1829, 6. December.


Mit Johann Peter Eckermann

Heute nach Tische las Goethe mir die erste Scene vom zweiten Act des ›Faust‹.

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[161] Ich freute mich an der jugendlich productiven Kraft und wie alles so knapp beisammen war. »Da die Conception so alt ist,« sagte Goethe, »und ich seit funfzig Jahren darüber nachdenke, so hat sich das innere Material so sehr gehäuft, daß jetzt das Ausscheiden und Ablehnen die schwere Operation ist. Die Erfindung des ganzen zweiten Theils ist wirklich so alt wie ich sage. Aber daß ich ihn erst jetzt schreibe, nachdem ich über die weltlichen Dinge so viel klarer geworden, mag der Sache zu gute kommen. Es geht mir damit wie einem, der in seiner Jugend sehr viel kleines Silber und Kupfergeld hat, das er während dem Lauf seines Lebens immer bedeutender einwechselt, sodaß er zuletzt seinen Jugendbesitz in reinen Goldstücken vor sich sieht.«

Wir sprachen über die Figur des Baccalaureus. »Ist in ihm,« sagte ich, »nicht eine gewisse Classe ideeller Philosophen gemeint?«

»Nein,« sagte Goethe, »es ist die Anmaßlichkeit in ihm personificirt, die besonders der Jugend eigen ist, wovon wir in den ersten Jahren nach unserm Befreiungskriege so auffallende Beweise hatten. Auch glaubt jeder in seiner Jugend, daß die Welt eigentlich erst mit ihm angefangen, und daß alles eigentlich um seinetwillen da sei. Sodann hat es im Orient wirklich einen Mann gegeben, der jeden Morgen seine Leute um sich versammelte und sie nicht eher an die Arbeit gehen ließ, als bis er der Sonne geheißen [162] aufzugehen. Aber hierbei war er so klug, diesen Befehl nicht eher auszusprechen, als bis die Sonne wirklich auf dem Punkt stand, von selber zu erscheinen.«

Wir sprachen noch vieles über den ›Faust‹ und dessen Composition sowie über verwandte Dinge.

Goethe war eine Weile in stilles Nachdenken versunken; dann begann er folgendermaßen:

»Wenn man alt ist,« sagte er, »denkt man über die weltlichen Dinge anders, als da man jung war. So kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, daß die Dämonen, um die Menschheit zu necken und zum besten zu haben, mitunter einzelne Figuren hinstellen, die so anlockend sind, daß jeder nach ihnen strebt, und so groß, daß niemand sie erreicht. So stellten sie den Rafael hin, bei dem Denken und Thun gleich vollkommen war; einzelne treffliche Nachkommen haben sich ihm genähert, aber erreicht hat ihn niemand. So stellten sie den Mozart hin als etwas Unerreichbares in der Musik. Und so in der Poesie Shakespeare. Ich weiß, was Sie mir gegen diesen sagen können, aber ich meine nur das Naturell, das große Angeborene der Natur. So steht Napoleon unerreichbar da. Daß die Russen sich gemäßigt haben und nicht nach Konstantinopel hineingegangen sind, ist zwar sehr groß, aber auch ein solcher Zug, findet sich in Napoleon, denn auch er hat sich gemäßigt und ist nicht nach Rom gegangen.«

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