1100. An Nanda Keßler
1100. An Nanda Keßler
Wiedensahl 23. Dec. 96.
Meine liebe Nanda!
Dein lieber Brief empfing mich, als ich Montag abends hier wieder ankam.
Ein "hartes" Wörtchen über die sogenannte "Seele", ist allezeit heilsam, für Dich, für mich, für jedermann, besonders aber für diejenigen, die sich, wie Du, auf den Spruch vom "gepflasterten Wege" berufen; als ob's nicht Straßen gäbe, die viel bequemer sind zum gehen, reiten, radeln und kutschiren in der höllischen Richtung, als jene harte der guten Vorsätze, auf der man doch mitunter stehen bleibt und nachdenkt, wenn einen der Schuh drückt. Nicht die guten Vorsätze, sondern die "guten Ausflüchte" sind das beliebteste Trottoir. Bitte, sieh nur mal zu, ob ich recht habe in dieser "Gefühlssache", wie du es nennst.
Was du über die naturgemäß vorwiegende Einseitigkeit von Scham und Thränen bemerkst, scheint mir als Runddrumherum und Obendrüberher gewiß richtig zu sein; aber das Eigentliche muß doch wohl tiefer gefaßt werden. Also tauche nur noch ein bißel weiter hinab. Immerhin ist's erfreulich, wenn ein nettes Madamchen, das sonst nur an zweierlei, oder eigentlich einerlei, denkt, sich auch mal bemüht ein wenig zu philosophiren d.h. die Dinge dieser Welt nicht schlechthin als selbstverständlich zu nehmen, sondern vielmehr hie und da, womöglich im Ernst, sich zu fragen Wieso?
Lange freilich wird's ja nicht dauern. – Ach, du "blaue" Madonna von Kaßel! – Unser Ort im Raume allhier ist friedlich sauber mit Schnee bedeckt; Dächer, Hecken, Feld und Wald. Wird der Himmel noch klar dazu, dann haben wir richtiges Weihnachtswetter. –
Fröhliche Festtage, liebe Nanda! Und tausend Grüße von
deinem alten
Onkel Wilhelm.