1823, 19. October.
Mit Friedrich von Müller
und Friedrich Wilhelm Riemer
Zwischen dem Hof war ich bei Goethe. Anfangs war er einsilbig, dann, als Riemer gekommen, sehr lebhaft. Es wurde von Raupach's Pedantismus in der Kritik und den drei ersten Acten seines »verfehlten Ziels« gesprochen.
Das Gespräch über die von Hermann zusammengestellten Fragmente der Euripideischen Niobe gab Anlaß, daß Goethe dessen »Bacchen« für sein liebstes Stück erklärte. »Euripides hat seine Naturphilosophie von Anaxagoras,« sagte er. Auch gab er eine geniale Charakteristik der Kirchengeschichte, die ein Product des Irrthums und der Gewalt sei.
Die Lehre von der Gottheit Christi, decretirt durch das Concilium von Nicäa, sei dem Despotismus sehr förderlich, ja Bedürfniß gewesen.
Reinhard's Geschenk des Tibull leitete auf ein sehr ernsthaftes Gespräch über das »Ecce jacet Tibullus« und über den Glauben an persönliche Fortdauer. Goethe sprach sich bestimmt aus. Es sei einem denkenden Wesen durchaus unmöglich, sich ein Nichtsein, ein Aufhören des Denkens und Lebens zu denken; in so fern trage jeder den Beweis der Unsterblichkeit in sich selbst und ganz unwillkürlich. Aber sobald man objectiv aus sich heraustreten wolle, sobald man dogmatisch [294] eine persönliche Fortdauer nachweisen, begreifen wolle, jene innere Wahrnehmung philisterhaft ausstaffire, so verliere man sich in Widersprüche. Der Mensch sei aber demohngeachtet stets getrieben, das Unmögliche vereinigen zu wollen. Fast alle Gesetze seien Synthesen des Unmöglichen; z. B. das Institut der Ehe. Und doch sei es gut, daß dem so sei, es werde dadurch das Möglichste erstrebt, daß man das Unmögliche postulire.
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