1822, 31. Juli.


Mit Joseph Sebastian Grüner
und dessen Söhnen

Nach der Abfahrt der... Herren sagte Goethe: »Sie verweilen doch noch einige Zeit bei mir und erzählen das Vorgefallene.«

[171] Ich setzte nun meine Hypothese über die Einwanderung der Boyer in Böhmen so auseinander, wie ich sie dem Grafen Sternberg und dem Dr. Pohl vorgetragen hatte, um auch seine Meinung zu vernehmen.

Goethe sagte: »Man will aber diesen ganzen Zug der Boyer, als von Livius erdichtet, behaupten.«

Ich kenne diese Behauptung, entgegnete ich. Es wird nämlich eingewendet, daß die Zeitrechnung nicht genau übereinstimme, und daß kein anderer Schriftsteller davon Erwähnung mache, folglich müsse Livius die Einwanderung erdichtet haben. Die Einwanderung nach Italien soll unter Belloves geschehen sein. Wie viele geschichtliche Begebenheiten beruhen nicht in Bezug auf ihre Glaubwürdigkeit auf dem Zeugnisse eines einzigen Schriftstellers? Ich sehe keinen Grund ein, warum Livius gerade diese Einwanderung erdichtet haben soll. Wenn daher Eure Excellenz nichts dawider haben, so lasse ich meinen Sigoves mit seinem Boyern hier in Eger einige Zeit verweilen und dann ungestört weiter nach Böhmen ziehen.

Darauf Goethe: »Bleiben Sie bei Ihrer Ansicht; denn sie macht Ihnen Vergnügen. Was haben wir davon, wenn Schriftsteller und Geschichtsforscher den Heldenmuth eines Scävola oder Regulus in Zweifel ziehen und für eine Fabel erklären wollen? Erzählen Sie mir doch auch, was diese Herren über die sonderbare Eiche sagten.«

Nachdem ich dem Geheiße Goethes nachgekommen [172] war, äußerte er: »Darüber sind wir nun abermals nicht belehrt, wir müssen Zuflucht zu der von Ihnen aufgegriffenen Sage nehmen, bis wir eines Besseren belehrt werden.«

Goethe hatte eine besondere Vorliebe für meinen Sohn Ignaz, weil, wie er sagte, der Knabe ihn mit seinen großen Augen so freundlich anblicke, und weil er herzhaft auf alle Fragen Antwort gebe. Manchmal forderte Goethe ihn auf, etwas zu erzählen, z.B. sagte er einst: »Erzähle mir etwas von einer Katze.« Der Knabe war nicht verlegen, und fragte: Von was für einer Katze, von einer weißen oder schwarzen? – »Erzähle mir von einer weißen.« – Der Knabe ließ nun die Katze durch einen Teich nach einer Insel schwimmen, dort Mäuse fangen, und wieder zurückschwimmen, aber am Ufer von einem Jäger erschossen werden.

»Sehen Sie, Freund« sagte Goethe, »der hilft sich wie mancher, der seinen Gegenstand nicht mehr gehörig entwickeln kann, seinen Helden umkommen läßt.«

Ich führe dies darum an, um darzuthun, daß Goethe mit Kindern kindlich sein konnte. Es war von dem mit dem Grafen Sternberg und dem Dr. Pohl eingenommenen Mittagsmahle eine Torte übrig geblieben, die schickte Goethe seinem »Natzl« 1, wie er sich ausdrückte.


Note:

1 Abkürzung für Ignaz.

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