22/6203.
An Sulpiz Boisserée
Ihrem Brief, mein lieber Herr Boisserée, will ich nicht lange unbeantwortet lassen und über Ihren Vorsatz uns zu besuchen, sogleich einige Bemerkungen machen.
[177] Es kann mich und für uns Weimaraner überhaupt nur Gewinn seyn, wenn Sie uns wieder besuchen, und sogar die schönen Gemälde, wovon wir so viel Gutes gehört, zu uns bringen wollen. Allein ob Sie von dieser Expedition eben soviel Zufriedenheit haben werden, scheint mir eine andere Frage.
Ich muß Ihnen auf eine sehr naive Weise bekennen, daß Weimar sich auf eine ganz andere Art gegen Gäste als gegen Bewohner beträgt, und ich habe in der langen Zeit, daß ich mich hier befinde, gar manchen gesehen, der durch den ersten Empfang zum zweyten Kommen und längern Verweilen angereizt, sich zuletzt bitterlich über Gleichgültigkeit und Untheilnahme beklagen zu dürfen glaubte. Jedoch dieses bey Seite gesetzt, so bleibt es doch immer ein kostspieliges Unternehmen mit so viel Gemälden sich hieher zu bewegen. Ein Saal, wie Sie ihn zu verlangen scheinen, findet sich kaum. Ist indessen vielleicht Ihre Absicht, auf Ostern sich mit Ihren Bildern nach Leipzig zu begeben, um für sich und Ihre Unternehmung mehr Interesse zu erregen; so erhielte die Sache dadurch freylich ein anders Ansehen.
Auf alle Fälle, wenn Sie bey Ihrem Entschluß beharren, so würde ich rathen, daß Herr Bertram, wenn er die Bilder eingepackt und sie in Heidelberg einem Spediteur übergeben, zuerst hieher käme, sich sein Local selbst aussuchte und alsdann die Bilder nachkommen ließe: denn es wird bey Bestellung von[178] Quartieren wohl selten die Absicht des Fremden getroffen; nicht gerechnet, daß die Miethe von dem Tage an welchem die Abrede geschieht, gezahlt werden muß.
Mögen Sie mir hierauf etwas erwiedern, oder Herrn Bertram gleich hiehersenden, so werden Sie mich immer sowohl für Ihre Person als für Ihre Sache theilnehmend und thätig finden, der ich freylich bedaure so schöne Jahrszeit nicht auch in einem schönen Lande zuzubringen, recht wohl zu leben wünsche und mich Ihrem geneigten Andenken empfehle.
Weimar den 20. October 1811.
Goethe.