868. An Johanna Keßler
868. An Johanna Keßler
Wiedensahl 9. Mai 92
Heut, wie ich so aus der Gartenthür
Hinausspatzier' zu meinem Pläsir –
Siehda! auf dem Baum vor ihrem Kästchen,
Worin das Nestchen,
Steht die Frau Staarin im Sonntagswichs
Und macht einen Knicks
Mit gespreiztem Gefieder
Und schaut mit einem Auge hernieder;
Und nachdem sie gehörig den Schnabel gewetzt,
Thut sie ihn auf und plappert und schwätzt:
»Guten Morgen, Herr Raucher!
Herr Zündholzverbraucher!
Ich bin so frei
Zu bemerken, daß heute der neunte Mai.
Da wurde vor so und soviel Jahren –
Wie viel – Hah! – das soll Niemand erfahren! –
In der freien Reichsstadt an den Ufern des Mains
Ein Mägdlein geboren, ein ganz ganz kleins,
So ein ganz reizendes, rundliches, molligs.
Daßelbe nannten sie Hannchen Kolligs. –
Und das kleine Hannchen ward ein großes Hannchen,
Und das stattliche Hannchen reizte wohl Manchen,
Bis einstmals kühn, wie sich's gebührt,
Es Einer genommen und heimgeführt. –
Da war sie nun eine brave Frau,
Die fleißig, pünktlich und genau
Und rücksichtsvoll von Jahr zu Jahr,
Bis zu sechs, vermehrte die Kinderschaar,
Damit die Menschen von diesem netten
Urbild doch auch Kopien hätten,
Wie denn Lätitia und Ferdinande
Zwei schöne Blumen in dieser Guirlande.
– Aber die Klügste, aber die Beste
Bleibt doch immer die Alte vom Neste!«
Oh! – rief ich entrüstet – du Schwätzerin!
Du schlimme Gefühlsverletzerin!
Du nennst sie die Alte? – Ich sag dir halt:
Herzensgüte wird niemals alt!
Und ferner vernimm, damit du's weißt,
Daß sie Johanna, nicht Hannchen, heißt! –
»Na! – sprach die Frau Staar – Dann meinetwegen!
Ade! Ich hab noch ein Ei zu legen!« –
Flink dreht' sie sich um und kroch in's Loch.
Da sitzt sie nun und druckst wohl noch.
Wilh. Busch.