1830, 6. März.


Mit Friedrich Soret

Goethe liest seit einiger Zeit die ›Memoiren‹ von Saint-Simon.

»Mit dem Tode von Ludwig dem Vierzehnten,« sagte er mir vor einigen Tagen, »habe ich jetzt halt gemacht. Bis dahin hat mich das Dutzend Bände in hohem Grade interessirt, und zwar durch den Contrast der Willensrichtungen des Herrn und der aristokratischen Tugend des Dieners. Aber von dem Augenblick an, wo jener Monarch abgeht, und eine andere Personnage auftritt, die zu schlecht ist, als daß Saint-Simon sich zu seinem Vortheil neben ihr ausnehmen könnte, machte die Lectüre mir keine Freude mehr; der Widerwille trat ein, und ich verließ das Buch da, wo mich der ›Tyrann‹ verließ.«

[236] Auch den ›Globe‹ und den ›Temps‹, den Goethe seit mehreren Monaten mit dem größten Eifer las, hat er seit etwa vierzehn Tagen zu lesen aufgehört. Sowie die Nummern bei ihm unter Kreuzband ankommen, legt er sie uneröffnet beiseite. Indeß bittet er seine Freunde, ihm zu erzählen was in der Welt vorgeht. Er ist seit einiger Zeit sehr productiv und ganz vertieft im zweiten Theile seines ›Faust‹. Besonders ist es die ›Classische Walpurgisnacht‹, die ihn seit einigen Wochen ganz hinnimmt und die dadurch auch rasch und bedeutend heranwächst. In solchen durchaus productiven Epochen liebt Goethe die Lectüre überhaupt nicht, es wäre denn daß sie als etwas Leichtes und Heiteres ihm als ein wohlthätiges Ausruhen diente, oder auch daß sie mit dem Gegenstande, den er eben unter Händen hat, in Harmonie stände und dazu behilflich wäre. Er meidet sie dagegen ganz entschieden, wenn sie so bedeutend und aufregend wirkte, daß sie seine ruhige Production stören und sein thätiges Interesse zersplittern und ablenken könnte. Das letztere scheint jetzt mit dem ›Globe‹ und ›Temps‹ der Fall zu sein. »Ich sehe,« sagte er, »es bereiten sich in Paris bedeutende Dinge vor; wir sind am Vorabend einer großen Explosion. Da ich aber darauf keinen Einfluß habe, so will ich es ruhig abwarten, ohne mich von dem spannenden Gange des Dramas unnützerweise täglich aufregen zu lassen. Ich lese jetzt so wenig den ›Globe‹ als den ›Temps‹, und [237] meine ›Walpurgisnacht‹ rückt dabei gar nicht schlecht vorwärts.«

Er sprach darauf über den Zustand der neuesten französischen Literatur, die ihn sehr interessirt. »Was die Franzosen,« sagte er, »bei ihrer jetzigen literarischen Richtung für etwas Neues halten, ist im Grunde weiter nichts als der Wiederschein desjenigen, was die deutsche Literatur seit funfzig Jahren gewollt und geworden. Der Keim der historischen Stücke, die bei ihnen jetzt etwas Neues sind, findet sich schon seit einem halben Jahrhundert in meinem ›Götz‹. Übrigens,« fügte er hinzu, »haben die deutschen Schriftsteller niemals daran gedacht und nie in der Absicht geschrieben, auf die Franzosen einen Einfluß ausüben zu wollen. Ich selbst habe immer nur mein Deutschland vor Augen gehabt, und es ist erst seit gestern oder ehegestern, daß es mir einfällt meine Blicke westwärts zu wenden, um auch zu sehen wie unsere Nachbarn jenseits des Rheins von mir denken. Aber auch jetzt haben sie auf meine Productionen keinen Einfluß. Selbst Wieland, der die französischen Formen und Darstellungsweisen nachgeahmt, ist im Grunde immer deutsch geblieben und würde sich in einer Übertragung schlecht ausnehmen.«

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