1803, December (?).


Bei Johann Heinrich Voß

Welchen herrlichen Abend hatten wir [Familie Voß] neulich durch Goethe, der um 7 Uhr kam und sich selbst zum Abendessen meldete. Er war so lebendig, theilnehmend, herzlich, wie ich [Heinrich B.] nie von ihm erwartet hatte. Auch offenherzig, selbst in unserer aller Gegenwart, wie er vielleicht seit Jahren nicht gewesen ist. Auf meinen Vater hält er gar viel. Der sagte wie im Zorne zu ihm: »Es ist doch eine Schande, daß Sie einen so herrlichen Liederalmanach herausgeben und es Ihren Freunden geheim halten.« Da dunkelten dem Goethe die Augen, er fiel meinem Vater um den Hals und konnte [275] für Freude nicht stark genug ausdrücken, daß er was producirt habe, was einem solchen Richter, wie er sagte, gefiele. Er wurde immer wärmer und sprach nun von dem, was er ausführen wollte, wenn ihn Götter und Menschen begünstigten. Auch über Schlegel sprach er; er meinte: Ansichten über Dinge wechselten wie die Tage; nun sei diese an der Ordnung, dann jene, so wie an Einem Tage Diomedes der Held sei, an einem andern Achilles u.s.w. Der Unterschied, daß jene Meinung länger dauere, jene kürzer, sei nicht anders, als wie Sommertage länger dauerten, als Wintertage. Den Unterschied, der jetzt gang und gebe ist, zwischen romantischen und classischen, verwarf er mit meinem Vater; denn alles, was vortrefflich sei, sei eo ipso classisch, zu welcher Gattung es auch gehöre. Noch eher wollte er einen Unterschied zwischen Plastischem und Romantischem gelten lassen: ein plastisches Werkstelle der Einbildungskraft des Betrachters ein Werk in einer ganz bestimmten und abgeschlossenen Form dar, ein romantisches deute vieles unbestimmt an und ließe der Einbildungskraft Spielraum zum eigenen Phantasiren – jenes sei für die geregelte Einbildungskraft, dieses für zügellose, oft auch regellose Phantasie. Zu der ersten Classe rechnete er Homer, Sophokles, Pindar, Shakespeare etc.; zu der zweiten deutete er die Subjecte nur an, und ob ich ihn gleich verstanden zu haben glaube, will ich doch meine eigne Vermuthung nicht in den Bericht von seinem Urtheil [276] einmischen; doch nannte er Klopstock. Aber unwillig über Schlegel's Vernichtungsgeist gegen solche, die ihm nicht anstehen, war er auch, wenn man Goethen anders Unwillen zuschreiben kann, den er im strengsten Sinne gegen keinen Menschen hat. Er betrachtet die Menschen als Naturproducte, und wie könnte er sich da über den Makassarischen Giftbaum ärgern. Jeden individuellen Charakter achtet er, selbst einen Kotzebue, insofern er, wenn ihm der liebe Gott nun eine eselhafte Natur gegeben hat, dieser consequent folgt und so seinen Wirkungskreis (gleichviel ob positiv oder negativ) ausfüllt. (Goethe als handelnder Mensch ist freilich ein anderer, als wenn er betrachtet und anschaut.) Schlegel's Talente weiß er wie jeder zu schätzen – aber daß er, wie Christian Schlosser vorschnell behauptete, ein unbedingter Lober von ihm sei, das ist grundfalsch. Nicht befangen durch Schlegel's Apotheose hat er sehr frei über die Gränzen seiner Verdienste gesprochen .... So stimmte er sehr ein, als Fernow über die Nichtigkeit der »Blumensträuße« sprach, der sie eine Sudelarbeit nannte.

[277]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek