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An Nicolaus Borchardt
Die Gelegenheit, welche sich mir darbietet, ein Blatt nach Petersburg zu bringen, damit es von da bequemer und gewisser zu Ihnen gelange, darf ich nicht versäumen, und ich ergreife sie um zu versichern, daß Ihre glücklich angekommene Sendung mir zu ganz besonderm Vergnügen gereicht.
Wenn man viele Lebensjahre ernstlich dazu angewendet hat, sich selbst auszubilden und die Spuren der Vorschritte seiner eigenen Denkweise in Schriften zu erhalten, damit auch der Nachkommende aufmerksam werde auf das was ihm allenfalls bevorstehen, was ihn fördern und hindern könnte, und man erfährt sodann in hohen Jahren, daß ein erst fern scheinender Zweck erreicht, ein kühner Wunsch erfüllt sey, so kann dieß nicht anders als die angenehmste Empfindung erregen.
[78] Ich bin in meinen Arbeiten nicht leicht didaktisch geworden: eine poetische Darstellung der Zustände, theils wirklicher, theils ideeller, schien mir immer das Vortheilhafteste, damit ein sinniger Leser sich in den Bildern bespiegeln und die mannichfaltigsten Resultate bey wachsender Erfahrung selbst herausfinden möge.
Wenn wir Westländer nun schon auf mehr als eine Weise, namentlich auch durch Herrn Bowring, mit den Vorzügen Ihrer Dichter bekannt geworden und wir daher so wie aus andern edlen Symptomen auf eine hohe ästhetische Cultur in ihrem ausgedehnten Sprachreise zu schließen hatten, so war es mir doch gewissermaßen unerwartet, in Bezug auf mich jene so zarten als tiefen Gefühle in dem entfernten Osten aufblühen zu sehen, wie sie kaum holder und anmuthiger in den seit Jahrhunderten sich ausbildenden westlichen Ländern zu finden seyn dürften.
Das Problem oder vielmehr der Knaul von Problemen, wie meine Helena sie vorlegt, so entschieden-einsichtig als herzlich-fromm gelös't zu wissen, mußte mich in Verwunderung setzen, ob ich gleich schon zu erfahren gewohnt bin, daß die Steigerungen der letzten Zeit nicht nach dem Maaß der früheren berechnet werden können. Wie denn ein höchst erquickliches Verhältniß zu Herrn Joukovsky mir von der zartesten Empfänglichkeit und rein-wirksamsten Theilnahme schon die Überzeugung gab.
[79] In dem Falle, wie Sie sind, mein Werthester, hat man alle Ursache, Ihnen Glück zu wünschen, daß Sie auf die Bildung einer großen Nation einen so schönen und ruhigen Einfluß ausüben. Halten Sie fest wie bisher, im gemessenen Schritte dasjenige zu überliefern, was zunächst den Ihrigen heilsam ist. Das Auge stets nach dem Monarchen und seinen weisen wohlwollenden Absichten gerichtet, fördern Sie an Ihrer Stelle das Vorliegende. – Was dem Redlichen möglich ist, ist auch nützlich; was von dem Einfachen verstanden wird, ist auch fruchtbar. Möge Ihnen immer Ihr eigenes Herz zugleich mit Ihren Obern ermunternden Beyfall geben.
Die Betrachtungen, die ich hier niederzuschreiben veranlaßt bin, sind so weit und umgreifend wie das Reich, in dessen Mittelpunct Sie sich befinden. – Schon hat sich die alte Kaiserstadt, die wir uns vor kurzem in Trümmern dachten, aus der Asche unbegreiflich wieder hervorgehoben, und da Sie an so merkwürdigen Weltpuncte, an bedeutendster Epoche, verbunden mit würdigen Freunden, theilzunehmen berufen sind, so setzen Sie Ihren Studien keine Gränzen, um desto sicherer dahin zurückzukehren, wo eine edle, reine, einfache Wirkung Noth thut, damit manches Hinderniß beseitigt und viel Gutes gefördert werde.
Hier muß ich endigen; denn fast will es scheinen, als ob meine Betrachtungen allen Gehalt verlören, indem sie sich von dem Besondern entfernen; doch[80] darf ich mir vorstellen, daß Sie in Ihrer Lage demjenigen, was ich im Allgemeinen ausspreche, einen eigenen Sinn zu ertheilen wissen.
Grüßen Sie Ihre werthen Freunde, fahren Sie fort, ruhig dahin zu wirken, daß der Mensch mit sich selbst bekannt werde, seinen eignen Werth und Würde fühlen, aber zugleich auch die Stellung erkennen lerne, die ihm gegen die Welt überhaupt, besonders aber in seinem bestimmten Kreis gegeben ist.
Mögen Sie mir in einiger Zeit wieder von sich und Ihrem Gelingen zutrauliche Nachricht ertheilen, so wird es mir Freude machen, und eine Anregung, wieder von mir hören zu lassen, würde mir jederzeit erwünscht seyn.
Einen alten theuren Freund, Herrn Geh. Rath v. Loder, grüßen Sie gelegentlich zum allerschönsten, und einem ehemaligen Wandnachbar, Herrn Treuter, Primararzt am Kaiserlichen Findelhaus, erneuern Sie geneigt mein Andenken!
Treu theilnehmend
J. W. v. Goethe.