1829, 7. April.


Mit Johann Peter Eckermann
und Heinrich Meyer

Ich fand, als ich hereintrat, Hofrath Meyer, der einige Zeit unpäßlich gewesen, mit Goethe am Tisch sitzen, und freute mich, ihn wieder so weit hergestellt zu sehen. Sie sprachen von Kunstsachen, von Peel, der einen Claude Lorrain für viertausend Pfund gekauft, wodurch Peel sich denn besonders in Meyer's Gunst gesetzt hatte. Die Zeitungen wurden gebracht, worein wir uns theilten, in Erwartung der Suppe.

Als an der Tagesordnung kam die Emancipation der Irländer sehr bald zur Erwähnung. »Das Lehrreiche für uns dabei ist,« sagte Goethe, »daß bei dieser Gelegenheit Dinge an den Tag kommen, woran niemand gedacht hat, und die ohne diese Veranlassung nie wären zur Sprache gebracht worden. Recht klar über den irländischen Zustand werden wir aber doch nicht, denn die Sache ist zu verwickelt. So viel aber sieht man, daß dieses Land an Übeln leidet, die durch kein Mittel und also auch nicht durch die Emancipation gehoben werden können. War es bis jetzt ein Unglück, daß Irland seine Übel allein trug, so ist es jetzt ein Unglück, daß England mit hineingezogen wird. Das ist die Sache. Und den Katholiken ist gar nicht zu trauen. Man sieht, welchen schlimmen Stand die zwei Millionen Protestanten gegen die Übermacht der fünf[59] Millionen Katholiken bisher in Irland gehabt haben, und wie z.B. arme protestantische Pächter gedrückt, chikanirt und gequält worden, die von katholischen Nachbarn umgeben waren. Die Katholiken vertragen sich unter sich nicht, aber sie halten immer zusammen, wenn es gegen einen Protestanten geht. Sie sind einer Meute Hunde gleich, die sich untereinander beißen, aber sobald sich ein Hirsch zeigt, sogleich einig sind und in Masse auf ihn losgehen.«

Von den Irländern wendete sich das Gespräch zu den Händeln in der Türkei. Man wunderte sich, wie die Russen, bei ihrer Übermacht, im vorjährigen Feldzuge nicht weiter gekommen. »Die Sache ist die,« sagte Goethe, »die Mittel waren unzulänglich, und deshalb machte man zu große Anforderungen an einzelne, wodurch denn persönliche Großthaten und Aufopferungen geschahen, ohne die Angelegenheit im ganzen zu fördern.«

»Es mag auch ein verwünschtes Lokal sein,« sagte Meyer; »man sieht, in den ältesten Zeiten, daß es in dieser Gegend, wenn ein Feind von der Donau her zu dem nördlichen Gebirge eindringen wollte, immer Händel setzte, daß er immer den hartnäckigsten Widerstand gefunden, und daß er fast nie hereingekommen ist. Wenn die Russen sich nur die Seeseite offen halten, um sich von dorther mit Proviant versehen zu können!«

»Das ist zu hoffen,« sagte Goethe.

»Ich lese jetzt ›Napoleons Feldzug in Ägypten‹,[60] und zwar was der tägliche Begleiter des Helden, was Bourrienne davon sagt, wo denn das Abenteuerliche von vielen Dingen verschwindet und die Facta in ihrer nackten erhabenen Wahrheit dastehen. Man sieht, er hatte bloß diesen Zug unternommen, um eine Epoche auszufüllen, wo er in Frankreich nichts thun konnte, um sich zum Herrn zu machen. Er war anfänglich unschlüssig, was zu thun sei; er besuchte alle französischen Häfen an der Küste des Atlantischen Meeres hinunter, um den Zustand der Schiffe zu sehen und sich zu überzeugen, ob eine Expedition nach England möglich oder nicht. Er fand aber, daß es nicht gerathen sei, und entschloß sich daher zu dem Zuge nach Ägypten.«

»Ich muß bewundern,« sagte ich, »wie Napoleon bei solcher Jugend mit den großen Angelegenheiten der Welt so leicht und sicher zu spielen wußte, als wäre eine vieljährige Praxis und Erfahrung vorangegangen.«

»Liebes Kind,« sagte Goethe, »das ist das Angeborene des großen Talents. Napoleon behandelte die Welt wie Hummel seinen Flügel; beides erscheint uns wunderbar, wir begreifen das eine so wenig wie das andere, und doch ist es so und geschieht vor unsern Augen. Napoleon war darin besonders groß, daß er zu jeder Stunde derselbige war. Vor einer Schlacht, während einer Schlacht, nach einem Siege, nach einer Niederlage, er stand immer auf festen Füßen und war[61] immer klar und entschieden, was zu thun sei. Er war immer in seinem Element und jedem Augenblick und jedem Zustande gewachsen, so wie es Hummeln gleichviel ist, ob er ein Adagio oder ein Allegro, ob er im Baß oder im Discant spielt. Das ist die Facilität, die sich überall findet wo ein wirkliches Talent vorhanden ist, in Künsten des Friedens wie des Kriegs, am Klavier wie hinter den Kanonen.«

»Man sieht aber an diesem Buche,« fuhr Goethe fort, »wie viele Märchen uns von seinem ägyptischen Feldzuge erzählt worden. Manches bestätigt sich zwar, allein vieles gar nicht, und das meiste ist anders.

Daß er die achthundert türkischen Gefangenen hat erschießen lassen, ist wahr; aber es erscheint als reifer Beschluß eines langen Kriegsrathes, indem nach Erwägung aller Umstände kein Mittel gewesen ist, sie zu retten.

Daß er in die Pyramiden soll hinabgestiegen sein, ist ein Märchen. Er ist hübsch außerhalb stehen geblieben und hat sich von den andern erzählen lassen, was sie unten gesehen.

So auch verhält sich die Sage, daß er orientalisches Costüm angelegt, ein wenig anders. Er hat bloß ein einziges Mal im Hause diese Maskerade gespielt und ist so unter den Seinigen erschienen, zu sehen wie es ihn kleide. Aber der Turban hat ihm nicht gestanden, wie er denn allen länglichen Köpfen nicht steht, und so hat er dieses Costüm nie wieder angelegt.

[62] Die Pestkranken aber hat er wirklich besucht, und zwar um ein Beispiel zu geben, daß man die Pest überwinden könne, wenn man die Furcht zu überwinden fähig sei. Und er hat recht! Ich kann aus meinem eigenen Leben ein Factum erzählen, wo ich bei einem Faulfieber der Ansteckung unvermeidlich ausgesetzt war und wo ich bloß durch einen entschiedenen Willen die Krankheit von mir abwehrte. Es ist unglaublich, was in solchen Fällen der moralische Wille vermag. Er durchdringt gleichsam den Körper und setzt ihn in einen activen Zustand, der alle schädlichen Einflüsse zurückschlägt. Die Furcht dagegen ist ein Zustand träger Schwäche und Empfänglichkeit, wo es jedem Feinde leicht wird, von uns Besitz zu nehmen. Das kannte Napoleon zu gut, und er wußte, daß er nichts wagte, seiner Armee ein imposantes Beispiel zu geben.«

»Aber,« fuhr Goethe sehr heiter scherzend fort, »habt Respect! Napoleon hatte in seiner Feldbibliothek was für ein Buch? – Meinen ›Werther‹!«

»Daß er ihn gut studirt gehabt,« sagte ich, »sieht man bei seinem Lever in Erfurt.«

»Er hatte ihn studirt wie ein Criminalrichter seine Acten,« sagte Goethe, »und in diesem Sinne sprach er auch mit mir darüber.

Es findet sich in dem Werke des Herrn Bourrienne eine Liste der Bücher, die Napoleon in Ägypten bei sich geführt, worunter denn auch der ›Werther‹ steht. Das Merkwürdige an dieser Liste aber ist, wie die[63] Bücher unter verschiedenen Rubriken classificirt werden. Unter der Aufschrift ›Politique‹ z.B. finden wir aufgeführt: ›Le vieux testament‹, ›Le nouveau testament‹, ›Le coran‹; woraus man denn sieht, aus welchem Gesichtspunkt Napoleon die religiösen Dinge angesehen.«

Goethe erzählte uns noch manches Interessante aus dem Buche, das ihn beschäftigte. Unter anderm auch kam zur Sprache, wie Napoleon mit der Armee an der Spitze des Rothen Meeres zur Zeit der Ebbe durch einen Theil des trockenen Meerbettes gegangen, aber von der Fluth eingeholt worden sei, sodaß die letzte Mannschaft bis unter die Arme im Wasser habe waten müssen und es also mit diesem Wagstück fast ein pharaonisches Ende genommen hätte. Bei dieser Gelegenheit sagte Goethe manches Neue über das Herankommen der Fluth. Er verglich es mit den Wolken, die uns nicht aus weiter Ferne kommen, sondern die an allen Orten zugleich entstehen und sich überall gleichmäßig fortschieben.

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