1831, 6. Juni.


Mit Johann Peter Eckermann

Goethe zeigte mir heute den bisher noch fehlenden Anfang des fünften Actes von ›Faust‹. Ich las bis zu der Stelle, wo die Hütte von Philemon und Baucis verbrannt ist, und Faust in der Nacht, auf dem Balkon seines Palastes stehend, den Rauch riecht, den ein leiser Wind ihm zuweht.

»Die Namen Philemon und Baucis,« sagte ich, »versetzen mich an die phrygische Küste und lassen mich jenes berühmten alterthümlichen Paares gedenken, aber doch spielt unsere Scene in der neuern Zeit und in einer christlichen Landschaft.«

»Mein Philemon und Baucis« – sagte Goethe –[93] »hat mit jenem berühmten Paare des Alterthums und der sich daran knüpfenden Sage nichts zu thun. Ich gab meinem Paare bloß jene Namen, um die Charaktere dadurch zu heben. Es sind ähnliche Personen und ähnliche Verhältnisse, und da wirken denn die ähnlichen Namen durchaus günstig.«

Wir redeten sodann über den Faust, den das Erbtheil seines Charakters, die Unzufriedenheit, auch im Alter nicht verlassen hat, und den bei allen Schätzen der Welt und in einem selbstgeschaffenen neuen Reiche ein paar Linden, eine Hütte und ein Glöckchen geniren, die nicht sein sind. Er ist darin dem israelitischen König Ahab nicht unähnlich, der nichts zu besitzen wähnte, wenn er nicht auch den Weinberg Naboth's hätte.

»Der Faust, wie er im fünften Act erscheint,« sagte Goethe ferner, »soll nach meiner Intention gerade hundert Jahre alt sein, und ich bin nicht gewiß, ob es nicht etwa gut wäre, dieses irgendwo ausdrücklich zu bemerken.«

Wir sprachen sodann über den Schluß, und Goethe machte mich auf die Stelle aufmerksam, wo es heißt:

Gerettet ist das edle Glied
Der Geisterwelt vom Bösen:
Wer immer strebend sich bemüht,
Den können wir erlösen,
Und hat an ihm die Liebe gar
Von oben theilgenommen,
Begegnet ihm die selige Schaar
Mit herzlichem Willkommen.

[94]

»In diesen Versen«- sagte er – »ist der Schlüssel zu Faust's Rettung enthalten: in Faust selber eine immer höhere und reinere Thätigkeit bis ans Ende, und von oben die ihm zu Hilfe kommende ewige Liebe. Es steht dieses mit unserer religiösen Vorstellung durchaus in Harmonie, nach welcher wir nicht bloß durch eigene Kraft selig werden, sondern durch die hinzukommende göttliche Gnade.

Übrigens werden Sie zugeben, daß der Schluß, wo es mit der geretteten Seele nach oben geht, sehr schwer zu machen war, und daß ich bei so übersinnlichen, kaum zu ahnenden Dingen mich sehr leicht im Vagen hätte verlieren können, wenn ich nicht meinen poetischen Intentionen durch die scharf umrissenen christlich-kirchlichen Figuren und Vorstellungen eine wohlthätig beschränkende Form und Festigkeit gegeben hätte.«

[95]

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