1824, 30. Juni.


Mit Friedrich von Müller,
Clemens Wenzeslaus Coudray,
Friedrich Wilhelm Riemer
und Heinrich Meyer

Heute war ich mit Coudray, später mit Riemer, endlich noch mit Meyer, der vor seiner Karlsbader Reise Abschied nehmen wollte, bei Goethe. Nie sah ich ihn geistreicher, lebhafter, humoristischer, offner. Er forderte mich auf die Gedichte zum Pentazonium 1 herbeizuschaffen, die Motive zu den fünf Zonen zu schematisiren. Über das »vir semisecularis« müßte Eichstädt consultirt werden, keine jüngern Philologen; nur fünfzigjährige mindestens sind hier patres curiae »Im Geistreichen« sagte er, »rasch vorwärts, im Conventionellen, Positiven, Recipirten aber vielfach umgefragt, umgeschaut, ja selbst pedantisch!«

Riemer wollte nun gleich eine Disputation halten, ob es Pente oder Pentazonium oder gar Penta oder Heptasolium heiße.

Coudray hatte eine »brillante« Idee, die Loge Amalia möge zur Jubelfeier des Großherzogs Carl August Preisaufgaben für Maler stellen. Goethe extemporirte[94] sofort ein Programm; »aber,« sagte er, »die sächsische Geschichte hat nur zwei große Momente als brauchbare Motive: 1) Kurfürst Friedrich der Weise lehnt die Kaiserwürde ab, und 2) Herzog Bernhard ergreift nach Gustav Adolfs Tode das Commando.« In der Entwicklung dieser Motive, die nur beide zusammen den Gegenstand erschöpfen, war Goethe bewundernswürdig. Welche Gegenwart aller Anschauungen, und welche Abstractionen! Bei Aburtheilung einiger Maler, Schadow, Kolbe, Macco, Hartmann, kam das Gespräch auf Nahls Gemälde im grünen Zimmer des Großherzogs, das Goethe, obwohl Carl August es getadelt, doch für das beste halte.

Das katholische Regulativ 2 gab Goethen Gelegenheit grelle Ausfälle über die Mysterien der christlichen Religion, vorzüglich über die immaculata conceptio S. Mariae, da Mutter Anna schon immaculata concipirt haben soll. –

Dann kritisirte er die lettres Romaines 3, deren Verfasser in Rom nie gewesen sei; sie seien eine Parteischrift, die alles Ideale ins Gemeine herabziehe und alle Symbole ihres höhern Sinnes entkleide. »Jede Idee verliert, wenn sie real wird, ihre Würde.«

[95] Nach Meyer's und Coudray's Weggang kam das Gespräch auf Spanien. Goethe entwickelte in großen characteristischen Umrissen die ältere Geschichte Spaniens, den langen Kampf mit den Mauren, die darauf entstandene Isolirung und Opposition der einzelnen Provinzen, und wie nothwendig alle Bewohner sich aufreiben mußten. Dem Buche Spanien und die Revolution ertheilte er großes Lob. »Der jetzige Zustand der Welt – Klarheit in allen Verhältnissen – ist dem Individuum sehr förderlich, wenn es sich auf sich selbst beschränken will; will es aber eingreifen in die bewegten Räder des Weltganges, glaubt es als ein Theil des Ganzen selbstthätig nach eigenen Ideen wirken, schaffen oder hemmen zu müssen, so geht es um so leichter zu Grunde. Ich meines Theils möchte in keiner andern Zeit gelebt haben. Man muß nur sich auf sich selbst zurückziehen, das Rechte still in angewiesenen Kreisen thun; wer will einem dann etwas anhaben?«


Note:

1 Pentazonium Vinariense dem dritten September 1825 gewidm., von Coudray gez., gest. von Schwerdgeburth.

Note:

2 Gesetz über die Verhältnisse der kathol. Kirchen und Schulen vom 7. November 1823. Weimarisches Reg.-Blatt Nr. 16 von 1823.

Note:

3 Jedenfalls sind die Tablettes Romaines cont. des faits, des anecdotes et des observations sur les moeurs etc. par un Français; Paris, Février 1824 gemeint

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek