1823, 16. November.


Mit Johann Peter Eckermann

Abends bei Goethe. Er saß noch in seinem Lehnstuhl und schien ein wenig schwach. Seine erste Frage war nach dem ›Wallenstein‹. Ich gab ihm Rechenschaft von dem Eindruck, den das Stück von der Bühne herunter auf mich gemacht; er hörte es mit sichtbarer Freude. ....

Eingedenk seines Versprechens, mir seine ›Elegie von Marienbad‹ zu einer passenden Stunde abermals zu zeigen, stand Goethe auf, stellte ein Licht auf seinen Schreibtisch und gab mir das Gedicht. Ich war glücklich, es abermals vor Augen zu haben. Goethe setzte sich wieder in Ruhe und überließ mich einer ungestörten Betrachtung.

Nachdem ich eine Weile gelesen, wollte ich ihm etwas darüber sagen; es kam mir aber vor als ob er schlief. Ich benutzte daher den günstigen Augenblick und las es aber- und abermals und hatte dabei einen seltenen Genuß. Die jugendlichste Gluth der Liebe, gemildert durch die sittliche Höhe des Geistes, das erschien mir im allgemeinen als des Gedichts durchgreifender Charakter. Übrigens kam es mir vor, als seien die ausgesprochenen Gefühle stärker, als wir sie in andern Gedichten Goethes anzutreffen gewohnt sind, und ich schloß darauf auf einen Einfluß von Byron, welches Goethe auch nicht ablehnte.

[320] »Sie sehen das Product eines höchst leidenschaftlichen Zustandes,« fügte er hinzu; »als ich darin befangen war, hätte ich ihn um alles in der Welt nicht entbehren mögen, und jetzt möchte ich um keinen Preis wieder hineingerathen.

Ich schrieb das Gedicht, unmittelbar als ich von Marienbad abreiste und ich mich noch im vollen frischen Gefühle des Erlebten befand. Morgens acht Uhr auf der ersten Station schrieb ich die erste Strophe, und so dichtete ich im Wagen fort und schrieb von Station zu Station das im Gedächtniß Gefaßte nieder, sodaß es Abends fertig auf dem Papiere Stand. Es hat daher eine gewisse Unmittelbarkeit und ist wie aus einem Gusse, welches dem Ganzen zu gute kommen mag.«

»Zugleich,« sagte ich, »hat es in seiner ganzen Art viel Eigenthümliches, sodaß es an keins Ihrer andern Gedichte erinnert.«

»Das mag daher kommen,« sagte Goethe: »ich setzte auf die Gegenwart, so wie man eine bedeutende Summe auf eine Karte setzt, und suchte sie ohne Übertreibung so hoch zu steigern als möglich.«

Diese Äußerung erschien mir sehr wichtig, indem sie Goethes Verfahren ans Licht setzt und uns seine allgemein bewunderte Mannigfaltigkeit erklärlich macht.

Es war indeß gegen neun Uhr geworden; Goethe bat mich, seinen Bedienten Stadelmann zu rufen, welches ich that.

Er ließ sich darauf von diesem das verordnete [321] Pflaster auf die Brust zur Seite des Herzens legen. Ich stellte mich derweil ans Fenster. Hinter meinem Rücken hörte ich nun, wie er gegen Stadelmann klagte, daß sein Übel sich gar nicht bessern wolle, und daß es einen bleibenden Charakter annehme. Als die Operation vorbei war, setzte ich mich noch ein wenig zu ihm. Er klagte nun auch gegen mich, daß er seit einigen Nächten gar nicht geschlafen habe, und daß auch zum Essen gar keine Neigung vorhanden. »Der Winter geht nun so hin,« sagte er, »ich kann nichts thun, ich kann nichts zusammenbringen, der Geist hat gar keine Kraft.« Ich suchte ihn zu beruhigen, indem ich ihn bat, nur nicht so viel an seine Arbeiten zu denken, und daß ja dieser Zustand hoffentlich bald vorübergehen werde. »Ach,« sagte er darauf, »ungeduldig bin ich auch nicht, ich habe schon zu viel solcher Zustände durchlebt und habe schon gelernt zu leiden und zu dulden.« Er saß in einem Schlafrock von weißem Flanell, über seine Knie und Füße eine wollene Decke gelegt und gewickelt. »Ich werde gar nicht zu Bett gehen,« sagte er, »ich werde so auf meinem Stuhl die Nacht sitzen bleiben, denn zum rechten Schlaf komme ich doch nicht.«

Es war indeß Zeit geworden, er reichte mir seine liebe Hand und ich ging.

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