1068. An Johanna Keßler

1068. An Johanna Keßler


Wiedensahl 23. März 96.


Geliebte Tante!

Da im eiligen Lauf der Dinge schon wieder tausend Jahre hinter uns liegen, seit ich zuletzt Ihre angenehme Handschrift erblickte; da es ferner augenblicklich grad von Norden her so dichtwimmelig schneit, als ob's Winter wär, so will ich wenigstens mal diesen kleinen Schreibebrief per Reichspost nach der Riviera meiner Gedanken schicken, um mich erkundigen zu laßen, wie es dort aussieht im Haus, im Garten und auf der Ginheimer Höh.

Letzthin war's fast so gut wie sommerlich allhier bei uns. Ich begrüßte nicht unfreundlich das keimende Unkraut, was sich ja immer gleich vordrängt. Noch lieber allerdings sah ich die guten Blümercher, die Schneeglöckchen und Veilchen kommen, die, scheinbar so simpel, doch schlau genug sind, früh aufzustehn, um mit ihrer Sach fertig zu sein, ehe sie von Laub und Gras beschattet und überwuchert werden. – Dann schnitt und sägt ich an [70] Bäumen und Gesträuch; dann handtiert ich fleißig mit der Harke und grub sogar eigenhändig einige Beete um; dann bracht ich die Rosen hoch. Das sieht geschäftig aus, macht hübsch warm und bekommt vorzüglich.

Also, wie geht's Ihnen, beste Tante? Seien Sie herzlich gegrüßt sammt Denen um Sie herum von Ihrem getreuen

Onkel Wilhelm.


P.S. Die zwei harmlos stilisirten Zeichnungen fragen bei der braven Tante Letty an, ob sich danach vieleicht gelegentlich mal ein bißel was stickeln ließe für den Neffen und's Nichtchen, die wir doch allerseits, denk ich, recht gern haben.

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