzungen, welche bei aller Treue den Eindruck von Originalgedichten
hervorrufen.
Wo es sich nur um Jnhaltsangabe, um Kenntnis der Grundlagen des
Umrisses handelt, genügt die Prosa-Übersetzung des dichterischen Kunstwerks.
Jn allen andern Fällen ist dasselbe nach Stil und Ton, nach Anordnung
des Maßes &c. nicht von seiner Form zu trennen. Somit ist als oberster
Grundsatz aufzustellen: Ein dichterisches Kunstwerk darf nur künstlerisch
übertragen werden und zwar wo möglich in der Form des Originals
oder doch in einer solchen Form, welche vom Jnhalt nichts unter= [198]
schlägt und auch äußerlich dem Ton des Originals am nächsten
kommt.
Hierfür machen sich besondere Anforderungen geltend: a. an die metrische
Übersetzung, b. an den Übersetzer.
Eine gute metrische Übersetzung, welche das Resultat von Verständnis
und Begeisterung sein soll, muß beim Leser dieselbe Empfindung und Stimmung
hervorrufen, wie dies beim Original der Fall ist. Die Rücksicht auf diese
Forderung hat allein darüber zu entscheiden, was etwa vom Beiwerk (Ornament)
wegbleiben kann, falls das deutsche Versmaß nicht für alles Raum haben
sollte. Diese Rücksichtnahme hat auch abzuwägen, ob das Originalversmaß,
die Originalreimstellung &c. &c. beizubehalten sei, ferner ob im Epischen oder
Dramatischen &c. die Originalverszahl bleiben soll oder nicht &c.
Die Übersetzung soll zunächst und vor allem das Original wahr und
treu wiedergeben; sodann soll sie die Wohllautsgesetze unserer Sprache
respektieren. Demnach stellen wir als Anforderungen an eine gute Übersetzung
auf: a. Treue und b. Lesbarkeit.
a. Treue.
1. Was ist eine treue Übersetzung? Diejenige ist es, welche mit keiner
oder doch mit möglichst geringer Veränderung des Originals dem Jnhalt ihrer
Arbeit dieselbe Farbe, denselben Ton, dieselbe Stimmung giebt, welche das
Original hat.
2. Die Treue muß verlangen, daß unserer Sprache Gehalt und Charakter
des Urbilds vermählt werden. Die Übersetzung soll den schönen Fluß der
Rede, die ungezwungene Fügung der Wörter, sowie die tiefere Übereinstimmung
zwischen Jnhalt, Form und innerem Rhythmus wiedergeben.
3. Zur Erreichung dieser Forderung ist in den meisten Fällen die Versart
und die sprachliche Ausdrucksform des Originals beizubehalten, da ja die unmittelbare
Eingebung und der künstlerische Hauch der Dichtung nicht gut von
dem Maß und der Sprachweise des Dichters zu trennen sind.
Die Herablassung, die Erhebung, die Kürze und Breite, die Naivetät oder
das Pathos sind meist eng an das dichterische Versmaß, ja, an das schmückende
Beiwort, an Satz- und Periodenbau des Urbilds &c. gebunden. Es ist für
die Kenntnis eines Dichtwerks von Bedeutung, auch aus der Art der Wiedergabe
in Versmaß und Sprache zu ersehen, wie der Dichter ernst oder scherzend
einherschreitet, wie er die Schwierigkeit des Maßes spielend beherrscht &c. Dies
kann eine, das Maß beiseite stellende Prosaübertragung (Paraphrase) nicht ausdrücken,
weshalb wohl nur die Unfähigkeit metrische Kunstwerke in Prosa übersetzt
sehen will.
4. Die Versart des Originals ist auch deshalb möglichst beizubehalten,
weil jedes Maß seinen eigenartigen Charakter hat; besonders aber auch, weil [199]
ein anderes, neues Maß notwendig zur Umformung, Umdichtung, Modernisierung
&c. hindrängt. Dies beweist schon das einzige Beispiel der Schillerschen
sog. Übersetzung der Äneide, bei welcher die Stanzen zur Ausfüllung
bald ein Hinzudichten, bald ein Weglassen verlangten, so daß die Stoffteile
anders sich gliedern mußten als im Original. (Der bei Schiller hinzugekommene
Reim ─ als schöne Eigentümlichkeit unserer Sprache ─ vollendet die Umdichtung
und spottet einer sklavischen Übertragung.)
5. Die Treue sucht sich ohne Verletzung der Muttersprache und ihrer
Formenlehre dem fremden Satzbau, der Wortstellung und der sprachlichen
Wendung anzuschließen. (Der Originaldichter darf sich Abweichungen gestatten,
nicht aber der Übersetzer.)
6. Sie nimmt Rücksicht auf Allitteration, auf die Paronomasie, sowie
auf das Epitheton. Dieses letztere ist freilich häufig nur epitheton ornans,
und in diesem Fall ist es zweifellos gestattet, ein ähnliches Epitheton zu substituieren,
wenn dies aus irgend einem Grunde als wünschenswert erscheint.
So wird es sicher in vielen Fällen erlaubt sein, einen geographischen Beinamen
einer Gottheit durch einen andern zu ersetzen u. s. w. (Freilich ist
Vorsicht nötig. Vgl. z. B. Stellen wie Ἴδηθεν μεδέων == Herrscher auf
dem Jda.)
7. Um den feineren epischen und plastischen Stil und das Festgefügte im
dichterischen Kunstwerke treu zu erreichen, hat u. a. J. H. Voß den Partikeln
seine ganze Aufmerksamkeit zugewandt. Man sollte jedenfalls (selbst was die
griechischen Dichter betrifft) die Forderung treuer Wiedergabe der Partikel, deren
Behandlung ein feines, meist nur bei Philologen anzutreffendes Verständnis
verlangt, nicht allzuhoch spannen.
Die Partikel treu wiedergeben, sollte nicht heißen, sie mit einem besonderen
Wort übersetzen, sondern ihre logische oder rhetorische Färbung, deren
Exponent sie ist &c., zum Ausdruck bringen.
b. Lesbarkeit.
1. Einer der größten Meister des Übersetzens in unsere Sprache, Luther,
hielt die buchstäblich treue Übersetzung für die ungeschickteste. Dies zeigt
sein Sendbrief vom Dolmetscher, in welchem er denen, die ihm vorwerfen,
er habe hier das Wörtlein allein eingerückt, dort die Maria voll
Gnaden, den Mann der Begierungen &c. nicht buchstäblich übersetzt, antwortet,
ja, in welchem er es mit dem Bock Emser aufnimmt. Er sagt: „Jch
habe deutsch, nicht lateinisch oder griechisch reden wollen ... Jch habe verdeutschet
auf mein bestes Vermögen ... Jch weiß wohl, was für Kunst,
Fleiß, Vernunft, Verstand zum guten Dolmetschen gehöret; es heißet, wer am
Wege bauet, hat viel Meister; aber die Welt will Meister Kluglich bleiben
und muß immer das Roß unter dem Schwanze zäumen, alles meistern und
selbst nichts können. Das ist ihre Art.“ ─ (Vgl. übrigens W. Hopfs gekrönte
Preisschrift über Luthers Bibelübersetzung.)
2. Herder sagt in der Nachschrift zu den Balde-Übersetzungen, daß er [200]
dem Geist seines Autors folgte (nicht jedem seiner Worte und Bilder), daß
er bei den lyrischen Stücken den eigentümlichen Ton derselben im Ohr, den
Sinn und Umriß aber im Auge behalten habe; Schönheiten habe er ihm nicht
geliehen, wohl aber Flecken hinweggethan, da er Balde's Genius zu sehr ehre,
als daß er mit kleinfügigem Stolz diesen zur Schau stellen wolle; wo dem
Umriß eines Gedichts etwas zu fehlen schien, habe er mit leiser Hand ─ wie
bei einer alten Zeichnung ─ die Linien zusammengezogen, damit er ihn seiner
Zeit darstelle. Überhaupt sei ihm am Geist der Gedichte und am Jnhalt
derselben mehr gelegen, als an der Einkleidung selbst. Diese die
Worttreue geringer achtende Treue des Sinns war für Herder die Brücke, um
zur Lesbarkeit zu gelangen.
Herder unterscheidet zwischen den einzelnen Übersetzungen und meint, daß
keine Art der Poesie in der Behandlung der andern völlig gleich sein dürfe;
die lyrische Poesie der Alten und ihr Epigramm seien die eigensinnigsten unter
allen; da sie nicht übersetzt sein wollen, so müsse man sie mit der gewissenhaftesten
Treue täuschen, als ob sie nicht übersetzt würden. Wer hier keine
Versuche gemacht habe, oder wem die Muse Gefühl, Ohr und Sprache versagte,
sollte hierüber nicht richten, oder es sei ihm die Leier selbst zu reichen,
daß er sich als Meister zeige. Um Herder zu verstehen, geben wir nachstehend
ein einziges Beispiel eines antiken Epigramms:
Grabschrift der Spartaner bei den Thermopylen von Simonides
(500 v. Chr.). (Griechischer Urtext. Vgl. Th. Bergk Poet. Lyr.
Graec. 3. p. 451.)
Lateinische Übertragung bei Cicero.
Dic, hospes, Spartae, nos te hic vidisse iacentes,
dum sanctis patriae legibus obsequimur.
Deutsche Übersetzung von Regis (Epigramme der griech. Anthologie
1856 S. 73).
Schillers deutsche Übersetzung.
Geibels Übertragung (Klassisches Liederbuch 2. Aufl. 1876).
3. Goethe unterscheidet (in einer Note am Schlusse des westöstlichen
Divans [IV. 323.]) dreierlei Arten von Übersetzungen:
a. eine schlicht prosaische, die uns ─ wie Luthers Bibelübersetzung
─ mit dem fremden Vortrefflichen mitten in unserer nationalen
Häuslichkeit überrascht und ohne daß wir wissen, wie uns geschieht,
eine höhere Stimmung verleiht und wahrhaft erbaut;
b. eine parodistische, welche ─ wie Wielands Übersetzungen ─ das
Fremde sich aneignet, um es mit eigenem Sinn wieder zu geben,
welche also nach Art der Franzosen für jede fremde Frucht ein
Surrogat fordert, das auf eigenem Grund und Boden gewachsen ist;
c. eine treue, welche dem Original identisch ist und somit an seine
Stelle treten kann. Der Übersetzer giebt hier die Originalität seiner
Nation auf und bietet etwas, wozu sich der Geschmack der Menge
erst heranbilden muß.
Goethe hielt diese Form für die höchste (letzte), weil sie sich einer Jnterlinearversion
nähere und das Verständnis des Originals höchlich erleichtere, an
den Grundtext führe und den ganzen Zirkel abschließe, in welchem sich die
Annäherung des Fremden und Einheimischen, des Bekannten und Unbekannten
bewege.
Aber Goethe hat übersehen, daß die Zeit noch einer vierten Form fähig
sein müsse, nämlich der auf den Schultern seiner eigenen klassischen Sprachweise
ruhenden, mit dem Urbild möglichst identischen, dabei aber die Lesbarkeit
erstrebenden Form, bei welcher der Übersetzer nicht die Originalität seiner Nation
aufgiebt, vielmehr seine deutsche Eigenart in der Prosodie, im Ausdruck, im
Rhythmus und im Wohlklang mit allen Mitteln wahrt.
4. Bis zu Goethe und Herder galt bei allen Übersetzern der Grundsatz,
daß die Übersetzung in ihrer peinlichen Worttreue den fremden Ursprung nicht
verleugnen dürfe. Man erstrebte allzu pietätsvolle Abhängigkeit vom Original
auch in Wortstellung und Satzbildung und erzielte daher steife, gegen den
Sprachgenius verstoßende Übersetzungen, welche den einzigen, mitunter zweifelhaften
Nutzen hatten, daß sie unsere Sprache fort=, manchmal auch verbildeten.
Eine pedantisch genaue Wiedergabe des Wortsinns war selbst den besten philologischen
Übersetzern das Höchste. Darüber vernachlässigten sie gar häufig
Wortgeist und Sprachgeist; daher findet man in ihren Übersetzungen weder
die Leichtigkeit des Originals, noch jenes liebliche Gepräge, welches dem Freunde
deutscher Poesie Genuß bereitet. Diese Übersetzungen können nicht lesbar sein,
weil sie der Sprache Gewalt anthun. Selbst der handwerksmäßige Gesetzesdienst
Vossens hat in dieser Richtung recht oft dem Zufälligen das Wesentliche
geopfert, namentlich in der Übersetzung der Verwandlungen des Ovid. Mit
pedantischer Ängstlichkeit hat dieser große Übersetzer sein deutsches Wort dem
griechischen oder lateinischen angekünstelt, angeschmiegt, angeschlossen, nachgeformt,
dabei aber nicht selten Einfalt und Anmut geopfert, so daß man die allgemeine
Äußerung von Jakobs, daß eine Übersetzung immer der Rückseite einer gewirkten
Tapete gleiche, auf ihn anwenden möchte.
5. Wenn auch in einzelnen kürzeren Dichtungen eine wortgetreue Wiedergabe
sich nicht schlecht lesen mag, so ist in anderen Dichtungen diese peinliche
Treue weder ratsam noch möglich. Um nur ein Beispiel zu erwähnen, so
gesteht Gust. Zeller in seiner Übersetzung kleinerer Gedichte Tegners (1862),
daß er nicht immer den Wortlaut beibehalten konnte, ja, daß eine kleine
Unregelmäßigkeit im Rhythmus und Reim hie und da eintreten mußte, wenn
der schöne Gedanke nicht verdorben werden sollte &c.
6. Es ist unbestrittene Thatsache, daß z. B. in einzelnen Chorgesängen
des Äschylos mit ihrem musikalischen Gehalte, ferner in Pindarschen Rhythmen
mit der Worttreue die Entfernung von Ton und Stil unserer Sprache zunimmt,
daß somit das Resultat Steifheit und Verkünstelung wird.
7. Vollends kann Scherz und Komik bei einzelnen Dichtern (z. B. in
den Komödien des Plautus) gar nicht wiedergegeben werden, wenn sich der
Übersetzer nicht freiere Wortbildungen, Umschreibungen und Wendungen gestatten
darf. (Am deutlichsten wird dies durch die Tieck-Schlegelsche Übersetzung
des Shakespeare illustriert.)
8. Dies gilt auch von jenen Dichtungen, welche nur das Resultat von
Verstand und Geschmack sind und bei denen der verstärkte, rhythmische Takt
durchaus nicht den einfachen poetischen Hauch ersetzt.
9. Daraus folgt, daß zwar jede Übersetzung die Jndividualität des
Schriftstellers und den besonderen Ton desselben wiedergeben soll, nicht aber
sein Jdiom. Die absichtsvolle Kürze eines Tacitus, die Redefülle eines Cicero,
die Schlichtheit eines Horaz (namentlich in den Episteln) sind wesentliche Momente,
welche die Übersetzung beachten muß und kann, ohne der Sprache Gewalt
anzuthun.
10. Jn England, Frankreich, Jtalien &c. hat man niemals dem Übersetzer
ein größeres Recht über die Muttersprache eingeräumt, als dem nationalen
Dichter. Mit Recht dürfen auch wir angesichts unserer nunmehr fertigen
Sprache die Anmaßung jener Übersetzer der Neuzeit zurückweisen, welche mit
unserer Sprache in einer Weise umgehen, wie sich dies seit Goethe kein einziger
deutsch nationaler Dichter mehr gestattete.
11. Wer nur wortgetreu übersetzt, d. h. wer nur die im Worte ausgedrückten
Begriffe wiedergiebt, ohne zugleich bestimmte Empfindungen mit anklingen
zu lassen, wer nur einzelnes erfaßt, ohne das Ganze (die Hauptidee
des Kunstwerks) zu berücksichtigen, wird nur unlesbare, stümperhafte Übersetzungen
liefern.
12. Es muß daher Grundsatz für den Übersetzer werden, im Notfall
einmal die wörtliche Treue der Verständlichkeit und dem Wohllaute zu opfern,
also der allzustrengen Observanz eine etwas freiere Übersetzungsmethode gegenüber
zu stellen. Es ist jedenfalls besser, den in seiner Treue steif und hölzern
erscheinenden Vers lockerer und minder korrekt zu fügen, als ungelenk und
unnatürlich, damit er sich vertraulich dem deutschen Ohre anschmiege und etwas
vom Reiz und Gepräge des Freigeschaffenen erhalte.
13. Mit Recht haben nach Goethe's, Schiller's, Herder's und Platen's [203]
Dichter-Vorgang bereits namhafte Übersetzer von der traditionellen Übersetzersprache
sich abgewandt und einer ungekünstelten, ungezwungenen, unverrenkten, natürlichen
Sprache sich zugekehrt, welche schönen Fluß, Wohlklang, Anmut, Glätte mit
Wärme des Rhythmus verbindet, ohne dem Geiste und der Empfindung des
Urbilds untreu zu werden. Jch erinnere nur an die wirklich salonfähigen,
durch ihre Lesbarkeit wohlthuend=anheimelnden Übersetzungen eines Geibel, Rückert,
Freiligrath, Th. Kayser und Marbach. Diese dichterischen Übersetzungen geben
uns nicht durchweg die Treue des Buchstabens, wohl aber mit Feinsinnigkeit
und Ausprägung aller Schönheiten und des großen Stils ihrer Urbilder ─
die Treue der Sache. Sie zeichnen sich durch ihr gutes Deutsch aus, durch
ihre Formenschönheit, durch Vornehmheit im Stil, durch Wohlklang im Rhythmus;
sie erreichen den Ton der Versart, ohne dem Genius der Sprache untreu
zu sein, ja, sie entsprechen unseren Anforderungen an gute Übersetzungen, d. h.
sie sind elegant und populär, lesen sich wie deutsche Originalgedichte
und befriedigen ebenso den metrischen Kunstrichter wie
den gelehrten Philologen und den gebildeten Laien.
14. Nach diesen Leistungen ist es angezeigt, zwar die Treue zu empfehlen,
aber neben ihr die Lesbarkeit im Sinne eines Goethe, Schiller, Uhland,
Platen als das Höhere: als die erste Forderung aufzustellen. Der Übersetzer
möge alles Undeutsche, Holprichte, Anstößige, Eckige in seinen Übersetzungen
durch den Verzicht auf eine allzu originelle Behandlung (Mißhandlung) der
deutschen Sprache im Sinne Vossens (namentlich in dessen Ovid) vermeiden
und unter Beachtung der philologischen Anforderungen die lebendige Schönheit
durch künstlerische Handhabung unserer Sprache erstreben, damit nicht die Kunst
da den Dienst versage, wo das Original Wärme und dichterischen Schwung
beansprucht.
1. Wer ein tüchtiger Übersetzer werden will, muß sich selbstredend fleißig
im Übersetzen üben.
2. Zunächst versuche er sich an unseren (weiter unten zu gebenden)
Aufgaben, die er sich je nach seiner Fähigkeit auswählen kann. Er möge je
einen Satz bis zum Endpunkt gründlich durchlesen, dabei das Einzelne genau
erwägen, damit er:
a. in den Sinn und Geist des Originals eindringe,
b. die Affekte der Worte des Originals in ihrer Wiedergabe erfasse,
c. deutlich und klar in seinem Ausdruck werde,
d. den Wohllaut der Reinheit empfinde.
3. Bei schwierigen Stellen empfiehlt es sich, im Kopfe oder auch auf
dem Papier das Original Wort um Wort, Satz um Satz, Vers um Vers
zuerst in Prosa sorgfältig zu übertragen, vielleicht sogar zweimal: erst in wörtlicher,
dann in flüssiger Form. Aus dieser flüssigen Übertragung muß der
Übersetzer wo möglich mit den gleichen Ausdrücken ein Übersetzungs-Gedicht [204]
herstellen, nachdem er ausgerechnet hat, wo die Pointe der einzelnen Zeile und
wo die der Strophe und endlich die des ganzen Gedichtes liegt.
Dabei hat er zu beachten, was etwa im Original entbehrlicher Überfluß
(bloßes Ornament) ist, um es im Notfall bei der Übersetzung weglassen zu
können. Dies ist das Wichtigste: die Kunstgriffe des Originaldichters
erkennen, damit man nichts Wesentliches von den wirklichen Schönheiten
weglasse, sobald man genötigt ist wegen Verslänge oder
Reimstellung etwas aufzugeben. Besonders achtsam muß man bei der
Lyrik sein. Es handelt sich hier um die geistige und um die gemütliche Treue,
die unter der bloß wörtlichen Treue nur zu häufig leidet.
4. Der Übersetzer wird gut daran thun, das Urbild im ganzen und
großen sich geistig anzueignen, um es neu aus sich heraus entfalten zu können,
und manches verändert zu geben, ohne gegen dessen Geist zu verstoßen.
Wer das Urbild in sich aufgenommen hat, wird die Sprache nicht unterjochen,
sondern dieselbe aus ihrer eigenen Fülle heraus entwickeln. Diejenigen,
welche das Urbild nur als fremdes fühlen oder dasselbe allzu modisch umformen,
sind in der Regel weder dem Urbilde noch der Sprache gewachsen. Jnneres
Aneignen des Kunstwerks ermöglicht innere freie Reproduktion, die von
dem großen Überblick und von dem Gefühl der Totalität ausgeht.
5. Kenntnis des Urbilds und der Sprache sind wesentlich für eine Darstellung,
welche die Übersetzung wie ein deutsches Original erscheinen läßt.
Wir verlangen nicht, daß die Übersetzung ganz und gar wie ein deutsches
Original erscheine, weil sie sonst Charakter und Geist des Urbilds mehr oder
weniger verlieren könnte; aber wir fordern, daß die Verschiedenheit keine solche
sei, die dem Geist der deutschen Sprache Eintrag thut.
6. Es genügt zum Übersetzer nicht die nur oberflächliche Kenntnis der
fremden Sprache, da ein wörtliches Übersetzen lediglich ein ungenießbares,
schwerfälliges Machwerk ergeben würde und jeder oberflächlich Gebildete Anspruch
erheben könnte, uns den Ariost, Byron, Camoëns &c. zu vermitteln. Vielmehr
gehört zur Übersetzung eine gediegene Kenntnis der fremden Sprache, welche
das Vorbild weder verhüllt noch entstellt erblickt.
7. Aber auch eine gründliche Kenntnis der deutschen Sprache und
eine besondere Fähigkeit ihrer gewandten Handhabung muß für den
deutschen Übersetzer gefordert werden.
8. Wesentlich ist ferner das Verständnis der deutschen Metrik und Prosodik.
Der Übersetzer muß sich die Regeln und Gesetze der deutschen Poetik angeeignet
haben, um dichterische Form und Technik beherrschen zu können.
9. Der Übersetzer muß endlich die Litteratur des betreffenden Landes
seines Originals kennen, ferner dessen Dichtungen, Kriegsverfassung, Kultus und
Geschichte, besonders aber Mythologie.
10. Es genügt aber keineswegs eine nur allgemeine Kenntnis der Mythologie.
Jst doch jede Mythologie in den verschiedenen Entwickelungsstadien der
Sprache und Litteratur in steter Weiterbildung und in fortwährendem Fluß begriffen, [205]
und gehen doch sogar einzelne Dichter (z. B. in Bezug auf Theogonie) ihre
ganz besonderen Wege! Wer in diesen Jrrgängen nicht bewandert ist, wird beispielsweise
die Ovidischen Metamorphosen nicht verstehen, geschweige übersetzen können.
Ähnlich ist es mit der Odyssee und der Jlias, mit der Frithjofssage, mit der Kalewala,
mit dem Mahâbhârata &c. Somit fordern wir vom Übersetzer die entsprechende
(hieratische, poetische, dogmatische, künstlerische) Behandlung der Mythologie.
11. Der Übersetzer muß auch mit dem Gegenstande des Originalgedichts
auf vertrautem Fuße stehen. Wer würde z. B. die Georgica Vergils übersetzen
können, wenn er von Landbau, Bienenzucht &c. keine Ahnung hat? Umfassende
Sach- und Fachkenntnis ist unerläßliche Bedingung des Übersetzers.
(Luther mußte sich z. B. um gewisse Stellen übersetzen zu können, in denen
Edelsteine vorkommen, letztere entlehnen.)
12. Aber dies alles genügt noch nicht: der Übersetzer muß auch die
Fähigkeit besitzen, sich in den Geist und den Gedankengang seines Autors, und
in dessen Stellung inmitten seiner Zeit oder seines Volkes und der handelnden
Jndividuen desselben hineinzudenken.
13. Weiter ist vom Übersetzer Kunstsinn, feiner Geschmack und Verständnis
der Schönheiten des Originals zu verlangen.
14. Auch sollte er die Vorzüge seiner Vorgänger sich gewissenhaft aneignen.
„Wenn jeder Übersetzer wieder mit Null anfängt, wird es ihm schwer
werden, seine Vorgänger zu überholen, und jeder Arbeiter in Wissenschaft und
Kunst läßt sich leichter spoliieren als ignorieren!“
15. Jndes ist es nicht hinreichend, das von den Vorgängern Geleistete
eklektisch (einfach äußerlich) sich anzueignen. Dies würde zum Handwerk, nicht
aber zur Kunst führen; wir verlangen auch inneres Aneignen der vorhandenen,
erprobten Vorteile, inneres Verdauen der Methode &c.
16. Jn gar vielen Stücken muß sich der heutige Übersetzer gegensätzlich
zu den meisten seiner früheren Kollegen verhalten und von ihren Gepflogenheiten
und Freiheiten geradezu abweichen. Dies ist besonders der Fall:
a. in Beachtung des deutschen Accents (Prosodie),
b. in der Apostrophierung,
c. in der Wortstellung (Hyberbaton),
d. in Anwendung der Ellipse,
e. in der Ausschmückung,
f. in der Nachahmung der Manier.
17. a. Accent.
Mit Recht wurde der Accent ein Heiligtum in unserer accentuierenden
deutschen Sprache genannt. Sind es doch nur wenige Wörter im Deutschen,
die wie im Griechischen den Accent wechseln können! Unser deutscher Accent
ist feststehend und hätte daher von den meisten philologischen Übersetzern etwas
mehr geschont werden sollen.
Niemals darf der Übersetzer Wörter wie mǖ́hsām, ū́mkēhrt, schwḗrschōlliges, [206]
Ḗichwāld, Klṓpstōck &c. im Vers so anwenden, daß die zweite Silbe den Jktus
erhält und die erste (infolge des Versrhythmus) den Accent verliert, so daß
Sprachton und Versrhythmus fortwährend in Kampf geraten (z. B. ἄριστον
μὲν ὕδωρ == das fü̆rnĕhmḗst ist Wasser. Pindar). Nie sollte man vergessen,
daß Beispiele wie diese:
in ihrer Betonung ebenso gegen den Sprachgeist verstoßen als ein mit „Kĕ̄́hr
ūm“ beginnender Hexameter. Ebenso sollte man die Unzulässigkeit der Ausrede
anerkennen, daß eine große Anzahl bacchischer Satztakte (wie Absichten,
Bierfässer, Weintrinker, abfinden) die Versetzung der betonten Anfangssilbe in
die Thesis gebieterisch fordern, um überhaupt im Hexameter Verwendung finden
zu können, da ja unsere Sprache reich genug an sinnersetzenden Wörtern ist.
(Die Wörter: Absichten, Bierfässer, Weintrinker, sind eben im Notfalle doch
als Daktylen zu nehmen, wenn auch als recht klobige, schwere. Sie müssen
─ wenn auch ungern ─ zugelassen werden, ebenso wie zūlä̆ssĭg. Bei letzterem
ist es auffällig, denn zūlǟ́ssīg würde sehr dem zŭ lǟ́ssĭg ähneln. ─ Bei „Jm
Donnergewölk Zeus“ ist wȫlk Zēus im Grund genommen ein guter
Spondeus im antiken Sinn, da keine Silbe länger oder kürzer als die andere
ist. Das Kennzeichen des deutschen Spondeus ist eine Atemholungs-Pause
zwischen 2 langen Silben. Dies geht so weit, daß z. B. in „Damals schien
Mars“, „damals gilt Mars“ jeder dieser Sätze ein Choriambus (– ⏑ ⏑– –)
ist trotz pedantischen Einspruchs. Die Konsequenz wird sicher alle dem Accent
huldigenden Dichter nach und nach in diese Richtung führen.)
Der Übersetzer muß, was Prosodik betrifft, Mund und Ohr (auch von
anderen) zu Rate ziehen. Nur auf diese Weise erfährt er, wo ein Monosyllabum
lang oder kurz zu nehmen ist, oder wo Disyllaba (z. B. Artikel, wie
eines, einem; Pronomina deines, seines &c.) als Thesen Verwendung finden
dürfen. Das gebildete oder zu bildende Ohr muß auch darüber entscheiden,
wo der von den deutschen Dichtern bereits mit Erfolg in ihrem Hexameter
(Sechstakter) angewandte Trochäus zulässig ist; es wird bald herausfinden,
wie derselbe der Schwerfälligkeit im Verse ebenso vorbeugt, als umgekehrt der
Spondeus im Senar und Oktonar die fortrollende Beweglichkeit hemmt; es
wird ihn aber auch nur etwa im 3. Takte zulässig finden, damit er nicht
allzusehr abschwäche.
18. b. Apostrophierung.
Die Aphäresen (Weglassung von Buchstaben am Anfang), welche
namentlich Schlegel und Tieck in ihrem Shakespeare gebrauchen (z. B. 'nen
für einen, ferner 's für es &c.), sind aus phonetischen Gründen wenig [207]
empfehlenswert. Allenfalls sind sie da zulässig, wo der Sprachgebrauch sie
gestattet und dieser dargestellt werden soll.
Die Synkopen (Auslassung der Vokale in der Mitte) hat derjenige
Übersetzer nicht nötig, welcher weiß, daß im Deutschen eine Thesis nicht mehr
Zeit wegnimmt, als deren zwei (I, 256 d. Poetik). Jedenfalls wird der
Übersetzer von der Synkope Umgang nehmen müssen, wo ihre Anwendung der
gebildeten Sprache widerspricht, unschöne Konsonantenhäufungen erzeugen müßte &c.
(z. B. fall'n für fallen, jetz'ge für jetzige &c.).
Die Apokope (Ausstoßung des auslautenden e) vor Konsonanten sollte
stets vermieden werden.
19. c. Wortstellung.
Das sog. Hyperbaton (Abweichung von den Gesetzen der Wortstellung
z. B. „und nach Haus zu retten mich“ statt „und mich nach Haus zu retten“ &c.,
oder: „und nur braun erschein' ich wieder dort“ statt: und nur dort erschein'
ich &c.) sollte der Übersetzer wegen der Möglichkeit eines Mißverständnisses
wie aus phonetischen Gründen niemals oder doch nur höchst ausnahmsweise
gebrauchen, etwa da, wo ihn der Reim zwingt, ein charakteristisches
Wort aus der Mitte der Verszeile an den Schluß derselben zu verlegen.
20. d. Ellipse.
Von den Ellipsen ist am wenigsten deutsch die des Artikels (z. B. „Stier
auch wünscht sich den Sattel“, statt: „der Stier &c.“, denn hier erscheint Stier
als Eigenname; zulässig ist dieselbe in „Erlkönig hat mir ein Leids gethan“ &c.),
weniger statthaft ist die Ellipse des Pronomens (z. B. „Bist ja von schöner
Gestalt“, statt: „du bist“ &c.). Am häufigsten begegnen wir der Ellipse des
Hilfsverbums (z. B. „daß jener sein Vertrauter“ statt: „daß jener sein
Vertrauter ist“); diese Ellipse ist in der That am wenigsten sprachwidrig.
21. e. Ausschmückung.
Der an sich schon durch das fremde Original gebundene Übersetzer kann
sich jede Freiheit gönnen, sofern sie mit den Gesetzen des Wohllauts verträglich
ist. Er darf also Flickwörter, wo sie zur Ausfüllung des Verses nötig
sind, herbeiziehen. Ebenso sind ihm ausnahmsweise Archaismen, Neologismen,
Provinzialismen, Fremdwörter &c. gestattet, wenn sie nämlich Zeit, Ton, Gehalt,
Gestalt und Charakter des zu übersetzenden Begriffs treu zu illustrieren
vermögen.
Eine ─ freilich nur von dem gebildeten Geschmack und der Jndividualität
des Übersetzers zu lösende ─ Hauptforderung ist, daß sich der Übersetzer
vor Trivialität und Gespreiztheit hüte.
Nimmermehr darf er sich auch verleiten lassen, Schmuck und Zierat anzuwenden,
wo diese dem Original fremd sind. Er muß die zarte Linie des
Erlaubten einzuhalten verstehen und alle jene Schönheiten verschmähen, die
nicht auch zugleich Schönheiten des Originals sind. Jeder fremde Zierat entstellt
das Urbild und ist daher mit Vorsicht anzuwenden.
Auch keine neue, dem Urbild fremde Stimmung darf der Übersetzer hinzubringen. [208]
Hingabe an den Dichter des Originals muß auch bei der Ausschmückung
leitendes Gesetz bleiben.
22. f. Nachahmung der Manier.
Aus dem angegebenen Grunde ist es bedenklich, bei Übersetzungen eines
fremden Dichters die Manier eines deutschen Dichters nachahmen zu wollen,
und wenn es auch der höchste wäre. (Man vgl. als Beispiel von Leinburg
[== Lüttgendorff-Leinburg], der in seiner sonst wertvollen Übersetzung der
Frithjofsage die metaphorische Sprachweise Jean Pauls als Ziel sich vorsetzte.)
Nichts häßlicher als eine affektierte, auf Stelzen einherschreitende, manierierte
Übersetzungsweise! Hiermit ist natürlich nicht die Manier des Originaldichters
gemeint. Diese ist in der Übersetzung allerdings zu berücksichtigen. Nicht bloß
in den Worten, sondern in ihrer Behandlung liegt oft ein gewaltiger Unterschied
bei derselben Versart und bei derselben Dichtungsart &c.
23. Außer den obigen wesentlichen Forderungen kommen bei einzelnen
Übersetzungen noch verschiedene Momente und Fragen in Betracht, die der
Übersetzer je nach dem einzelnen Fall sich beantworten muß und wofür allgemeine
Vorschriften nur schwer zu abstrahieren sind. Solche Fragen sind beispielsweise:
Was ist mit obscönen Stellen zu beginnen? Jn dem einen Zeitalter
ist etwas anstößig, während ein anderes gewisse Dinge ohne Anstand
passieren läßt. Dürfen Auslassungen obscöner Stellen, die doch vom pädagogischen
wie vom ästhetischen Standpunkte dringend anzuraten sind, als
Fälschungen betrachtet werden, oder sind jene Übersetzungen vorzuziehen, die schon
auf dem Titel den Vermerk tragen: Omissis omnibus iis locis, qui aures
castae iuventutis laedere possint? (Deutsch: Mit Weglassung aller jener
Stellen, welche die Ohren einer keuschen Jugend verletzen könnten?) Genügt es,
zu sagen, man müsse Anstößiges z. B. bei einem Shakespeare mit in den Kauf
nehmen? Jst es noch eine Übersetzung zu nennen, wenn man dergleichen Dinge
verschleiert, oder sind Auslassungen gestattet, wie sie sich z. B. Katsch in seiner
verdienstlichen Übersetzung der Ovidschen ars amandi erlaubte?
Wie ist es mit den Metaphern zu halten?
Wenn das betreffende Bild des Originals in der Übersetzersprache fehlt,
dürfen wir zu dem prosaischen Auskunftsmittel greifen und den Sinn des
Bildes umschreiben, oder sollen wir ─ was offenbar das Bessere sein möchte
─ zunächst zu einem verwandten Bilde greifen? u. s. w. u. s. w.
24. (Exempla docent.) Man kann oft von Übersetzern sehr viel lernen,
sofern man Einblick in ihr Thun gewinnt. Man lese z. B. Laube's „Cato
von Eisen“, der nach der Jdee eines spanischen Stückes geschrieben ist. Um
zu beweisen, daß er nicht mehr als die Jdee benützte, ließ er von der Tochter
des bekannten Romanisten Wolf in Wien das ganze Stück übersetzen und schloß
es seiner Arbeit an. Auf Faust Pachlers Rat und mit Billigung Friedrich
Halms, der diese Übersetzerin in Vorschlag gebracht hatte, entschloß sich dieselbe:
1. die poetische Stimmung durch Beibehaltung des Verses zu gewinnen;
2. die nationale Stimmung durch Beibehaltung des nationalen Verses der
Spanier, des trochäischen Viertakters, wiederzugeben; 3. die Treue der Übersetzung [209]
dadurch sich (wohl allzu bequem!!) zu erleichtern, daß sie die Reimverschlingungen
und viele Künsteleien des Originals beiseite ließ; 4. endlich
in der langen Rede, wo das Spielhaus und die verschiedenen Spiele mit
allerlei Wortwitzen beschrieben werden, alle ihr zugänglichen Spielbücher zu
Rate zu ziehen und wo nötig die betreffenden Spiele durch andere zu ersetzen,
damit die Wortwitze im Deutschen natürlich und verständlich seien. Es war
eine Arbeit, welche viel Kopfzerbrechens kostete, aber sie gelang und liest sich
fast wie ein Original.
Für Erlernung der Übersetzungskunst ist die Anwendung gründlicher, gewissenhafter
Feile, auf welche schon das Horazsche berühmte: Nonumque prematur
in annum hinzudeuten scheint, unerläßlich.
Wir sind in der einzigen Lage, im nachstehenden ihr Wesen praktisch klarstellen
zu können.
Durch gütige Überlassung eines Teiles des handschriftlichen Nachlasses von
Ferd. Freiligrath sind wir imstande, zum erstenmal den authentischen Nachweis
führen zu können, mit welch' beispielloser Sorgfalt einer der ersten Übersetzer
der Neuzeit bei seinen Übersetzungen verfuhr, ja, mit welch' peinlicher
Gewissenhaftigkeit er jedes Wort, jede Form, jeden Verstakt, jeden Reim &c.
mit den Anforderungen des Wohllauts und den Gesetzen unserer Sprache und
Metrik in Einklang zu bringen suchte. Er hat noch größeren Fleiß bewiesen
als Voß, dessen Manuskript durch unglaubliche Korrekturen (vgl. das Autographon
S. 1 vom Anhang der 1881 von M. Bernays neu herausgegebenen
ersten Ausgabe der Odyssee) fast unleserlich geworden ist.
Könnte man in sämtliche Übersetzerwerkstätten blicken, wie wir im nachstehenden
einen wohl unschätzbaren Einblick in die geweihten Räume des Freiligrathschen
Arbeitszimmers ermöglichen, so würde man bald einsehen, wie bei
metrischen Übersetzungen die Schwierigkeiten oft bis ins Unendliche sich steigern,
und wie noch keine einzige gute Übersetzung (wie überhaupt kein Kunstwerk)
ohne gründliche Feile zustande kam. (Horaz, Goethe, Schiller &c., wie auch
tüchtige Übersetzer lasen ihre Schöpfungen erst ihren Freunden vor &c.)
Dies ergiebt für den Anfänger im Übersetzen die Aufforderung, nicht nur
das Einzelne in Hinsicht auf Besserungsmöglichkeit in Betracht zu ziehen, sondern
das Gebesserte zum übrigen stimmend zu gestalten und überhaupt Sorge
dafür zu tragen, daß die Übersetzung im Sinne des Originals wie aus einem
einheitlichen Gusse erscheine.
Wir beschränken uns hier darauf, der Prüfung und Feile Freiligraths
nachzugehen, indem wir vier ebenso instruktive als charakteristische Übersetzungsproben
dieses Dichters vorführen.
I. Aus „The Sunbeam“ von Felicia Hemans.
(7. Strophe.)
Thou tak'st through the dim church-aisle thy way,
And its pillars from twilight flash forth to day,
And its high, pale tombs, with their trophies old,
Are bathed in a flood as of molten gold.
Diese Strophe hat Freiligrath fünfmal geschrieben, bis er ihr die endgültige
Gestalt verlieh.
1. Erste Übersetzung. (Entwurf Freiligraths.)
NB. Viele Worte sind hier noch gar nicht und manche sogar ungenau
übersetzt.
2. Veränderung des Entwurfs.
Freiligrath setzte zuerst für: „den dämmernden Kirchgang“ == dämmernde
Münster. Aber diese Bezeichnung sagte ihm nicht ganz zu, und er verbesserte
sie durch „Kirchendämmerung“. Jetzt gefiel ihm plötzlich auch der Reim nicht
mehr; er strebte durch den Reim malerisch zu wirken. Dies übte Einfluß auf
die weiteren Verse und es entstand folgender
3. Neuer Entwurf Freiligraths.
Das kritische Auge des Übersetzers merkte bald das Mißliche der Auseinanderrückung
zweier Momente einer 2. und 3. Form. Ferner hatte er
sich den Gedanken des Originals: „hohe bleiche Grabmäler mit ihren alten
Trophäen“ im 1. und 2. Entwurf mit „bleicher Marmor“, im 3. Entwurf
mit „alten Trophäen“ skizzenhaft vorgemerkt; jetzt versuchte er eine dichterische
Verschmelzung, so daß folgendes Bild entstand:
4. Neue Änderung.
1. Durch die Dämmrung des Münsters kommst du geflammt;
Da, wie Feuer, lodert
2. (Seine Pfeiler erglühn und) des Betstuhls Sammt;
Um der alten Trophäen marmorne Reihn
3. (Und die alten Trophä'n)
4. Zuckt, wie brennendes Gold, einer Glorie Schein.
5. Letzte Abschrift. Vollendung der Übersetzung.
Vergleicht man die erste Übersetzung unter 1. mit der vollendeten Form
unter 5., so erkennt man unschwer, wie es dem Übersetzer neben dem Wortsinn
auf den Wortgeist ankam, wie er sich um den Ausdruck mühte, wie er
die malerische, plastische Wirkung auch durch den Reim zu erreichen strebte und
wie er schließlich mit kühnem Wurf die logische Verschmelzung des Wortgeistes
mit dem ursprünglichen Wortsinn herstellte. Es läßt sich somit die Übersetzerthätigkeit
in dieser Strophe folgendermaßen disponieren:
a. Suchen nach dem richtigen Ausdruck, welcher über die Formen
dämmernder Kreuzgang, Kirchendämmerung, dämmernder
Münster hinüber plötzlich in „Dämmrung des Münsters“ erblüht.
b. Veränderung des farblosen Reimes Pfad ─ naht in den
farbenvollen Reim: flammt ─ Sammt, wodurch die dichterische
Phantasie den Sammt mit malendem Licht übergießt.
c. Zusammenguß der Form „bleicher Marmor“ in der wörtlichen
Übersetzung (unter 1.) mit der Form (in 3. und 4.) „Und die
alten Trophä'n“ zu einem Bilde.
Überblick und Kritik. So lesbar, so wohlklingend, so dichterisch
schwungvoll auch die Freiligrathsche Übersetzung ausgefallen ist, so ließe sich doch
vom Standpunkt der Treue immerhin noch einiges bemerken. Wir fassen das
Wesentliche in folgenden Punkten zusammen:
a. Der „Chorgang“ der Kirche ist beseitigt und durch Münster ersetzt
worden; der Ort wird dadurch zwar nicht verändert, aber das
Bild erweitert.
b. Die „Säulen“ sind ebenfalls weggefallen; statt derselben nennt
der Übersetzer „sammtene Betstühle“. Er schafft sich dadurch Gelegenheit,
den Sonnenstrahl durch Bild und Reim unvergleichlich
zu malen.
c. Die „Grabmäler“ des Originals mit ihren Trophäen sind etwas
unklar durch Marmor gegeben: der alten Trophäen marmorne [212]
Reih'n; aber man wird bei dieser Stelle doch sofort an alte
Grabmäler erinnert werden, auf welchen sich die Trophäen als
Helm, Schild, Schwert &c. befinden.
Wir machen diese nicht eben erheblichen Bemerkungen (die zudem nur
die Architektur betreffen) lediglich in der Absicht, um dem Anfänger von
vornherein klar zu machen, was alles der gewissenhafte Übersetzer zu beachten
hat, wie unendlich viel zum Übersetzer gehört, und welch hohe Stellung
der Übersetzungskunst einzuräumen ist.
II. Aus „Song composed in August“ von Robert Burns.
(4. Strophe.)
But, Peggy, dear, the evening's clear,
Thick flies the skimming swallow;
The sky is blue, the fields in view,
All fading-green and yellow:
Come let us stray our gladsome way,
And view the charms of nature;
The rustling corn, the fruited thorn,
And every happy creature.
Die wörtliche Übersetzung dieser Strophe würde etwa so lauten:
Doch, teure Peggy, der Abend glänzt, | tief fliegt die schwebende
Schwalbe; | die Luft ist blau, weithin leuchtet das Feld | so welklichgrün und
gelb. | Komm laß uns schweifen unsern fröhlichen Weg, | und sehen den Zauber
der Natur, | das rauschende Korn, den fruchttragenden Schwarzdorn, | und
jede glückliche Kreatur. |
Freiligrath hat diese Strophe nur dreimal umgeschrieben, dagegen bei
der zweiten Bearbeitung so außerordentlich gefeilt, daß von der ursprünglich
wörtlichen Übertragung wenig mehr übrig blieb.
1. Erste Übersetzung. (Entwurf Freiligraths.)
Diesen Entwurf hat der Übersetzer mit aller Kunst gefeilt, indem er zunächst
den Provinzialismus wippt beseitigte, ferner plastisch=anschauliche, dem [213]
Wortsinn angemessene Tropen einwebte und schließlich farbenvolle Reime an
Stelle der eintönigen, banalen setzte. Es entstand folgendes Bild:
2. Herstellung der Lesbarkeit durch Freiligrath.
1. Doch Mädchen, komm! der West erglomm!
huscht
2. Vorüber (wippt) die Schwalbe.
Der Himmel (wie glüht) die Flur im Tau.
3. (Die Luft ist) blau, (und frisch) die Au
O sieh, wie glüht
4. (Die farbige,) die falbe!
durchs Feld! sieh ruhn die Welt,
5. O komm (hinan,) (die laubge Bahn!)
Die glückliche, die stille!
6. (Hinan mit heißen Wangen!)
Und dort , o sieh den Dorn
7. (Empor) durchs Korn (zum Hagedorn;)
Jn seiner Scharlachfülle.
8. (Und sieh mit Frucht ihn prangen.)
3. Reinschrift. Vollendung der Übersetzung durch Freiligrath.
Schlußkritik. Der aufmerksamen Vergleichung treten folgende Thätigkeiten
bei Übersetzung dieser Strophe entgegen:
a. Vertauschung des Provinzialismus wippt gegen das onomatopoetische
huscht;
b. Anwendung bezeichnender Bilder durch Ergänzung der Luft mit
Himmel, wodurch ein freundlicher Gegensatz zur Au oder Flur
entsteht;
c. Tilgung des Widerspruchs von farbig und falb, und Umguß von
Zeile 3 und 4 in ein einheitliches Bild;
d. Klärung des Ausdrucks „laubge Bahn“ und Beseitigung der
Wiederholungen: O komm hinan, hinan mit heißen Wangen,
empor durchs Korn &c.
e. Herstellung eines den künstlerischen Anforderungen entsprechenden
Reims.
Von 12 Reimworten hatten 6 den Vokal a, die übrigen 6
das malerische o und au.
Freiligrath vermindert die a=Reime um 4, so daß nur 2 a
bleiben; für die wegfallenden 4 a bringt er zwei e und zwei i
in den Reim, wodurch die Strophe einschmeichelndes Gepräge
erhält.
III. Aus „The lovely lass of Inverness“ von Allan Cunningham.
(Letzte Strophe.)
The hand of God hung heavy here,
And lightly touch'd foul tyrannie;
It struck the righteous to the ground,
And lifted the destroyer hie.
»But there's a day«, quo'my God in prayer;
When righteousness shall bear the gree;
I'll rake the wicked low i' the dust,
And wauken, in bliss, the gude man's ee.!«
1. Erste Übersetzung Freiligraths.
Die den Wohllaut berücksichtigende dichterische Feile ließ folgendes Bild
erstehen:
2. Herstellung der Lesbarkeit. (Feile Freiligraths.)
1. O schwer herab hing Gottes Hand
Schwer allen, nur den Sündern nicht!
(Leis treffend nur)
2. (Anrührend leis) (die Tyrannei,)
3. Die Guten warf sie in den Staub.
hob empor den Bösewicht.
4. Und (ließ die Bösen groß und frei.)
5. Doch so spricht Gott: Ein Tag wird sein,
werden meine Wege klar,
(still' ich jeder Wunde Bluten;)
6. Da (tröst' ich sie, die heute bluten;)
[215]im Staube der Tyrann,
7. Dann liegt (wer heute siegt, am Grund,)
hoch ersteht wer niedrig war!
8. Und (selig wachen auf die Guten).
3. Reinschrift der Übersetzung von Freiligrath.
Schlußkritik. Die Vergleichung der 2. Form mit der ersten zeigt, wie
dem Dichter die Änderung in der 2. Zeile nicht genügte, weshalb er sie sofort
einer neuen Redaktion unterzog. Die Änderung in der drittletzten Zeile läßt
den Artikel in die Arsis kommen und ist unschön, weil ein unbetontes Überlesen
dem Verse eine Arsis rauben würde.
Die Übersetzerthätigkeit Freiligraths in dieser Strophe läßt sich auf folgende
Momente zurückführen:
a. Erstrebung schöner Bilder. „Anrührend leis die Tyrannei“
ist ebensowenig ein Bild, als „Leis treffend nur die Tyrannei“,
weshalb geändert wurde.
b. Herstellung einer dem Sinn entsprechenden Fassung.
Das Bild der letzten 4 Verse ist in der neuen Fassung großartiger,
dem rächenden Gott entsprechender, als die erste mattere Fassung,
welche nur die Belohnung hervorkehrt &c.
c. Bildung guter Reime. Durch die unter a erwähnte Änderung
gewinnt nicht nur die Wucht des Reims, sondern durch den Reim
fällt auch die geschraubte Wendung „groß und frei“ weg. Die
Feile ergänzte auch die weiblichen Reime der ersten Übersetzung
(in Vers 6 u. 8) durch männliche, welche sich ohnehin durch das
ganze Gedicht hindurchziehen.
IV. Vox populi von Longfellow.
When Mazárvan the Magician,
Journeyed westward through Cathay,
Nothing heard he but the praises
Of Badoura on his way.
But the lessening rumor ended
When he came to Khaledan,
There the folk were talking only
Of Prince Camaralzaman.
So it happens with the poets:
Every province has its own;
Camaralzaman is famous,
Das Übersetzungs-Brouillon Freiligraths läßt folgendes ersehen:
A. Das Ringen um den Anfang, die Gewinnung des richtigen Ausgangspunktes,
veranlaßt den Übersetzer zu den nachstehenden fünf Bearbeitungen
der ersten Strophe.
1. Erste Übersetzung der 1. Strophe durch Freiligrath.
NB. Der Übersetzer war mit der 1. und 3. von uns unterstrichenen
Verszeile unzufrieden; jedenfalls war es aber die fehlerhafte Betonung des
Wortes Zāubĕrēr, die ihn zur Umarbeitung veranlaßte.
2. Erste Überarbeitung der 1. Strophe durch Freiligrath.
Bei Überlesung dieser Überarbeitung war der Übersetzer mit der 2. und
4. Verszeile unzufrieden, weshalb er sofort eine dritte Bearbeitung vornahm,
in welcher er für das trochäische Wort China (dem Original folgend) das
jambische Wort Cathay einfügt.
3. Neue Bearbeitung der 1. Strophe durch Freiligrath.
Freiligrath ersetzte das Wort überall durch allwärts; er nahm es
von dem 4. in den 3. Vers herauf; ferner veranlaßte ihn die 2. Verszeile, [217]
sowie die Aufsuchung des richtigen Ausdrucks und die gefällige präzise Fassung
(behufs Hervorkehrung der Pointe) zur neuen Änderung:
4. Weitere Änderung der 1. Strophe durch Freiligrath.
den Westweg nahm
Diese Änderung befriedigt den Übersetzer am allerwenigsten. Doch zeigt
sie ihm den Weg zur endgültigen Ausfeile des Gewonnenen. Er ändert den
Reim, indem er „westwärts“ wählt (damit das Durchwandern des Landes
nach einer Richtung andeutend) und nimmt ferner die dritte Verszeile von
der 3. Bearbeitung zurück.
5. Endgültige Bearbeitung der 1. Strophe durch Freiligrath.
4. Nachdem dem Übersetzer der richtige Ausgangspunkt durch Feststellung
der ersten lesbar gewordenen Strophe gelungen ist, schreibt er
B. die 2. Strophe also hin:
1. Zweite Strophe. (Erste Übersetzung.)
2. Überarbeitung der 2. Strophe.
Volk dort
Fürsten
a. Es verdrießt den Dichterübersetzer, daß die unbedeutenden Wörtchen
dort und nur in der Arsis stehen, während pries eine Thesis ist. Er ändert [218]
durch Einfügung des Wortes Volk und Streichung von nur. Dort hätte
vielleicht in der Arsis bleiben sollen.
b. Da unter Prinzen meist die jüngeren Glieder eines Herrscherhauses
zu verstehen sind, fügt er das Wort Fürst ein, um die Macht und den Grund
des Ruhmes anschaulicher zu machen und das im Original fehlende Attributiv
große zu rechtfertigen.
C. Die dritte Strophe bereitet größere Schwierigkeiten. Der Übersetzer
entwirft erst eine möglichst treue Übertragung.
1. Dritte Strophe. (Erste Übersetzung Freiligraths.)
Um das inhaltlich vollwichtige Wort Badoura in die Reimstelle zu bekommen,
ändert der Übersetzer Land in Flur um. ─ Zur Beseitigung des
farblosen Bildes „nimmt Ruhm an“ macht er sich eine ganze Reihe von
Vorschlägen, die um so bequemer sind, als die Zeile keinen Reim verlangt.
Es entsteht nun folgende Neubearbeitung:
2. Dritte Strophe. (Neubearbeitung Freiligraths.)
geht es den Poeten:
Jhren lobt sich jede Flur.
(trägt Kränze) (herrscht glorreich) (ist ruhmreich)
(streicht Ruhm ein,) hat Namen
kein Mensch kennt den Badour.
D. Reinschrift der Übersetzung des ganzen Gedichts.
Schlußkritik. Eine Vergleichung der ersten Übertragung mit der endgültigen
Übersetzung läßt das Ringen des Dichter-Übersetzers mit dem Wortsinn, [219]
Wortgeist und Sprachgeist erkennen. Der Übersetzer erstrebt wörtliche
Treue so ernst, wie ein Voß; aber ihm schwebt neben dieser Treue der Genius
des Wohllauts und der deutsch=klassischen Sprachweise vor; Freiligrath übersetzt
so, wie sein Freund Longfellow gedichtet haben würde, wenn er ein Deutscher
gewesen wäre. Daher liest sich seine mühe=entsprossene Übersetzung aber auch
wie ein Original, an welchem der Anfänger im Übersetzen sehr viel lernen kann.
1. Durch ähnliche Bearbeitungen, wie wir eine solche im § 80
mit aller Absicht und Sorgfalt gegeben haben, sowie durch eine
gewissenhafte Kritik mehrerer Übersetzungen wird der Anfänger
viel gewinnen.
2. Er wird bei verschiedenen Beispielen auch einsehen lernen, zu welch
armseligen Behelfen mancher Translator seither gegriffen hat, der entweder das
Original nicht richtig verstand oder das Deutsche nicht gründlich in der Gewalt
hatte, oder dem der Sinn für die Form abging, oder der zu mangelhafte
Kenntnis der deutschen Prosodik hatte u. s. w.
3. Der Anfänger soll die ganze Schwierigkeit ermessen, die ein jeder
Übersetzer vorfindet. Wir heben daher an dieser Stelle (bevor wir zu den
instruktiven Aufgaben übergehen) ausdrücklich hervor:
a. Ein angehender Dichter soll (muß) so viel wie möglich übersetzen,
weil er an den fremden Gedanken die fremde Empfindung
und die fremde Form festgebunden findet und ihm jede Willkür
unmöglich gemacht ist, wenn er seinen Zweck der treuen und natürlichen
Wiedergabe des fremden Gedichtes erreichen will.
b. Wenn er sich sodann daran wagt, eigene Gedanken und Gefühle
poetisch gestalten zu wollen, so wird er von selbst zu den in
früheren Hauptstücken dieses Bandes gegebenen strengen und kurzen
Formen greifen und jene dilettantischen, leichteren Strophenformen
vermeiden, welche die Neigung zur Willkür begünstigen.
c. Jn dieser Richtung ist die Übersetzung eine Vorschule der eigenen
Produktion.
1. Rechtfertigung der Wahl des Beispiels.
Pestalozzi, der einflußreichste Pädagog des vorigen Jahrhunderts und der
Begründer des heutigen Volksschul- und Erziehungswesens, lehrt, daß jede Lehrmethode
ihre Ausgangspunkte im Bekannten haben müsse. Jm Hinblick auf [220]
diesen Erfahrungssatz wählen wir für unsere methodische Anleitung zu geistig
freien, dabei treuen metrischen Übersetzungen mit großer Absichtlichkeit das bereits
von Freiligrath übertragene Muster Longfellows: Vox populi. Jst doch dieses
Beispiel durch die im vorletzten Paragraphen gebotene Darlegung der Erwägungen,
Wendungen, Besserungsversuche und verschiedener durch den Geist des Urbilds
bedingter Kreuz- und Quergänge Freiligraths ein Bekanntes im eminenten
Sinn geworden! Und liegt es doch wie kein zweites klar und durchsichtig
vor den Augen des Lernenden, der (nachdem er unabhängig
vom Stoff geworden ist) unserer Führung in die Methode nunmehr leicht
folgen kann.
Es kann selbstverständlich nicht unsere Absicht sein, durch Wahl gerade des
Longfellowschen Gedichtes den genialen Freiligrath (dem wir S. 196, 197 und
203 eine bedeutsame Stellung in der Geschichte der Übersetzungskunst einräumten)
meistern zu wollen, wenn wir auch nicht alles an seiner Übersetzung gut
heißen konnten und auch jetzt (etwa durch unsere Behandlungsweise dazu bestimmt)
hie und da von ihm abweichen sollten. Unser Zweck ist hier ja
nicht die Übersetzung an sich (d. h. als Selbstzweck), sondern einzig
und allein das, worauf es beim praktischen Übersetzen zumeist ankommt,
─ Veranschaulichung und Klarlegung der Übersetzungsmethode.
Aus diesem Grunde ist es an dieser Stelle durchaus unwesentlich, ob das
am Schlusse sich ergebende, immerhin mit Umsicht herzustellende Übersetzungsgedicht
allen von uns selbst aufgestellten Anforderungen bis ins einzelne entspricht,
weshalb wir von vornherein gegen eine Vergleichung mit der Freiligrathschen
Übersetzung in Bezug auf Gleichwertigkeit uns verwahren.
Noch möchten wir ─ falls irgend welcher Einfluß Freiligraths auf die
eine oder die andere unserer Formen wahrgenommen werden wollte ─ betonen,
daß ein Anschluß von uns in keiner Weise beabsichtigt ist. Nur den Geist der
Methode suchten wir dem großen Übersetzer abzulauschen, wie ja beispielsweise
alle späteren Übersetzer von Longfellows Sang von Hiawatha bei Freiligrath in
die Schule gingen, und wie auch die Nachvossischen Übersetzer Homers von den
Vossischen Prinzipien sich leiten ließen. Wir erachten dies für einen Vorzug und
glauben, daß ein Fortschritt in der Kunst nur dann möglich ist, wenn die Nachfolger
jene von den Vorgängern errungenen Vorteile (vgl. S. 206 Ziffer 14) sich
aneignen und auf dieser sicheren Grundlage weiter bauen.
2. Wörtliche Übersetzung.
Longfellows Originalgedicht.
1.
When Mazarvan the Magician,
Journeyed westward through
Cathay,
Nothing heard he but the
praises
Of Badoura on his way.
Prosaübertragung.
2.
But the lessening rumor ended,
When he came to Khaledan,
There the folk were talking
only
Of Prince Camaralzaman.
3.
So it happens with the poets:
Every province has its own;
Camaralzaman is famous,
Where Badoura is unknown.
Aber das sich verkleinernde (sich verringernde,
abnehmende) (verbreitete)
Gerücht endigte,
3. Geist des Urbilds.
Das Longfellowsche Gedicht zeigt sich als ein wirklich didaktisches Gedicht
mit klar ausgeführter Exposition und Anwendung; es bedient sich bei seinem
Aufbau der sogenannten poetischen Jnduktion, der poetischen Jndividualisation
und der Analogie.
Seine Didaxis beruht in Ausprägung der Wahrheit, daß jede Berühmtheit
nur eine räumlich eingeschränkte Wirkungsweite und lokale Ausdehnung habe,
daß ein Mann in einem Lande des größten Ruhmes, der höchsten Popularität,
der weitestgehenden Ehren und Auszeichnungen sich erfreuen könne, ohne in einem
anderen Lande auch nur dem Namen nach gekannt zu sein.
Longfellow bietet diese Wahrheit in Form einer allegorisierenden Erzählung.
Mit aller Berechnung wählt er zum Träger derselben einen Magier und
zwar einen bestimmten (wie es scheint ─ allbekannten) Magier. Er begegnet
dadurch von vornherein jedem Zweifel an der Glaubwürdigkeit seiner Erzählung,
denn ein Magier ist die zuverlässigste Person des Orients und nicht ─ wie
im Occident ─ Taschenspieler und Wunderkünstler aller Art. Ein Magier ist
ein Mitglied der Priesterkaste (namentlich bei den Persern), oder auch Mitglied
jenes bevorzugten Standes (namentlich bei den Medern), welchem die Erhaltung
der wissenschaftlichen Kenntnisse und die Ausübung der heiligen Gebräuche überlassen
ist. Die Magier sind dort als Erklärer der Bilderschrift, als Astronomen,
als Naturkundige und ─ infolge ihrer Naturkenntnisse ─ als Wahrsager,
Astrologen und Nativitätssteller geachtet; sie unterrichten die königlichen Prinzen,
sind die Richter und die Ratgeber der Könige und besitzen das unbedingteste
Vertrauen des Volks.
Ein solch hervorragender Mann, dessen große Glaubwürdigkeit (Autorität)
der Name Mazarvan verbürgen soll, reist westwärts durch China und hört auf
seinem Weg zuerst nur von Badaura reden; dann wird immer weniger von
Badaura gesprochen, bis ihn in Khaledan niemand mehr erwähnt. Dafür rühmt
man dort den Prinzen Kamaralzaman.
Nach Erzählung dieser Wahrnehmung des Magiers macht Longfellow die [222]
Nutzanwendung (conclusio) auf die Dichter, deren Ruhm er ebenfalls auf die
Provinz beschränkt erachtet.
4. Versifizierung. Metrische Übersetzung. Dichterische
Feile. Vollendung des Gedichts.
Um die zum Teil sich kreuzenden, zum Teil einander ablösenden Thätigkeiten
der vorstehenden Überschrift dem Anfänger in ihrer Genesis und logischen
Verknüpfung klar legen zu können, verzeichnen wir linksseitig den vorbereitenden
Gedankengang, die Vorarbeiten und die wesentlichen Erwägungen der Übersetzungsthätigkeit,
während wir rechts die Einzelteile der Übersetzung (gewissermaßen als
Ergebnisse der Erwägungen) in immer mehr sich klärender, aufsteigender Folge
fixieren.
Vorbetrachtungen. Vorarbeiten. Erwägungen.
Strophik.
Jede vierzeilige Strophe des Urbilds besteht
aus nur einem, in gebrochenen Zeilen geschriebenen,
trochäischen Langzeilenreimpaar ohne Cäsurreim. Die
Übersetzung hat ein gleiches Maß zu erstreben. Zu
diesem Behufe, und um dem Anfänger den Weg
zur Beweglichkeit und zur Übersetzerroutine zu zeigen,
eröffnen wir nachstehende Versuche.
Übersetzungsversuche
und Ergebnisse der
Feile.
I. Strophe.
1. Zeile.
Wir übersetzen, indem wir den demonstrativen
Charakter des the ins Auge fassen:
Da wir das Wort Magier nicht zweisilbig
(Māgjĕr) lesen wollen, so müssen wir behufs Wegschaffung
des 5. Taktes ändern. Besser wäre die Form:
Aber Zaubrer deckt den Begriff Magier nicht.
Wir ändern:
Die schlechte (lediglich versrhythmische) Schlußlänge
in Magier könnte beseitigt werden durch die
Änderung:
Das Wort Zaubermann deckt freilich den Begriff
ebensowenig als Zauberer, wenn es auch versrhythmisch
unantastbar ist. Zudem erscheint es aus
[223]
Gründen der Phonetik wenig empfehlenswert. Wir
ändern im Hinblick auf das Urbild und den Geist
des Wortes Magier:
Oder:
Oder noch besser mit jenem allbekannten, aus
dem Pehlewi stammenden Worte magu für Magier
(griech. μάγος, lat. magus), das auch in Deutschland
große Anwendung fand seit der rätselhafte,
tiefsinnige Hamann sich den „Magus aus Norden“
nannte:
Diese Form befriedigt, weshalb wir nunmehr
die Versifikation der folgenden Zeilen der 1. Strophe
versuchen:
Die ästhetische Kritik, welche auch die (freilich
sehr unzuverlässige englische) Aussprache des Wortes
Badaura vorzieht, leitet zu den verschiedensten Erwägungen
darüber, ob z. B. Cathay (== Kātăy
== Kētăi für China) nicht englisch Cathé auszusprechen
und trochäisch zu skandieren sei. Dem
Anfänger ist zu raten, solch' zweifelhafte Namen
zum Gegenstande seiner Studien zu machen. Versucht
er dies bei dem Namen Catay, so wird
er finden, daß folgende Schriftsteller Cathay mit
China identifizieren, oder doch als einen Teil von
China ansehen:
1. Sebastian Münster (Kosmographie 1628),
der Cataia neben China nennt, dabei aber Cambala
(Peckni) als Hauptstadt von Cataia bezeichnet;
2. Bruzer la Martinière (Leipzig 1746),
welcher Bd. VI S. 727 bemerkt, daß Cathay
(Kathay, Katai auch Kitay) nichts anderes als
China sei, indem er sich auch auf Herbelot bezieht,
der Cambala (Peckni) und Nanquin als Hauptstädte
Cathays angiebt;
3. Henry Yule »Cathay and the way
thither« (Lond. 1866), der China annimmt;
4. Derselbe: »The book of S. Marco
Polo«. 2. Bd. London 1871. Vgl. S. 580.
[224]
5. Aug. Bürck „Die Reisen des Venezianers
Marco Polo“. Nebst Zusätzen von K. F. Neumann.
2. Ausg. Leipzig. Vgl. S. 370.
6. Freih. Ferd. v. Richthofen »China«. Dieser
berühmte Reisende, welcher 1868─72 sieben große
Reisen nach China unternahm, widmet der Feststellung
der Jdentität Catays mit China ein ganzes
Kapitel seines berühmten Werks und ist namentlich
S. 580 und 666 zu vergleichen u. s. w.
Nach dieser Studie nehmen wir selbst für den
Fall, daß Longfellow Catay und Khaledan nur
als gleichgültige poetische Bezeichnungen gewählt
haben sollte, das Wort China für Cathay und
übersetzen demgemäß nunmehr:
Wir betrachten das Übersetzte vom phonetischästhetischen
Standpunkte und finden, daß zweimal
„wärts“ unschön ist; wir ändern:
Mißlich erscheint die Trennung des Possessiv=
Genetivs von seinem Nominativ in 2 verschiedenen
Zeilen. Wir versuchen die Änderung:
Die 1. Zeile verlangt nunmehr eine Neuprüfung.
„Zog“ geht allenfalls; der allverehrte
Magier kann ja allein ziehen. „Auf seinem Zug“
ist anspruchsvoller. Aber „flog“ wäre zu viel, zu
hoch. Die Formen „schlug“ (durchschlagen) und
„drang“ (hindurchdringen) würden auf Hindernisse,
Beschwerlichkeiten oder gar Widerstände deuten,
welche der geheiligten Person des Magiers von Niemand
entgegen gesetzt wurden und schon durch den
Wortsinn von journeyed und way ausgeschlossen
sein müssen. Wir versuchen die ganze Form der
1. Strophe herzustellen:
Mit Rücksicht auf das in der 2. Strophe
gemeldete Abnehmen des Gerüchts ändern wir die
letzte Zeile:
Jn der 2. und 3. Zeile stört noch Name und
nahm. Wir ändern die 3. Zeile im Hinblick auf
praise des Urbilds:
Nun vermissen wir plötzlich die hochwichtige
Bezeichnung Magu, weshalb wir lieber das Richtungswort
Westwärts opfern, das ohnehin für die Didaxis
gleichgültig ist, denn Mazarvan würde dieselbe
Wahrheit entdeckt haben, wenn er von Chaledan
ostwärts gereist wäre. Wesentlich ist through.
Endgültige Form der 1. Strophe.
II. Strophe.
Wir gestalten zunächst den Prosastoff metrisch:
Die erste Zeile könnte auch heißen:
Aber das substantivierte Verbum loben entspricht
keineswegs dem Substantiv praise, ebensowenig
dem deutschen Substantiv Lob.
Die 3. und 4. Zeile befriedigen am wenigsten.
Wir beginnen mit allen erdenklichen Besserungsvorschlägen
und Versuchen in der Ausfeile.
3. Zeile.
Oder:
Oder:
Oder:
Um die 3. Zeile endgültig zu ändern, ist auch
die 4. Zeile in Betracht zu ziehen:
4. Zeile.
„Von Prinz“ ist undeutsch. Es muß heißen
„vom Prinzen“. Hierfür reicht nun aber der
Zeilenraum nicht aus. Wir müssen daher „den
Prinzen“ schon in die 3. Verszeile rücken und unter
Berücksichtigung des Textes entsprechend abändern:
Diese wenig glückliche Besserung würde auch
das Reimgeschlecht alterieren. Wir ändern:
„Namens Kamaralzaman“ ist nüchtern prosaisch,
wenn auch treu. Wir suchen eine neue
Form, in welcher wir zugleich das fatale Reimwort
Kamaralzaman wegzubringen streben. Nach
einiger Prüfung empfiehlt sich zum Reimwort der
2. Zeile das Begriffswort Lob (praise) aus der
1. Zeile, welches sofort an das bequeme Reim=
Echo „erhob“ erinnert. Neubearbeitung:
Die 3. Zeile könnte vielleicht hinsichtlich des
Grundes des Schwächerwerdens auch lauten:
Doch bietet das Urbild keinen genügenden Anhaltspunkt
hierfür.
Endgültige Form der 2. Strophe.
III. Strophe.
Wir ordnen den Prosastoff zunächst in trochäische
Viertakter an:
Wir halten zunächst prüfende Umschau, ob
nicht irgend eine Ausdrucksform freundlicher zu
gestalten ist.
1. Zeile.
Oder:
Poeten ist jedenfalls durch das deutsche Wort
Dichter gut zu ersetzen:
Oder:
Oder:
2. Zeile.
Wenn der in der vorigen Strophe mit Recht
beseitigte Reim Kamaralzaman auch hier verschwinden
soll, so ist eine Neuänderung der 2. Zeile
geboten. Wir nehmen das Begriffswort Land in
die Reimstelle, dem der Sinn der letzten (4.) Zeile
ohne weiteres das Reim-Echo unbekannt (unknown)
souffliert. Nunmehr übertragen wir:
Oder:
Oder:
3. und 4. Zeile.
Nach Maßgabe dieser 2. Zeile werden die
beiden letzten Verse lauten müssen:
Oder:
Die Übersetzung „Ehren“ für famous ist deshalb
zu empfehlen, weil sie mit praises (== Ehren)
der 1. Strophe korrespondiert und nunmehr dem
Kamaralzaman genau so viel gewährt, als Badaura
in der 1. Strophe hatte.
Wir erwägen nur noch das Formale und
werden plötzlich durch den unreinen Reim fand ─
unbekannt gestört. Fehlerhaft ist dieser Reim
nicht gerade, da er in den meisten Teilen Deutschlands
klanglich sich deckt; er könnte daher zur Not
passieren. Doch wollen wir dem Anfänger zeigen,
daß bei einiger Ausdauer jede Klippe zu umschiffen
ist. Um zu einer Änderung zu gelangen,
erwägen wir, daß jedes Land den Namen seines
Dichters mit Stolz nennt, während es den Dichter
[228]
des andern Landes nicht kennt. So hätten
wir mühelos eine Änderung gefunden, die dem
Urbild entspricht, wenn auch die Reime nicht sehr
farbenvoll sein mögen:
Engültige Form der 3. Strophe.
5. Vorschlag zu ferneren Übersetzungen des gleichen
Gedichts.
Eine lohnende Erschwerung und Steigerung (wie solche andere Übersetzungen
Freiligraths, Em. Geibels, Emil J. Jonas' &c., sowie einzelne
freundliche Formen in den S. 196 erwähnten mustergültigen modernen Übertragungen
der griechischen Tragiker durch Marbach, Kayser &c. ersehen lassen)
würde der Versuch freierer Übersetzungen ergeben. Bei solchen könnte auch der
Cäsurreim mit wechselndem Reimgeschlecht eingefügt werden, wodurch sich denn
das Reimschema a b a b ergeben würde.
Die obige Übersetzungsform der 1. Zeile („Als Mazarvan, jener Weise“),
welche das einzig brauchbare, dem journeyed und way durchaus zusagende
Wort Reise als Reim-Echo empfiehlt, könnte möglicherweise einen brauchbaren
Cäsurreim in der 1. Strophe ergeben, wobei es sich selbstredend fragen müßte,
ob der Jnhalt der 2. und 4. Zeile dies gestattet u. s. w.
Wenn der Lernende nicht ermüdet in Versuchen, Änderungen, Wendungen,
Umgestaltungen, Versetzungen &c. (wie wir diese unter Ziffer 4 anschaulich genug
gezeigt haben), so wird ihm zweifelsohne auch eine freiere, dabei lesbare, in
Bezug auf Treue dennoch befriedigende Übersetzung (noch dazu mit Cäsurreim)
gelingen und ihn zu weiteren metrischen Übertragungen und Umbildungen
ermutigen.
6. Schlußbemerkung.
Man möge erkennen, daß ein ─ selbst von einem Meister übersetztes
Gedicht immer noch weitere Übertragungen zuläßt, und daß unsere elastische
Sprache die allermannigfaltigsten Ausdrucksformen und Wendungen gestattet, ohne
daß sich der aus dem Handwerkertum des Reimsuchens emporringende Übersetzer
vom Geiste des Urbilds auch nur um eine Linie zu entfernen genötigt sieht.
Es ist selbstverständlich, daß dieses einzige Beispiel unsere S. 198 ff. aus
den besten deutschen Übersetzungen abstrahierten Grundsätze nicht sämtlich zur
Anschauung bringen konnte, ja, daß mancher der hier gezeigten Handgriffe nicht
bei jeder metrischen Übersetzung zur Anwendung zu gelangen braucht.
Je mehr die Übung wächst, desto kühner wird der Übersetzer verfahren.
Er wird sich später die wörtliche Übersetzung nicht mehr notieren, wenn er auch
immer erst lesend den Wortsinn sich herstellen und vor allem in den Geist des
Urbilds dringen wird. Bei den einzelnen Übersetzungen werden ihm bald diese,
bald jene unserer Grundsätze und Handgriffe willkommen sein; er wird sie anwenden
und in seinen Arbeiten allmählich jenen Vorbildern in der Kunst der
Übersetzung sich nähern, als deren erstes ─ auch was Selbstkritik betrifft ─
für lange Zeit am Übersetzerhimmel strahlen wird: Ferdinand Freiligrath!
Wir beschränken uns in den nachstehenden Aufgaben auf jene Sprachen,
aus welchen bisher fast ausschließlich übersetzt wurde, also auf die altklassischen
Sprachen, auf die französische und englische, sowie auf die
italienische, spanische, portugiesische und schwedische Sprache.
Vorbemerkung. 1. Es ist selbstverständlich, daß ohne genaue Kenntnis
der homerischen Formenlehre und Syntax an eine fruchtbare Übersetzung
nicht zu denken ist.
2. Weitere Voraussetzung ist genaue Bekanntschaft mit den von Homer
geschilderten, gesellschaftlichen Zuständen und Verhältnissen, um den richtigen
Ton treffen zu können.
3. Es darf nie vergessen werden, daß Homer urantik ist.
4. Wenn irgend ein Dichter, so muß Homer möglichst treu, ja, wortgetreu
übersetzt werden, damit die Kraft und Energie, die Durchsichtigkeit und
Plastik, die Naivetät und Einfachheit der homerischen Vorstellungen sowie seiner
Redeweise nicht verloren gehe. Der ganze Umfang des Sinnlichen, von dem
Homer seine Bilder nimmt, ist zu beachten.
5. Deshalb muß die Übersetzung ─ sozusagen ─ „homerische Färbung“
bekommen.
6. Es muß sogar, soweit möglich, Satzkonstruktion und Wortstellung beibehalten
werden.
7. Man schenke den Gleichnissen Homers besondere Aufmerksamkeit.
8. Zur Übersetzung für die Anfänger empfehlen wir die ersten Gesänge
der Jlias und das erste Buch der Odyssee.
9. Der Anfänger möge eine wortgetreue Übersetzung in Prosa versuchen.
10. Hierauf vergleiche er die Ausgabe von J. H. Voß und versuche
Voßens Härten zu vermeiden.
11. Die korrekte Bildung von Accenthexametern muß erstes Erfordernis sein.
12. Die Einführung von Trochäen, namentlich in den 1. und 2. Takt,
ist nach dem Vorgang Voßens gestattet.
Aufgabe. Es sollen die Verse Jlias II, 246─264 (Die Strafrede
des Odysseus gegen Thersites) übersetzt werden.
Stoff: (Nach H. Düntzers Schulausgabe, Paderborn 1873.)
Θερσῖτ' ἀκριτόμυθε, λιγύς περ ἐὼν ἀγορητής,
ἴσχεο, μηδ' ἔθελ' οἶος ἐριζέμεναι βασιλεῦσιν.
οὐ γὰρ ἐγὼ σέο φημὶ χερειότερον βροτὸν ἄλλον
ἔμμεναι, ὅσσοι ἅμ' Ἀτρείδῃς ὑπὸ Ἴλιον ἦλθον·
τῷ οὐκ \̓αν βασιλῆας ἀνὰ στόμ' ἔχων ἀγορεύοις,
καί σφιν ὀνείδεά τε προφέροις, νόστον τε φυλάσσοις.
οὐδέ τί πω σάφα ἴδμεν, ὅπως ἔσται τάδε ἔργα,
\̓η εὖ ἦε κακῶς νοστήσομεν υἷες Ἀχαιῶν.
ἀλλ' ἔκ τοι ἐρέω, τὸ δὲ καὶ τετελεσμένον ἔσται·
εἴ κ' ἔτι σ' ἀφραίνοντα κιχήσομαι, ὥς νύ περ ὧδε,
μηκέτ' ἔπειτ' Ὀδυσῆι κάρη ὤμοισιν ἐπείη,
μηδ' ἔτι Τηλεμάχοιο πατὴρ κεκλημένος εἴην,
εἰ μὴ ἐγώ σε λαβὼν ἀπὸ μὲν φίλα εἵματα δύσω,
χλαῖνάν τ' ἠδὲ χιτῶνα, τά τ' αἰδῶ ἀμφικαλύπτει,
αὐτὸν δὲ κλαίοντα θοὰς ἐπὶ νῆας ἀφήσω
πεπληγὼς ἀγορῆθεν ἀεικέσσι πληγῇσιν.
Wörtliche Übersetzung: Thersites, eitler Schwätzer, obgleich ja ein
lauter Sprecher, halt an, und wolle nicht allein streiten mit den Königen.
Denn ich sage, daß nicht ein anderer Sterblicher schlechter ist, als du von allen,
welche zugleich mit den Atriden vor Jlion kamen; darum solltest du nicht wohl
die Könige im Munde habend reden, und ihnen Schmähungen entgegentragen
und auf die Rückkehr passen. Auch wissen wir nicht eben deutlich, wie diese
Dinge werden sollen, ob gut oder schlimm wir Söhne der Achäer heimkehren
werden. Aber traun, ich sage dir frei heraus, das wird aber auch vollendet
sein; wenn ich noch ferner dich rasend treffen werde, wie nun ja hier, so möge
sodann dem Odysseus nicht mehr der Kopf auf den Schultern sein, und nicht
mehr möge ich des Telemach Vater genannt sein, wenn ich dich nicht packe und
deine Gewänder abziehe, Mantel sowohl als Leibrock und was die Scham bedeckt;
dich selbst aber werde ich heulend zu den schnellen Schiffen entsenden,
schlagend aus der Versammlung mit schmählichen Schlägen.
Übersetzung von J. H. Voß.
Bemerkungen zu Voßens Übersetzung. Die Voßische Übersetzung
ist im ganzen wörtlich und treu. ἴσχεο ist „halt an dich“, dem Sinne
nach == schweige! „enthalte dich“ eigentlich wolle nicht. φημὶ heißt
eigentlich sagen. σάφα wir wissen es genau, ist ausgefallen. Vers 254 bis
256 haben wir ausgelassen, weil schon von Aristarch verworfen. Jch sage
dir an: das an giebt die scharfe Drohung nicht genau wieder, welche in
dieser konstanten Formel steckt.
φίλα eigentlich deine lieben, gewohnten Gewänder ist zum reinen
Possessiv geworden, kann daher auch in der wörtlichen Übertragung fallen.
Dich Heulenden ist unpassend attributiv gegeben. Die „rüstigen“ Schiffe
können wir nicht gut heißen. Gestäupt ist im Texte drastischer, plastischer,
weil aktiv gegeben. Der letzte Vers hat keinen Daktylus im vorletzten Takte.
Vorbemerkung. An nachstehendem Beispiele zeigen wir die Übertragung
lyrischer Maße ins Deutsche. Der Lernende möge zur weiteren Übung die
Anthologie von Stoll als Stoff benutzen. Um sodann die eigenen Übungen
in der griechischen Lyrik erfolgreich fortzusetzen und dieselben mit guten Übertragungsmustern
lernend zu vergleichen, nennen wir zur Auswahl: 1. A. Baumstark,
Blüten der griechischen Dichtkunst in deutscher Nachbildung. 6 Bändchen,
1841. 2. Friedr. Dörr, griechischer Liederschatz. Jn deutscher Nachdichtung
(NB. mit Endreimen), 1858. 3. Jakob Mähly, griechische Lyriker, übersetzt
&c. 1883. Der Anfänger möge nicht zu schnell mit den Metren wechseln,
späterhin freilich mag er dieselben promiscue (d. h. abwechselnd eins unter
dem andern vermischt, in bunter Reihe) gebrauchen. Er vergesse aber auch
hier nicht, daß die Grundlage seiner Arbeit die Philologie ist und bleiben muß.
Hat er die Verse philologisch richtig erfaßt, dann möge er als Poesie= und
Metrumverständiger, als Dichter auftreten.
Aufgabe. Es soll das nachfolgende Anakreontikon übertragen werden!
Besuch des Eros.
Stoff:
Anacreontis Teii συμποσιακα ημι-
αμβια ed. Rose. Nr. 33.
Μεσονυκτίοις ποθ' ὥραις,
στρεφέτην ὅτ' ἄρκτος ἤδη
κατὰ χεῖρα τὴν βοώτου·
4.
μερόπων δὲ φῦλα πάντα
κέαται κόπῳ δαμέντα·
τότ' Ἔρως ἐπισταθείς μεν
θυρέων ἔκοπτ' ὀχῆας.
8.
τίς, ἔφην, θύρας ἀράσσει
κατά μευ σχίσας ὀνείρους;
ὁ δ' Ἔρως, ἄνοιγε, φησίν·
βρέφος εἰμί, μὴ φόβησαι,
12.
βρέχομαι δὲ κἀσέληνον
κατὰ νύκτα πεπλάνημαι.
ἐλέησα ταῦτ' ἀκούσας,
ἀνὰ δ' εὐθὺ λύχνον ἅψας
16.
ἀνέῳξα. καὶ βρέφος μὲν
ἐσορῶ, φέρον δὲ τόξον
πτέρυγάς τε καὶ φαρέτρην.
παρὰ δ' ἱστίην καθίξας
20.
παλάμαισι χεῖρας αὐτοῦ
ἀνέθαλπον, ἐκ δὲ χαίτης
ἀπέθλιβον ὑγρὸν ὕδωρ.
ὁ δ', ἐπεὶ κρύος μεθῆκε,
24.
φέρε, φησί, πειράσωμεν
τόδε τόξον, εἴ τι μοι νῦν
βλάβεται βραχεῖσα νευρή.
τανύει δὲ καί με τύπτει
28.
μέσον ἧπαρ, ὥσπερ οἶστρος·
ἀνὰ δ', ἅλλεται καχάζων,
ξένε δ', εἶπε, συγχάρηθι·
κέρας ἀβλαβὲς μὲν ἦν μοι,
32.
σὺ δὲ καρδίην πονήσεις.
Übersetzung. Von J. Fr. Degen.
─ Redigiert, ergänzt und erklärt von
Ed. Mörike.
(Vgl. hier die abweichenden Lesarten in Th. Bergks poetae lyrici
Graeci. Vol. III, S. 315 Nr. 31: 2. στρέφεθ' ἥνίκ' Ἄρκτος ἤδη.
9. σχίζεις. 17. φέροντα. 19. καθῖσα. 20. παλάμαις τε. 31. κέρας
ἀβλαβὲς μὲν ἡμῖν.) Man beachte auch die unleidlichen Zerreißungen in
der Versifikation, z. B. V. 8 zu 9, 12 zu 13 &c.
Vorbemerkung. Bei der Reproduktion der Chorgesänge der antiken
Tragödie in modernen Versformen ist hauptsächlich Folgendes zu beachten:
1. Die phraseologische und rhetorische Eigentümlichkeit des Originals ist
möglichst genau festzuhalten. Die gereimten Übertragungen dürfen somit nicht
bloße Paraphrasen sein, was u. a. Jordan in seiner Vorrede zur Sophokles=
Übersetzung einem Übersetzer rügt.
2. Um in den Chorgesängen einen dem Original möglichst verwandten
Eindruck hervorzubringen, ist es nicht bloß nötig, die für dieselben charakteristische
antistrophische Responsion streng zu wahren; ─ es gilt auch, mit
längeren und kürzeren Versen, mit verschiedenen Taktarten in ähnlicher
Weise zu wechseln, wie es der griechische Dichter gethan hat.
3. Neben dem eben Gesagten trägt gefällige Verschränkung der Reime
sehr viel dazu bei, den gereimten Strophen die Eintönigkeit zu benehmen und
ihnen den Charakter größerer Freiheit und belebterer Mannigfaltigkeit zu verleihen.
NB. Den Anforderungen 1─3 entsprechen in hervorragendster Weise
die von uns mehrfach citierten, im Unterricht gut zu verwertenden Übersetzungen
von Th. Kayser.
Aufgabe. Es ist Strophe und Gegenstrophe des Chorgesangs V. 100 ff.
aus Sophokles' Antigone zu übertragen.
Stoff (ed. Wecklein):
Strophe I.
Ἀκτὶς ἀελίου, τὸ κάλ--
λιστον ἑπταπύλῳ φανὲν
Θήβᾳ τῶν προτέρων φάος,
ἐφάνθης ποτ', ὦ χρυσέας
ἁμέρας βλέφαρον, Διρκαί--
ων ὑπὲρ ῥεέθρων μολοῦσα,
τὸν λεύκασπιν Ἀργόθεν
φῶτα βάντα πανσαγίᾳ
φυγάδα πρόδρομον ὀξυτέρῳ
κινήσασα χαλινῷ.
\̔ον ἐφ' ἡμετέρᾳ γῇ Πολυνείκης
ἀρθεὶς νεικέων ἐξ ἀμφιλόγων
ἤγαγε· κεῖνος δ' ὀξέα κλάζων
αἰετὸς \̔ως γῆν ὑπερέπτη,
λευκῆς χιόνος πτέρυγι στεγανός,
πολλῶν μεθ' ὅπλων
ξύν θ' ἱπποκόμοις κορύθεσσιν.
Wörtliche Übertragung.
Strahl des Helios, am schönsten erschienenes
Licht dem siebenthorigen Theben
unter den früheren, du bist endlich
erschienen, Auge des goldnen Tages, über
die dirkeischen Fluten geschritten, und hast
den weißbeschildeten Mann (Adrastos,
den Oberfeldherrn, in dem das Heer
mitbefaßt ist), der von Argos in voller
Rüstung gekommen, den fliehend vorwärtseilenden
mit rascherem Zügel in
Bewegung gesetzt. Jhn hatte gegen
unser Land Polyneikes infolge hadernden
Streites herangeführt. Laut
schreiend wie ein Adler überflog er
das Land, bedeckt vom Flügel weißen
Schnees, mit vielen Waffen und samt
Roßschweifhelmen.
Antistrophe I.
στὰς δ' ὑπὲρ μελάθρων φονώ--
σαισιν ἀμφιχανὼν κύκλῳ
λόγχαις ἑπτάπυλον στόμα
ἔβα, πρίν ποθ' ἁμετέρων
αἱμάτων γένυσιν πλησθῆ--
ναί τε καὶ στεφάνωμα πύργων
πευκάενθ' Ἥφαιστον ἑλεῖν.
τοῖος ἀμφὶ νῶτ' ἐτάθη
πάταγος Ἄρεος, ἀντιπάλου
δυσχείρωμα δράκοντος.
Ζεὺς γὰρ μεγάλης γλώσσης κόμ--
πους
ὑπερεχθαίρει, καί σφας ἐπιδὼν
πολλῷ ῥεύματι προσνισσομέ--
νους,
χρυσοῦ καναχῆς ὑπερόπτας,
παλτῷ ῥίπτει πυρὶ βαλβίδων
ἐπ' ἄκρων ἤδη
νίκην ὁρμῶντ' ἀλαλάξαι.
Stehend über den Wohnungen gähnte
er mit tötlichen Lanzen ringsum den
siebenthorigen Mund an, aber er zog
ab, ehe er sich mit seinen Kinnbacken
sättigte an unserem Blute und der
Hephästos aus Fichtenholz (d. h. die
Pechlohe des Feuers) den Kranz der
Befestigungen nahm. Also erhob sich
in seinem Rücken das Getöse des Ares
(Schlachtgetümmel), der schwer (d. h.
gar nicht) zu bewältigende Anprall des
gegenringenden Drachen. (Dem Adler
d. h. dem Argiver tritt der Drache
d. h. der Thebaner entgegen.) Denn
Zeus haßt sehr die Prahlereien einer
hochfahrenden Zunge, und als er sie
herannahen sah in gewaltigem Strome,
stolz auf das Rauschen des Goldes
(der goldenen Rüstung), da warf derselbe
mit geschwungenem Feuer den
nieder, welcher schon auf der Höhe der
Zinnen das Siegesgeschrei zu erheben
sich anschickte.
Erste Gegenstrophe.
NB. Die Apostrophierung füllt' und braust' ist zu rügen.
Theodor Kaysers Übersetzung.
Erste Strophe.
Chorführer.
Erste Gegenstrophe.
Chorführer.
(NB. Der Lernende beachte die herrliche Strophenform Kaysers mit dem
schönen strophischen Charakteristikum, sowie den verständnisvollen Rhythmuswechsel
u. a.)
Bemerkungen zu den Übersetzungen.
Die Übertragung der Chorgesänge des Sophokles ist eine der schwierigsten
Aufgaben der Übersetzungskunst. Es darf daher nicht wundernehmen, daß
nicht nur die wörtliche Übertragung von den poetischen und insbesondere von
den freien Übersetzungen sehr wesentlich abweicht, sondern auch die letzteren
unter sich kaum mehr viele Ähnlichkeit zeigen. Eine Beurteilung der mitgeteilten
Proben ohne genaue und eingehende Besprechung der betreffenden
Stellen nach Lesart, Auffassung und Abteilung ist kaum möglich und fruchtbringend.
Derartige philologische Erörterungen aber wird man hier nicht suchen;
doch haben wir auf eine Probe nicht verzichten zu müssen geglaubt. Einige
zum Verständnis notwendige Bemerkungen sind an den betreffenden Stellen
eingereiht worden. Bezüglich der Übersetzungen von Donner und Kayser müssen
wir auf die von den Verfassern benützten Textrecensionen verweisen. Was das
Verfahren des angehenden Übersetzers betrifft, so genügt es, auf die Bemerkungen
zu den lateinischen Aufgaben (S. 237) zu verweisen.
Vorbemerkungen für das Übersetzen lateinischer Verse. Wer
Verse aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzen lernen will, bedarf genauer
Kenntnis der Metrik und Prosodik. Man versuche sich zunächst am Hexameter
und Pentameter, wobei man eine Anthologie, Chrestomathie oder palaestra
musarum (z. B. von Gaupp oder Seyffert) wählen kann. Dort
sind zunächst einzelne Hexameter oder Pentameter ohne Elisionen und sonstige
Abweichungen geboten. Man achte besonders auf die Wortstellung, auf die
Abweichungen der Dichter u. a. Es ist gerade nicht notwendig, daß man verstehe,
eigene lateinische Verse zu bilden. Wohl aber halten wir es für unerläßlich,
daß man sich im Retrovertieren von Versen übe, wobei man bald
bemerken wird, daß es am leichtesten zum Ziele führt, wenn zuerst der Schluß
des Verses gewonnen wird, (wenn man also die beiden Schlußtakte zuerst
bildet); für das Griechische freilich ist letzteres Verfahren keine solch wesentliche
Erleichterung.
An die Anthologie reiht sich dann Ovid und Vergil. Hat man sich auf
diese Art vorbereitet und jedesmal eine gute Übersetzung nachgelesen, dann
wage man sich an den formenreichen Horaz, der nicht weniger als 26 sapphische
und 37 alcäische Oden bietet. Für besonders fruchtbringend halten wir es,
ein und dasselbe Thema in verschiedenen Maßen zu behandeln.
Aufgabe 1. Es ist Vergils Aen. II, 3─20 ins Deutsche zu
übertragen.
Stoff. (Nach Wagners Ausgabe.)
Infandum, regina, jubes renovare dolorem,
Troianas ut opes et lamentabile regnum
Eruerint Danai; quaeque ipse miserrima vidi,
Et quorum pars magna fui. Quis talia fando
Myrmidonum Dolopumve aut duri miles Ulixi
Temperet a lacrimis! et jam nox humida caelo
Praecipitat, suadentque cadentia sidera somnos.
Sed si tantus amor casus cognoscere nostros
Et breviter Troiae supremum audire laborem,
Quamquam animus meminisse horret, luctuque refugit,
Incipiam.
Fracti bello fatisque repulsi
Ductores Danaum, tot jam labentibus annis,
Instar montis equum divina Palladis arte
Aedificant, sectaque intexunt abiete costas;
Votum pro reditu simulant; ea fama vagatur.
Huc delecta virum sortiti corpora furtim
Includunt caeco lateri, penitusque cavernas
Ingentis uterumque armato milite complent.
Wörtliche Übersetzung. Den unsäglichen Schmerz, o Königin, befiehlst
du zu erneuern, wie die Trojanische Macht und das bejammernswerte
Reich die Danaer zerstört haben, und was ich selbst so unglückliches gesehen
habe, und dessen großer Teil ich gewesen bin (wobei ich selbst eine große Rolle
spielte). Wer sollte bei solcher Erzählung unter den Myrmidonen oder Dolopern,
oder sogar welcher Krieger des harten Ulixes sollte sich der Thränen
enthalten! Und schon stürzt die feuchte Nacht vom Himmel nieder, und es
raten die fallenden Gestirne den Schlummer. Aber wenn so groß das Verlangen
ist, unsere Geschicke kennen zu lernen und kurz Troja's letzte Not zu
hören, so will ich, obgleich das Herz sich zu erinnern schaudert und vor Kummer
zurückbebte,* beginnen. Gebrochen vom Krieg und von den Schicksalssprüchen
zurückgetrieben, bauen die Führer der Danaer im Umlaufe schon so
vieler Jahre gleich einem Berg ein Pferd durch die göttliche Pallaskunst, und
aus gehauener Tanne fügen sie die Rippen ein; als ein Weihgeschenk für die
Rückkehr geben sie es aus; dieses Gerücht verbreitet sich. Darein schließen
sie durchs Los ausgewählte Männergestalten heimlich ein in die dunkle Seite,
und füllen gänzlich die großen Höhlungen und den Bauch mit bewaffnetem Krieger.
* (NB. Zurückbebte ist wörtliche Übersetzung, da refugit als Hexameterschluß
langes u haben muß, was bloß im Perfekt der Fall ist. Vgl. auch
die Bemerkung der Wagnerschen Ausgabe.)
Übersetzung von Voß.
Bemerkungen zu vorstehender Übersetzung.
Die Voßsche Übersetzung ist etwas prosaisch und manchmal ungenau,
beinahe unrichtig. „Was ich selbst anschaute: des Elends.“ Dieser [239]
partitive Genitiv steht nicht im Original. „Hemmte die Thrän'“ ist im
Original Plural. Jn Vers 12 hat Voß die beiden Glieder in eines
zusammengezogen. „Will ich gehorchen dem Wunsch.“ Für das wörtliche
„ich will anfangen,“ ist diese Form zu weitläufig und zudem keineswegs schön
poetisch gesagt. „Kriegssatt“ (für fracti == gebrochen): kriegsmatt entspräche
wohl mehr. Labentibus annis hat Voß unnötiger Weise zu einem Hauptsatze
gemacht und dadurch die Beziehung zwischen fracti und aedificant verrückt.
(Die Not hat zu dem letzten Versuche mit dem Bau des Rosses geführt.)
„Spünden mit tannener Bohle“ ist Prosa für das anschauliche, textliche
„aus gehauener Tanne“. Das Gerücht „fliegt“ ist nicht wörtlich. „Sind
voll des Kriegers“ ist nicht poetisch, nicht wörtlich, nicht deutsch. Eine
Verbindung wie „des Gottes voll“ wäre nicht zu beanstanden. (Man vergleiche
damit die freie Bearbeitung Schillers in: „Zerstörung von Troja“
Str. 1. 2. 3, welche kaum mehr als Übersetzung gelten kann.)
Aufgabe 2. Nachbildung von Horaz Oden, Buch I, 10.
Anleitung. 1. Diese leichte, an und für sich unbedeutende, wenn auch
ansprechende Ode wurde mit Rücksicht auf unsern Zweck, für den Anfänger
zunächst etwas Leichteres und Kürzeres zu bieten, gewählt.
2. Die Ode besteht aus sapphischen Strophen.
3. Dieselbe ist genau zu überdenken, um ihren Geist erfassen zu können.
4. Nunmehr versuche man die wörtliche oder wortgetreue Übersetzung.
Man mache sich die Bedeutung jedes einzelnen Wortes klar; schreibe eine zusammenhängende
Prosaübersetzung nieder, um schließlich die metrische Übertragung
zu erreichen. Man werde sich klar, welche Abweichungen man sich gestattet
hat, welche Unterschiede zwischen der Übersetzung und dem Originale bestehen;
man frage sich, ob und warum man sich Abweichungen gestatten durfte, welche
derselben man etwa zurücknehmen muß u. s. w. Jst man zu einem Schlusse
gekommen, so möge man das Produkt laut vorlesen. Auf diese Weise mahnt
das Ohr an prosodische Jnkorrektheiten u. s. w.
5. Zur Erreichung der Treue muß bei der sapphischen Strophe statt des
Ditrochäus der von Horaz angewandte Trochäus-Spondeus am Anfang der
Verse erstrebt werden.
6. Wesentlich ist die Beachtung des deutschen Accents. Es sind also
nur betonte Stammsilben in die Arsis der Verstakte zu stellen.
7. Eine stehende Cäsur nach der Arsis des Daktylus ist nicht nötig, da
sie auch bei Horaz nicht streng angewandt ist. Um so weniger ist diese Cäsur
im Deutschen erforderlich, als der lateinischen, quantitierenden Sprache für
Herstellung jener Cäsur spondeische und molossische Wörter vor, dagegen pyrrhichische
und anapästische nach derselben in Menge zu Gebot stehen, während
unserer accentuierenden deutschen Sprache die Wörter der letzteren Art fast ganz
fehlen und die ersteren (zufolge unserer Betonungsgesetze) großenteils nicht verwendbar [240]
sind. Wir müßten zur Aufrechthaltung dieser Cäsur sonach vielfach zu
einsilbigen bedeutungslosen Wörtern greifen, wodurch die Schönheit und Wirkung
des horazischen Verses in der Übersetzung eine Schädigung erleiden würde.
Sapphische Strophenform.
Stoff: 1.
Mercuri, facunde nepos Atlantis,
Qui feros cultus hominum recentum
Voce formasti catus et decorae
More palaestrae,
2.
Te canam, magni Jovis et deorum
Nuntium curvaeque lyrae parentem,
Callidum quidquid placuit iocoso
Condere furto.
3.
Te boves olim nisi reddidisses
Per dolum amotas puerum minaci
Voce dum terret, viduus pharetra
Risit Apollo.
4.
Quin et Atridas duce te superbos
Ilio dives Priamus relicto
Thessalosque ignes et iniqua Troiae
Castra fefellit.
5.
Tu pias laetis animas reponis
Sedibus virgaque levem coerces
Aurea turbam superis deorum
Gratus et imis.
Wörtliche Übersetzung. 1. Merkur, beredter Enkel des Atlas, der
du die wilde (rohe) Lebensart der frischgeschaffenen Menschen (Urmenschen)
durch das Wort gebildet hast klüglich und durch der zierenden (anständigen,
d. h. anstandverleihenden, bildenden) Palästra Sitte (Weise).
2. Dich will ich besingen, des großen Jupiter und der Götter Boten
und der krummen (gewölbten) Lyra Vater, der es verstand, was auch beliebte,
in scherzhaftem Diebstahl zu bergen.
3. Dich schreckt einst, wenn du nicht würdest zurückgegeben haben die
durch List weggebrachten Rinder, den Knaben mit drohender Stimme Apollo:
bar (beraubt) des Köchers lachte er.
4. Sogar auch die übermütigen Atriden hat unter deiner Führung der reiche
Priamus nach verlassenem Troja und die Thessalischen Wachtfeuer und das Troja
feindliche Lager getäuscht.
5. Du setzest nieder die frommen Seelen auf angenehmen Sitzen und
mit dem Stabe hältst du die leichte Schar ─ mit dem goldenen ─ zusammen
den Oberen der Götter angenehm und den Untersten.
An Merkurius.
1. Lösung von J. H. Voß.
1.
2.
3.
4.
5.
NB. Diese Übersetzung von Voß ist unleidlich und gegen alle wirklich
deutsche Metrik.
2. Lösung von Th. Kayser.
1.
2.
3.
4.
5.
Bemerkungen zur Übersetzung, und Methode der Prüfung.
An der Voßschen Übersetzung wird man sofort verschiedene Härten bemerken.
„Wohlredend“ geht ja wohl an, allein das Wort ist kaum poetisch verwendbar,
ja, bei Homer hätten wir nichts gegen ein Participium Präsens. Daß nepos,
Enkel, wie es Apollo in der That war, mit dem allgemeinen „Sproß“ wiedergegeben
ist, wollen wir nicht allzu sehr betonen. Kayser hat das Richtige und
dabei Wörtliche. „Aus rohem Unfug“ ist prosaisch, ja kaum edel schriftdeutsch.
Kayser hat „die Sitte, die rohe“; recentum der frischen, frischgeborenen, oder
nach Sat. I. 3, 99 ff. der eben aus der Erde hervorgewachsenen Menschen.
Beide Übersetzer haben „Urwelt“ dem Sinne nach richtig gewählt; es wird
wohl kaum wörtlich zu geben sein. Das Voßsche „Wortes Weisheit“
scheint gesuchter Gleichklang, und ist im Grundtext nicht begründet. Kaysers
„weislich durch das Wort“ (eigentlich Stimme) ist wörtlich und nicht zu beanstanden.
„Anordner“ ist geschmacklos und nicht einmal wörtlich. „Krumm“
kann nicht stehen bleiben; es weckt bei uns falsche Vorstellungen, wenn freilich
das entschieden bessere „gewölbt“ auch noch nicht allen Anforderungen genügt.
„Jn leisem Scherze verheimlichst.“ Das ist zu leise, wenn der Scherz zum
Rinderdiebstahl wird. Kayser hat „entwendet“; das ist sinnrichtig und giebt
furtum begrifflich wieder. „Wofern“ bei Voß wäre zu billigen als drohender
Amtsstil, wenn die Sache in oratio recta gegeben wäre; hier hat Kayser
die drohende Apostrophe, die sich in Lachen auflöst, fein wiedergegeben. „Durch
der Stimme Androhn“ soll das „An“ den Anfang der Drohung ausdrücken, die
aus Mangel an Vorrat nicht durchgeführt werden kann? Kayser übersetzt „drohend“.
Dives giebt Voß mit „König“; nun ist allerdings „reich“ ein beliebtes
Prädikat der Könige; ob diese Substituierung aber angeht oder nötig ist, bezweifeln
wir. „Mit seinem Golde“ trifft den Sinn der Situation gemäß. Bei
Voß geht dies verloren, abgesehen von dem oben angedeuteten Bedenken.
„Deiner Obhut froh“ soll wohl poetisch sein; „froh“ legt etwas hinein, was
nicht da steht. Kayser übersetzt einfach „mit dir“, was vollständig genügt.
„Thessalerglut“ ist unverständlich; oder sollte Voß eine andere Auffassung der
Stelle haben? Kayser hat richtig „Wachen“, wenn auch ignes bezeichnender,
plastischer, konkreter ist. Das „ging sicher vorüber“ ist für fefellit vielleicht
nicht ganz malerisch genug. „Getäuscht“ ist wörtlich richtig. Den Sinn giebt
Kayser besser wieder. „Seelen, die fromm gewandelt“ ist Exegese und nicht
Übersetzung, zudem langweiliger Pastoralton. Die letzte Voßsche Strophe ist [243]
überhaupt schleppend. (Jn ähnlicher Weise prüfe man die verschiedenen Übersetzungen
in metrischer und prosodischer Hinsicht und suche sich ein Urteil zu bilden!)
Aufgabe 2. Nachbildung der folgenden Ode des Q. Horatius
Flaccus (Od. I, 9). Alcäische Strophe.
Ad Thaliarchum.
Stoff.
1.
Vides, ut alta stet nive candidum
Soracte nec jam sustineant onus
Silvae laborantes geluque
Flumina constiterint
acuto?
2.
Dissolve frigus, ligna super foco
Large reponens atque benignius
Deprome quadrimum Sabina,
O Thaliarche, merum diota.
3.
Permitte divis cetera, qui simul
Stravere ventos aequore fervido
Deproeliantes, nec cupressi
Nec veteres agitantur orni.
4.
Quid sit futurum cras, fuge
quaerere, et
Quem fors dierum cunque dabit,
lucro
Appone, nec dulces amores
Sperne puer neque tu
choreas,
5.
Donec virenti canities abest
Morosa: nunc et campus et
areae
Lenesque sub noctem susurri
Composita repetantur
hora,
6.
Nunc et latentis proditor intimo
Gratus puellae risus ab angulo
Pignusque dereptum lacertis
Aut digito male pertinaci.
Wörtliche Übersetzung.
1. Siehst du, wie von tiefem Schnee
weiß der Soracte steht, und (wie) nachgerade
nicht mehr die Last ertragen die
Wälder, die notleidenden, und vor Kälte
die Flüsse erstarrt sind ─ vor der
scharfen?
2. Löse auf (mildre) die Kälte,
Scheite über dem Herde reichlich niederlegend,
und freigebiger nimm herab vierjährigen
Lautern, o Thaliarchus, aus
sabinischem Kruge.
3. Überlaß den Göttern das Übrige.
Sobald diese die auf der brausenden
Meeresfläche kämpfenden Winde niedergeworfen
haben, werden weder Cypressen
noch die alten Eschen bewegt.
4. Was morgen sein werde, fliehe
es zu erfragen; welchen der Tage auch
das Schicksal geben wird, setz als Gewinn
an (rechne zum ─) und süße Liebesspiele
verschmähe nicht als Knabe (Jüngling)
noch auch die Reigentänze,
5. Solange dir in der (Jugend)
blüte (dem blühenden) das grämliche Grau
fern ist. Jetzt sollen das (Mars)feld
und (andere) freie Plätze und gegen
Abend sanftes Geflüster zu festgesetzter
Stunde wiederholt (d. h. allabendlich)
aufgesucht werden; ─
6. Jetzt angenehmes Lachen, der
Verräter des verborgenen Mädchens
vom innersten Winkel (d. i. das Lachen,
welches ... verrät), und das den
Armen entrissene Pfand oder dem nur
schlecht (d. i. zum Scheine) festhaltenden
(sich sträubenden) Finger.
Übersetzung von Theodor Kayser.
1.
2.
3.
4.
5.
6.
NB. Der Lernende möge sich nun an weiteren Beispielen versuchen. Wir
empfehlen hierzu die Oden und Epoden des Horatius Flaccus, Text und Übersetzung
mit Erläuterungen von Theodor Kayser. (Außerdem etwa noch Mähly's
römische Lyriker.)
Vorbemerkungen für das Übersetzen französischer Verse.
1. Die Auffassung des französischen Verses, wie der französischen Metrik
überhaupt ist keine feststehende. Von der Strenge eines antiken Metrums
kann hier nicht entfernt gesprochen werden. Man pflegt in der Regel nur zu
sagen: Diesem Gedicht liegt jambisches oder trochäisches Versmaß zu Grunde.
Will man weiter gehen, so wird man gut thun, nicht von Verstakten, sondern
von der Silbenzahl zu sprechen. Jrrig ist freilich die Meinung, als ob die
französischen Dichter beim Bau ihrer Verse keine anderen metrischen Regeln zu [245]
befolgen hätten, als die, eine gewisse Silbenzahl abzumessen, und außerdem
etwa noch an gewissen Stellen Cäsuren eintreten zu lassen. Vielmehr liegt
einem jeden französischen Gedicht irgend ein bestimmter Rhythmus zu Grunde;
und wer etwa ein Gedicht in gebundener Rede schön vortragen wollte, der
hätte dies wohl zu beachten. Dies ist auch für den Übersetzer wichtig.
2. Vorherrschend ist der jambische und der jambisch=anapästische Rhythmus,
daneben macht sich auch der Trochäus geltend.
3. Da der Alexandriner der Nationalvers der Franzosen ist, bei uns
aber der jambische Quinar, so wird am häufigsten aus dem Alexandriner in
unseren jambischen Quinar übersetzt. Es empfiehlt sich, Versuche anzustellen.
4. Die Übertragung ist nicht so leicht, da der Alexandriner länger ist,
als der Quinar. Es muß somit in der Übersetzung um je einen Takt gekürzt
werden.
5. Geht dies nicht an, so kommt der letzte (6.) Takt des Alexandriners
bei der Übersetzung in den ersten Takt des 2. Quinars zu stehen, und dieser
hat nun (mit den noch folgenden 4 Takten) den 2. Alexandriner des Urbilds
zu bieten. Geht auch dies nicht, so müssen vier weitere Alexandriner unverkürzt
gegeben werden, um durch die überschüssigen Takte einen Quinar mehr zu erhalten.
Oder aber muß der Übersetzer die vier leeren Takte jedes zweiten
Übersetzungsquinars durch einen willkürlichen Zusatz ausfüllen.
6. Schiller, der uns Racine's Phèdre im jambischen Quinar übertrug,
sagt in einem Briefe (vom 25. Oktober 1799) an Goethe: „Wie die Geige
des Musikanten die Bewegungen der Tänzer leitet, so auch die zweischenkelichte
Natur des Alexandriners die Bewegungen des Gemüts und die Gedanken.
Der Verstand wird ununterbrochen aufgefordert, und jedes Gefühl, jeder Gedanke
in diese Form, wie in das Bett des Prokrustes, gezwängt. Wird nun
in der Übersetzung mit Aufhebung des alexandrinischen Metrums die ganze
Basis weggenommen, worauf diese Stücke erbaut wurden, so können nur Trümmer
übrig bleiben.“ Schiller hat aber durch seine Übersetzung gezeigt, daß aus
den Trümmern etwas zu machen war, und daß somit seine Klage ebenso unmotiviert
war, als die Goethe's über unsere Sprache. (Vgl. I, 134 dieser Poetik.)
7. Es handelt sich in der Übersetzung weniger um die gleiche Taktzahl
im ganzen, als um vernünftige Benützung der Freiheit, vom Originalvers abzuweichen.
8. Der Lernende wird gut thun, zuerst eine treue Prosaübersetzung herzustellen,
bei welcher er die einzelnen Alexandriner durch Striche abgrenzt, um
sodann die Übertragung in Blankverse zu versuchen.
9. Er wähle z. B. Racine's Phèdre, präge sich immer eine Scene ein
und beginne seine Übersetzung, indem er zuletzt Schillers Übertragung vergleicht.
10. Leichter ist die Übersetzung von Alexandrinern in Alexandriner. Wir
empfehlen für einen Versuch das bekannte Molière'sche Lustspiel „Die gelehrten
Frauen“, wobei die leicht zugängliche Übersetzung von Laun verglichen werden
kann. Hierbei ist freilich zu beachten, daß Laun von der französischen Grundregel
abweicht, die stets ein männliches auf ein weibliches Reimpaar folgen läßt [246]
und umgekehrt. Er hat auch vieles nichts weniger als treu wiedergegeben.
So übersetzt er den Schluß des 7. Auftritts vom 2. Akt also:
während der Sinn etwa so wiederzugeben gewesen wäre:
11. Zur Übung in den Reimstrophen dürfte nicht ungeeignet sein: »Recueil
de Poésies fugitives et d'Essais ─ traductions en vers libres et
métriques par G. Bernard. Hamburg 1853.« Das Retrovertieren von
Übersetzungen unserer hervorragendsten Dichter zeigt dem Lernenden am besten
die Handgriffe, deren sich der Übersetzer bediente und die umgekehrt (bei
Übersetzungen aus dem Französischen) von Wert sind.
12. Jnstruktiv wirkt es, ein und dasselbe Reimgedicht in verschiedene
Formen zu übertragen. Wir bieten zwei Proben, die der Lernende mehrfach
übersetzen möge, bevor er die Lösungen vergleicht:
a. Stoff. (Von Beaumarchais.)
Le vin et la paresse
Se disputent mon coeur. ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─
Le vin et la paresse
Se partagent mon coeur ..
Si l'une est ma maîtresse,
L'autre est mon serviteur.
Erste Lösung. (Von W. Baudissin
in Viertaktern.)
Zweite Lösung. (Von E. Geibel
in Dreitaktern.)
b. Stoff. (Von Malherbe.)
Elle était du monde où les plus belles choses
Ont le pire destin;
Et, rose, elle a vécu ce que vivent les roses,
L'espace d'un matin.
Erste Lösung. (Von Faust Pachler.)
Zweite Lösung. (Von M. Fatkin.)
Aufgabe.
Les Hirondelles von Béranger.
Captif au rivage du Maure,
Un guerrier, courbé sous ses fers,
Disait: Je vous revois encore,
Oiseaux ennemis des hivers.
Hirondelles, que l'espérance
Suit jusqu'en ces brûlants climats,
Sans doute vous quittez la France:
De mon pays ne me parlez-vous
pas?
Depuis trois ans, je vous conjure
De m'apporter un souvenir
Du vallon, où ma vie obscure
Se berçait d'un doux avenir.
Au détour d'une eau qui chemine
A flots purs, sous de frais lilas,
Vous avez vu notre chaumine:
De ce vallon ne me parlez-vous
pas?
L'une de vous peut-être est née
Au toit où j'ai reçu le jour;
Là, d'une mère infortunée
Vous avez dû plaindre l'amour;
Mourante, elle croit à toute heure
Entendre le bruit de mes pas;
Elle écoute, et puis elle pleure.
De son amour ne me parlez-vous
pas?
Ma soeur est-elle mariée?
Avez-vous vu de nos garçons
La foule, aux noces conviée,
La célébrer dans leurs chansons?
Et ces compagnons du jeune âge
Qui m'ont suivi dans les combats,
Ont-ils revu tous le village?
De tant d'amis ne me parlez-vous
pas?
Sur leurs corps l'étranger, peut-être,
Du vallon reprend le chemin;
Sous mon chaume il commande en maître,
De ma soeur il trouble l'hymen.
Pour moi, plus de mère qui prie,
Et partout des fers ici-bas.
Hirondelles de ma patrie,
De ces malheurs ne me parlez-vous pas?
Die Schwalben.
1. Lösung. Von Metromanus.
2. Lösung. (Von H. Leuthold.)
NB. 1. Der Lernende übersetze die Aufgabe zuerst wörtlich. Sodann
suche er eine metrische Übertragung herzustellen; endlich vergleiche er die
dichterisch schöne Übersetzung Heinr. Leutholds Strophe für Strophe mit
der zum Teil recht mangelhaften Übertragung des Metromanus, um dessen
Fehler zu erkennen und sich die Vorteile beider Übersetzer anzueignen.
2. Die Behandlung bei den weiteren, unter Ziffer 9, 10 und 11
dieses Paragraphen genannten Stoffen ist die gleiche, weshalb wir auf
weitere Beispiele verzichten.
Vorbemerkungen für das Übersetzen englischer Verse.
1. Wer seine Übersetzungsversuche mit dem jambischen Quinar beginnt,
hat mit Rücksicht auf den Ausgang unserer Satztakte mit Miltonschen und
Shakespeareschen Quinaren abzuwechseln und all dasjenige zu beachten, was
wir weiter oben (S. 6) über den jambischen Quinar gelehrt haben.
2. Für den Übergang zu den Reimstrophen empfehlen wir: »Translations
from the German Poets by Edward Stanhope Pearson. 1879.« Die
Retrovertierung zeigt die Wege der Übersetzung besser, als viele Versuche und
Jrrwege dies vermögen. Jn der richtigen Erkenntnis, daß die Form eines
Gedichts als Körper desselben nicht ohne Nachteil für dasselbe zerstört werden
darf, hat Pearson das Versmaß der von ihm ins Englische übertragenen
Gedichte sorgfältig beibehalten, so daß die Rückübersetzung verhältnismäßig leicht
erscheint. Z. B. (S. 178):
(Vgl. Mörike:)
The while I sleeping lay,
An hour before the day,
Sang at the window on a tree
A swallow, but scarce marked by
me ─
An hour before the day; u. s. w.
Derweil ich schlafend lag,
Ein Stündlein wohl vor Tag,
Sang vor dem Fenster auf dem Baum,
Ein Schwälblein mir, ich hört' es kaum,
3. Da wir den Übersetzungen aus dem Englischen schon oben Raum
gewidmet haben, so beschränken wir uns hier auf ein einziges Beispiel, um dem
Lernenden Gelegenheit zur Anwendung zu geben.
4. Selbstverständlich muß zur Vermeidung der Monotonie mit den Cäsuren
gewechselt werden.
5. Um die Einerleiheit der Musik zu vermeiden, sind hie und da Anapäste
einzufügen, wie dies das Original ebenfalls gethan hat.
The better land von Felicia Hemans.
„I hear thee speak of the better land
Thou call'st its children a happy band;
Mother! O where is that radiant shore,
Schall we not seek it, and weep no more?
Is it where the flower of the orange
blows,
And the fire-flies dance through the
myrthe boughs?“
„Not there, not there, my child!“
Is it where the feathery palm-trees rise,
And the date grows ripe under sunny
skies?
Or midst the green island on glittering
seas,
Where fragrant forests perfume the
breeze,
And strange bright birds, on their starry
wings,
Bear the rich hues ofall glorious things?“
„Not there, not there, my child!“
„Is it far away in some region old,
Where the rivers wander o'er sands of
gold?
Where the burning rays of the ruby
shine,
And the diamond lights up the secret
mine,
And the pearl gleams forth from the
coral strand,
Is it there sweet mother, that better
land?“
„Not there, not there, my child!“
„Eye hath not seen it, my gentle boy!
Ear hath not heard its deep songs of joy!
Dreams cannot picture a world so fair ─
Sorrow and death may not enter there:
Time doth not breathe on its fadeless
bloom,
For beyond the clouds ond beyond the
tomb,
It is there, it is there, my child!“
1. Übersetzung. Von Gisbert
Freiherrn von Vincke.
2. Übersetzung. Von Ferd. Freiligrath.
NB. 1. Auch bei der vorstehenden Aufgabe ist zunächst wörtlich zu übersetzen,
bevor die metrische Übertragung versucht wird. Den Schluß bildet die
Vergleichung der 1. Übersetzung mit der zweiten von Freiligrath. Diese
Vergleichung wird die Übersetzungsfehler des Anfängers, wie die Vorzüge der
beiden Übertragungen (namentlich der Freiligrathschen) ersehen lassen; sie wird
instruktiver wirken als eine ins Detail eingehende Belehrung.
2. Ähnlich sind die weiteren Übersetzungsstoffe zu behandeln, auf welche
wir unter Ziffer 2 S. 249 verweisen konnten.
Vorbemerkungen.
1. Jn keiner Sprache wird es leichter, gute Verse in jedem Versmaß
und über jeden beliebigen Gegenstand zu schreiben, als in der italienischen.
Sie steht in dieser Richtung allen übrigen Sprachen voran. Jhre Sangbarkeit
und ihr Überfluß an Mitteln befähigt sie, all das leichthin zu sagen, was
Dichter in anderen Sprachen nur nach langem Studium und Nachdenken recht
mühsam zu bilden vermögen, weshalb Jtalien von jeher die berühmtesten Jmprovisatoren
besaß.
2. Es ist daher gerade bei Übersetzungen aus der italienischen Sprache
höchster Wohllaut, Gefälligkeit, Sangbarkeit, Melodie, Modulation des Tons,
Weichheit und Anschmiegen des Ausdrucks zu erstreben.
3. Der Lernende möge das im Bd. I, 531 ff. Gesagte beachten.
4. Ferner möge er nach der im § 40 dieses Bandes gegebenen Praxis
verfahren.
Aufgabe. Das nachstehende berühmteste, bei seiner Entstehung
wahrhaft vergötterte, Sonett von Tasso auf Lucrezia, Herzogin
von Urbino, ist zu übertragen.
Stoff.
Negli anni acerbi tuoi purpurea rosa
Sembravi tu, che a̓ rai tepidi all' ôra
Non apre il sen, ma nel suo verde ancora
Verginella s'asconde e vergognosa:
O piuttosto parei (chè mortal cosa
Non s'assomiglia a te) celeste Aurora,
Che le campagne imperla e i monti indora,
Lucida in ciel sereno e rugiadosa.
Or la men verde età nulla a te toglie;
Ne te, benchè negletta, in manto adorno
Giovinetta beltà vince o pareggia.
Così più vago è il fior poi che le foglie
Spiega odorate; e il sol nel mezzogiorno,
Vie più che nel mattin, luce e fiammeggia.
1. Übersetzung. Von Karl Förster. (Vgl. Auserlesene lyrische Gedichte
von Torquato Tasso. Leipzig 1844. S. 64.)
2. Übersetzung. Von Ph. L. Krafft. (Vgl. Bl. f. bayr. Gymn.
Schulw. 1883.)
* Die Fürstin war 40 Jahre, als ihr Tasso das Sonett widmete.
NB. Zu weiteren Übersetzungsübungen empfehlen sich in aufsteigender
Schwierigkeit:
a. die lyrischen Gedichte von Torquato Tasso (von Gries wie von
Förster übertragen);
b. Petrarca, Rime (Übersetzt von Krigar);
c. Ariosto, Orlando furioso (Übersetzt von Gildemeister);
d. Dante Alighieri (Übers. von König Johann v. S., sowie von
K. G. v. Berneck) &c.
Die Anfänger werden durch Vergleichen ihrer Arbeit mit den erwähnten
Übersetzungen wie von selbst auf die leitenden Gesichtspunkte und Feinheiten
des Ausdrucks &c. gebracht werden und Nutzen ziehen.
Vorbemerkung.
1. Die spanische Sprache, deren Grundlage das Lateinische bildet, gehört
zu den schönsten romanischen Sprachen, weshalb von jeher gern aus derselben
übersetzt wurde. Sie zeichnet sich durch Wohlklang, Umfang (Reichtum), Kraft
und Majestät des Ausdrucks aus. Sie läßt jeden geschriebenen Laut hören.
Sie ist (namentlich seit der verständnisvollen Reform der Orthographie durch
die Akademie im Jahre 1815) die gleichmäßigste und leichteste unter den
modernen Sprachen.
2. Da der Accent bei konsonantisch auslautenden Wörtern auf der
Ultima liegt, sonst aber in der Regel auf der Penultima (jede Ausnahme
wird durch den Akut bezeichnet), so ist die spanische Sprache ungemein leicht
zu lesen und namentlich die Prosodie von Eigennamen bei der Übersetzung
keinem Zweifel unterworfen.
3. Die Erreichung der Treue macht in Hinblick auf den schon durch Luis
de Gongora begründeten sogenannten geschmückten Stil (estilo culto), der
sich nicht selten durch Schwülstigkeit und übertriebene Eleganz breit macht, große
Anforderungen an den Übersetzer, der sich den Geist des Urbilds vermählen [254]
muß, um beurteilen zu können, was wesentlich und was möglicherweise wegzulassendes
Ornament ist.
4. Der Reichtum der spanischen Poesie besteht in Romanzen und in
Liedern. Es giebt viele nationale Sammlungen von Romanzen (Romances),
die man Romanceros nennt. Die Sammlung des Duran ist die klassische
Ausgabe der Romanzen.
Das Lied (Cancion) unterscheidet sich von der Romanze durch seine
Strophen (Coplas), desgleichen die Seguidilla. Alle diese Formen werden
unter dem gemeinschaftlichen Namen Versos de arte menor begriffen. Man
besitzt mehrfache Sammlungen derselben unter dem Namen Cancioneros. Sie
sind wie alle lyrischen Dichtungen der Spanier von einer Tiefe und Glut der
Empfindung, die man nur bei den Südländern trifft. Sie empfehlen sich
daher sehr für die Übertragung in unsere gemütinnige Sprache. Jn neuester
Zeit danken wir die Vermittlung mehrerer derselben Johannes Fastenrath in
seinem Calderonbuch.
5. Als lohnenden Stoff zu Übersetzungsversuchen empfehlen wir den mehrfach
bearbeiteten Romancero del Cid, wobei der Anfänger die bekannte Ausgabe
von Keller mit der Übersetzung von Regis benützen mag. Letztere Übersetzung
fordert mehrfach die Kritik heraus, denn:
a. bietet sie Reime statt Assonanzen,
b. gestattet sie sich unnatürliche Zerreißungen und falsche Trennungen,
c. ist sie hie und da trocken und prosaisch,
d. bietet sie zuweilen prosodische Jnkorrektheiten, z. B.:
Aufgabe.
Stoff. Aus Todas las obras
de Don Luis de Gongora.
NB. Die Orthographie hat der Herausgeber
nach dem gegenwärtig in Spanien herrschenden
Gebrauch abgeändert.
1.
Aprended, flores, de mí
Lo que va de ayer á hoy,
Que ayer maravilla fuí,
Y hoy sombra mia aun no soy.
2.
La Aurora ayer me dió cuna,
La noche ataud me dió,
Sin luz muriera, si no
Me la prestara la Luna,
Pues de vosotras ninguna
Dejad de morir así,
Aprended etc.
Wörtliche Übersetzung.
3.
Consuelo dulce el clavel
Es á la brevedad mia,
Pues quien me concedió un dia
Dos á penas le dió á él,
Efímeras de un vergel,
Yo cardena él carmesí,
Aprended etc.
4.
Flor es el jazmin, y bella,
No de las más vividoras,
Pues vive pocas más horas,
Que rayos tiene de estrella.
Si el ambar florece, es ella
La flor que contiene en sí,
Aprended etc.
5.
El alelí aunque grosero
En fragrancia, y en olor,
Más dias ve que otra flor,
Pues ve los de Mayo entero,
Morir maravilla quiero
Y no morir alelí,
Aprended etc.
6.
A ninguna flor mayores
Términos concede el Sol,
Que al fecundo Girasol
Matusalen de las flores,
Ojos son aduladores
Cuantas en él joyas ví,
Aprended etc.
Übersetzung. Von Em. Geibel.
Ein Eintagsglöckchen spricht:
1.
2.
3.
4.
5.
Zur Beurteilung des Originalgedichts und der Übersetzung.
1. Dieses Gedicht ist eine Art Zadschal (Klanggedicht) oder Muwaschaha,
welche beide freundliche, sich gleichende, arabisch=spanische Volksliedformen wir
unseren Dichtern zur Einführung in die deutsche Litteratur sehr empfehlen
möchten. Das unterscheidende Kennzeichen ist, daß ein Reim oder ein Reimkomplex
in einer Einleitungsstrophe, welche man auch das Thema nennen
könnte, auftritt, dann von andern Reimen unterbrochen wird, aber am Ende
jeder Strophe wiederkehrt und den Schluß des Ganzen bildet; die Anordnung
im einzelnen und die Wahl des Metrums bleibt dem Belieben des Dichters
anheimgegeben. (Vgl. für Näheres v. Schack „Poesie und Kunst der Araber
in Spanien und Sicilien“ 1865. Bd. II, S. 52 und 128 ff.)
2. Geibels Strophen weichen vom Original ab, dessen didaktische, die
Pointe des Ganzen enthaltende kurze Eingangsstrophe gekreuzte Reime hat,
während die übrigen Strophen Zehnzeilen sind mit dem Schema: a b b a a c c b c b,
oder (falls nur die 1. Zeile der Einleitungsstrophe wiederholt wird) Siebenzeilen
mit dem Schema: a b b a a c c.
3. Geibel giebt in der Einleitungsstrophe 2 Reimpaare; an Stelle der
Zehn= (oder Sieben=) Zeilen bietet er Achtzeilen.
4. Bei den letzteren nimmt er vom Strophenschema des Originals die
erste Hälfte a b b a und bildet die 2. Hälfte nach der kurzen Einleitungsstrophe
des Originalgedichts mit gekreuzten Reimen.
5. Wie das Original, wechselt auch die Übersetzung in den einzelnen
Strophen das Reimgeschlecht.
6. Um sein Maß (die Achtzeile) zu füllen, muß der Übersetzer häufig
den Stoff strecken. So ergeben ihm: in der 1. Strophe die 1. und 4. Zeile;
in der 4. und 5. Strophe je die 6. Zeile den Stoff zu je 2 Zeilen; in der
3. Strophe umschreibt er die 5. Zeile sogar durch 3 Verse.
7. Zu Strophe 1 und 5 des Urbilds. Maravilla bedeutet (in
der 1. Strophe) das Wunder. Es ist aber auch ein Blumenname mit verschiedenen
Bedeutungen. Jn der fünften Strophe scheint es „die peruanische [257]
Wunderblume“ (lat. mirabilis jalappa) zu bedeuten, eine hell=violette nur
wenige Stunden blühende Zierpflanze. Geibel übersetzt Tausendschön, worunter
wir ebenso eine unter dem Namen Amarantus beliebte Fuchsschwanz-Spezies
verstehen könnten, wie unser allbekanntes Gänseblümchen. Aber beide kann der
Dichter nicht gemeint haben, da ihnen die Merkmale violett, kurze Dauer &c.
fehlen.
8. Zu Strophe 6. Joyas heißt Geschmeide, ferner bedeutet es Belohnung,
Kampfpreis, sowie endlich auch die Garderobe, welche eine Frau mit
in die Ehe bringt.
Es wird uns schwer, einen eigentlichen, dem Ganzen logisch entsprechenden
Sinn in die beiden letzten Zeilen dieser Strophe zu bringen. Vielleicht ist es
unserem Geibel ebenso gegangen, weshalb er bei seiner Übersetzung des obigen
Gedichts die letzte Strophe ganz und gar weggelassen hat.
9. Auf den unreinen Reim in der 1. Strophe, auf die Thesisstellung
von „der“ in der 3. Zeile der 3. Strophe u. a. brauchen wir den Lernenden
auf dieser Stufe nicht mehr aufmerksam zu machen.
Weitere Stoffe zur Übersetzung.
Der Anfänger im Übersetzen möge sich aus irgend einer Bibliothek die
im Register des spanischen Liederbuchs von Geibel und Heyse verzeichneten
spanischen Originalgedichte verschaffen, und seine Übertragungen mit den Musterübersetzungen
Geibel's und Heyse's vergleichen, um zunächst deren Vorteile sich
anzueignen.
Um sodann zur Höhe der Übersetzungskunst aus dem Spanischen vorzuschreiten,
empfiehlt sich besonders die Übertragung der vielen herrlichen Oktaven,
Sonette und Terzinen des Lope de Vega Carpio, welche sich im 4. Bande der
Coleccion de las obras sueltas &c. Madrid 1776─79 finden und in jeder
größeren Bibliothek anzutreffen sind u. a.
Vorbemerkung.
1. Die aus einem römischen Provinzialdialekt (lingua Romana rustica)
entstandene portugiesische Sprache ist eine der schwierigsten modernen Sprachen,
was Bau und Aussprache betrifft, weshalb sie besonders hohe Anforderungen
an den Übersetzer stellt.
2. Es ist ungemein erschwerend, daß z. B. einige Präpositionen mit dem
darauf folgenden Artikel verschmolzen sind, daß Adjektive (ähnlich wie im Französischen)
bald vor bald nach dem Substantiv stehen, daß die persönlichen Fürwörter
dem Zeitwort, von dem sie regiert sind, oft angehängt werden, daß
die Possessiva den Artikel vor sich haben, daß der Gebrauch der Zeitformen
ein ganz freier ist u. a. m.
3. Durch ihre überreichen weichen und süßen Klänge erhält die Sprache
ein unmännliches, kraftloses Gepräge, was der deutsche Übersetzer sehr beachten
muß, um bei der Übertragung keine Fehlgriffe zu thun.
4. Dem Anfänger raten wir zur Übersetzung: die Lusiaden des
Camoëns, welche alle Vorzüge der portugiesischen Sprache vereinen, dabei
durch ihren Jnhalt, durch ihre glühende Vaterlandsliebe, durch ihre fesselnden
Bilder löwenkühnen Mutes im Kampfe gegen die Mauren und zur See in
Sturm und Schiffbruch, wie durch ihre Verehrung alles Schönen (also auch
der Frauenschönheit) eine ungemein lohnende Übersetzungsaufgabe ergeben.
5. Als Probe bieten wir eine Strophe, welche zu den schönsten unter
allen Lusiaden-Strophen gehört und in der That durch ihre Malerei, Musik
und Lebensweisheit als die beste, echteste Camoënsstrophe für alle Zeiten gerühmt
werden kann.
Aufgabe.
Eröffnungsstrophe des 4. Gesangs der Lusiaden des Camoëns.
Stoff.
Despois de procellosa tempestade,
Nocturna sombra, e sibilante vento,
Traz a manhã serena claridade,
Esperança de porto e salvamento:
Aparta o sol a negra escuridade,
Removendo o temor do pensamento:
Assi no reino forte aconteceu,
Despois que o rei Fernando falleceu.
1. Übersetzung. Von Booch-Arkossy.
2. Übersetzung. Von R. Avé=Lallemant.
Zur Würdigung dieser Strophe schreiben wir aus Os Luisiadas von
Fonseca S. 472 her:
Despois de procellosa tempestade,
Nocturna sombra, e sibilante vento,
Traz a manhã serena claridade,
Esperança de porto e salvamento.
»Os dous primeiros versos são tam sonoros, que parece se estão
ouvindo os brados de uma tempestade, no final do primeiro, e um
surdo estrondo, que succede aos bramidos do vento, no final do
segundo: seguese depois uma pintura a mais cheia de alegria e
amenidade: ella faz com a precedente um maravilhoso contraste, e
gradação de côres: n'isto é que se conhece o grande homem, o
verdadeiro poeta: onde falta esta preciosa qualidade, não ha
poesia.«
Francisco Dias Gomes, Analyse, p. 136.
Removendo o temor do pensamento.
»Removendo o temor ao pensamento, como lêem a maior parte
das edições, não me parece boa syntaxe; por isso corrigimos como
vai no texto. A troca de um a por um d em caracteres italicos,
como são os das duas primeiras edições, e tam imperfeitas, era muito
facil de ser commettida pelos typographos. Esta mesma lição é
tambem da edição de 1651, ja per nós indicada como de todas a
menos incorrecta.« (Nota do editor da ediçao Rollandiana de 1843.)
NB. 1. Da die ganze portugiesische Litteratur kein zweites Werk von
dem Werte und der Bedeutung der Lusiaden hat und die vor mehr als
300 Jahren geschriebenen Strophen auch heute noch der mustergültige und unübertroffene
Schatz der portugiesischen Sprache sind, so möge der Anfänger versuchen,
die Lusiaden vollständig nach der Ausgabe von José de Fonseca (Paris
1846) zu übersetzen und dabei zu vergleichen neben den Übersetzungen von
Kuhn und Winkler (1802), Heyse (1807), Donner (1834) &c., besonders die
Übersetzungen von Booch-Arkossy (1854, 2. Aufl. 1857) und von Eitner (1872).
2. Auch die von Arentschildt (1852) gut übertragenen Sonette des
Camoëns ergeben ein wertvolles Material, um zur Übersetzungskunst zu
führen. Desgleichen Bellermann, portugiesische Volkslieder und Romanzen
(1864) mit gegenübergestelltem Urtexte.
Vorbemerkung.
1. Die mit dem Dänischen, Norwegischen (und durch dieses mit dem
heutigen Jsländischen) verwandte schwedische Sprache ist uns wegen ihres nordgermanischen
Ursprungs sympathischer, als jede andere Sprache. Viele Wurzeln,
Formen, Ausdrucksweisen, Wendungen &c. tragen noch ihre Abstammung
auf die Stirn geschrieben. Mehrere Vokale lauten wie im Deutschen. Ferner
sind die 3 Geschlechter des Substantivs, die Tempora und Modi und der Gebrauch
der Hilfszeitwörter dem Deutschen entsprechend geblieben u. s. w.
2. Für den jüngeren deutschen Dichter wird sich die Übertragung der auch
in Deutschland vielverbreiteten, wirklich formenschönen Lyriken König Oscars II.
empfehlen, die sich durch ungekünstelten, fließenden Ausdruck und naturwahre
Bilder, durch verständnisvollen Vers- und Strophenbau, sowie durch eine, dem
gut deutsch sprechenden fürstlichen Autor eigene, dem deutschen Gefühlsleben
verwandte Tiefe der Empfindungsweise auszeichnen, und für welche zur Vergleichung
die gute Übersetzung von Emil J. Jonas (Berlin 1877) vorliegt.
Aufgabe. Nachstehendes, durch sein strophisches Charakteristikum
sich auszeichnende Gedicht soll ins Deutsche übertragen werden.
Stoff.
Bilden.
Gud sade: varde ljus! Och det
vardt ljus.
Utöfver djupen tidens morgon
grydde,
Men jorden af beundran stum
Förnam de rika under, som hon bar,
Och glädjetaͦrar saͦgos paͦ dess kinder
glimma.
Fraͦn höjden dagens härold blickar
ned,
Ur natten träda fram de sköna
former
Bestraͦlade af solens glans;
Sjelf tronar han i en omätlig rymd,
Ett herrligt segertecken i den högstes
tempel.
Lösung. (Vergleiche Gedichte von
Oscar II., König von Schweden und
Norwegen.)
Das Bild.
Det blaͦa fästet, trohetens symbol,
Nu öfver haf och land sin kupa
sträcker;
Och rodnaden vid österns bryn
Mot fjellens moln i vester bryter sig,
I vaͦrens milda grönska hoppet ler
saͦ vänligt.
Paͦ hällens brant och i den gömda
bädd,
Som faͦras djupt af forsens yra
hvirflar
Den ädla malmen skymtar fram,
Och yppig sädesskörds fullmogna
guld
Vid arlafläktens smekning synes
bäfva.
Orangen glöder vid Astræas kyss
Och kokar sina ljufva safter samman,
Ett söderns skötebarn den är.
Ej mindre skön, men mera blyg
och mild,
En nordisk juniqväll i knopp staͦr
violetten.
Mot ljuset vänder rosen daggstänkt
kalk,
Och gräset spirar fram i dalens sköte
Vid foten af en löfrik höjd,
Ifraͦn hvars topp den silfverklara
bäck
Mot insjöns svala famn bland tufvor
smaͦ sig kröker.
Paͦ andra stranden, mer i fjerran,
syns
Den dunkla barrskog resa sig ur
vaͦgen;
Hur högväxt, allvarsam den staͦr
Och sluter tyst sin dunkla krans
omkring
Det djerfva fjell, hvars spets bland
skyarne försvinner.
Naturen sinnrikt tecknat hvar gestalt
För den, som vill dess höga inskrift
känna,
Som ej blott skaͦdar slumpens
nyck,
Men vishet, hopp och kärlek skymta
fram
Paͦ dunkla grunden af förgänglighetens
tafla!
Ej strax ditt öga genomtränger allt,
En töckenslöja ofta täcker tingen:
Sjelf himlen sveper sig i moln;
Betrakta dock sjufärgad baͦges bild,
Ett naͦdens tecken: ljusets seger
öfver mörkret.
Betrakta blomman, kastad för din
fot,
Den höga ekens kamp med vilda
stormen;
De tala om ett fängsladt lif,
Hvars frö fraͦn himlen föll till jorden
ned
Att gro och spira upp i skiftande
gestalter.
En vingad blomma, fjäriln fladdrar
kring,
Det stolta lejon majestätiskt skrider;
Hvad rikedom, hvad rörlighet
I oceanens djup och i den rymd,
Dit djerft sig svingar upp den konungsliga
örnen!
Till ständigt högre former lifvet
gaͦr;
Men ack, den stora taflan är ej färdig,
Och sjelfva kronan fattas än,
Till dess ditt öga skaͦdat menniskan,
Som andens prägel bär uti de ljufva
dragen.
Hur maͦnga seklers skiften vexlat
om
Paͦ tidens bana, hvälfvande sig
framaͦt,
Alltsedan hon fraͦn Eden gick,
Och fjerran fraͦn den ljusa morgonstund,
Daͦ oskuldsfull och ren hon stod för
Herrans aͦsyn.
Ännu, ännu hon kan dock skaͦda
upp
Mot fadersögat, som i himlen vakar,
Och än med kärlek bedja den,
Som henne straffat, ej förskjutit
har,
Och saͦ hon kan sin första ursprungshöghet
röja!
NB. Der Anfänger, welcher sich durch Übersetzungen der instruktiven Gedichte
König Oskars II. in die Geheimnisse der Übertragung aus dem Schwedischen
eingeführt hat, möge nunmehr einzelne bekannt gewordene lyrische Stücke der
sog. Phosphoristen Atterbom und Dahlgren, oder vom großen schwedischen
Romantiker Almqvist wählen. Sodann versuche er die Verdeutschung von
Tegners Frithjofsage. Um sich zum Übersetzer auszubilden, vergleiche er Vers
für Vers die Verdeutschungen von Amalie von Helwig, Mohnike, Leinburg,
Simrock, Zoller u. a. Wenn er peinlich genaue Kritik übt, so wird er bald
die Schwächen der einzelnen Übersetzer erkennen, die Vorteile der anderen sich
aneignen und zweifelsohne zu jener Übersetzer-Tüchtigkeit und Routine gelangen,
die in ihrer der Form wie dem Geist des Urbilds Rechnung tragenden Vollendung
Anspruch auf Anerkennung zu machen berechtigt ist.
(Beispiele für noch weitere Sprachen zu geben, kann nach der Ausführung
S 198 dieses Bandes nicht unsere Absicht sein. Wer uns folgte, wird bei
Anwendung der von uns zum erstenmal [in ihrer Vereinigung] entwickelten
Übersetzungsgrundsätze imstande sein, mit Erfolg die Übertragung aus jeder
ihm geläufigen fremden Sprache zu versuchen!)
1. Man teilt in vielen Kreisen immer noch die von der sog. Jdentitätsphilosophie
ererbte Ansicht, daß dem dichterischen Jngenium die Verse ohne
weiteres in vollendeter, glatter Form mühelos entquellen, daß der Dichter sie
infolge höherer Jnspiration improvisatorisch ─ so zu sagen ─ aus dem Ärmel
schüttle u. s. w.
2. Aber wir haben schon mehrfach (z. B. I. 2, 27─32 dieser Poetik,
sowie S. 22 der 3. Aufl. unserer „Erziehung zur Vernunft“) darauf hingewiesen,
daß die größten Dichter den angestrengtesten Fleiß auf ihre Schöpfungen
verwenden, wenn sie es auch für überflüssig finden, von ihren stillen Mühen
zu sprechen.
3. Wir vermögen die Behauptung zu erhärten, daß Lieder von leichten,
geringen Formen, oder auch scheinbar flüchtig hingeworfene größere Dichtwerke
der gefeiertsten Dichter aller Zeiten unendlich sorgfältig gefeilt und überarbeitet
wurden. (Vgl. S. 275.)
4. Jhr Beispiel möge genügen, dem Anfänger die Notwendigkeit der
Selbstkritik und der dichterischen Feile zu illustrieren.
5. Dasselbe möge auch das Verlangen nach festen Normen für die Selbstkritik
begründen, wie wir solche auf Grund gewissenhafter Vergleichung dichterischen
Materials im Nachstehenden lehren und praktisch nachweisen wollen.
1. Man entwerfe und schreibe („schleudre“) das Gedicht hin, wie es
nach Maßgabe seiner Veranlassung kommen mag. Je geübter oder talentvoller
der Dichter ist, desto weniger wird er zu fürchten brauchen, daß er etwas im
Bau verfehle.
2. Man lasse dieses flüchtig hingeworfene Gedicht einige Zeit ruhen.
3. Sodann prüfe man es zuerst auf den Bau: ob es architektonisch
richtig sei, ob es nicht an Mißverhältnis seiner Teile leide, hier zu lang, dort
zu kurz sei &c.
4. Man schneide weder zu viel weg, noch setze man zu viel an.
5. Man sehe vor allem darauf, daß der Gedanke klar heraustrete,
und daß die Empfindung sich steigere.
6. Man streiche schonungslos alle falschen Bilder oder die allzureiche Fülle
der guten.
7. Dann gehe man an die Verbesserung der Worte, der Verse, der
Reime, der Strophen &c. (Vgl. Ziffer 1 des folgenden §.)
8. Man vergesse nicht, daß die kleinste Änderung nach vorne und nach
rückwärts wirkt, nicht bloß auf die geänderte Stelle. Man halte sich also
immer den Bezug des Ganzen auf die Teile und der Teile auf das Ganze
gegenwärtig.
Exempla docent! Der bekannte österreichische Dichter Faust Pachler
versichert uns, daß er bei seiner Ausgabe von Halms Gedichten im Nachlaß
vier Bearbeitungen eines und desselben Gedichts vorgefunden habe, darunter
eine, die offenbar Halms Liebling gewesen sei, in einem neuen Versmaß.
Pachler gab sich Mühe, das Gedicht zu retten. Es war sehr lang und
unklar. Pachler schnitt vorne und hinten ab und ließ in der Mitte weg.
Sein Mitherausgeber war einverstanden; nur Pachler selbst war mit seiner
Thätigkeit noch unzufrieden. Er nahm daher einige weggelassene Strophen
wieder auf. Dann stellte er in dieser 2. Textgestaltung eine andere Strophenfolge
her und jetzt war das Gedicht plötzlich gut, ohne daß er ein Wort zu
ändern brauchte.
Auch bei seiner schönen poetischen Erzählung Anahid, die so eben im
Deutschen Dichterbuch aus Österreich (herausgegeben von Franzos 1883) erschien,
hat Pachler nach dem uns vorgezeigten Material rücksichtslos gearbeitet,
bis sie ihre ergreifende Gestalt erhielt. Er schuf mehrere Strophen um, fügte
eine ganz neue Strophe ein, stimmte das Ganze im Ausdruck poetischer, änderte
den Titel und neuerdings sogar den Namen der Heldin. Lehrreich für jeden
Überarbeiter ist es hierbei, daß der sorgsame Dichter doch noch (und zwar gleich
in der 1. Strophe) einen zu langen Vers übersah.
1. Jm Folgenden suchen wir den Nachweis zu liefern, wie die namhaftesten
Dichter die Feile anwandten, wie sie ─ nachdem der Gedanke in
die rhythmische Form gegossen war ─ mit der Selbstkritik begannen, um nunmehr
entweder einzelne Bilder zu ergänzen, zu klären, durch malende Worte
zu verschönen, oder den Versbau, die Strophenform, den Reim zu verändern,
und ihr Gedicht auf eine möglichst hohe Stufe der Vollendung zu heben.
2. Zugleich suchen wir die Methode der Feile zu zeigen und die praktische
Anleitung zu derselben zu bieten.
3. Jn systematischer Folge führen wir demnach an den besten Beispielen vor:
I. Die Feile an einzelnen Versen und Strophen;
II. Die Feile in Überarbeitung ganzer eigener Gedichte;
III. Die Feile in Überarbeitung fremder Schöpfungen.
§ 94. I. Feile einzelner Verse und Strophen.
Aus: „Die Jdeale“.
Ursprüngliche Fassung.
Verbesserung und Feile Schillers.
Beleuchtung einzelner Momente der Feile.
Durch die bessernde Feile haben diese Strophen viel gewonnen. Wenn
in der ersten Fassung die beiden Bilder der Verse 5─8 auseinanderfallen
und die Verse 9─12 wenig mehr sind als die Erklärung der vorhergehenden
4 Verse, so nimmt der Dichter in der zweiten Bearbeitung die Verse 5─12
der ersten Fassung in 4 Verse zusammen, um hierdurch die erste Strophe inhaltlich
abzuschließen. Sodann beginnt er die zweite Strophe mit einem neuen
Bilde, welches die Schlußverse der 2. Strophe zur schönen Geltung kommen
läßt und der Strophe selbst durch die Einheit des Bildes einen harmonischen
Abschluß verleiht.
Aus: „Oberon“ (Zehnter Gesang, Stanze 2).
Ursprüngliche Fassung.
Verbesserung und Feile
Wielands.
Beleuchtung einzelner Momente der Feile.
Jn der ersten Fassung sagt der Dichter: „Ein eisernes Geschick stößt sie
(Titania), sobald sie sich ihm (dem an den Baum Gebundenen) nähern will,
zurück“; aber es stört ihn sodann, bei einer Elfenkönigin von Geschick zu
sprechen. Er empfindet etwas wie unrichtige Auffassung und begründet in
richtiger Erkenntnis die Situation durch die Worte: „Ein stärkrer Zauber.“
Diese Verbesserung zwingt ihn, auf den früheren Reim zu verzichten; er wählt
ein neues Reimpaar und ändert zur Erreichung des Anschlusses auch die vorhergehenden
Worte. Und wie er nun auch hier überlegend anhält, empfindet
er gegenüber dem Ausdruck „schwellen“ die Bezeichnung „von Mitgefühl“ als
matt. Sofort greift er eine ganze Tonlage tiefer, indem er ein „inniges Erbarmen“
obwalten läßt, das durch das „zarte“ (Herz) noch wirkungsvoller
hervortritt. Dadurch gelangt der poetische Gedanke in reinerer und natürlicherer
Form zum schönen Ausdruck.
Zum Schluß wird wohl der Hinweis nicht überflüssig sein, wie verständnisvoll
der Dichter durch seine Besserung auch die Lautmalerei übte, um
Wohllaut wie Klangschönheit zu erzielen (Poetik I, 119). Während die ursprüngliche
Fassung vier i, zwei ä und zwei dumpfe a (mit darauffolgendem n)
aufweist, vermindert die Änderung die Zahl der farblosen i und führt zwei
offene, volle, klare a (mit darauffolgendem r) ein.
Man erkennt, daß Wieland zwischen ar und an denselben Unterschied
macht, wie er in Wirklichkeit z. B. im schwäbischen Dialekt besteht &c.
Die Küsse.
Nach dem Druck von 1751.
1.
2.
3.
4.
5.
Verbesserungen von 1753.
Beleuchtung einzelner Momente der Feile.
Man beachte, wie die wenig belangreichen Änderungen Lessings durchweg
nur die Bestimmung haben, tonlose Wörter durch gefällige zu ersetzen, oder
prosaischen Wendungen eine bessere Form zu geben. Uns erscheint „lobt und
lobend liebet“ besser als die Änderung: ein deutliches Beispiel, daß man bei
der Feile auch verschlechtern kann. „Lobt und liebet“ sagt nichts; zum mindesten
ist es matt. „Lobend liebet“ hat eine Zärtlichkeit, die dem andern
Ausdruck fehlt. Die Form giebet ist heutzutage fehlerhaft. (Sie war in der
damaligen Zeit gebräuchlich und kommt bei Lessing auch in der Prosa vor.)
Jn der 3. Strophe schiebt der Dichter zur Vermeidung des zweimaligen
Wortes loben („lobt und lobend &c.“) die Worte „sein Söhnchen“ ein.
Jn der 5. Strophe ist insbesondere die Änderung des Namens auffallend.
Lessing hatte im ersten Entwurf von 1747 „Doris“ stehen; 1751 änderte
er dies ab und schrieb „Phyllis“; 1753 endlich finden wir „Lesbia“. Die [269]
beiden ersten Namen sind jedenfalls nur solche, die in den Gedichten jener
Periode jeweilig die beliebtesten waren; der letztere („Lesbia“) aber scheint
hauptsächlich deshalb gewählt worden zu sein, um den störenden Artikel („die
Phyllis“) zu vermeiden &c.
Aus: „Der jetzige Krieg“.
Erste Fassung.
Verbesserung und Feile
Klopstocks.
Beleuchtung einzelner Momente der Feile.
Das Gedicht ist in freien, antikisierenden Versen (vgl. Poetik I, 524)
geschrieben und gestattet daher beliebige Änderungen.
Um den vollen Nachdruck auf das dem Dichter verhaßte Wort „Krieg“
zu legen, kürzt er im ersten Verse und schlägt das weggenommene Stück zum
folgenden Verse. Jn umgekehrter Weise verlängert er Vers 7, um dadurch
das Wort „Gottesleugner“ in seiner ganzen Wucht wirken zu lassen und auch
einen knapperen, schöneren Abschluß zu erzielen.
Jm Vers 3 und 4 verarbeitet er den störenden Zwischensatz („wen die
Heitre des goldenen Tages labt“), um die zweite Strophenhälfte aus einem
Gusse zu gestalten.
Aus „Männer und Buben“.
Ursprüngliche Fassung. Strophe 7.
Verbesserung Körners.
Beleuchtung einzelner Momente der Feile.
Zum Verständnis der ursprünglichen Lesart ist zu bemerken, daß das
Gedicht „Männer und Buben“ dem Nachlasse des Dichters entstammt.
Wie Körner in patriotischer Begeisterung die Worte etwas zu stark gewählt
hat und sich zu einem unschönen Bilde hinreißen ließ, so hat er in ruhiger,
objektiver Würdigung die unästhetische Wirkung seines Ausdrucks warm empfunden.
Aus diesem Grunde erfolgte seine Änderung, und es unterliegt wohl keinem
Zweifel, daß er nur die redigierte Form der Nachwelt überliefert haben würde,
wenn die Übergabe des Gedichtes zum Druck vom Schicksal ihm vergönnt
worden wäre.
Scheiden von Jhr.
Erste Fassung.
Verbesserte Fassung Mörike's.
5
10
15
20
25
30
35
Beleuchtung einzelner Momente der Feile.
Man bemerke bei diesen Accentversen Mörike's, wie der Dichter das Wort
(V. 14) „stille“ getilgt hat, um einen schönen Abschluß zu erzielen. Durch
Verkürzung des 14. Verses um einen Takt wird der Tonfall ein reinerer, auch
wird der traurige Auszug durch die rascher abfallende Kürze besser hervorgehoben.
Die folgenden Verse (15 ff.) sind in der ersten Fassung mit vielen mosaikartigen,
kleinlichen Bildern überladen, die den eigentlichen Gedanken verschlingen
oder nur mangelhaft zu Tage treten lassen; schön, einfach und edel ist dagegen
die vereinfachte Form der Änderung gehalten, durch welche nunmehr Sehnsucht
und Heimweh ergreifend ausgedrückt werden.
Man beachte noch den Grund verschiedener Streichungen, besonders auf
Zeile 9 und 10.
Aus der Terzinendichtung: „Die treuen Blumen“.
Ursprüngliche Fassung in
Cornelia 1816.
Änderung und Feile Fr. Rückerts.
Beleuchtung einzelner Momente der Feile.
Rückert ändert und wirft mit kühner Hand eine ganze Strophe weg. Was
er von derselben verwenden kann (den Terzinenreim) nimmt er in die dritte [273]
Strophe mit hinüber, um dieselbe mit der ersten zu verketten. Der sachliche
Grund der Änderung liegt auf der Hand. Rückert hat hunderte solcher Änderungen,
Streichungen &c. in Ausübung einer schonungslosen Selbstkritik und Feile
angebracht. Dieselben finden sich in des Verfassers Werk „Neue Mitteilungen
Fr. Rückerts und kritische Gänge und Studien“ Bd. II, S. 122─209 in
ihrem ganzen Umfang für eine zu erhoffende textkritische Ges.=Ausg. unter der
Überschrift verzeichnet: „Kritischer Nachweis zu Fr. Rückerts ges. Gedichten; bearbeitet
nach der Reihenfolge der Erlanger und Frankfurter Ausgabe.“
Für Handhabung der Feile läßt sich aus diesem Kapitel ungemein viel
lernen, weshalb wir den jungen Dichter angelegentlichst darauf verweisen.
Nicht immer gelingt dem Dichter ein einzelnes Gedicht derart, daß es
ihn vollständig befriedigt. Trotz aller Verbesserungen stört ihn ein unnennbares
Etwas, das er im Augenblick des Schaffens nicht zu beseitigen weiß. Oft
scheint ihm der Gedanke zu weit ausgesponnen, oder er hält mit einem Male
das Bild nicht mehr treffend genug aufgefaßt; oder es stört ihn der Rhythmus,
oder sein gewähltes Schema, bis ihn zu guter Stunde der selbstkritisierende
Geist der Erleuchtung überkommt. Wir erhärten dies an einem Beispiele
Lessings.
Der Schwur von Lessing.
Erste Fassung. 1753.
Der schwörende Liebhaber.
Lessings verbesserte Fassung. 1771.
Beleuchtung einzelner Momente der Feile.
Die erste Strophe sagt inhaltlich wenig mehr, als die zweite. Lessing
konnte leicht auf sie verzichten, da er ihr neues (das einzige Wort treulos)
der zweiten Strophe leicht einzuverleiben vermochte. Während er nämlich in
der 2. Strophe ursprünglich sagt: „Jch schwör' es jedes Kind zu hassen; [274]
denn jedes ist wie du“, wird er jetzt deutlicher, indem er für „jedes Kind“
„jede Schöne“ einfügt und als Grund des Hasses die Treulosigkeit nennt.
Zu bemerken ist, daß der späteren Fassung die witzige Antithese der
ersten abgeht.
Es kommt nicht selten vor, daß spätere Dichter die Gebilde früherer
Dichter überarbeiten und sich zu eigen machen. Dem Anfänger ist davon abzuraten;
nur ein anerkannter Meister mag sich dies erlauben. Um aber zu
zeigen, auf welche Weise dies geschehen kann, bringen wir unter Verweisung
auf Rückerts Parabel (vgl. Poetik II, S. 169), auf Goethe's Heideröslein,
auf die Königskinder (Poetik II, S. 86) noch eine instruktive Überarbeitung
zum Abdruck.
Aus: „Abschied von der ungetreuen
Liebsten.“
Von J. Chr. Günther († 1723).
Wie gedacht,
Vor geliebt, jetzt ausgelacht:
Gestern in den Schoß gerissen,
Heute von der Brust geschmissen,
Morgen in die Gruft gebracht.
Und wie bald
Mißt die Schönheit die Gestalt?
Rühmst du gleich von deiner Farbe,
Daß sie ihresgleichen darbe,
Ach die Rosen werden alt.
(NB. Das ganze Gedicht hat 9
Strophen.)
Reiters Morgengesang.
Von W. Hauff († 1827).
Kaum gedacht,
War der Lust ein End gemacht.
Gestern noch auf stolzen Rossen,
Heute durch die Brust geschossen,
Morgen in das kühle Grab!
Ach, wie bald
Schwindet Schönheit und Gestalt!
Thust du stolz mit deinen Wangen,
Die wie Milch und Purpur prangen?
Ach, die Rosen welken all!
Beleuchtung einzelner Momente der Feile.
Das Original ist künstlicher gereimt. Die Schlußzeile jeder Strophe
reimt mit der 1. Zeile. Diesen Reim schenkt sich Hauff. Der unreine Reim
streiten ─ erleiden kann passieren, nicht aber blasen ─ lassen.
Es dürfte nicht schwer werden, die Zahl der im Vorstehenden gegebenen
Beispiele um ein Bedeutendes zu vermehren und nachzuweisen, welch gewaltige
Arbeitskraft unsere hervorragendsten Dichter auf die Selbstkritik und Bethätigung
dichterischer Feile verwandten. Beispielsweise sei nur noch folgendes erwähnt:
Heine hat nachweislich manche seiner kleinen Lieder drei- und viermal
umgearbeitet.
Schiller hat an seinem „Liede an die Freude“ drei Tage lang herumgefeilt,
wobei er es dem (in unseren „Nachgelassene Gedichte Fr. Rückerts“
näher charakterisierten) Fr. Schimper noch nicht einmal recht machte.
Goethe hat manche Dichtung mehrfach überarbeitet. Den Götz hat er
z. B. dreimal umgestaltet (vgl. die Bächtoldsche Ausg. in 3facher Gestalt
1882); die Jphigenie schrieb er sogar viermal um. (Der erste in der
Berl. k. Bibliothek als Nr. 634 aufbewahrte Prosaentwurf, den Goethe vom
14. Febr. bis 28. März 1779 herstellte, war ihm lediglich „eine Skizze,
bei welcher zu sehen sei, welche Farben man auflege“. Der Dichter
suchte zu erweitern, indem er im Frühling 1780 eine zweite, in der Dessauer
Bibliothek als Nr. 121 aufbewahrte Bearbeitung in freien Jamben lieferte.
Das Streben, „mehr Harmonie im Stil herzustellen“, veranlaßte die
vom April bis Nov. 1781 entstandene dritte Bearbeitung [in Prosa], welche
1839 von Stahr herausgegeben wurde und 1842 in Goethe's nachgelassenen
Werken erschien. Goethe nennt dieselbe Lavater gegenüber nur eine flüchtige,
obwohl sie wesentliche Erweiterungen und sorgfältige Verbesserungen enthält.
Die endgültige, vollendete Gestalt im jambischen Quinar gab Goethe
der Jphigenie vom September bis Dezember 1786 während der italienischen
Reise. „Sie quillt“ ─ so schreibt er an Karl August ─ „auf, das stockende
Silbenmaß wird in fortgehende Harmonie verwandelt.“ Diese letzte Redaktion,
welche Goethe mit dem Namen „Schmerzenskind“ belegte [ein Beweis der ihm
durch sie erwachsenen Mühen], wurde ─ wahrscheinlich mit Herders Verbesserungen
─ zum erstenmal an der Spitze des 3. Bandes seiner Schriften
[Leipzig, Göschens Verlag 1787 S. 1─136] veröffentlicht.)
Johannes Minckwitz, der die „nachhinkende“ Feile sehr lobenswert
findet, sofern sie nur geschickt angewandt wird, meint (in seiner, nur in
100 Ex. gedruckten verdienstlichen Schrift „Die höhere Lyrik“), daß Horaz
an seinen im Stil so vollendeten Oden ─ hier den Text ausfüllend, dort
manche Strophe wegstreichend ─ gefeilt und gemeißelt habe, so lange er
lebte. Auch die Kolonnen der Rhapsoden hätten im Laufe so langer Jahrhunderte [276]
an den Hexametern des Homer, welche doch als die volkstümlichsten
aller Volksweisen dastehen, fort und fort geschliffen.
Von Ariost ist bekannt, daß er die wundervolle Sprache seines Weltepos
unermüdlich gefeilt und verbessert hat.
Und von Metastasio wird durch seinen Landsmann Casanova mitgeteilt,
daß er als Antwort auf die Frage, ob ihm seine schönen Verse viel Mühe
gekostet hätten, vier bis fünf stark radierte Seiten gezeigt habe, welche
er gebraucht hätte, um vierzehn gute Verse ─ das höchste Pensum eines
Tages ─ zu vollenden. „Dadurch“ ─ so versichert Casanova ─ „bestätigte
Metastasio eine Wahrheit, welche mir schon bekannt war: daß nämlich diejenigen
Verse, welche einem Dichter die meiste Mühe kosten, gerade
diejenigen sind, welche die Mehrzahl der Leser leicht hingeworfen
hält.“
Den Jnhalt und Geist all dieser hervorragenden Muster der Selbstkritik
und der Feile enthält Lessings klassischer, in seiner Nutzanwendung unschätzbarer
Ausspruch, den wir ─ einem Motto ähnlich ─ über jeder Dichterthüre
in goldenen Lettern erblicken möchten, und mit dem wir daher das
letzte Hauptstück dieses Bandes wie unser ganzes System einer Deutschen
Poetik abschließen:
„Veränderungen und Verbesserungen, die ein Dichter
in seinen Werken macht, verdienen nicht allein angemerkt,
sondern mit allem Fleiße studiert zu werden.
Man studiert in ihnen die feinsten Regeln der Kunst;
denn was die Meister der Kunst zu beobachten für gut befinden,
das sind Regeln!“ ──────