1830, 15. März.


Mit Friedrich Soret

Abends ein Stündchen bei Goethe. Er sprach viel über Jena und die Einrichtungen und Verbesserungen, die er in den verschiedenen Branchen der Universität zu Stande gebracht. Für Chemie, Botanik und Mineralogie, [256] die früher nur insoweit sie zur Pharmacie gehörig behandelt worden, habe er besondere Lehrstühle eingeführt. Vor allem sei für das Naturwissenschaftliche Museum und die Bibliothek von ihm manches Gute bewirkt worden.

Bei dieser Gelegenheit erzählte er mir abermals mit vielem Selbstbehagen und guter Laune die Geschichte seiner gewaltsamen Besitzergreifung eines an die Bibliothek grenzenden Saales, den die medicinische Facultät innegehabt, aber nicht habe hergeben wollen.

»Die Bibliothek,« sagte er, »befand sich in einem sehr schlechten Zustande. Das Local war feucht und enge und bei weitem nicht geeignet, seine Schätze gehörigerweise zu fassen, besonders seit durch den Ankauf der Büttner'schen Bibliothek von seiten des Großherzogs abermals 13000 Bände hinzugekommen waren, die in großen Haufen am Boden umherlagen, weil es, wie gesagt, an Raum fehlte, sie gehörig zu placiren. Ich war wirklich dieserhalb in einiger Noth. Man hätte zu einem neuen Anbau schreiten müssen, allein dazu fehlten die Mittel; auch konnte ein neuer Anbau noch recht gut vermieden werden, indem unmittelbar an die Räume der Bibliothek ein großer Saal grenzte, der leer stand und ganz geeignet war allen unsern Bedürfnissen auf das herrlichste abzuhelfen. Allein dieser Saal war nicht im Besitz der Bibliothek, sondern im Gebrauch der Facultät der Mediciner, die ihn mitunter zu ihren Konferenzen benutzten. Ich wendete mich also [257] an diese Herren mit der sehr höflichen Bitte, mir diesen Saal für die Bibliothek abzutreten. Dazu aber wollten die Herren sich nicht verstehen; allenfalls seien sie geneigt nachzugeben, wenn ich ihnen für den Zweck ihrer Konferenzen einen neuen Saal wolle bauen lassen, und zwar sogleich. Ich erwiederte ihnen, daß ich sehr bereit sei ein anderes Local für sie herrichten zu lassen, daß ich aber einen sofortigen Neubau nicht versprechen könne. Diese meine Antwort schien aber den Herren nicht genügt zu haben; denn als ich am andern Morgen hinschickte, um mir den Schlüssel ausbitten zu lassen, hieß es: er sei nicht zu finden.

Da blieb nun weiter nichts zu thun, als eroberungsweise einzuschreiten. Ich ließ also einen Maurer kom men und führte ihn in die Bibliothek vor die Wand des angrenzenden gedachten Saales. ›Diese Mauer, mein Freund,‹ sagte ich, ›muß sehr dick sein; denn sie trennt zwei verschiedene Wohnungspartien: versuchet doch einmal und prüfet, wie stark sie ist.‹ Der Maurer schritt zu Werke, und kaum hatte er fünf bis sechs herzhafte Schläge gethan, als Kalk und Backsteine fielen und man durch die entstandene Öffnung schon einige ehrwürdige Perrücken herdurchschimmern sah, womit man den Saal decorirt hatte. ›Fahret nur fort, mein Freund,‹ sagte ich, ›ich sehe noch nicht hell genug. Genirt Euch nicht und thut ganz als ob Ihr zu Hause wäret.‹ Diese freundliche Ermunterung wirkte auf den Maurer so belebend, daß die Öffnung bald[258] groß genug ward, um vollkommen als Thür zu gelten, worauf denn meine Bibliotheksleute in den Saal drangen, jeder mit einem Arm voll Bücher, die sie als Zeichen der Besitzergreifung auf den Boden warfen. Bänke, Stühle und Pulte verschwanden in einem Augenblick, und meine Getreuen hielten sich so rasch und thätig dazu, daß schon in wenigen Tagen sämmtliche Bücher in ihren Reposituren in schönster Ordnung an den Wänden umherstanden. Die Herren Mediciner, die bald darauf durch ihre gewohnte Thür in corpore in den Saal traten, waren ganz verblüfft, eine so große und unerwartete Verwandlung zu finden. Sie wußten nicht, was sie sagen sollten, und zogen sich still wieder zurück, aber sie bewahrten mir alle einen heimlichen Groll. Doch wenn ich sie einzeln sehe, und besonders wenn ich einen oder den andern von ihnen bei mir zu Tische habe, so sind sie ganz charmant und meine sehr lieben Freunde. Als ich dem Großherzog den Verlauf dieses Abenteuers erzählte, das freilich mit seinem Einverständniß und seiner völligen Zustimmung eingeleitet war, amusirte es ihn königlich, und wir haben später recht oft darüber gelacht.«

Goethe war in sehr guter Laune und glücklich in diesen Erinnerungen. »Ja, mein Freund,« fuhr er fort, »man hat seine Noth gehabt, um gute Dinge durchzusetzen. Später, als ich wegen großer Feuchtigkeit der Bibliothek einen schädlichen Theil der ganz nutzlosen alten Stadtmauer wollte abreißen und hinwegräumen[259] lassen, ging es mir nicht besser. Meine Bitten, guten Gründe und vernünftigen Vorstellungen fanden kein Gehör, und ich mußte auch hier endlich eroberungsweise zu Werke gehen. Als nun die Herren der Stadtverwaltuug meine Arbeiter an ihrer alten Mauer im Werke sahen, schickten sie eine Deputation an den Großherzog, der sich damals in Dornburg aufhielt, mit der ganz unterthänigen Bitte, daß es doch Sr. Hoheit gefallen möge, durch ein Machtwort wir in dem gewaltsamen Einreißen ihrer alten ehrwürdigen Stadtmauer Einhalt zu thun. Aber der Großherzog, der mich auch zu diesem Schritte heimlich autorisirt hatte, antwortete sehr weise: ›Ich mische mich nicht in Goethes Angelegenheiten. Er weiß schon was er zu thun hat, und muß sehen wie er zurechtkommt. Geht doch hin und sagt es ihm selbst, wenn ihr die Courage habt!‹

Es ließ sich aber niemand bei mir blicken,« fügte Goethe lachend hinzu; »ich fuhr fort von der alten Mauer niederreißen zu lassen, was mir im Wege stand, und hatte die Freude, meine Bibliothek endlich trocken zu sehen.«

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