10/2980.
An Johann Gottfried Herder
den 2. Juni 93.
Daß ich mich wohl und, wie es die Umstände zulassen, vergnügt im Lager bei Marienborn befinde, habe ich durch Gegenwärtiges melden sollen. Das Interessanteste für uns ist, daß der Herzog sich wohl befindet; das Übrige geht und mag gehen, wie es in den Sternen geschrieben oder nicht geschrieben ist. Die Situation der Franzosen ist sehr vortheilhaft. Von dem Überfall auf Marienborn liegt hier eine detaillirte Relation bei, die ich besonders Frankenbergen mitzutheilen bitte. Empfehlet mich auf allen Seiten und liebt mich.
G.
Dein Packet hab' ich noch nicht übergeben, ich weiß nicht, warum. Ein Dämon hält mich ab. Die Zerstreuung, Verwirrung, Inhumanität um uns ist zu groß. Vale et ama.
Ausfall der Franzosen auf Marienborn.
Das Hauptquartier Marienborn liegt in der Mitte des Halbkreises von Lagern und Batterien, die am linken Ufer des Rheins oberhalb Mainz anfangen, die Stadt in der Entfernung ohngefähr einer Viertelstunde umgeben und unterhalb derselben sich wieder [64] an den Fluß anschließen. Die Capelle zum heiligen Kreuz, die Dörfer Weißenau, Hechtsheim, Marienborn, Dreys, Gunzenheim, Mombach, werden von dem Kreise entweder berührt oder liegen nicht weit von demselben.
Die beiden Flügel bei Weißenau und Mombach wurden vom Anfang der Blockade an von den Franzosen öfters angegriffen und ersteres Dorf abgebrannt, die Mitte hingegen blieb ohne Anfechtung; niemand konnte vermuthen, daß sie einen Ausfall dahin richten würden, weil sie in Gefahr kamen, von allen Seiten ins Gedränge zu gerathen, abgeschnitten zu werden, ohne irgend etwas von Bedeutung auszurichten.
Unterdessen waren die Vorposten um Bretzenheim und Dahlheim, Orte, die vor Marienborn in einem Grunde liegen, der sich nach der Stadt zieht, immer an einander, und man behauptete Bretzenheim diesseits um so eifriger, als die Franzosen bei Zahlbach, einem Kloster nahe bei Dahlheim, eine Batterie errichtet hatten und damit das Feld und die Chaussee bestrichen.
Eine Absicht, die man dem Feinde nicht zutraute, bewog ihn endlich zu einem Ausfall gegen das Hauptquartier; sie wollten – so ist man durch die Gefangenen überzeugt – den General Kalkreuth, der in Marienborn, den Prinzen Ludwig, Ferdinands Sohn, der auf dem Chausseehause einige hundert Schritte vom Dorfe im Quartier lag, entweder gefangen fortführen oder todt zurücklassen. Sie wählten die Nacht [65] vom 30. zum 31., zogen sich vielleicht 3000 Mann aus dem Zahlbacher Grunde über die Chaussee durch einige Gründe und durch das hohe Korn bis wieder an die Chaussee, passirten sie und eilten auf Marienborn los. Sie waren von Bauern aus der Nachbarschaft geführt und nahmen ihren Weg durch die Patrouillen durch, die ein Umstand unaufmercksam gemacht hatte.
Tags vorher hatte man Bauern beordert, das hohe Getraide, das gegen die Stadt zu steht, in der Nacht abzumähen. Als diese nach vollendeter Arbeit zurückgingen, folgten ihnen die Franzosen. Einige Patrouillen achteten das Geräusch nicht, andre riefen sie an und hielten ihren undeutlichen Gegenruf für Ungrisch. Genug sie drangen unentdeckt weit vor, und als man sie endlich erkannte und nach ihnen schoß, eilten sie nach Marienborn, erreichten das Dorf, gegen ein Uhr, wo man sorglos entweder schlief oder machte. Sie schossen sogleich in die Häuser, wo sie Licht sahen, drängten sich durch die Straße, umringten den Ort und das Klostergebäude, in welchem der General lag. Die Verwirrung war groß, besonders da noch mehrere in Marienborn cantonnirten. Die Batterien feuerten, das Infanterieregiment Wagner rückte vor, Lottum kam herzu, eine Escadron Herzog von Weimar, die hinter dem Orte lag, war bei der Hand, die Sächsischen Husaren desgleichen. Es entstand ein verwirrtes Gefecht mit großer Lebhaftigkeit.
[66] Indessen hörte man im ganzen Umkreis der blokirenden Läger das Feuern von falschen Attaquen, jeder ward auf sich aufmerksam gemacht und niemand wagte dem andern zu Hülfe zu kommen. Der abnehmende Mond gab ein mäßiges Licht.
Der Herzog von Weimar führte den übrigen Theil seines Regiments, das eine Viertelstunde hinter Marienborn auf der Höhe campirte, hinzu. Die Regimenter Wagner und Lottum widerstanden dem Feinde, und nach einem anderthalbstündigen Gefecht trieb man die Franzosen gegen die Stadt zurück. An Todten ließen sie 30 und etwa so viel Gefangene und Blessirte zurück. Sie haben, so viel man weiß, nur einige Artilleriepferde erbeutet. Der Verlust der Preußen an Todten und Blessirten mag 90 Mann sein.
Major la Viere von Weimar, Rittmeister Voß, Generaladjutant, sind todt und einige Hauptleute der Infanterie.
Ein unglücklicher Zufall vermehrte den diesseitigen Verlust; denn als sich die Feldwachen von Bretzenheim zu Anfang der Affaire auf Marienborn zurückziehen wollten, kamen sie unter die Franzosen und wurden zugleich mit ihnen von unsern Batterien beschossen. Als es Tag ward, fand man Pechkränze und dergleichen brennbare Materialien an mehreren Enden des Dorfes; sie hatten die Absicht, wenn der Coup gelänge, zuletzt das Dorf anzuzünden. Man erfuhr, daß sie zu gleicher Zeit versucht hatten, von [67] einer Rheininsel, an der Mainspitze, in der sie sich eingenistet haben, eine Brücke auf die nächste zu schlagen. Nunmehr ist das zweite Treffen näher an Marienborn herangezogen. Des Herzogs Regiment steht rechts Marienborn. Man weiß, daß beim Ausfall Nationaltruppen voran gingen, dann Linien-, dann wieder Nationaltruppen folgten. Es mag daher das Gerücht entstanden sein, als wären sie in drei Colonnen ausgegangen.
Ein Brief des Herzogs an seine Frau Gemahlin wird das, was ich sage, bestätigen, modificiren, aufklären.
Dii meliora!