446. Die Entstehung der Insel Hiddensee bei Rügen.
(S. Grümbke, Darstellung der Insel Rügen. Berlin 1869 Bd. II. S. 21 etc. Temme a.a.O. S. 166 etc. Ellen Lucia im Buch der Welt 1852.)
Nordwestlich von der Insel Rügen liegt die Insel Hiddensee. Dieselbe soll vor Alters mit Rügen zusammengehangen haben, aber durch folgende Begebenheit von ihm getrennt worden sein.
[473] Es war an einem unfreundlichen Novemberabend, als ein kalter Nordwestwind über die kahlen Felder und auch durch die entlaubten Eichenwälder der Insel Rügen sauste. Am Meisten litt aber unter der Wuth des Sturmes ein kleines Fischerdörfchen, welches auf der nordwestlichen Spitze der Insel lag, und seine mit Lehm plump ausgefütterten Strohhütten wären sicher von der Windsbraut fortgeführt worden, wären nicht die Dächer mit schweren Steinen beschwert gewesen.
Nur eine der Hütten, abgelegen von den andern und ganz im Grunde, war in etwas besserem Stande; sie gehörte einer alleinstehenden Wittwe, Mutter Hidden, welche hier mit einer Kuh, deren Milch sie zu ihrem Unterhalte bedurfte, ganz getrennt von allem Verkehr mit ihren Nachbarn lebte. Sie war jedoch nicht mittellos, sondern hatte in ihren Truhen manchen harten Thaler und manche Kleinodien und manches Stück Wäsche und Seidenstoff liegen, welche ihr Mann, als Lootse in seinem Berufe verunglückt, als Strandrecht zusammengebracht hatte. Allein sie gab Niemandem etwas von ihrem Reichthum weder zu sehen noch zu genießen, ihren Sohn aber, der ein armes Mädchen aus dem benachbarten Dorfe geheirathet hatte, hatte sie verstoßen und nie wieder vor sich gelassen. Sie saß bei einem düstern Torffeuer auf der Ofenbank, da klopfte es an die Thüre ihrer Hütte. Sie stellte sich anfangs, als höre sie nichts, als aber das Klopfen nicht nachließ, öffnete sie zwar und schaute hinaus, als sie aber draußen einen Mann in der grauen Kutte der Corveier Mönche, denen damals die Insel Rügen gehörte, stehen sah und hörte, daß dieser sie demüthig um ein Nachtlager und einen Bissen Abendbrod bat, da schlug sie ihm schnell die Thüre vor der Nase zu und rief, sie brauche ihr bischen Brod selbst nöthiger, als daß sie es mit unverschämten Bettlern theilen könne. So mußte der arme Alte wieder abziehen und wanderte nun mühsam im Sturmgebrause weiter ins Dorf hinan und pochte an die Thüre des letzten Hauses im Dorfe. Auch hier saß eine Frau ganz allein noch wach bei den wenigen Kohlen des glimmenden Torffeuers: während ihre Kinder halbnackt in einem Winkel der Stube fröstelnd auf einem Haufen alter Lumpen schliefen, flickte sie mühsam die Maschen eines alten zerrissenen Fischernetzes, denn ein neues konnte sie nicht kaufen, so arm waren sie, trotzdem daß ihre Schwiegermutter die reiche Frau Hidden war. Die Frau rief herein, allein obwohl auch sie eigentlich keinen Grund hatte, von dem Wenigen, was sie besaß, etwas wegzuschenken, stand sie keinen Augenblick an dem ermüdeten Greise ein Obdach und eine warme Suppe anzubieten. Der Arme nahm erfreut Beides an und streckte sich neben dem Torffeuer auf ein schnell bereitetes Lager von Binsen und Schilf hin, während die Frau selbst wach blieb und ängstlich auf ihren Mann, der auf den Fischfang ausgefahren war um etwas für seine darbende Frau und Kinder zu verdienen, wartete. Derselbe war am andern Morgen, als der Alte aufbrach, noch nicht zurück, allein letzterer sprach der bekümmerten Frau Muth ein und meinte, ihr Mann werde des Wetters wegen wohl auch ein Obdach bei mitleidigen Seelen gesucht und gefunden haben, und so war es auch. Beim Abschied fügte er noch hinzu: »Gebt Acht, gute Frau, die Arbeit, die Ihr heute zuerst beginnen werdet, die wird Euch den ganzen Tag gelingen.« Damit verschwand er.
Die Kinder schliefen noch und die fleißige Frau in der Meinung, daß sie auch an dem kalten und finstern Novembermorgen immer noch früh genug [474] aufständen, ihr karges Frühstück, eine Brodsuppe, auch lange schon über dem Heerde stand, ging in ihre Lade um ein Stückchen Leinwand herauszuholen und davon so viel abzuschneiden, als sie zu einem Hemdchen für ihr kleinstes Kind bedurfte. Sie nahm die Elle und maß, um zu sehen, wie viel dann noch übrig bleiben werde, allein je länger sie maß, desto mehr blieb noch zu messen übrig und als ihre Kinder endlich erwachten und ihr Frühstück verlangten, da maß sie immer noch, schon waren die wenigen Stühle und Bänke voll von der schönsten weißen Leinwand und immer noch nahm das Stück kein Ende. So maß sie denn immer weiter und weiter, bald war in der engen Stube kein Raum mehr übrig und so maß sie denn immer vorwärts zum Hause hinaus und auf die Dorfgasse, und aufs Feld und immer weiter, bis zum Abend, wo ihr Mann wirklich wiederkehrte, da hatte sie so viel Leinwand gemessen, daß, als sie zusammengelegt ward, ein solcher Berg davon aufgethürmt war, daß er weit über das Dach ihrer Hütte hinausreichte. Erst als sie die Elle nicht mehr halten konnte, hörte sie auf und da war auch das Stück zu Ende. Am andern Morgen aber, als die Nachbarn erfuhren, welchen Segen an Leinwand der alte fremde Mann in jenes Haus gebracht hatte, kamen bald von allen Seiten Käufer, welche sich um das schöne weiße Gewebe stritten und sich im Preise überboten. So waren die Armen bald aus aller Noth und konnten um das beste Haus im Dorfe handeln.
Bald gelangte aber die Kunde von dem Glücke, welches der armen Fischerfamilie widerfahren war, auch zur Schwiegermutter derselben, der Frau Hidden. Welche Vorwürfe machte sie sich, daß sie den Alten so grob fortgewiesen hatte und wie mißgönnte sie ihren eigenen Kindern den wohlverdienten Reichthum. Der Gedanke, daß auch sie so glücklich habe sein können und nur durch ihren eigenen Unverstand um ihr Glück gekommen sei, ließ ihr keine Ruhe und so ging sie denn aus und suchte in der ganzen Umgegend den alten Mann, und als sie ihn endlich fand, da lud sie ihn mit den liebreichsten Worten ein, er solle für die nächste Nacht in ihrer Hütte fürlieb nehmen, sie sei gestern in einer gereizten Stimmung gewesen und bereue ihre Ungastlichkeit bitter. Der Alte nahm ihre Entschuldigung scheinbar gut auf, kam auch richtig zum Abend, und nachdem ihm Frau Hidden das Beste vorgesetzt, was sie hatte auftreiben können, räumte sie ihm ihr eigenes Bett zum Nachtlager ein und schlief selbst auf dem bloßen Erdboden. Endlich kam der Morgen und der Gast schied mit demselben Versprechen, das er Tages zuvor ihrer Schwiegertochter zurückgelassen hatte. Voller Freude, doch noch ihr Ziel erreicht zu haben, beschloß sie die Arbeit anzufangen, von der sie sich den meisten Nutzen versprach, sie wollte ihr Geld zählen. Sie holte also aus der Truhe einen alten ledernen Beutel, der ihre ersparten Thaler enthielt, und machte sich daran, ihn auszuschütten, als sie auf einmal ein klägliches Brüllen aus dem Stalle hörte und sich besann, daß sie in der Aufregung am gestrigen Tage vergessen hatte ihre Kuh zu tränken. Woher sollte sie Milch nehmen, wenn das Thier durch ihre Nachlässigkeit krank würde? Schnell griff sie zum Eimer um Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen, allein als sie denselben voll geplumpt, blieb die Brunnenstange wie festgebannt ihr in der Hand kleben, sie mußte Eimer über Eimer heraufziehen und immer strömte das Wasser fort aus dem Brunnen, bald stand [475] sie über die Kniee im Wasser, sie rief um Hilfe, aber Niemand hörte sie. Immer höher stieg das Wasser, immer höher kletterte die Alte in Todesangst, aber es war, als wüchse der Brunnen mit ihr, bis sie endlich auf der höchsten Spitze ihres Hauses stand wie auf einer Insel und immer noch, wie von Zauber befangen, das Wasser schöpfen und die Fluth rings um sie her vergrößern mußte. Eine unnennbare Angst ergriff jetzt auch die Bewohner des übrigen Dorfes, noch waren ihre Hütten, die freilich viel höher lagen, verschont, aber wie lange konnte dies dauern, wenn der Fluth nicht Einhalt gethan ward? Die Kuh der Frau Hidden hatte sich losgerissen und gerettet, aber ihr ganzes übriges Eigenthum war durch die Gewalt des Wassers zerstört oder fortgespült worden. Wie ein großer Graben zog sich das Wasser schon zum Meere hin, da endlich ging die Sonne unter und der Bann war gelöst. Die Fischer kamen auf ihren Booten heran und holten die halbtodte Alte von ihrem schwankenden Dach herunter; sie brachten sie zu ihrem Sohne, bei dem sie bis zu ihrem Ende eine liebreiche Aufnahme fand.
Nach einer andern Sage hätte sie übrigens nicht ihre Kuh tränken wollen und deshalb ihre erste Arbeit im Plumpen begonnen, sondern es sei ihr gerade, als sie sich zum Zählen ihrer Sparpfennige anschickte, ein natürliches Bedürfniß angekommen. Sie sei also zur Thüre hinausgegangen und habe sich niedergekauert, aber als sie einmal anfing ihr Wasser zu lassen, konnte sie nicht wieder aufhören, sondern sie mußte in ihrem Geschäft fortfahren bis die Sonne unterging. Dadurch entstand ein See, der immer größer ward und zuletzt so groß war, daß er alles Land überschwemmte und das Stück Landes, welches jetzt nach ihr Hiddensee heißt, von Rügen für alle Zeit abtrennte.