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An Carl Friedrich von Reinhard

Wenn ich, verehrter Freund, erst am Ende des Jahres und sogar am kürzesten Tage mein treues Andenken durch einige Zeilen und späte Sendung ausdrücke; so darf ich wohl versichern daß mir die letzten Monate zwar nicht unruhig, aber doch sehr überdrängt vorbeygegangen. So manche Erwiederung, durch liebevolle Theilnahme meines Vaterlandes hervorgerufen, verlangte Aufmerkamsamkeit, wo nicht Anstrengung mehrere Wochen. Carlsbad hatte mir dießmal sehr wohl gethan, doch blieb eine gewisse Umstimmung zurück, die ich durch augenblickliche Thätigkeit zu überwinden trachtete; und so werden[124] Sie wieder zunächst ein Heft Kunst und Alterthum, ein anderes zur Naturwissenschaft und Morphologie erhalten. Ich suche manche Gedanken und Interesses der Vergangenheit zu fixiren und kann mich wirklich schon als Redacteur fremder Hinterlassenschaft betrachten. Mein Divan liegt bey, der mich denn doch auch schon durch manchen angenehmen Hin- und Widerklang ergötzt hat. Die Tage die ich ihn schrieb kommen nicht wieder und doch ist diese Dichtart späteren Jahren so gemäß, daß noch von Zeit zu Zeitei niges gelingt, das ich einschreiben und durch Füllung mancher Lücke das Ganze eingänglicher machen kann.

Kennen Sie das Buch Kabus, von Diez übersetzt? wo nicht, so kann ich ein Exemplar überschicken; es ist ein wahrer Schatz, von dem ich nicht Gutes genug gesagt habe. Der so wunderliche als treffliche Mann hatte sich mit den Beherrschern des Tages überworfen, die seine Arbeiten kunstreich tückisch außer Credit zu setzten wußten. Er verlegte die Werke selbst, sie gingen nicht ab, nun hat er sie bey seinem Tode mit Manuscripten und anderm der Königl. Preußischen Bibliothek vermacht mit dem Beding, daß sie nicht verkauft, nur verschenkt werden sollten. Meine Freunde haben mich mit mehreren Exemplaren versorgt, wovon eines zu Diensten steht.

Ist Ihnen ein Buch vorgekommen: Agape, von Professor Kestner in Jena? wo nicht, so lassen Sie sich's empfohlen seyn. Gesetzt auch, man gäbe dem [125] Verfasser nur für die Zeit recht die man zum Lesen braucht; so gewinnt man doch Ansichten von seinem Standproduct aus, an die niemand gedacht hat. Die ganze Frage geht darauf hinaus: hat sich das Christenthum durch sittliche Wirkung auf die Menge, zufällig wogend, hervorgethan und zur Einheit gestaltet, oder ist es von einer Einheit, von einem entschiedenen Bunde, vorsätzlich künstlich ausgegangen? Er behauptet letzteres, und wenn er es nicht streng beweis't, so giebt er uns doch Verdacht genug, es möge wohl so seyn. Wie wunderlich ist die Ähnlichkeit mit unserer neuen allgemeine Verschwörung, wo nicht immer für jedermann entschieden ist, ob sie von der Peripherie zu einem Mittelpunct oder von diesem zur Peripherie strebe. Vielleicht irrt man nicht, wenn man beides zugiebt und ein pulsirendes Wechselverhältniß zwischen Disposition und Determination annimmt.

Ihre sehr angenehme Sendung von Luthers Medaille hat mich doppelt gefreut. Ich konnte meine Sammlung damit vermehren und manchem Freude dienen; genau besehen ist es wirklich das beste Bild unseres Heros, das bey dieser Gelegenheit erschienen ist.

treulichst

Weimar den 24. December 1819.

Goethe. [126]

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