1829, 11. April.


Mittag bei Goethe

Ich [Eckermann] fand heute den Tisch im langen Saale gedeckt und zwar für mehrere Personen. Goethe und Frau von Goethe empfingen mich sehr freundlich. Es traten nach und nach herein: Madame Schopenhauer, der junge Graf Reinhard von der französischen Gesandtschaft, dessen Schwager Herr von D[iemar], auf einer Durchreise begriffen, um gegen die Türken in russische Dienste zu gehen, Fräulein Ulrike, und zuletzt Hofrath Vogel.

Goethe war in besonders heiterer Stimmung; er unterhielt die Anwesenden, ehe man sich zu Tische setzte, mit einigen guten Frankfurter Späßen, besonders zwischen Rothschild und Bethmann, wie der eine dem andern die Speculation verdorben.

Graf Reinhard ging an Hof, wir andern setzten uns zu Tische. Die Unterhaltung war anmuthig belebt, man sprach von Reisen, von Bädern, und Madame Schopenhauer interessirte besonders für die Einrichtung ihres neuen Besitzes am Rhein, in der Nähe der Insel Nonnenwerth.

Zum Nachtisch erschien Graf Reinhard wieder, der wegen seiner Schnelle gelobt wurde, womit er während der kurzen Zeit nicht allein bei Hofe gespeist, sondern sich auch zweimal umgekleidet hatte.

[83] Er brachte uns die Nachricht, daß der neue Papst gewählt sei, und zwar ein Castiglione, und Goethe erzählte der Gesellschaft die Förmlichkeiten, die man bei der Wahl herkömmlich beobachtet.

Graf Reinhard, der den Winter in Paris gelebt, konnte manche erwünschte Auskunft über bekannte Staatsmänner, Literatoren und Poeten geben. Man sprach über Châteaubriand, Guizot, Salvandy, Béranger, Mérimée und andere.

Nach Tische und als jedermann gegangen war, nahm Goethe mich in seine Arbeitsstube und zeigte mir zwei höchst merkwürdige Skripta, worüber ich große Freude hatte. Es waren zwei Briefe aus Goethes Jugendzeit, im Jahre 1770 aus Straßburg an seinen Freund Dr. Horn in Frankfurt geschrieben, der eine im Juli, der andere im December. In beiden sprach sich ein junger Mensch aus, der von großen Dingen eine Ahnung hat, die ihm bevorstehen. In dem letztern zeigten sich schon Spuren vom »Werther«; das Verhältniß in Sesenheim ist angeknüpft, und der glückliche Jüngling scheint sich in dem Taumel der süßesten Empfindungen zu wiegen und seine Tage halb träumerisch hinzuschlendern.

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