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An Charlotte von Stein
Neapel d. 1. [- Rom 9.] Jun. 87.
Die Ankunft des Marquis Lucchesini hat meine Abreise auf einige Tage weiter geschoben, ich habe viel Freude gehabt ihn kennen zu lernen. Er scheint mir einer von denen Menschen zu seyn die einen guten moralischen Magen haben, um an dem großen Welttische immer mitgenießen zu können. Anstatt daß unser einer, wie ein wiederkäuendes Thier ist, das sich zu Zeiten überfüllt und dann nichts wieder zu sich nehmen kann, biß es seine wiederhohlte Kauung und Verdauung geendigt hat. Sie gefällt mir auch recht wohl, sie ist ein gutes deutsches Wesen. Laß dich übrigens den Herzog von des Marquis Verdiensten unterhalten, es ist, ein auf alle Weise schätzbarer Mann.
Ich gehe nun gern aus Neapel, ja ich muß fort. Diese letzten Tage überließ ich mich der Gefälligkeit Menschen zu sehen. Ich habe meist interessante kennen lernen und ich bin von denen Stunden sehr zufrieden [227] die ich ihnen gewiedmet habe. Aber noch vierzehn Tage; so hätte es mich weiter und weiter und abwärts von meinem Zwecke geführt. Und dann wird man hier immer fauler und fauler. Seit meiner Rückkunst von Pest hab ich ausser dem Museum von Portici nichts gesehen und es bleibt mir manches zurück, um dessentwillen ich nicht den Fuß aufheben mag. Aber auch ist das Museum das α und ω aller Antiquitäten Sammlungen, da sieht man recht was die alte Welt an freudigem Kunstsinn vorauswar, wenn sie im strengen Handwerckssinne weit hinter uns zurückblieb.
Wir haben Schirock und sehr übles Wetter, Regen und fast Kühlung.
Übrigens gehe ich gern aus Neapel denn im Grunde habe ich nichts hier zuthun und das bunte Leben ist meine Sache nicht. Von dem Feldbau in der Terra di Lavoro hätte ich mich gerne gründlicher unterrichtet, wenn ich Zeit gehabt hatte.
Die vier Wochen in Rom gedencke ich gut anzuwenden und noch sehe ich kein Hinderniß das mich abhalten könnte anfangs September in Franckfurt zu seyn.
[228] Rom d. 8. Jun.
Nun kann ich dir wieder aus dieser alten Hauptstadt einen Gruß bieten. Vorgestern nach Mittage bin ich wieder hier angekommen, gestern war Fronleichnam und heute früh da ich aufgeraümt und mich eingerichtet habe ist mein erstes an dich zu schreiben. Du hattest es mit deinem Briefe wohl abgepaßt, er kam zwey Tage vor mir nach Rom. No 20 meyn ich. Nun muß ich in meiner Erwählung zurück gehn. Die letzten Tage in Neapel wurde ich immer mehr unter die Menschen gezogen, es reut mich nicht denn ich habe interessante Personen kennen lernen. Auch kam Lucchesini noch an, um dessentwillen ich den 1. und 2. Juni noch in Neapel blieb. In ihm hab ich einen rechten Weltmenschen gesehen und recht gesehen warum ich keiner seyn kann. Der Vesuv der seit meiner Rückkehr von Sicilien starck gebrannt hatte floß endlich d. 1. Juni von einer starcken Lava über. So hab ich denn auch dieses Naturschauspiel, obgleich nur von weitem gesehn. Es ist ein großer Anblick. Einige Abende als ich aus dem Opernhause ging das nah am Molo liegt, ging ich noch auf den Molo spazieren. Dort sah ich mit Einem Blick, den Mond, den Schein des Monds auf den Wolckensäumen, den Schein des Monds im Meere, und auf dem Saum [229] der nächsten Wellen, die Lampen des Leuchtturns das Feuer des Vesuvs, den Wiederschein davon im Wasser und die Lichter auf den Schiffen. Diese Manigfaltigkeit von Licht machte ein Einziges Schauspiel.
Dergleichen viele sehr schöne Anblicke hab ich genoßen, die mir in der Seele lebendig bleiben und nicht wieder von mir genommen werden können. Ich ging allein und gern von Neapel man kommt dort nicht zu Sinnen, man müßte sich denn besonders und auf längere Zeit einrichten. Drey und einen halben Tag bracht ich auf der Reiße sehr glücklich zu. Ich saß allein in der Vettur und ließ mich so fortschleppen genoß der Gegend zeichnete einiges und recapitulirte Neapel und Sicilien. Ich habe die größte Ursache von meiner Reiße zufrieden zu seyn, ich habe mir die schönsten und solidesten Schätze gesammelt.
Gestern war Fronleichnam. Ich bin nun ein für allemal, für diese Kirchlichen Cerimonien verdorben, alle diese Bemühungen eine Lüge gelten zu machen kommen mir schaal vor und die Mummereyen die für Kinder und sinnliche Menschen etwas imposantes haben, erscheinen mir auch sogar wenn ich die Sache als Künstler und Dichter ansehe, abgeschmackt und klein. Es ist nichts groß als das Wahre und das kleinste Wahre ist groß. Ich kam neulich auf einen Gedancken der mich sagen ließ: auch eine schädliche Wahrheit ist nützlich, weil sie nur Augenblicke schädlich seyn kann und alsdann zu andern Wahrheiten [230] führt, die immer nützlich und sehr nützlich werden müßen und umgekehrt ist ein nützlicher Irrthum schädlich, weil er es nur augenblicklich seyn kann und in andre Irrthümer verleitet die immer schädlicher werden. Es versteht sich dieses im Grosen ganzen der Menschheit betrachtet. Das Beste, ja das Einzige des ganzen Festes, sind die Teppiche nach Raphaels Zeichnungen, deren Fürtrefflichkeit auszudrücken keine Worte hinreichen. Diese Compositionen sind von seiner besten Zeit, hier zwar nur gewürckte Copien, zum Theil aber fürtrefflich gemacht, und an Sinn Zeichnung, Poesie, Ausführlichkeit was man sich nur dencken und wünschen mag, ja ohne sie gesehn zu haben nicht dencken und wünschen kann. Beschreibungen was sie vorstellen findet du in allen Reisebeschreibungen.
Nun komme ich auf mich selbst und finde mich in einer zweifelhaften Lage doch will ich es werden laßen, es hat sich alles so gut gemacht. Ich muß nun mit Gewalt an die vier letzten Bände, und wie ich dir schon schrieb, müßen sie in Ordnung seyn eh ich zu euch zurückkehre, auch haben sich neue Sujets zugedrängt die ich ausführen muß denn das Leben ist kurz; wo ich nun sitze, hier oder in Franckfurt, das ist eins und Rom ist der einzige Ort in der Welt für den Künstler und ich bin doch einmal nichts anders. Wäre nur die Rückreise im Winter oder gegen den Winter nicht zu beschwerlich. Doch es mag werden.
Übrigens habe ich glückliche Menschen kennen lernen, [231] die es nur sind weil sie ganz sind, auch der Geringste wenn er ganz ist kann glücklich und in seiner Art vollkommen seyn, das will und muß ich nun auch erlangen, und ich kanns, wenigstens weiß ich wo es liegt und wie es steht, ich habe mich auf dieser Reise unsäglich kennen lernen. Ich bin mir selbst wiedergegeben und nur umsomehr dein. Wie das Leben der letzten Jahre wollt ich mir eher den Todt gewünscht haben und selbst in der Entfernung bin ich dir mehr als ich dir damals war. Ich will nun hier erst alles durchsehen was ich zurückließ und dann wollen wir weiter sehen. Noch muß ich deiner Briefe entbehren, schreibe mir nur immer, daß du mir auf einmal schicken kannst, wenn ich dir anzeige wohin. Ich dancke dir für deine Liebe und Treue und für deine freundlichen Worte.
Sage Herdern daß ich dem Geheimniß der Pflanzenzeugung und Organisation ganz nah bin und daß es das einfachste ist was nur gedacht werden kann. Unter diesem Himmel kann man die schönsten Beobachtungen machen. Sage ihm daß ich den Hauptpunckt wo der Keim stickt ganz klar und zweifellos entdeckt habe, daß ich alles übrige auch schon im Ganzen übersehe und nur noch einige Punckte bestimmter werden müssen. Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt über welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüßel dazu, kann man alsdann noch Pflanzen ins unendliche [232] erfinden, die konsequent seyn müßen, das heißt: die, wenn sie auch nicht existiren, doch existiren könnten und nicht etwa mahlerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Nothwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige lebendige anwenden laßen.
Auf Herders dritten Theil freu ich mich sehr, hebe mir ihn auf, biß ich sagen kann wo er mir begegnen soll. Er wird gewiß den schönen Traumwunsch der Menschheit daß es dereinst besser mit ihr werden möge trefflich ausgeführt haben. Auch muß ich selbst sagen halt ich es für wahr daß die Humanität endlich siegen wird, nur fürcht ich daß zu gleicher Zeit die Welt ein großes Hospital und einer des andern humaner Kranckenwärter werden wird.
Daß du das Löwgen verlohren hast, thut mir leid, ich kann dir schwerlich ein so artig Steinchen wieder schaffen, doch will ich mir Mühe geben. Vielleicht findet sichs auch wieder. Lebe wohl grüße alles. Dieser Brief sucht dich im Carlsbad. Gedencke mein. Grüße Ernsten. Hoffnung ist bey den Lebendigen, ohne Hoffnung sind die Todten.
Ich muß nun fleisig seyn. Über acht Tage schreib ich wieder. Montag geht es nach Tivoli. Dieser Brief geht ab Sonnabends d. 9. Jun.
Der deine.
G.