1820, Mitte Juli.


Mit Johann Christian Lobe

Ich hatte nach Goethes Rath nicht allein auf der Reise, sondern auch in Berlin ein Tagebuch geführt, glaubte gehörig vorbereitet zu sein, und freute mich auf die Unterredung mit dem außerordentlichen Manne. Als aber der Tag kam, an welchem ich ihn sprechen sollte, überfiel mich mein altes Übel, die Schüchternheit, und stieg, je näher die Stunde rückte, in erschreckenden Graden .... Aber auch diesmal verscheuchte der Zauber des Empfangs meine peinliche Verlegenheit. Ohne auf eine Eintrittsformel von meiner Seite zu warten, begann Goethe sogleich: »Ich habe gute Nachrichten über Ihr Auftreten in Berlin erhalten. Zelter spricht sich sehr anerkennend über Ihre Leistungen als Virtuos und Componist aus und findet den Beifall, den Sie gefunden, vollkommen gerechtfertigt. Ich gratulire.« Und als ich auf diese gütige Rede mit Nichts als einer stummen Verbeugung zu antworten wußte, fuhr er mit der Frage fort, wie es mir zu Muthe gewesen, als ich vor dem fremden Publicum der großen Stadt erschienen.

Ich erwiderte, daß ich den ganzen Tag und bis zum Heraustreten auf die Bühne die schrecklichste Angst empfunden habe, als aber das Orchester das Tutti begonnen, mir der Muth plötzlich gekommen sei wie den Soldaten in der Schlacht.

[41] »Ja«, sagte er lächelnd, »die Natur reagirt nicht blos gegen die leibliche Krankheit, sondern auch gegen die geistigen Schwächen; sie sendet in der steigenden Gefahr stärkenden Muth. Die Kriegshelden mögen besonders davon zu erzählen wissen. Wie war Zelter?« fragte er.

Ich erzählte, daß ich mich eines außerordentlich freundlichen Empfangs von ihm zu erfreuen gehabt habe, wie freilich mit Excellenz gütiger Empfehlung zu erwarten gewesen. Doch sei mir in Berlin Angst vor dem Besuch gemacht worden; der – etwas derben Natur des Mannes wegen.

»Ja,« sagte Goethe, »er hat sich bei den Berlinern in Respect zu setzen gewußt; er wird seine Gründe gehabt haben. Das Völkchen besitzt viel Selbstvertrauen, ist mit Witz und Ironie gesegnet und nicht sparsam mit diesen Gaben. Haben Sie diese Erfahrung auch gemacht?«

Ich bemerkte, daß mich meine Unbedeutendheit davor geschützt; denn außer einigen gutmüthigen Witzen hätte ich nichts dergleichen wahrgenommen, im Gegentheil überall freundliches Entgegenkommen gefunden.

»Ein Zeichen,« sagte Goethe, »daß Sie mit Bescheidenheit aufgetreten sind. Berichten Sie mir zuerst, welche Stücke Sie in Berlin gesehen.« Er setzte sich und bedeutete mir, dasselbe zu thun, woraus ich mit geheimer Freude schloß, daß er zu einer längern Unterhaltung [42] geneigt sei. Erst nach wiederholter Einladung nahm ich gegenüber auf einem Stuhle Platz.

Ich nannte »Ferdinand Cortez«, »Emilia Galotti«, »Deodata« von Kotzebue, mit Chören, Liedern u.s.w. von Anselm Weber, »Die Zaubersflöte«, worin Unzelmann den Papageno gegeben, »Die Entführung aus dem Serail«, Unzelmann als Pedrillo, »Die falsche Prima Donna« und »Das letzte Mittel«. Auch dem Concert eines Klaviervirtuosen habe ich beigewohnt.

»Wie sind Ihnen die Schauspieler und Sänger im Verhältniß zu den unserigen erschienen?«

Ich habe, erwiderte ich, im Ganzen keinen Unterschied gefunden. In den Stücken, die ich gesehen, waren die Fächer alle mit geschickten Leuten besetzt, eine hervorragende Größe, als welche mir Iffland in seinen Gastdarstellungen bei uns erschienen ist, befand sich nicht darunter. Doch glaube ich eine Eigenschaft der Berliner Künstler hervorheben zu müssen, deren Mangel an den unserigen mir durch den Vergleich mit jenen erst aufgefallen ist.

»Welche?« fragte Goethe.

Mehr Plastik in den Stellungen und Bewegungen aller dortigen Darsteller. Der Anblick der von ausgezeichneten Tänzern ausgeführten großen Ballete mag wohl günstigen Einfluß ausüben.

»So ist es,« sagte Goethe. »Da aber dieses Bildungsmittel für äußere anmuthige Repräsentation nur an wenigen Bühnen vorhanden sein kann, so sollten[43] alle, welche sich der Schauspielkunst widmen wollen, vorher tüchtige Tänzer, Fechter werden, vor allem sich im Zeichnen und Malen üben.«

Ich bemerkte dazu, daß mir der Mangel jener Plastik an unserm Unzelmann, als ich ihn mit den Berliner Schauspielern habe agiren sehen, ganz vorzüglich und fast widerwärtig, besonders sein watschelnder Gang, aufgefallen sei, daß ich dagegen an Wolff diesen Abfall nicht bemerkt, und er sich in dieser Hinsicht in Berlin wohl gebessert habe.

»Das letztere ist ein Irrthum,« sagte Goethe, »Wolff war von Haus aus eine noble Natur und er brachte edle und anmuthige Körperhaltung schon mit, als er bei uns die Bühne betrat. Zudem zog ihn sein ernstes Wesen mehr zum Tragischen. Der Komiker, und zu solchem besitzt Unzelmann allein Talent, ist mehr aus groteskes Figurenspiel angewiesen. Welche Vorstellung«, fragte er daraus, »hat Ihnen am besten gefallen?«

Dem Musiker, versetzte ich, »Ferdinand Cortez.«

»Erzählen Sie mir davon«, sagte Goethe.

Ich muß mir zu bemerken erlauben, daß es die erste Vorstellung war, die ich in Berlin sah. Den mächtigen Eindruck kann ich Euer Excellenz freilich nicht beschreiben. Alles war mir neu, und Alles erschien in einer Größe und Vortrefflichkeit, die ich bis dahin nicht geahnt hatte.

»Begreifen Sie darunter auch die Ausführenden,[44] oder nur die reichere und glänzendere äußere Ausstattung?« fragte Goethe.

Bei uns, erwiderte ich, sind die Hauptfächer besser besetzt. Unser Bassist Stromeier und unsre Sängerin Frau. v. Heigendorff stehen im Gesange, letztere auch im Spiel höher. Den Schmelz unseres Tenoristen Moltke habe ich ebenfalls nicht wiedergefunden. Unser Orchester darf sich wohl auch mit jedem andern in der exacten Ausführung messen. Aber die numerische Stärke der Berliner, verbunden mit der vortrefflichen Ausführung unter Spontini, der sein Werk selbst dirigirte, ergriffen mich wunderbar. Das Orchester war mit dreißig Violinen, zehn Celli, sieben Contrabässen, sechs Klarinetten u.s.w. besetzt. Als Spontini erschien, in dem überfüllten Hause eine lautlose Stille eintrat, und auf einen Wink des Kommandostabes die ganze Orchestermasse mit dem Thema der Ouvertüre in kriegerischen Enthusiasmus ausbrach, stürzten mir die Thränen aus den Augen, ja ich schluchzte so, daß ich das Taschentuch vor das Gesicht halten und den Kopf hinter die Brüstung der Gallerie zurückziehen mußte, da die Nebensitzenden verwundert auf mich sahen.

Goethe lächelte und sagte: »Solcher Natur sollten alle vor der Bühne sein, dann würde sich der Künstler seiner gelungenen Mühen freuen. Das Glück jener Stunden zeigt sich jetzt noch in Ihren Augen.«

Ich schlug bei diesen Worten des Dichterfürsten die Augen beschämt zu Boden; denn ich hatte hastig und[45] mit verstärkter Stimme gesprochen, und glaubte in seinen Worten und Mienen eine leise Ironie über meine Darstellung zu bemerken.

Goethe mochte wohl errathen, was in mir vorging; denn er fuhr mit Freundlichkeit fort: »Es ist das beneidenswerthe Glück der Jugend, die Eindrücke in aller Frische und Kraft zu empfangen und zu genießen. Bei zunehmender kritischer Erkenntniß versiegt allgemach die Quelle jener ungetrübten Freuden. Jeder Mensch ist ein Adam; denn jeder wird einmal aus dem Paradiese – der warmen Gefühle vertrieben.«

Mit Ausnahme der wenigen Glücklichen, wagte ich, mich ehrfurchtsvoll vor Goethe verbeugend, hinzuzusetzen, die Weisheit sammelten und sich doch die Gefühle der Jugend ungeschwächt erhalten.

Ich hätte diese meine jugendliche plumpe Äußerung gegenüber dem größten und gefeiertsten Geiste des Jahrhunderts gern in das Meer der vergessenen Dummheiten versenkt; da sie aber Veranlassung giebt, einen kleinen Beitrag zur Charakteristik dieses außerordentlichen und auch jetzt noch in mancher Beziehung verkannten Mannes zu liefern, so habe ich sie nicht verschweigen wollen. Goethe ließ mein albernes Compliment an sich vorübergehen, ohne durch Wort oder Miene Mißfallen kund zu geben, .... und fragte, als hätte er es gar nicht vernommen, was ich über die theatralische Darstellung der Oper weiter zu berichten wisse.

Ich schilderte ihm ausführlich die Pracht der Decorationen, [46] den Reichthum, die geschickten und anmuthigen Evolutionen des eingewebten Ballets, die der Natur treu nachgeahmte Anordnung und Ausführung des Scenischen, den Zug z.B. der Krieger des Cortez bei Nacht über das Gebirge, Fußvolk, Reiterei, Artillerie u.s.w.

Goethe hörte aufmerksam zu, seine sinnenden Augen schienen auf die fernen Gegenstände selbst zu sehen, und seine freundlichen Züge drückten Freude an den bunten Bildern aus, die meine Schilderungen an seiner Einbildungskraft vorüber führten.

Als ich geendet hatte, äußerte er: »Ja, das ist der Vortheil reicher Mittel, daß die Intentionen der schaffenden Künstler die würdige Ausführung finden können, während bei einer kleinen Bühne die Phantasie des Anordners überall durch knappen Raum beschränkt wird, mit einem Dutzend Soldaten große Schlachten, Volksscenen, mit gewendeten und umgeflickten Gewändern neue Costüme, mit einer vorhandenen vaterländischen Walddecoration die Pracht einer tropischen Vegetation darstellen muß. Indessen die Sache hat auch ihre Nachtheile. Was hat Ihnen an Spontini's Musik vorzüglich gefallen?«

Ich erwiderte, daß mich zunächst die außerordentliche Kraft, die südliche Gluth, Wahrheit und Plastik des Ausdrucks mächtig ergriffen habe.

»Was verstehen Sie unter Plastik des musikalischen Ausdrucks?« fragte Goethe.

[47] Den bestimmten Anschlag und das Festhalten eines jeden Gefühls im Ganzen und jeder Regung im Einzelnen, erwiderte ich. Ist z.B. die Zärtlichkeit zu schildern, so ist sogleich mit dem ersten Takte die Zärtlichkeit da, und so lange diese Empfindung dauert, ist jede Note und jeder Klang, sind Zeichnung und Colorit, Melodie und Begleitung ohne das Hereinschimmern einer andern Gemüthsfarbe vorhanden. Tritt kriegerischer Muth auf, so verkünden ihn die ersten Töne und Klänge auf's Bestimmteste und Schärfste. Und so fließt nirgends etwas Unbestimmtes ein, jedes ist ganz, was es seiner Natur nach sein soll und muß.

»Ich habe das bei der ›Vestalin‹ allerdings auch empfunden,« sagte Goethe.

Zu dieser Plastik, fuhr ich fort, trägt außerordentlich viel bei die Kürze, Gedrängtheit und Einfachheit der Construction aller einzelnen Gedanken, sowie der ganzen Form. Es sind die einfachsten, die man sich denken kann.

»Das mag sein,« sagte Goethe. »Gleichwohl kann ich nicht läugnen, daß die Musik zur ›Vestalin‹ mir zu geräuschvoll erscheint, und mich bald ermüdet. Empfinden Sie das nicht auch bei seiner Musik?«

In den ersten Proben, versetzte ich, kam mir das Gefühl. Es verschwand aber bald, und jetzt erscheint mir die Instrumentation nicht mehr zu geräuschvoll, sondern nur als ein saftiges und blühendes Colorit.[48] Auch Mozart's Musik wurde im Anfang für überladen erklärt, was doch jetzt niemand mehr findet.

»Es muß doch aber eine Grenze geben,« sagte Goethe, »über die hinaus man nicht gehen kann, ohne dem Ohr unerträglich zu werden.«

Die giebt es ganz gewiß, versetzte ich, allein daß ein großer Theil der Hörer jetzt schon die Spontinische Musik verträgt, dürfte beweisen, daß Sie diese Grenze noch nicht überschritten hat.

»Es mag so sein,« sagte Goethe; »doch fahren Sie fort in Ihrem Referat. Was haben Sie mir von ›Emilia Galotti‹ zu berichten?«

Das war eine schreckliche Vorstellung für mich, versetzte ich.

»Wie das?« fragte Goethe.

Das Publikum, fuhr ich fort, führte zu dem Trauerspiel auf der Bühne ein Lustspiel auf, das mir das Herz zerriß. Es gastirte ein Wiener Schauspieler als Marinelli. Er schien die Rolle nicht schlecht zu spielen; allein er sprach im Wiener Dialect und dazu auch, als habe er – den Schnupfen. Kaum hatte er angefangen zu sprechen, so wurde das Auditorium unruhig; bald fing man an zu scharren, zu lachen, und dies wiederholte und steigerte sich bei jedem Auftreten des Unglücklichen, so daß er zuweilen durch den Rumor gänzlich unterbrochen wurde. Kam von den mitspielenden Personen eine Äußerung auf Marinelli vor, die auf den Gast bezogen werden konnte, so geschah's vom [49] Publikum. So bei den Worten der Gräfin »Armer Sünder!« wo ein allgemeines Gelächter und Bravorufen ausbrach. Der Arme fiel dann gänzlich aus seiner Rolle, schlug die Augen wehmüthig beschämt zu Boden und faltete wie um Mitleid bittend die Hände. Ich konnte das Elend nicht mit ansehen, verließ das Schauspielhaus und fragte mich verwundert, ob ich in Berlin im königlichen Schauspielhause gewesen sei!

»Nun ja,« sagte Goethe, »und weil wir die Rohheit und Rücksichtslosigkeit der Menge kennen, und um solche Scandale zu vermeiden, alle Mißfallensbezeigungen bei uns nicht dulden, wirft man uns Beschränkung der Freiheit vor. Der ausbleibende Applaus ist Demüthigung genug für den Künstler.«

Hier fuhr ich etwas keck mit der Bemerkung heraus, daß, wenn ich zu befehlen hätte, auch keinerlei Art von Beifallzeichen gegeben werden dürfe; denn es werde alle Illusion und Stimmung, in welche mich Dichter und Darsteller versetzt, durch das Händeklatschen und Bravorufen zerrissen. Auch auf den Schauspieler äußere es einen nachtheiligen Einfluß; denn er müsse, um den Applaus hervorzurufen, Mittel anwenden, die oft mehr auf die Masse der Zuschauer berechnet seien, als aus dem Wesen der Rolle hervorgehen. Die meist outrirten Abgänge zeigen das.

Der letztere Grund schien Goethe zu gefallen; er nickte beifällig mit dem Haupte. Doch bemerkte er dazu: »Es wäre wohl gut, wenn diese Sitte von Haus[50] aus nicht bestünde; da sie aber einmal vorhanden, so ist sie nicht mehr ohne Nachtheil zu beseitigen. Der Schauspieler ist daran gewöhnt und bedarf ihrer als Sporn; er würde ohne Hoffnung auf diesen hörbaren Lohn ermatten.«

Übrigens, setzte ich hinzu, habe ich bei dieser Gelegenheit bemerken können, in welscher Achtung Wolff bei den Berlinern steht. Er spielte den Grafen Appiani. Mochte der Tumult noch so arg sein, sobald Wolff erschien, trat allgemeine Stille ein, und rauschender Applaus erschallte bei seinem Abgange.

»Das,« sagte Goethe, »söhnt mich einigermaßen wieder mit den Berlinern aus. Die Gewalt einer edlen Natur ist freilich groß. Und ich habe noch keinen zweiten Schauspieler gesehen, der durchgängig sich eine solche Würde in allen seinen Rollen bewahrt hätte, als Wolff. Selbst in der Darstellung der gemeinsten Charaktere schimmerte bei aller Wahrheit der ihm angeborene Adel seines Wesens durch. Sprachen Sie nicht auch von ›Deodata‹?« frug Goethe weiter. »Welchen Eindruck machte das Kotzebue'sche Ritterstück auf Sie?«

Einen dramatischen Genuß habe ich davon ganz und gar nicht gehabt. Da aber Ew. Excellenz verlangt haben, daß ich meine Gedanken unverhohlen ausspreche, so muß ich zu meiner Schande gestehen, daß mir an diesem Abende die Bedeutungslosigkeit des Stückes fast willkommen war; denn da mich kein Interesse an die [51] Handlung fesselte, konnte ich meine ganze Aufmerksamkeit auf die Scenerie richten, deren Pracht noch weit über die im Cortez hinausging. Es war kein dramatischer, aber ein vollkommener Panoramengenuß. Eine Mondscheinscene im Walde z.B. war von einer Vortrefflichkeit, daß ich ganz und gar nur Auge war und kaum weiß, was dabei auf der Scene vorgegangen ist. Die Eroberung und Verbrennung einer Burg erschien mir als das Vollkommenste, was die Bühne zu leisten fähig sei. Ich wäre daher auch nicht im Stande, Ew. Excellenz eine Relation des Inhaltes dieses Schauspiels zu geben.

»Ich finde das sehr natürlich,« äußerte Goethe, »aber auch sehr bedauerlich. Die guten Leute bedenken nicht, wohin die übermäßige äußere Pracht zuletzt unausbleiblich führen muß: das Interesse für den Inhalt wird geschwächt und das Interesse für den äußeren Sinn an dessen Stelle gesetzt. Doch es wird sicherlich auch wieder eine Reaction eintreten. Ich werde es freilich nicht erleben, vielleicht Sie nicht. Erst müssen die Decorationsmaler und Maschinisten dem Publicum nichts Neues mehr bieten können, das Publicum von dem Prunk bis zum Ekel übersättigt sein, dann wird man zur Besinnung kommen und das jetzt zurückgedrängte Ächte wieder hervorgeholt, auch gutes Neues hinzugeschaffen werden.«

Kommt es so, wie Ew. Excellenz sagen, bemerkte ich, so bleibt doch die Lectüre für jeden übrig, der[52] sich nicht in den Pfuhl des Gemeinen mit stürzen will.

»Ja,« sagte Goethe, »die Buchdruckerkunst ist ein Factor, von dem ein zweiter Theil der Welt- und Kunstgeschichte datirt, welcher von dem ersten ganz verschieden ist; daher wir auch mit Folgerungen aus dem ersten auf den zweiten Theil nicht mehr auskommen.«

Dieser Gedanke überraschte mich durch seine für mich gänzliche Neuheit. Ich erwartete gespannt eine Erörterung desselben. Leider ging Goethe gleich zu weiteren Fragen über die andern von mir genannten Stücke über, und ich konnte nichts thun, als die neue Ansicht in mir festhalten, um sie gelegentlich selbst weiter zu untersuchen.

»Wie war,« fragte Goethe, »die Musik, von Anselm Weber zu ›Deodata‹?«

Sie schien mir, antwortete ich, dem Sujet angemessen und durchaus in dem Totalton des Ritterthums gehalten zu sein.

»Danach,« sagte Goethe, »wäre ja Weber unter die größten Componisten zu zählen. Nichts setzt eine stärkere Phantasie und Dichtungskraft voraus, als den Schein eines dem Stoff entsprechenden Totaltones über ein ganzes Werk zu verbreiten.«

Ich habe jedoch, sagte ich, bei dieser Gelegenheit die Bemerkung gemacht, daß diese große Eigenschaft einem Kunstwerke unter gewissen Umständen ohne[53] alles Verdienst von Seiten des Künstlers eingeprägt werden kann.

»Wie das?« fragte Goethe.

Anselm Weber's Stil, wenn ich nicht lieber sagen soll Manier, erwiderte ich, ist eine Nachahmung des Gluck'schen, Reichardt'schen, überhaupt der älteren Meister. Seine Musik zu dem Ritterstücke scheint aus dem glücklichen Umstande hervorgegangen zu sein, daß seine künstlerische Subjectivität mit dem Gegenstande zusammentraf. Seine Manier hat von Haus aus etwas Alterthümliches. Er würde der modernsten Handlung denselben musikalischen Totalton geben müssen und sich keineswegs in einen andern umstimmen können.

»Das mag wohl sein,« sagte Goethe. »Und was haben Sie von dem ›Letzten Mittel‹ [von Frau v. Weißenthurn] zu berichten?«

Fast etwas Ähnliches, erwiderte ich, wie von der Weber'schen Musik. Es war die vollkommenste theatralische Vorstellung, die ich in meinem Leben gesehen habe, bis auf die kleinste Rolle vollkommen. Obwohl ich nun außer Wolff keinen der anderen Mitspieler jemals gesehen hatte, so kann ich doch nicht annehmen, daß alle gleich große Schauspieler sein sollten. Ich glaube daher annehmen zu müssen, daß ein besonders günstiger Zufall jeder Rolle die dafür geeignetste äußerliche Persönlichkeit sowohl als auch die innere Subjectivität zugetheilt habe, wodurch eine seltene Natürlichkeit durchgängig in das Ganze kam.

[54] »Das ist eine gute Bemerkung,« sagte Goethe. »Solche glückliche Zufälle giebt es allerdings, nur gehören sie leider unter die seltenen Ausnahmen.«

Obwohl ich an Goethe noch keine Ermattung des Interesses an der Unterhaltung spürte, besorgte ich doch schon längere Zeit, ihn zu langweilen; ich bemühte mich daher, meine Referate immer kürzer zu machen und überging deshalb manches. Als er nach der »Zauberflöte« fragte, bemerkte ich darüber und über »Die Entführung aus dem Serail« blos, daß in diesen beiden Opern theatralische Ausstattung wie Spiel und Gesang ungleich schlechter als bei uns ausgefallen seien. Unzelmann, der in ersterer als Papageno, in letzterer als Pedrillo gastirt, habe keinen besondern Erfolg errungen. Auch sei das Orchester weit geringer besetzt gewesen, als bei der Spontinischen Oper. Beide Werke seien gegen die anderen Vorstellungen, die ich gesehen, auf's Äußerste abgefallen. Das Ärgste aber, was mir in künstlerischer Hinsicht vorgekommen, habe ich in dem Conzert eines Claviervirtuosen erlebt.

Hier verlangte Goethe eine ausführliche Schilderung, um sich, wie er sagte, den Zustand genau vergegenwärtigen zu können.

Ich schalte hier ein, daß ich Goethe die Namen der bei dem Conzert Betheiligten nannte, sie aber aus Gründen, die man billigen wird, hier verschweige. Daß das Concert, begann ich, von keiner berühmten Künstlerautorität ausging, wußte ich. Der Concertgeber ist [55] ein außer Berlin ganz unbekannter Clavierlehrer schon in vorgerückten Jahren. Das Local war ein länglicher, schmaler Saal, dessen eine Hälfte das Orchester, die andre Hälfte ein nicht sehr zahlreiches und wie mir schien auch nicht sehr gewähltes Auditorium einnahm. Das Erste, was mir unangenehm auffiel, war ein nonchalantes, fast geringschätzendes Benehmen des Dirigenten (ein königlicher, jetzt verstorbener Musikdirector). Wie ein Pfau stolz vor dem Publicum hin- und herschreitend, präludirte er auf seiner Violine wohl eine Viertelstunde ganz laut. Nach der ziemlich mittelmäßig aufgeführten Ouvertüre trat eine Dilettanten-Sängerin vor in einer solchen Angst, daß die Notenpartie in ihren Händen sichtbar zitterte. Obgleich ihre Stimme nicht übel war, so vermochte das arme Wesen doch keinen Ton natürlich hervorzubringen. Sie tremolirte durchgängig und so auffallend, daß es zuweilen in förmliches Meckern überging. Sie mochte sonst eine den Berlinern bekannte achtbare Person sein; denn das Publicum ließ sich die Production gefallen und applaudirte sogar ein wenig am Schlusse. Ich habe in meinem Leben keinen komischeren Vortrag gehört, und nur das Mitleid mit der Armen hat meine Lachmuskeln in Ruhe gehalten. Hierauf setzte sich der Concertgeber selbst an den Flügel und das Tutti zu einem Hummelschen Concert begann. Nach ungefähr 20 oder 30 Takten des ersten Solo's war er mit dem Orchester so vollständig zerfallen, daß – aufgehört und vom Solo [56] an noch einmal begonnen werden mußte. Mir fuhr der Schreck in alle Glieder, und ich glaubte, der Virtuos müßte vor Scham in Ohnmacht sinken. Aber nichts weniger. Er blieb ruhig, als sei das eine ganz natürliche Sache, kam auch ohne ein zweites solches Unglück durch, aber fast immer in Zwiespalt des Tempos mit dem Orchester. Und wie viel Noten er fallen gelassen oder falsch gegriffen, weiß ich nicht zu sagen. Als habe ein neckischer Kobold die Anordnung des Concerts behufs immer komischerer Steigerung übernommen, trat nun ein alter Bratschist mit Variationen auf. Hier triumphirte endlich die Komik. Der Mann arbeitete die nichtswürdige altmodische Composition mit einem solchen Aufwand äußerer burlesker Mimik und Gesticulation ab, daß ein ironisch donnernder Beifallssturm am Ende dieser Production gar nicht aufhören wollte, worüber der Alte sehr glücklich zu sein schien. Im zweiten Theil trat die Sängerin und nach ihr der Concertgeber in ähnlicher Weise wieder auf. Doch ich fürchte Excellenz zu langweilen, und –

»Nein,« fiel Goethe ein, »fahren Sie fort! Kam denn gar keine gute Production zum Vorschein?«

Ein Virtuos machte eine schöne Ausnahme, und zwar auf meinem Instrumente. Er war ein ausgezeichneter Künstler.

»Nun,« sagte Goethe, »da wünsche ich zu erfahren, in welchem Verhältniß Sie ihn zu sich gefunden haben.«

[57] Diese Frage that mir außerordentlich wohl; denn ich konnte daraus entnehmen, daß mir Goethe Selbstkenntniß und Ehrlichkeit zutraute.

Ich antwortete nach meiner innersten Überzeugung: In dem Firlefanz der Finger mag ich etwas mehr leisten können, in schönem Ton, mannigfaltigster Nüancirung, Schattirung und scharf ausgeprägtem Gefühlsausdrucke ist er mir unendlich überlegen, und hat meine Abneigung gegen mein Virtuosenthum nur noch mehr gesteigert. Es ist ein qualvoller Zustand, zu wissen und zu fühlen, wie ein Tonstück vorgetragen werden sollte, und dann doch etwas ganz anderes Matteres zum Vorschein zu bringen.

»Machen Sie nicht zu große Ansprüche an sich und täuschen sich selbst?« fragte Goethe. – Ich bitte um Verzeihung, Excellenz, erwiderte ich; von Täuschung kann nicht die Rede sein, wenn man an Andern bemerkt, daß sie haben, was einem fehlt. – »Wenn Sie glauben, sich richtig zu beurtheilen, so würde ich rathen, eine Thätigkeit aufzugeben, die Ihnen keine Befriedigung gewähren will.« – Wenn es auf mich ankäme, erwiderte ich, so hätte ich das längst gethan. Zunächst hätte ich studirt.

»Hm!« sagte Goethe, »das alte Lied vom falschen Platze!« – Ich erschrack. – »Nein, nein!« sagte Goethe, der es bemerkte, gütig, »ich meine es im Ernst. Die Welt sähe anders aus, wenn ein jeder in sein ihm zusagendes Element käme. Das soll nun einmal nicht[58] sein. Nur Wenigen fällt dieses Loos.« Goethe sprach noch einige Gedanken dazu aus, die ich indessen bei mir behalten will. Er äußerte sodann: »Ist Ihnen auf der Reise hin und zurück, sowie in Berlin selbst noch Bemerkenswerthes vorgekommen ?« Wenig, erwiderte ich, und wohl kaum Etwas, das werth wäre, vor Ew. Excellenz angeführt zu werden. – »Erzählen Sie,« sagte Goethe, »was Ihnen aufgefallen ist. Es giebt nichts Unbedeutendes in der Welt. Es kommt nur auf die Anschauungsweise an.« – Ich bemerkte, daß mich Kriegsgeschichten sehr interessirten, und daß ich auf der Hinreise mehrfache Gelegenheit gefunden, pikante Specialitäten über die Kriege von 1806 und 1813 aus dem Munde von Augenzeugen zu erfahren. Goethe ließ sich die Erzählung mehrerer solcher Fälle gefallen. Ich übergehe sie hier, da sie nicht in diese Blätter gehören. Endlich frug er mich, ob ich Neigung zum Soldatenstande gehabt oder noch habe.

Niemals, erwiderte ich; im Gegentheil ist es mir unbegreiflich, wie irgend ein Mensch Lust dazu haben kann; Kriegsgeschichten dagegen lese und höre ich mit großer Begierde. Goethe äußerte dazu: »So kann einem also eine Sache zugleich widerwärtig und angenehm sein: widerwärtig, wenn man sie selbst unternehmen soll, angenehm, wenn man sie an anderen wahrnimmt. Wer diese Doppelgabe am ausgebreitetsten besitzt, ist der Glücklichste in dieser Welt. Er kann [59] niemals ohne Interesse sein, folglich niemals Langeweile empfinden.«

Es wurde mir bei dieser Rede plötzlich klar, was mir bisher nur dunkel vorgeschwebt hatte, woher nämlich der ungeheure Reichthum Goethes an sentenziösen Gedanken rühre. Jedenfalls aus seiner von Jugend auf angenommenen Gewohnheit, über jede, auch die geringfügigste Erscheinung Betrachtungen anzustellen und irgend einen Allgemeingedanken daraus zu abstrahiren. Daher die Unzahl von Betrachtungen in seinen Schriften, von denen wir glauben, wir hätten sie ebenso gut finden können, weil sie so natürlich und überzeugend erscheinen. Daß wir sie aber, einmal gelesen, niemals wieder aus dem Gedächtniß verlieren, liegt in einem zweiten Grundsatz, den er sich gegeben: jedem Gedanken die klarste, anmuthigste, gefälligste Form zu verleihen. Nun verstand ich auch recht den Rath, den er mir in der ersten Unterredung gegeben: über alles, was mir vorkomme, Betrachtungen anzustellen! Ja wenn er zu diesem Rathe auch seinen wunderbar hellen, durchdringenden Blick und scharfsinnigen Geist hätte mittheilen können! Es erklären sich aus diesen Abstraktionen von jedem einzelnen concreten Falle aber auch die scheinbaren Widersprüche, denen wir zuweilen in seinen Schriften begegnen.

Das Gespräch hatte bereits so lange gedauert, und noch war mir's nicht gelungen, Goethe an die räthselhafte Äußerung zu erinnern, die er mir am Ende seiner [60] ersten Unterredung zum eigenen Weiterbedenken auf den Weg gegeben. Aber auch heute sollte ich nicht darüber zur Aufklärung kommen.

Denn eben, als ich darauf zu kommen mir das Herz fassen wollte, trat der Diener ein und meldete, daß – servirt sei, worauf mich Goethe freundlich entließ. –

[61]

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